Zum Buch

Das Leben Ludwig van Beethovens gleicht mancher Rockstarexistenz heutiger Tage: schwierige Kindheit, rebellisches Künstlertum, provokatives Auftreten – und trotzdem reißen sich alle um ihn. Er ist das erste Enfant terrible der Musikgeschichte, das Zugang zu höchsten Kreisen hat. Ein Mann, der Freund und Feind düpiert, der die richtigen Leute kennt und die falschen Frauen liebt. Wohltemperiert ist so gar nichts an diesem Komponisten. Er führt ein Leben auf der Überholspur, leidenschaftlich, arbeitsbesessen, selbstzerstörerisch. Sogar sein trauriges Ende ähnelt dem mancher heutiger Musikstars: ein körperliches Wrack und der Alkoholsucht tief erlegen, stirbt Beethoven mit gerade mal sechsundfünfzig Jahren.

Wer er wirklich war, das zeiget er in seiner Musik, die von Werk zu Werk ausdrucksmächtiger und freisinniger wurde.

Zum Autor

Christine Eichel, 1959 geboren, hat Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft studiert und wurde mit einer Arbeit über die Musiktheorie von Theodor W. Adorno promoviert. Sie war Fernsehregisseurin, Moderatorin, Gastprofessorin der Universität der Künste Berlin und Lehrbeauftragte der Universität Hamburg. Ihre Sachbücher »Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht« (2012), »Deutschland, deine Lehrer« (2014) und »Deutschland. Lutherland« (2015) erregten großes Aufsehen. Christine Eichel lebt als Autorin und Publizistin in Berlin.

Christine Eichel

Der empfindsame Titan

Ludwig van Beethoven

im Spiegel seiner

wichtigsten Werke

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Copyright © 2019 der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Bildredaktion: Annette Baur

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Umschlagabbildung: © AdobeStock/just83in

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-22519-3
V002

www.blessing-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog – In der Arena

Einleitung – Der Nonkonformist

Kapitel 1 – Fantasie an die Macht

Klaviersonate op. 27, Nr. 2 »Sonata quasi una fantasia«, »Mondscheinsonate« genannt, 1801

Musik mit Faszinationshintergrund

Genialer Mutwille, bizarre Laune

Eine Kindheit der Zwänge

Die Beethovens: Mühsamer Aufstieg, große Erwartungen

Väterliche Erbschaften

Ein emotionales Reizklima

Innere Dramen

Musikalische Stimmungsschwankungen

Neue Horizonte

Kapitel 2 – Musik und Politik

Symphonie Nr. 3 Es-Dur, op. 55, »Eroica« 1805 uraufgeführt

Kampf um Anerkennung

Vom Dienstboten zum metaphysischen Künder

Der süße Klang der Revolution

Das Ästhetische wird politisch

Titanische Dimensionen

Prometheische Projektionen

Tonsetzer versus Tonkünstler

Werke mit Absender

Der neue Traum der Unsterblichkeit

Kapitel 3 – Gefährliche Liebschaften

Klavierstück a-Moll, WoO 59, »Für Elise« genannt, 1810

Die Kunst der Bagatelle

Liebe mit Familienanschluss

Enttäuschungen mit System

Musikalische Liebesbotschaften

Die Leiden des nicht mehr ganz so jungen Beethoven

Hoher Ton und tiefer Fall

Die unsterbliche Geliebte

Vision und Wirklichkeit

Ein schwer vermittelbarer Kandidat

Männerfreundschaften

Kapitel 4 – Die Welt als Wille und Musik

Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67, »Schicksalssymphonie« genannt, 1808 uraufgeführt

Überwältigung und Gewalt

Die Macht des Schicksals

Das Rätsel der Fünften Symphonie

Die Schrecken des Erhabenen

Fantasieren und Komponieren

Tönende Philosophie

Die Pastorale als Gegenentwurf zur absoluten Musik

Dramen für die hörende Fantasie

Kapitel 5 – Scherz, Satire, Ironie und wiederkehrende Geldnöte

Alla ingharese quasi un capriccio G-Dur für Klavier, op. 129, »Die Wut über den verlorenen Groschen, ausgetobt in einer Kaprize« genannt, ca. 1795–98

