Monica Hesse
Aus dem amerikanischen Englisch
von Cornelia Stoll
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Deutsche Erstausgabe Februar 2022
© 2018 by Monica Hesse
© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The War Outside« bei Little, Brown and Company, New York,
einem Teil der Verlagsgruppe Hachette Book Group, Inc.
Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Stoll
Lektorat: Carola Henke
Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, nach einer Vorlage von © 2018 Hachette Book Group, Inc. (design Marcie Lawrence, art © 2018 Kid-ethic Mark Swan), unter von Motiven von © Shutterstock (Bogdan Khmelnytskyi, Cherngchay Donkhuntod, The_Molostock) und © Arcangel (Collaboration JS, Rekha Garton)
kk · Herstellung: MC
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-26707-0
V001
www.cbj-verlag.de
Für meine starken Großmütter aus Iowa,
Carol und Marjorie
Wenn ich daran denke, was dort geschah, an diesem Ort, wo es so viele Feinde und Spione, so viel Staub und Trübsal gab. Wenn ich daran denke, was Margot mir sagte – berechnende Worte, die wie Freundschaft klangen, mein Leben, das wie beiläufig zerbrach –, so bin ich doch für eines dankbar: dass ich sie nie geliebt habe. Hätte ich sie geliebt, hätte ich das alles nicht ertragen, und deshalb bin ich froh über diesen Mangel an Liebe, er ist das Einzige, was mir geblieben ist. Es ist eine schreckliche Hinterlassenschaft, ohne die mir jedoch gar nichts bliebe.
Wenn Haruko so etwas gesagt hat, hat sie gelogen.
Sie hat mich geliebt. Und ich habe sie geliebt.
Wären wir alle doch nur wieder zu Hause«, flüstert Toshiko. Glaubt sie, ich würde ihr jetzt eine andere Antwort geben als beim letzten Mal, als sie genau dasselbe sagte. Sie stupst mich an, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen, obwohl sie genau weiß, wie sehr ich das hasse. Trotzdem bleibe ich ruhig, weil meine Schwester und ich einen unausgesprochenen Pakt geschlossen haben, höflich zu sein, weil alles andere uns Angst machen würde. Außerdem haben wir es unserer Mutter versprochen.
»Deine kleine Schwester ist nicht deine Feindin«, sagte Mama, als Toshiko und ich uns das letzte Mal gestritten haben. Das war, als ich zum ersten Mal von Texas hörte. »Das weiß ich«, sagte ich vielsagend und sprach nicht weiter, denn über den eigentlichen Feind wollte ich nicht sprechen.
Jetzt sitzen wir unserer Mutter gegenüber, die zwischen unseren Koffern eingekeilt ist und ihren Rücken ganz gerade hält, damit ihr Hut nicht gegen den Sitz des Waggons gedrückt wird. Sie hat die Augen geschlossen. Ich weiß nicht, ob sie schläft oder reisekrank ist. Dass man reisekrank werden kann, habe ich erst gelernt, als wir mit dem Zug losfuhren und manche Leute sich würgend in die Papiertüten übergaben, die von den Schaffnern verteilt worden waren. Der Hut sitzt nun schon seit über 1 000 Meilen auf dem Kopf meiner Mutter. Alles andere im Abteil sieht schlaff und mitgenommen aus: ihr Kleid, mein Kleid und meine Schwester, die sich mit ihrem ganzen Körper an mich lehnt, als ich ihren letzten Satz nicht kommentiere. Ich presse meine Stirn an die Fensterscheibe. Braunes Gras. Brauner Staub. Schmutzige Pferde, auf denen Männer reiten, die sich Halstücher über Mund und Nase gebunden haben. Eine unerträglich flache Landschaft.
Als ich Denver das letzte Mal sah, war der Himmel so klar, dass man bis zu den Bergspitzen sehen konnte.
»Haruko.« Diesmal stupst mich Toshiko unterhalb des Brustkorbs an.
»Helen«, korrigiere ich sie.
Sie verdreht die Augen. »Hier sind nur Japaner. Sie können deinen richtigen Namen aussprechen.«
Ich zwinge mich, weiter aus dem Fenster zu schauen, obwohl ich wütend auf Toshiko bin. »Meine Freunde nennen mich Helen.«
»Das waren doch höchstens fünf Mädchen, die dich so genannt haben.«
Wir sind alle ein bisschen gereizt, nicht nur meine Schwester und ich, sondern alle Reisenden im Zug, erschöpft von drei Tagen Höflichkeit und aufgeweichten Sandwiches. In meinem Kopf pulsiert das Kreischen des Zuges. Es schmerzt in meinem Kiefer und meinen Zähnen. Öl und Rauch beißen in meiner Nase. Ich bedecke die Nase und versuche, flacher zu atmen.
»Helen.« Schon wieder stupst sie mich an. »Kann ich den Brief noch mal sehen?«
Eigentlich will ich Nein sagen, nicht weil ich sie ärgern will, sondern weil ich den Brief hasse. Aber meine Mutter hat Toshikos Frage gehört und öffnet wachsam ein Auge, damit ich auch ja tue, worum ich gebeten worden bin. Sie liebt den Brief. Beide lieben den Brief.
Auf dem Brief befindet sich eine offizielle Stempelmarke, und auf dem Absender steht, dass er vom Justizministerium der Vereinigten Staaten von Amerika abgeschickt worden ist. Ich hole ihn aus meiner Handtasche und reiche ihn an Toshiko weiter, die ihn ehrfürchtig auseinanderfaltet. Was glaubt sie, was geschehen würde, wenn sie ihn zerreißt? Dass sie uns nicht hineinlassen? Das Entscheidende an dem Brief ist doch, dass sie uns nicht mehr rauslassen werden.
Liebe Frau Tanaka,
hiermit informieren wir Sie, dass Ihrem Antrag auf Zusammenführung mit Ihrem Ehemann Ichiro Tanaka in einem Familien-Internierungslager entsprochen worden ist. Bitte beachten Sie, dass sich diese Entscheidung ausschließlich auf Mrs Setsu Tanaka (44 Jahre alt), Miss Haruko Tanaka (17 Jahre alt) und Miss Toshiko Tanaka (12 Jahre alt) bezieht. In Crystal City, Texas, werden entsprechende Vorkehrungen für die Zusammenführung getroffen.
Crystal City. Wir fahren zu einem Ort, der Crystal City heißt. Zuerst stimmte mich dieser Name optimistisch, weil er einem eine wunderschöne Stadt vorgaukelt. Eine Stadt, für die es sich lohnt, schöne Dinge einzupacken. Mein schönstes Kleid. Meine neue Handtasche. Mein Fläschchen Tabu-Parfüm.
Im Zug sind auch andere Familien. Ein paar haben wir kennengelernt.