Der Preis der Freiheit

Die Ökonomisierung des Soziallebens

Die Haut zu Markte tragen

Ich-AG Beethoven

Im Dschungel des Verlagswesens

Eine Messe wird zum Pokerspiel

Verlorene Groschen und andere Kalamitäten

Der grimmige Humor eines Außenseiters

Humor als Selbstbehauptung

Musikalischer Humor

Der Jean Paul der Musik

Kapitel 6 – Hochamt des Humanums

Neunte Symphonie d-Moll, op. 125, 1824 uraufgeführt

Die Offenbarungen der Natur

Glaube, Tod und Teufel

Götterdämmerung und Freiheitsfanal: Schillers Ode an die Freude

Späte Ernte

Seid umschlungen, Millionen

Nach- und Nebenwirkungen der Neunten

Balanceakte an den Grenzen des musikalisch Sagbaren

Anhang

Epilog

Anmerkungen

Bildnachweis

Werkregister

Personenregister

Die Zitatbelege erfolgen in den Anmerkungen.

Die beiden folgenden Quellensammlungen werden jeweils im Text mit den folgenden Sigeln + Seitenzahlen zitiert.

KC – Klaus Martin Kopitz, Rainer Cadenbach, Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen, München 2009

BB – Beethoven Briefe, hrsg. von Leopold Schmidt, Hamburg 2014

Prolog

In der Arena

Um es gleich vorwegzunehmen: Abende wie diese kann er auf den Tod nicht ausstehen. Zaudernd steht er vor dem Palais Kinsky, einem prächtigen vierstöckigen Gebäude, dessen Dach weiß schimmernde Skulpturen krönen. Unaufhörlich rollen elegante Equipagen heran, Pferdegetrappel und Stimmengewirr erfüllen den Vorplatz des Palais. Durch das wuchtige Barockportal, flankiert von zwei monströsen Karyatiden, strömt die Crème der Wiener Gesellschaft, um dem mit Spannung erwarteten Klavierduell des heutigen Abends beizuwohnen. Das heißt, es wird wohl eher eine unterhaltsame Hinrichtung werden. In jedem Falle aber ein ungleicher Kampf. Der berühmte Abbé Joseph Gelinek, seines Zeichens Pianist, Komponist und Kaplan in fürstlichen Diensten, tritt an diesem 21. Juni 1798 gegen einen gewissen Ludwig van Beethoven an. Ludwig – wer? Genau. Keiner kennt ihn, niemand hält für möglich, irgendein Nobody könnte den gefeierten Gelinek übertrumpfen. »Diesen fremden Clavieristen wollen wir zusammenhauen«, hat der Abbé schon im Vorfeld getönt. Für den klavierspielenden Theologen steht das Ergebnis des Duells bereits fest.

Für Beethoven auch – falls er überhaupt teilnimmt. Noch immer verharrt er unschlüssig vor dem Palais Kinsky. Warum hat er sich bloß auf dieses unwürdige Schauspiel eingelassen? Die überaus beliebten Pianistenwettbewerbe sind eine Beleidigung für seine empfindsame Künstlerseele. Schließlich ist er Komponist und keine Zirkusattraktion. Ohnehin fühlt er sich fehl am Platz. Das hier ist nicht seine Welt – der Wiener Hochadel mit all dem Prunk und dem gezierten Gehabe. Viel lieber würde er daheim am Klavier sitzen. Oder im Wirtshaus, bei Blutwurst mit Kartoffeln, einem seiner Leibgerichte (siehe KC, S. 537). Noch lieber wäre er jedoch in Paris, der Stadt der glorreichen Revolution. Dort hat man kurzen Prozess gemacht mit den Privilegien, die dem Adel qua Geburt, nicht etwa durch besondere Verdienste zufallen. Im Namen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurde die Adelskaste liquidiert. Seitdem hallt die Marseillaise durch Europa, ein unüberhörbarer Abgesang auf die alten Herrschaftsverhältnisse. Nur in Wien tun mal wieder alle so, als sei nichts gewesen.