Mrs Ginoza und ihre kleine Tochter aus Los Angeles. Die alte Mrs Jamaguchi aus Santa Cruz. Die Geschichten dieser Familien klingen bis auf ein paar Details fast alle gleich. Meine Mutter hört jedem höflich zu, obwohl sie mittlerweile weiß, wie die Geschichten enden: Und dann sind wir in diesen Zug gestiegen.
Wir hatten uns gerade zum Essen gesetzt. Der Mann vom FBI ließ ihn nicht einmal zu Ende essen.
Sie behaupteten, wir hätten japanische Briefe versteckt. Aber es waren die Briefe meiner Schwiegermutter, die wir in unserer Aussteuertruhe verwahrten. Das ist doch nicht verstecken?
Wir kannten einen Anwalt, aber der sagte, er könne nichts machen, es sei alles legal. Präsident Roosevelt habe einen Erlass unterschrieben.
Jetzt höre ich sogar, wie meine Mutter der Braut, deren Mann zwei Tage nach der Hochzeit abgeholt wurde, über den Mittelgang hinweg unsere eigene Geschichte erzählt.
»Sie kamen an einem Samstagvormittag, als Ichiro noch bei der Arbeit war. Sie warteten auf ihn in meiner Küche«, erzählt Mama. »Ich durfte ihn nicht anrufen, um ihn nicht heimlich zu warnen. Wir mussten stundenlang warten. Mein Mann blieb lange weg, weil er einem Gast half, eine Wandertour vorzubereiten. Er arbeitete immer lang, weil er sich um alles kümmerte. Die Männer sagten, er benutze seinen Job, um Informationen an Gäste weiterzugeben, die ins Ausland reisen.«
Sie lässt in ihrer Geschichte so viel aus. Sie erzählt nicht, dass das Albany, wo mein Vater als Nachtportier arbeitete, das schönste Hotel der ganzen Stadt war. Dass einige Gäste Japaner, die meisten aber Weiße waren und dass sie meinen Vater mochten und uns sogar manchmal Geschenke aus fremden Ländern mitbrachten. Papierfächer aus Paris, Schneekugeln aus New York City. Sie erzählt nicht, dass einmal sogar die Frau des Gouverneurs dort eingekehrt war und mein Bruder ihr eine Orangenlimonade aus dem Hotelshop verkaufte und ich ihr einen Strohhalm zum Trinken brachte. Mrs Carr sagte, ich hätte entzückende amerikanische Grübchen, und eine ganze Woche lang, wenn Kenichi und ich abends die Böden aufwischten, spielten wir diese Szene in aller Ausführlichkeit nach. »Amerikanische Grübchen sind okay, wenn du nicht andere haben kannst«, sagte Ken dann. »Ich für meinen Teil hätte meine Grübchen aber lieber aus Frankreich.«
Wenn wir Mrs Carr imitierten, verliehen wir ihr manchmal einen hochnäsigen Akzent, den sie aber gar nicht hatte. »Habe ich amerikanische Grübchen gesagt? Himmel, ich meinte natürlich amerikanische Pickel.« Niemand außer uns fand das witzig. Überhaupt lachte niemand außer uns über die Sachen, die wir witzig fanden.
An dem Tag, als die Polizei in unsere Wohnung kam, half ich nicht an der Sodastation aus. Und Ken hatte uns bereits verlassen, um ein amerikanischer Held zu werden. Papa und Mama wollten nicht, dass ich allein dort arbeitete.
Ich zog mir gerade mein Volleyballtrikot an, weil ich mich mit ein paar anderen Nisei-Mädchen aus der California-Street-Gemeinde treffen wollte. Meine Mutter rief mich aus meinem Zimmer, weil ich für sie übersetzen sollte. Ich hatte noch Lockenwickler im Haar. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, was die Männer wollten. Für manche Ausdrücke hatte ich keine Übersetzung. Was bedeutet Vorwand?, fragte ich einen der Polizisten, der die Frage unverschämt fand.
Wenn meine Mutter die Geschichte erzählt, lässt sie mein ganzes Leben aus.
Kurz nachdem der Brief von der Regierung eingetroffen war, kam auch ein Brief von meinem Vater, der nur an meine Mutter adressiert, aber an uns alle gerichtet war – auf Englisch. Wahrscheinlich hatten die, die seine Post überwachen, darauf bestanden, dass er englisch schreibt. Also musste ich ihn den anderen vorlesen. Hier gibt es einen Schönheitssalon und ein Lebensmittelgeschäft. Sie bauen eine amerikanische Schule und ein Schwimmbecken mit einem Durchmesser von 100 Yard und einem Sprungbrett! Die Leute können sich durch Arbeit etwas dazuverdienen, aber alle bekommen eine Wohnung und Wertmarken für Lebensmittel und Kleidung, egal ob sie Arbeit haben oder nicht. Es wird euch hier gefallen.
Mein Vater hätte sich wenigstens mehr anstrengen können, uns die Sache auszureden, meiner Mutter zu verbieten, nach Texas zu kommen. Aber als sie darauf bestand zu kommen, schrieb er uns fröhliche Briefchen, die sich wie Urlaubsgrüße anhörten. Mein Vater verwendete sogar Ausrufezeichen, die er bei mir als vulgär kritisiert hätte: Ganz viele Japaner! Gratisfilme im Gemeindezentrum! Haruko, sag deiner Mutter, dass das Krankenhaus ehrenamtliche Helfer sucht und dass ein paar Frauen eine Tofuproduktion aufbauen, mitten im Lager!
Auf diese Weise wollte mein Vater uns die karge texanische Wüste schmackhaft machen. Eine Tofuproduktion.
Ich erzählte meiner Mutter vom Krankenhaus. Sie strahlte. Meine Mutter, die ihren Abschluss an der Tokyo Women’s Medical Professional School gemacht hatte, die nie richtige Ärztin wurde, weil sie nach Amerika zog, um den ihr unbekannten Sohn einer befreundeten Familie zu heiraten, die nie richtig Englisch gelernt hat und die es sich stattdessen zur Aufgabe gemacht hat, sich um die Länge meines Volleyballtrikots zu sorgen.
Ich für meinen Teil würde mir eher Sorgen machen, dass ein Krankenhaus eine Frau, die vor zwanzig Jahren Medizin studiert hat, als Ärztin arbeiten lassen will. Aber meine Mutter strahlte, also schwieg ich lieber. Ruhig bleiben.
Toshiko stößt mich mit dem Ellbogen an. Der Zug hat sein Tempo gedrosselt, die Bremsen quietschen. »Ich glaube, wir bleiben stehen«, flüstert sie. »Ich glaube, da steigen neue Leute ein.«
»Wartungsarbeiten«, flüstere ich zurück. »Die Sonnenblenden.«
Würden wir an einem Bahnhof halten, hätten die Schaffner uns befohlen, die Sonnenblenden runterzuziehen. Das machen sie nämlich bei jedem Halt, haben uns aber nicht gesagt, warum. Ob wir nicht sehen sollen, wo wir sind, oder ob wir von den Leuten in den Ortschaften nicht gesehen werden sollen.
Diesmal aber liegen weder Toshiko noch ich richtig. Der Zug ist stehen geblieben, richtig stehen geblieben, und niemand hat gesagt, wir sollen die Blenden runterziehen, und niemand steht da und will einsteigen. Der Zug ist endlich still, eine himmlische Stille. Alle drücken sich die Nasen an den heißen Scheiben platt und niemand schreit uns an.
Der kleine, blasse Schaffner geht durch die Gänge und zählt murmelnd unsere Köpfe. Als er auf die erforderliche Personenzahl gekommen ist, befiehlt er, dass wir uns in einer Reihe aufstellen. Nicht durcheinanderlaufen, keine Hetze, lasst die Koffer stehen, sie werden nachgebracht.
Kaum werden die Zugtüren geöffnet, schlägt uns Hitze entgegen. Auch in Colorado ist es manchmal heiß, aber nicht so heiß, dass man das Gefühl hat, in einen Backofen zu kommen. Es ist eine unnatürliche, stockende Hitze, die sich träge durch den Zug wälzt. Die Leute vor mir bleiben erst einmal an der Tür stehen und wappnen sich gegen die gewaltige Hitzewand, bevor sie aussteigen.
Wir sind an einem Bahnhof. Eigentlich ist es eher eine Haltestelle, denn es gibt kein Bahnhofsgebäude, nur eine Art Pavillon: ein rostiges Eisengerüst mit einem Blechdach und in der Mitte eine Bank. Auf einem Hängeschild steht: Crystal City.
Nachdem endlich alle ausgestiegen und noch einmal durchgezählt worden sind, herrscht Verwirrung. Eigentlich sollte uns ein Bus ins Lager bringen, aber der hat anscheinend in der Hitze einen Motorschaden bekommen. Jedenfalls kommen wir nicht weiter. Der Mann, der uns diese Nachricht überbringt, ist ein Weißer in einem Anzug, dem die Schweißperlen von den Schläfen rinnen. Er entschuldigt sich für diese »Entwicklung«. Er sagt immer wieder, wenn wir noch etwas Geduld hätten und warten würden …
Wenn wir noch etwas Geduld hätten und warten würden, übersetze ich für meine Mutter.
»Dann kommt ein anderer Bus«, sagt der Mann. Er hat schütteres Haar und ein rundes Gesicht. Er ist groß und stämmig. Bestimmt irgendein Vorgesetzter. Er hat ein Klemmbrett. Andere Leute, die wie Angestellte aussehen, wieseln flüsternd herum, während er sich Notizen macht.
Dann kommt ein anderer Bus.
Was es sonst noch hier gibt: eine Poststelle mit amerikanischer Flagge. Ein winziges, verwittertes Lokal. Ein Gästehaus, in dem ich lieber nicht wohnen würde. Kleine einstöckige Häuser, die weit voneinander entfernt stehen. In Denver haben wir im oberen Stock eines Zweifamilienhauses gewohnt. In Denver musste man nur die Treppe hinunter, wenn man sich eine Nadel oder eine Dose Schuhwichse ausleihen wollte.
Einige Reisende haben sich beraten, während ich mich umgesehen habe. Die besonders lautstarken wie Mrs Ginoza, die ständig Wasser für ihre Tochter verlangte, während meine Mutter uns sagte, wir sollen unsere eigene Spucke schlucken, wollen nicht auf den Bus warten. Sie haben einfach beschlossen, zu Fuß zu gehen: Was ist schon eine Meile, wenn wir bereits 1 000 Meilen hinter uns haben?
Der verschwitzte weiße Mann ist nicht begeistert. Wie sieht das aus, mit einem Haufen müder Frauen und Kinder in bester Reisekleidung durch die Landschaft zu wandern? Aber wir haben uns schon in Bewegung gesetzt. Mrs Ginoza hat einen Wegweiser entdeckt, und wir folgen ihr aus der winzigen Stadt hinaus, in der es keine Häuser aus Glas gibt, nichts was irgendwie an Kristall erinnert. Wir kommen an Feldern vorbei, auf denen Spinat wächst, wie der Mann sagt. »Crystal City ist die Spinathauptstadt der Welt.« Das sagt er wirklich, als könnte er die Situation wieder unter Kontrolle bekommen, wenn er sich wie ein Fremdenführer aufführt. »Die Gegend ist berühmt für ihren Spinat. Wir haben hier auch eine Statue von Popeye, dem Matrosen, der so gern Spinat isst«, sagt er. Fast schäme ich mich für ihn. Die Sonne steht genau über uns, und ich bin völlig verschwitzt, erst unter den Armen und, als wir weitergehen, am ganzen Körper. Mein Kleid klebt an Bauch und Beinen.
Und dann, als meine Zunge vor Hitze so geschwollen ist, dass ich keine Spucke mehr zum Runterschlucken habe, sehen wir fünfzig Yard von uns entfernt ein Tor. Dahinter ein Gewimmel von Gesichtern, der Grund, warum wir hergekommen sind.
Unsere Väter und Ehemänner recken ihre Hälse. Man hat ihnen anscheinend gesagt, dass wir im Anmarsch sind. Ein paar halten Willkommensschilder hoch. Durch den Schweiß, der über mein Gesicht strömt, sehe ich verschwommen eine Blaskapelle, und noch verschwommener wird mir klar, dass sie zu unserem Empfangskomitee gehört.
Zuerst denke ich, meine Augen würden mir einen Streich spielen, aber es stimmt: Ein paar Männer weiter hinten haben blonde Haare und sehen europäisch aus. Deutsche Häftlinge. Auch das hat Vater uns geschrieben. Wir teilen uns das Lager mit Nazis.
»Ich sehe deinen Vater nicht«, flüstert Mutter ängstlich.
Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen, und er bleibt an einem Zaunpfahl hängen, auf dem ein Mädchen sitzt. Krisseliges blondes Haar, auf den spitzen Knien ein Heft, in das sie etwas hineinschreibt. Sie sieht offiziell aus, wie eine Lagerangestellte, aber dafür ist sie zu jung, ungefähr mein Alter. Ich habe mir nicht klargemacht, dass auch die deutschen Häftlinge ihre Kinder mitbringen. Auch sie blickt über die Menge und mustert die Neuankömmlinge. Kurz treffen sich unsere Blicke, dann beugt sie sich wieder über ihr Heft und schreibt. Wütend ziehe ich die Augenbrauen hoch. Ich bin schon von zu vielen Menschen auf irgendwelchen Listen abgehakt worden. Zu viele, die sich notiert haben, wann wir essen, schlafen und aufs Klo gehen.