»Solange der Österreicher noch braun’s Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht«, murmelt Beethoven (BB, S. 8). Aber solange ich mir jeden Groschen sauer verdienen muss, fügt er innerlich hinzu, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als in die Arena zu steigen und mich entsprechend auszustaffieren, auch wenn es schade um das Geld ist. Allein die schwarzen Seidenstrümpfe haben ihn einen ganzen Dukaten gekostet.

Widerstrebend schließt er sich dem Gästestrom an, der sich gemessen in den Innenhof des Palais schiebt. Verflucht, das Leben in Wien ist kompliziert und teuer. Einer seiner Gönner, Fürst Lichnowsky, hat ihm vor Kurzem angeboten, mittags stets bei ihm zu speisen. Aber da müsste man ja jeden Morgen feine Kleidung anlegen und eigens den Barbier kommen lassen. Natürlich hat Beethoven abgelehnt.

Während er die Marmortreppe des üppig mit Stuck verzierten Stiegenhauses hochschreitet, vorbei an livrierten Dienern und mannshohen Kandelabern, ballt er unwillkürlich die Fäuste. Niemand ahnt, wie sehr er es verabscheut, sich in Gesellschaft am Klavier zu produzieren. Besonders wenn man ihn dazu drängt. So wie neulich bei einem Empfang des Fürsten Lichnowsky.1 Die Schwiegermutter des Fürsten, die alte Gräfin Thun hat sogar auf den Knien vor ihm gelegen und gefleht, er möge doch etwas spielen (siehe KC, S. 60). Gänzlich unbeeindruckt ist er in seiner Sofaecke sitzengeblieben und hat der untröstlichen Dame eine Abfuhr erteilt. In seiner Situation ist das in etwa so absurd, als würde sich ein Meisterkoch weigern, seine kulinarischen Kreationen zu servieren. Aber muss er sich deshalb gleich zum musikalischen Lakaien degradieren lassen?

Nein, er will nicht mehr vorgeführt werden wie ein dressiertes Äffchen. Von frühester Kindheit an wurde er vom Vater ans Klavier geprügelt, musste bis spät in die Nacht seine Exerzitien treiben und schon als Halbwüchsiger vor Publikum konzertieren. Dennoch hat es nicht geklappt mit dem Wunderkind-Coup. Ein Kinderstar wie Mozart ist er keineswegs geworden, dafür ein brillanter Pianist, der noch dazu glänzend improvisieren kann. Es war seine erste Revolte gegen den Vater. Statt das vorgegebene Repertoire zu üben, hat er eigene Melodien erfunden, mit neuen Klängen experimentiert. Und noch immer spürt er die väterlichen Ohrfeigen auf den Wangen, wenn er zu »fantasieren« wagte.

Paradox genug: Genau dieses »Fantasieren« könnte jetzt sein Ticket zum Erfolg werden. Er weiß es. Er hat es unzählige Male erprobt, schon damals in Bonn, als er noch in der Hofkapelle diente. Wenn er improvisiert, spielt er auf der Klaviatur der Gefühle, und sein Publikum liegt ihm zu Füßen: Weinen, Schluchzen, Jubel, alles ist möglich. Und er? Lacht sich heimlich ins Fäustchen.

In der Prunketage des Palais angekommen, späht er durch die geöffnete Tür des Musiksaals. Angeregtes Geplauder hallt durch den hohen ovalen Raum, nur leicht gedämpft durch rotseidene Tapeten und schwere Samtportieren. Das Rascheln kostbarer Roben mischt sich mit dem Klirren von Gläsern, es riecht nach Puder, Parfums und nobler Herablassung. Letzteres wird sich gleich ändern: durch Ludwig van Beethoven, über dessen kometenhaften Aufstieg am Wiener Musikhimmel Gott und die Welt redet. Nun ja, reden würde, wenn da nicht die lästige Konkurrenz wäre.