»Haruko! Haru-chan!«
Das ist mein Vater. Mein Vater. Seit fünf Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen. Mein Herz macht einen Sprung, aber dann fällt mir ein, dass ich gar nicht weiß, wie ich das Wiedersehen mit meinem Vater empfinde, weil er, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, so eigenartig war.
Er sieht dünner aus und seine Schläfen sind grau geworden. Er steht an einem der anderen Zaunpfähle und schwenkt ein Taschentuch wie eine Fahne. Ich höre ihn als Erste, vor meiner Mutter und meiner Schwester. Als sich unsere Blicke treffen, lässt er das Taschentuch sinken und auf seinem Gesicht zeigt sich so etwas wie Unsicherheit. »Helen«, ruft er. Es ist keine Unsicherheit, es ist die Hoffnung, dass ich in seine Richtung blicken möge. Toshiko hatte recht. Nur die Mädchen aus meiner Schulclique nannten mich Helen. Meine Familie nie. Er versucht es wieder. Eigentlich sollte ich glücklich sein. »Helen, hier drüben.«
Ich stupse meine Mutter an. »Da ist Papa.« Meine Mutter blickt sich suchend um. Dann hat sie ihn gefunden und fängt an zu lächeln, packt mich am Handgelenk und eilt auf das Eingangstor zu, zu dem Maschendrahtzaun, der sich um das gesamte Lager zieht. Er ist zehn Fuß hoch und oben von Stacheldraht gesäumt. An den Ecken stehen Wachtürme, besetzt mit bewaffneten Soldaten.
Das hat mein Vater in keinem seiner Briefe erwähnt, das hat er wohl vergessen. Hier in Crystal City, Haruko, gibt es Freiluftkino, eine Tofuproduktion und stachelige, spitze Zäune, die von Männern bewacht werden, die dich erschießen, wenn du versuchst rauszukommen.
Komisch, was man alles auslassen kann. Komisch, wie man ein Bild zeichnen kann, das einerseits wahr ist und andererseits falscher als falsch.
Mein Vater kommt zur Begrüßung nicht heraus, weil er innerhalb dieses Zauns lebt. Er hat uns zu diesem Zaun gebracht. Und obwohl ich weiß, dass ich mich freuen sollte, ihn wiederzusehen, muss ich daran denken, was ich antworten wollte, als meine Mutter sagte: Deine Schwester ist nicht deine Feindin. Ich wollte fragen: Und mein Vater?
Plötzlich zerrt jemand an meinem linken Arm. Während meine Mutter mich nach vorne zieht, reißt Toshiko mich an der anderen Hand zurück, ihr Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
»Hör auf, Toshi, du tust mir weh.«
»Ich will da nicht rein.«
»Red keinen Unsinn, du hast seit Tagen von nichts anderem gesprochen.«
»Aber jetzt will ich nicht mehr«, kreischt sie und ist den Tränen nah.
»Toshiko, hör auf. Wenn du Papa sehen willst, musst du jetzt mitkommen.«
Meine Mutter versucht immer noch, uns nach vorne zu ziehen. Im Gedränge fängt ihr Hut an zu wackeln, ein mit blauen Blüten besetztes Zweiglein zittert, als würde es gleich herunterfallen. Ich drehe mich zu meiner Schwester um, die immer noch widerspenstig wie ein Maulesel ist. »Ich wünschte, wir wären alle zu Hause«, sagt Toshiko. »Ich wünschte, wir könnten Papa abholen und zusammen nach Hause fahren.«
Sie weint und schnieft, und als sie ihre Finger in meine flechten will, ziehe ich meine Hand ruckartig weg, hole aus und schlage sie, ohne es zu wollen, ins Gesicht.
Meine Finger brennen von der Berührung mit Toshis zarter Babyhaut. Sie sperrt den Mund auf und fasst sich ins Gesicht, auf dem sich vier fingerförmige weiße Streifen abzeichnen. »Haruko …«, setzt sie an, weil ich sie noch nie zuvor geohrfeigt habe und weil ich so hart zugeschlagen habe.
Ich atme schwer, wir atmen beide schwer, und in meine Reue mischt sich ein ekelhaftes Gefühl der Erleichterung, weil der Schlag ins Gesicht meiner Schwester mir so echt vorkommt wie lange nichts seit vielen Monaten.
»Das ist jetzt unser Zuhause«, sage ich zu ihr, als sie neue Schluchzer hinunterschluckt. Ich ziehe ein Taschentuch heraus und warte, bis sie ihr Gesicht abgewischt hat. »Schluss mit Wünschen. Das ist jetzt unser Zuhause.«
24. August 1944
Zugänge:
Frauen: 44
Kinder: 63 (Mädchen – 37; Jungen – 26)
Aktuelle Gesamtzahl in Crystal City: 3 368
Diesmal sind alle Neuzugänge Japaner, das habe ich auch in mein Heft geschrieben. Gesamtzahl der japanischen Lagerinsassen: 2 371. Gesamtzahl der deutschen Lagerinsassen: 997.
Diese Gesamtzahl teilt sich noch in Untergruppen: in Deutschland geborene Häftlinge, die aus Costa Rica kommen. In Japan geborene Häftlinge, die aus Peru kommen. Mit diesen Ländern hat Amerika Abkommen geschlossen, wonach in Crystal City zusätzlich zu den eigenen auch die Staatsfeinde dieser Länder interniert werden. Ein Mädchen hat einen Betty-Boop-Aufkleber auf seiner Handtasche, sie kommt also aus Amerika.
Ich vergleiche meine Aufzeichnungen mit denen früherer Zugänge. Dies ist die kleinste Gruppe, seit ich hier bin. Kürzerer Zug?, notiere ich. Oder gibt es zu wenig Unterkünfte?
Alle Neuzugänge sind jetzt innerhalb des Lagers. Die Väter, die ihre Familien schon in die Arme geschlossen haben, machen sie stolz mit den anderen bekannt. Eine Lagerschwester in weißer Uniform schleust die Leute durch das Klinikzelt, wo sie geimpft und untersucht werden. Keuchhusten. Als unsere Gruppe hier ankam, hatten 54 von uns Keuchhusten.
Mr Mercer, der alle um Kopflänge überragt, sieht verärgert aus. Er hat sein Jackett ausgezogen. Auf seinem beigefarbenen Hemd zeichnen sich kreisförmige Schweißflecke ab. Seine Schuhe sind schmutzig. Wahrscheinlich war der Bus kaputt.
Ist diese Gruppe kleiner, weil es nicht mehr so viele Japaner gibt, die man in die Lager stecken kann?
»Guten Morgen, Margot.«
Ich drehe mich nach der Männerstimme um und halte schützend meine Hand vor die Augen. Schmale Lippen, dunkles Haar, etwas älter als mein Vater. Er macht Anstalten, seinen rechten Arm zu heben. »Hei…«
»Hallo, Herr Kruse«, unterbreche ich ihn, weil ich ahne, wie sein Gruß sonst aussehen würde. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt.
»Und, hast du alles unter Kontrolle?«
»Zeit totschlagen. Bald fängt die Schule an«, sage ich, obwohl er das vielleicht schon weiß. Er hat eine Tochter. »Ich glaube, es gab eine Verzögerung, aber jetzt sind die Gebäude fertig.«
»Du gehst doch in die Deutsche Schule, oder?« Statt einer Antwort zucke ich die Achseln. Er sieht mich überrascht an. »Nicht in die Deutsche Schule?«
Ich überlege, ob ich hätte nicken sollen. Die Lagerabteilung des Amerikadeutschen Bunds hat den deutschen Eltern empfohlen, ihre Kinder in die Deutsche Schule zu schicken und nicht in die Amerikanische. Das stand in dem Blättchen Das Lager, das an die Hausfrauen verteilt wird. Aber die Highschool ist staatlich anerkannt und hat amerikanische Lehrer wie jede andere Schule in den Vereinigten Staaten. In der Deutschen Schule wird der Lehrplan vom Bund festgelegt. Mutti und Vati würden mich niemals zwingen, in die Deutsche Schule zu gehen.
»Heidi wird enttäuscht sein«, sagt er. »Sie redet immer noch von dir. Ich schicke sie mal bei euch vorbei, wenn sie nicht stört.«
»Aber ja doch. Ich mag Heidi.« Wir waren im selben Zug. Sie hatte bei einer Tante gewohnt, bis ihre Eltern sie zu sich holten. Ich half ihr, die Proviantbrote auszupacken, und erzählte ihr die Geschichte von einem Mädchen aus den Schweizer Alpen, das genauso hieß wie sie.
Drüben am Zaun zupfen die neu eingetroffenen Mütter ihren Kindern die Kleider zurecht und streichen ihnen die Haare glatt. Nach dem Impfen kommt als nächster Akt der Aufnahmeprozedur das Familienporträt. Jede Familie bekommt ein Foto, das sie in ihrer Unterkunft aufhängen kann. Etwas, womit keiner rechnet.
»Und was macht dein Vater so?« Herr Kruse zieht eine Zigarette aus seiner Brusttasche, zündet sie an und dreht den Kopf zur Seite, damit mir der Rauch nicht ins Gesicht bläst. Es ist so heiß, dass man die Schwaden seiner Zigarette kaum von den Hitzewellen am Horizont unterscheiden kann.
»Er hat zu tun«, sage ich möglichst belanglos. Seine Frage hat mich aufhorchen lassen. »Mutti hat die Erlaubnis für einen Garten bekommen, aber sie kann noch nicht lange stehen. Vati baut Blumenkästen für sie.«
Herr Kruse sieht mich belustigt an. »Geld für Sämereien ausgeben, wenn die USA uns gratis mit Lebensmitteln versorgt? Würde ich nicht machen. Lieber sich am Lager schadlos halten und ihre Vorräte schröpfen.«
»Wer rastet, der rostet«, erwidere ich unwillkürlich auf Deutsch.
Herr Kruse lacht los. »Da hast du recht. Ich freue mich immer, wenn junge Leute Deutsch sprechen. Richte deinem Vater bitte aus, er soll mal bei mir vorbeikommen. Wir könnten noch einen Mann beim Schwimmbad gebrauchen, vor allem einen mit seiner Ausbildung. Er kommt nie zu unseren Versammlungen. Sag ihm das. Und deine Mutter kann auch kommen, wenn sie will.«
Mir ist das unangenehm. Die Unterhaltung hat jetzt einen offiziellen Charakter bekommen. Herr Kruse wird Vati bei seinen Versammlungen auch weiterhin nicht sehen. Wegen so einer Versammlung sind wir überhaupt hier gelandet. Er würde niemals wieder zu einer gehen. Warum habe ich nicht einfach gesagt, dass ich in die Deutsche Schule gehen werde? Ich tue so, als ob ich in der Menge nach etwas suche.
Vor mir blitzt etwas Blaues auf. Es ist der mit Blüten besetzte Hut einer erschöpften Mutter. Sie schmiegt sich in die Arme eines Mannes und ihre kleine Tochter hat die Arme um seine Hüfte geschlungen.
Aber sie hat auch eine ältere Tochter, ein hübsches Mädchen, schlank und sportlich, in einem lavendelfarbenen Kleid. Sie hat ihr schulterlanges Haar auf eine Weise hochgesteckt, wie ich es mit meinen Haaren nie hinkriegen würde. Ihre Arme hängen steif an ihr herab, während ihr Vater versucht, sie an sich zu ziehen.
Sei nicht so unhöflich. Guck weg, sage ich zu mir, aber ich kann meine Augen nicht von der Szene losreißen.
Jetzt fällt etwas Blaues auf den Boden, ein paar der blauen Hutlilien. Sie landen direkt vor dem Lavendelmädchen, liegen seidig glatt neben ihren staubigen Schuhen. Sie blickt hinab, hebt sie aber nicht auf. Ich würde sie aufheben. Es gibt hier nichts Schönes. Ich würde sie aufheben und mein Gesicht darin vergraben, so wie ich es bei den Blumen auf unserer Farm gemacht habe. Das Kleid des Mädchens hat nicht genau die gleiche Farbe wie die Blumen, nur beinahe. Noch so eine seidige Schönheit fällt in den Staub. Ich schlucke.
Die Wange des Mädchens drückt sich jetzt an den Ärmel des Vaters. Ein Ausdruck von Einsamkeit und Trotz flackert in ihren Augen auf, etwas, das die Familie nicht sehen darf. Das niemand sehen darf. Nur ich sehe es. Wie angespannt sie ist. Wie sie die Füße in den Boden stemmt, statt sich an die Eltern zu lehnen. Ich meine, inmitten des Staubs, inmitten des Durcheinanders, ein Geheimnis zu sehen.
An so etwas sollte ich nicht denken. Nicht an das Mädchen, nicht daran, wie sehr ich unser Zuhause vermisse, und nicht an das alles hier. Also zähle ich lieber die Lilien auf dem Boden.
Acht Lilien. Meine Lippen sind ganz spröde. Es ist so heiß.
Sie weicht von ihrem Vater zurück und lässt ihren Blick über das Lager schweifen. Dann sieht sie mich. Sie hat gesehen, wie ich sie anstarre. Ich werde rot und blicke rasch zu Boden.