»Die hiesigen Klaviermeister sind meine Todfeinde« (BB, S. 6f.), hat Beethoven unlängst einer Freundin aus Bonner Tagen geschrieben. Was ihn besonders wurmt: Wenn er bei solchen Wettbewerben eigene Werke zum Besten gibt, stehlen ihm seine Konkurrenten die besten musikalischen Ideen und brüsten sich am nächsten Tag damit. Verhindern kann er das nicht, denn die Duelle folgen einem festen Reglement: Zuerst spielen die Kontrahenten jeweils eine eigene Komposition, danach folgt ein frei improvisiertes Stück, in der dritten Runde muss man dann ein Werk des Gegners spielen. Aber Beethoven weiß schon, wie er seinen mediokren Mitbewerbern demnächst ein Schnippchen schlagen wird: mit seinen Variationen über »Se vuol ballare« aus Mozarts Figaro. Dafür braucht man nahezu aberwitzige virtuose Fähigkeiten, an denen seine Konkurrenten fraglos scheitern werden.

Verstohlen hält Beethoven Ausschau nach Abbé Gelinek, dem Musiklehrer und Hauskaplan des Gastgebers Fürst Kinsky.2 Der Theologe gilt als kunstfertiger Klavierspieler, komponiert Gefälliges für den breiten Publikumsgeschmack und soll ein begabter Improvisateur sein. Aber gemach. Bisher hat Beethoven noch keinen Pianisten erlebt, der ihm das Wasser reichen könnte. Sicher, es gibt durchaus Kollegen, die es an Fingerfertigkeit mit ihm aufnehmen können, doch da ist dieses gewisse Etwas, das ihnen fehlt: die Gabe, ihre Zuhörer in den Bann zu schlagen, sie zu berühren, zu überwältigen. Man braucht ein gutes Gespür für effektvolle Kontraste, von donnernden Läufen bis zu zart beseelten Kantilenen, und man braucht einige Erfahrung mit den Reaktionen des Publikums. Beethovens Talente als Don Juan mögen sich in Grenzen halten, aber wie man mit Musik verführt, das weiß er besser als jeder andere. Er gibt sich einen Ruck. Also schön, bring sie zum Weinen, bring sie zum Jubeln, begeistere sie.

Beethoven ist bereit. Falls alles läuft wie erhofft, wird ihm dieser Abend reiche Kompositionsaufträge einbringen, und er wird sich eine anständige Wohnung leisten können und ein besseres Klavier mieten und … In diesem Moment entdeckt er einen hochgewachsenen hageren Herrn mit etwas strengen Gesichtszügen, dessen enge schwarze Halsbinde ihn als Theologen ausweist. Das muss Gelinek sein. Fast aristokratisch wirkt er mit seiner Adlernase und dem forschen, selbstgewissen Blick. Für einen Mann Gottes sind seine Umgangsformen bemerkenswert geschmeidig. Beflissen verteilt er Handküsse an die Damen und begrüßt seine männlichen Fans mit formvollendeten Verbeugungen.

Abb. 1 Joseph Gelinek (1758–1825)

Auf der Stelle fühlt sich Beethoven unbehaglich. Verglichen mit diesem smarten Gelinek ist sein Auftreten linkisch, das weiß er nur zu gut, und sein Spiegel verrät wenig Schmeichelhaftes. Die kugelartig gewölbte Stirn, die vorspringende Kinnpartie mit den wulstigen Lippen und der pockennarbige dunkle Teint haben ihm als Kind manche Hänselei eingetragen. Einen Mohren nannten ihn die anderen Kinder. »O Gott, was ist man geplagt, wenn man ein so fatales Gesicht hat wie ich« (BB, S. 100), hat er vor Kurzem einem Freund gestanden.

Sei’s drum. Im Grunde ist ihm sein äußeres Erscheinungsbild vollkommen gleichgültig. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Wien hat er noch einen Termin beim Perückenmacher vereinbart, weil Perücken zum höfischen Style gehören und auch sein Lehrer Haydn so ein Ding trug. Mittlerweile pfeift Beethoven auf derartige habituelle Albernheiten. Sie passen einfach nicht zu seiner revolutionären Gesinnung. Wer trägt denn in Paris noch Perücken? Sollen sich die vornehmen Wiener Herrschaften doch das Maul zerreißen, weil er mit wirrem Haar auftritt, kaum gebändigt durch Kamm und Schere. Ein Beethoven passt sich nicht an. Ein Beethoven hat andere Qualitäten, und die wird er heute unter Beweis stellen.