Ich kann nicht nachempfinden, wie es wäre, endlich den Vater wiederzusehen, aber ihn nicht begrüßen zu wollen. Als ich hier ankam, musste ich heulen und Vati auch. Nur meine Mutter nicht, weil sie zum Weinen viel zu erschöpft war. Wir hatten meinen Vater sechs Monate lang nicht gesehen.
Ich kann nicht nachempfinden, dass man seine Familie nicht festhalten und nie mehr loslassen will.
Mr Mercer hat sich aus der Menge befreit, packt sein Klemmbrett und sieht sich suchend um, bis er mich entdeckt. Ich komme ihm gerade gelegen. »Miss Krukow, nicht wahr? Könnten Sie mir einen Gefallen tun?« Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und kommt auf mich zu. Als Herr Kruse neben mir hustet, bleibt er unschlüssig stehen. »Störe ich?«
»Nein, überhaupt nicht.« Ich stehe auf und klopfe den Staub von meinem Rock. Ich bin froh, dass er den unangenehmen Blick des Lavendelmädchens verdeckt, froh, dass ich jetzt einen Grund habe, das Gespräch mit Herrn Kruse zu beenden. »Äh, entschuldigen Sie, Herr Kruse, ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Es gibt offenbar Probleme mit dem Neuzugang«, sagt Mr Mercer. »Das Gepäck ist zurückgeblieben und wir haben einen Fall von Magen-Darm-Grippe. Wir brauchen ein paar Anziehsachen.«
»Soll ich welche aus dem Lagerladen holen?«
Er hat bereits ein Papier aus seiner Brusttasche gezogen und notiert etwas. »Das ist ein Bezugsschein für einen Rock und eine Garnitur Unterwäsche. Ich schätze, die Frau hat Größe M.«
Als er fort ist, merke ich, dass ich ihn gar nicht gefragt habe, zu welchem Laden ich gehen soll. Es gibt einen für die Japaner, den Union Store, und einen für uns, den General Store. Dieser ist ein Gemischtwarenladen, in dem es Zigaretten, Trockenprodukte, amerikanische Limo und deutsches Bier gibt. Im japanischen Laden gibt es wahrscheinlich ähnliche Sachen, aber ich bin noch nie drin gewesen. Ich war auch noch nie in einem japanischen Haus oder überhaupt im japanischen Teil des Lagers, obwohl ich schon seit vier Monaten hier bin.
Im deutschen Laden lege ich dem Angestellten den Zettel von Mr Mercer vor. Normalerweise kaufe ich mit Wertmarken aus Pappe ein. Am Anfang gaben sie uns Kleidungsstücke aus, deren Größen wir vorher auf kleine Zettel geschrieben hatten. Dann überlegten sie, dass es stimmungsförderlich für uns sein könnte, wenn wir selbst einkaufen. Jetzt haben wir die freie Auswahl, nur ist das Angebot sehr beschränkt. Vorhänge, Kleider, Tischdecken sind alle aus den gleichen Stoffen genäht, und wenn einmal ein neues Muster reinkommt, zieht sich durch das halbe Lager eine Schlange. Die Frauen haben selbst gebaute hölzerne Einkaufswagen dabei und hoffen auf etwas Neues, irgendetwas Neues.
Als ich zurückkomme, ist die Familie des Lavendelmädchens verschwunden. Die Kleidung, die ich gerade beschafft habe, ist für eine erschöpfte junge Mutter. Von ihrem fleckigen Rock steigt ein säuerlicher Geruch auf. Verlegen tupft sie mit einem feuchten Tuch darauf herum.
»Gut. Wunderbar«, sagt Mr Mercer, als ich der Frau das braune Papierpäckchen reiche. »Danke, Margot. Mrs …«, er wirft einen Blick auf sein Klemmbrett. »Mrs Menda ist bestimmt froh, wenn sie ihre schmutzigen Sachen endlich ausziehen kann.«
Nachdem er gegangen ist, hält die Frau den Rock hoch, den ich ihr gerade gebracht habe. Sie sieht mich ratlos an.
»Die Krankenschwester kann Ihnen vielleicht zeigen, wo Sie sich umziehen können«, sage ich, aber erst als sie mich verwirrt ansieht, begreife ich, dass sie kaum Englisch versteht. »Die Krankenschwester, da drüben.« Ich zeige immer wieder zum Impfzelt hinüber, bis die Frau sich in die Richtung davonmacht.
»Margot!« Mein Magen krampft sich kurz zusammen. Mir war nicht klar, dass Herr Kruse noch da ist. »Da warst du aber eine große Hilfe für den Lagerleiter!«
»Es war nur eine kleine Besorgung.«
»Natürlich. Wir wollen uns nützlich machen, wo es nur geht. Ich habe überlegt, dass ich Heidi persönlich bei euch vorbeibringe und bei dieser Gelegenheit gleich mit deinem Vater darüber sprechen könnte, dass er zu unseren Versammlungen kommen soll. Das hört sich doch gut an?« Er zwinkert mir zu. »Ich frage dich, weil ich weiß, dass der Weg zum Vater über die Tochter geht.«
Unter meiner Achsel löst sich ein Schweißtropfen und rinnt an meinem staubverklebten Ellbogen hinab, dann über mein Handgelenk und tropft schließlich auf den Boden. Hört sich das gut an?
Ich kann so etwas nicht. Ich kann nicht das eine sagen und das andere meinen, und ich bin doch völlig anderer Meinung als Herr Kruse, der viel älter ist, ein Mann in einer gewählten Position.
»Sie müssen sich nicht so viele Umstände machen«, sage ich.
»Aber das ist überhaupt keine Mühe. Würdest du es ihm bitte ausrichten? Dass ich vorbeikomme? Sehr schön.«
Und dann schlägt er die Absätze aneinander und streckt seinen Arm hoch, genau parallel zum Boden und kerzengerade. Mir wird übel bei dieser Geste. Auch wenn sie, Gott sei Dank, nicht von Worten begleitet ist. Er sieht mich erwartungsvoll an, aber ich kann den Gruß nicht erwidern. Ich ertrage den Anblick nicht. Ich beuge mich tief über das Heft und tue, als hätte ich es nicht gesehen.
»Auf Wiedersehen, Margot«, sagt er.
»Auf Wiedersehen, Herr Kruse.«
Ich starre in mein Heft, bis ich sicher bin, dass er fort ist. Herr Kruse hat eine Stimme, die man schon von Weitem hört, auch wenn er nicht besonders laut spricht. Wenn ich sie höre, muss ich immer daran denken, wie Vati mit mir einmal in ein leeres Getreidesilo ging. Ich sollte die Augen zumachen und nur am Ton seiner Stimme erraten, wo er sich befand. Das sei eine Lektion über Akustik, hatte er erklärt. Krümmungen verstärken den Ton, der näher erscheint, als er wirklich ist.
Hier in Crystal City höre ich immer Herrn Kruse. Egal ob er schreit oder flüstert. Seine Stimme dringt an mein Ohr, als würde sie von der gekrümmten Wand eines Silos verstärkt werden. Er muss mittlerweile viele Yards entfernt sein und immer noch höre ich seine Stimme.
»Heil Hitler«, sagt er zu allen, an denen er vorüberkommt. Mit diesem Gruß soll ein Diktator geehrt werden, der fast auf der anderen Seite der Welt lebt und der schuld daran ist, dass wir hier sind.
»Heil Hitler«, sagt Herr Kruse wieder, aber diesmal ist es vielleicht nur meine Einbildung, die seine Worte so laut klingen lässt. Heil Hitler. Heil Hitler. Heil Hitler.
»Die Bücher?«, fragt Mutti, als ich zur Tür hereinkomme. Deshalb war ich zwei Stunden zuvor eigentlich aus dem Haus gegangen. Ich wollte in der Lagerbücherei nachsehen, ob die bestellten Bücher angekommen sind.
»Wie geht es dir?«, frage ich, als wüsste ich nicht, dass es sie wahnsinnig macht, ständig gefragt zu werden.
Sie wedelt wegwerfend mit der Hand. »Hast du Bücher?« Ich reiche ihr das oberste Buch von dem Stapel, den ich unter dem Arm trage. Gartenbau in Texas. Sie blättert es durch. »Eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Deine Mutter ist nicht plemplem. Kein Wunder, dass aus den Samen, die ich hier gekauft habe, nichts geworden ist. Das Klima ist völlig ungeeignet dafür.«
»Ist das die schlechte Nachricht?«
»Nein, abgestorbene Blumen sind keine schlechte Nachricht, sondern einfach Pech. Die schlechte Nachricht: Es zeigt mal wieder, dass die Angestellten, die die Bestellungen für den Laden bearbeiten, komplett inkompetent sind. Vielleicht sollten wir Spinatbeete anlegen, anstatt irgendetwas Nützliches oder gar Hübsches anzupflanzen.«
»Ich glaube, das könnte funktionieren …«, setze ich an, aber Mutti streckt mir die Zunge raus.
»Das war ein Witz. Nimm nicht immer alles so wörtlich, Margot.« Mit zusammengepressten Lippen geht sie den Bücherstapel durch. »Latein, gut. Aufbaubuch Geometrie, gut. Du und Vati, ihr habt das meiste sowieso schon zu Hause durchgenommen, oder? Deshalb konntest du eine Klasse überspringen.« Nachdem sie den ganzen Stapel durchgesehen hat, blickt sie auf. »Ich dachte, Vati hätte auch ein Chemiebuch bestellt.«
»Es ist nicht gekommen.«
»Vielleicht mit der nächsten Lieferung.«
»Nein, also – es kommt überhaupt nicht.«
Sie begreift nicht sofort. Normalerweise gibt es nur einen Grund, warum Bücher nicht kommen. »Nun gut. Chemikerin ist sowieso nicht dein Wunschberuf, oder?«
Ich verneine kopfschüttelnd.
Sie sieht mich prüfend an. »Freust du dich auf die Schule?«
Diesmal nicke ich, aber so zögerlich, dass meine Mutter es registriert.
»Es wird dir gefallen.« Energisch legt sie den Bücherstapel auf den Tisch. »Zu Hause waren sie verunsichert. Weil du viel weiter warst als sie. Und so ernst. Darum hattest du auch wenig Freundinnen – hier spielt das keine Rolle. Alle sind hier neu, alle haben hier andere Sorg…«
Plötzlich zieht meine Mutter ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und drückt es auf den Mund.
»Geht es dir nicht gut?«
Der Augenblick geht vorüber und sie schluckt. »Immer diese Morgenübelkeit. Manchmal auch Abendübelkeit und Nachmittagsübelkeit, je nachdem. Bei dir musste ich mich ständig übergeben. Erinnerst du dich an Mrs Loeb in der Kirche? Wenn ich ihr Parfüm roch, kam es mir hoch.«
Bei mir war ihr übel. Diesmal ist ihr auch übel. Das ist ein gutes Zeichen. Wenigstens in dieser Hinsicht ist es anders als im März. In vielerlei Hinsicht verbessere ich mich. Es ist ganz anders.
»Was hast du sonst erlebt, als du draußen warst?«, fragt meine Mutter. »Komm, hilf mir mal.« Sie zeigt mit dem Kopf auf die Feldbetten, wo sie und Vater schlafen, und zieht an der Decke. Mein Feldbett befindet sich auf der anderen Seite des Zimmers, ebenso mein großer Koffer, der Schreibtisch, Sitzgelegenheit und Nachttisch in einem ist. Dazwischen steht der Tisch mit einer Porzellanschüssel, die als Waschbecken dient. Unser Zimmer ist ungefähr sechzehn mal sechzehn Fuß groß und befindet sich in einem Gebäude, in dem es noch drei andere gleich große Unterkünfte gibt. Die Gemeinschaftsküche teilen wir mit den anderen Familien. Von den meisten Küchengerüchen wird meiner Mutter übel. Aber wir haben wenigstens eine Küche.
»Setz dich doch, Mutti.«
»Ich muss die Betten machen.«
»Aber das kann ich doch machen!«
Sie gibt aber nicht nach, sieht mich nur erwartungsvoll an. Ich nehme die Decke am anderen Ende. »Eine neue Busladung ist angekommen«, erzähle ich. »Ich habe für Mr Mercer eine Besorgung gemacht. Und …«
»Und?«
Und ich habe ein Mädchen in einem lavendelfarbenen Kleid gesehen, hätte ich beinahe gesagt, aber wieso sollte ich so etwas erwähnen? Vielleicht sehe ich das Mädchen nie wieder. »Und ich habe mit Herrn Kruse gesprochen. Oder eigentlich hat er mit mir gesprochen«, füge ich rasch hinzu.
Mutti kneift die Lippen zusammen und schüttelt heftig die Decke aus. »Was hat er gesagt?«
Bevor ich antworte, geht hinter mir mit einem Quietschen die Tür auf. »Wer hat was gesagt?« Vati nimmt seinen Hut ab und drückt die Tür wieder zu. Sie schließt nicht richtig. Die Wände haben sich verzogen, das liegt irgendwie an der Hitze. Zu Hause hätte Mutti darauf bestanden, dass er sich erst draußen am Wasserhahn säubert, bevor er hereinkommt. Doch dann müsste er sich auf dem staubigen Weg ausziehen, und der ist so schmal, dass ich nachts vier Familien schnarchen höre.
»Margot erzählt gerade von Neuzugängen«, sagt Mutti leichthin. »Japaner?«
Vati nickt, geht zur Waschschüssel und wäscht sich das Gesicht. »Gibt es Neuigkeiten?« Der Krieg draußen kommt zeitverzögert hier an, weil unsere Nachrichten zensiert werden. Bevor meine Mutter und ich im Lager eintrafen, hatten wir im Zug von Monte Cassino gehört, einem Kloster in der Nähe von Rom, das von den Alliierten unter Beschuss war. Vor einigen Monaten kam ein Zug hier an, und die Leute berichteten, dass auf einem Strand in Frankreich Tausende amerikanische Soldaten gelandet wären. Dann ist es vielleicht bald vorbei, überlegten wir, aber da niemand uns rausließ, war der Krieg wohl immer noch nicht zu Ende.
»Ich weiß nicht, ob sie etwas wissen«, sage ich zu Vati. »Ich habe nicht mit ihnen gesprochen.«
»Wer hat dann was gesagt?«
»Herr Kruse«, sage ich nach kurzem Zögern, weil mir so schnell keine Lüge einfällt. »Nachdem ich die Bücher abgeholt habe.«
Vati nickt. »Hat er zufällig erwähnt, wie der Schwimmbadbau vorangeht?« Er fragt das wie beiläufig, aber Mutti warnt mich mit einem Kopfschütteln.
»Er – er hat gesagt, dass sie daran arbeiten, aber wir haben nicht lange miteinander gesprochen.«
Vati seufzt und setzt sich an den Tisch. »Sie verwenden für die Verkleidung das falsche Material. Es ist schwarz, dadurch kann man nicht auf den Grund sehen. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass sie vor dem Bau einen Ingenieur um Rat gefragt haben.«
Als Vati im vergangenen Jahr den ersten Brief aus Crystal City schickte, schrieb er, es gäbe hier viele gute, anständige Leute und »ein paar verirrte Nazisympathisanten«. In seinem nächsten Brief berichtete er entsetzt, dass einer der verirrten Nazis zum Vertrauensmann der Deutschen gewählt worden war. In seinem dritten Brief sagte er, dass Herr Kruse in seiner Funktion als Vertrauensmann Arbeitseinsätze anordnen könne und die Leute auswähle, die zu seinen Versammlungen gingen.
Aber das macht nichts, schrieb Vati. Solange ich meine Familie hier habe, spielt das alles keine Rolle. Aber dann kamen wir hierher, und es spielte doch eine Rolle, denn nachdem er die wenigen Möbel für unser kleines Zimmer geschreinert hatte, gab es für ihn nichts mehr zu tun.
»Dann bist du dort gewesen?«, frage ich vorsichtig. »Beim Schwimmbad. Dann bist du auf der Baustelle gewesen?«
»Ich werde da nicht mitmachen, Margot.« Er klingt angespannt.
»Das habe ich auch nicht gemeint. Ich – ich weiß doch, dass du denkst, sie machen es nicht richtig. Und dass es dich ärgert.«
»Ich weiß, dass sie es nicht richtig machen. Schau dir die Möbel an, die ich für uns gebaut habe. Habe ich irgendwo halbe Sachen gemacht?«
»Genau das meine ich.«
»Warum denkst du immer das Schlechteste von mir? Warum verhältst du dich, als bräuchte ich eine Aufpasserin?«
Mutti schließt ihre Augen. Nicht jetzt, sagt ihr Gesicht. Bitte nicht schon wieder.
Seine Hand knallt auf die Tischplatte. »Das Schwimmbad befindet sich innerhalb des Lagers. Wenn ich spazieren gehe, befinde auch ich mich innerhalb des Lagers, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Das Lager ist höchstens eine halbe Quadratmeile groß. Ich bin schon jedes Stück abgelaufen und war auch beim Schwimmbad, und zwar nicht nur einmal. Ich gehe nicht gezielt dorthin, aber so viele Möglichkeiten, spazieren zu gehen, gibt es hier nicht, wenn man auf das Lager beschränkt ist. Und noch mal, wenn wir nicht im Lager bleiben, werden wir erschossen.«
Durch die Wand höre ich Geräusche, als ob jemand auf Zehenspitzen vorbeiginge, dann schabt ein Stuhl über den Boden. Die Nachbarn hören, dass wir uns streiten. Lache, befehle ich mir. Du musst lachen, dann wissen die Nachbarn, dass bei uns alles in Ordnung ist, dass alles nur ein alberner Witz ist. Lache, dann weiß mein Vater, dass alles gut ist.
»Jemand sollte mit Mr Mercer sprechen, dass er einen neuen Vertrauensmann wählen lässt«, sagt meine Mutter. »Bei den Japanern gibt es keinen Ärger. Sie organisieren für ihren Nationalfeiertag ein Drachenfest. Und was macht unsere Führung? Sie verhandelt, wie oft sie an Hitlers Geburtstag mit dem Hakenkreuz aufmarschieren darf. Sie baut eine illegale Brennerei und besäuft sich mit Kornschnaps.«
»Ich dachte, du magst die japanischen Vertrauensleute auch nicht«, seufzt Vati. Der Ärger in seiner Stimme ist abgeebbt. »Diese Abstimmung. Nur weil sie die Frauen nicht wählen lassen, die genau genommen keine Häftlinge sind.«
»Eine idiotische Bestimmung. Wir keine Häftlinge? Dann sind wir wohl Wächter?«, meint Mutti ironisch. »Oder Lagerangestellte? Texaner, die zufällig an einen Stacheldrahtzaun gekommen sind und gesagt haben: Oh, wie hübsch! Ich glaube, ich bleibe eine Weile hier.«
Ich befürchte, Vati könnte gleich wieder losschreien. Aber er schnaubt, und als aus dem Schnauben ein Lachen wird, löst sich der Knoten in meinem Magen. Es ist wirklich zum Lachen, dass wir alle hinter Stacheldraht leben müssen, aber manche als Häftlinge gelten, andere nicht. »Stellt euch mal vor!« Vati hebt einen unsichtbaren Telefonhörer ab. »Hallo, Crystal City? Hier spricht die Familie Jones aus Houston. Wir möchten einen Platz reservieren. Für wie lang? Geht es auf unbegrenzte Zeit? Wir möchten sichergehen, dass wir unbegrenzt dableiben können.«
Er lacht immer noch, als sein Blick auf den Bücherstapel fällt. »Ich habe ganz vergessen, dass du in der Bücherei warst! Haben sie die neuste Auflage des Chemiebuchs bekommen? Ich wollte wissen, ob auch Curium darin behandelt wird.«
»Keine Chemie«, sage ich schließlich. »Sie haben kein Chemiebuch.«
»Margot hasst neuerdings Chemie«, sagt Mutti. »Ich auch. Ich habe ihr verboten, Chemiebücher nach Hause zu bringen.«
Mein Vater braucht eine Sekunde länger als meine Mutter, bis er begreift. »Stand auf dem Ablehnungsbescheid etwas Genaueres?«