Ein Raunen geht durch den Raum. Aha, da kommt er anmarschiert, Abbé Gelinek, der Herausforderer. Pass mal auf, du Jungspund, signalisiert seine angriffslustige Miene, das ist ein Heimspiel für mich, mit dir werde ich im Handumdrehen fertig.

Nicht nur Beethoven nimmt die unausgesprochene Kampfansage wahr. Nach und nach verstummt das Geplauder ringsum, es wird still im Saal. Neben dem geöffneten Flügel nimmt Fürst Ferdinand Johann Nepomuk Kinsky von Wchinitz und Tettau Platz, eine imposante Erscheinung in goldbetresster Galauniform. Wohlwollend nickt er Beethoven zu. Der weiß plötzlich nicht, wohin mit den Händen. Wenn er doch nur schon am Flügel säße, da würde alle Befangenheit von ihm abfallen. Doch dieser vermaledeite Abbé denkt gar nicht daran, ihn so rasch zu erlösen. Sehr von oben herab lässt er seinen jungen Kontrahenten wissen, dass das Reglement geändert wurde: Er wird als Erster spielen und ein Thema vorgeben, über das Beethoven anschließend improvisieren soll.

Ob der Abbé weiß, was er da tut? Offenbar hat dieser aufgeblasene Kerl keinen Schimmer. Es kostet Beethoven einige Mühe, seine klammheimliche Genugtuung zu verbergen. Die Improvisation ist sein Joker, diese Entfesselung aller musikalischen Kräfte. Nein, Gelinek hat keine Ahnung, was ihm blüht. Mit einem gönnerhaften Lächeln wendet er sich ab, nimmt am Flügel Platz und beginnt zu spielen. Beethoven kann es kaum erwarten, dass das kümmerliche Stückchen endet. Sein musikalisches Gedächtnis ist enorm; mit allergrößter Leichtigkeit kann er jede beliebige Musik memorieren und auf dem Klavier wiedergeben. Deshalb hat er alles im Kopf, als die Vorstellung endlich vorbei ist. Vor allem aber denkt er Gelineks Thema schon weiter, die Modulationen, die rhythmischen Varianten, als er zum Flügel schreitet. Dieser vorwitzige Kaplan kann sich auf etwas gefasst machen. Ohne zu zögern, legt Beethoven los.

Was anschließend passiert, ist dermaßen sensationell, dass es im Zeitalter von Facebook, Twitter, Instagram sofort viral gegangen wäre; und zweifellos hätte das Video mit Beethovens Performance unzählige Likes eingeheimst. Doch wir befinden uns in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts, Neuigkeiten verbreiten sich analog.

Am nächsten Tag erscheint Abbé Gelinek bei Familie Czerny. Der Vater ist ein stadtbekannter Virtuose, sein Sohn Carl ein hoffnungsvoller junger Pianist (er wird eine Klavierschule sowie Etüden schreiben, die noch manchem Klavierschüler heutiger Tage den Schweiß auf die Stirn treiben). Selbstverständlich brennen beide Czernys darauf, zu erfahren, wer den Sieg des Duells, davongetragen hat.

»Oh, an den gestrigen Tag werde ich denken!«, stöhnt Gelinek sichtlich niedergeschlagen. »In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie hab ich so spielen gehört! Er fantasierte auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nie fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene Kompositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er bringt auf dem Klavier Schwierigkeiten und Effekte hervor, von denen wir uns nie haben etwas träumen lassen!«

Einigermaßen verwundert erkundigt sich Vater Czerny nach dem Namen des Musikers, und Gelinek knurrt: »Er ist ein kleiner, hässlicher, schwarz und störrisch aussehender Mann, den der Fürst Lichnowsky vor einigen Jahren aus Deutschland hierhergebracht, um ihn bei Haydn, Albrechtsberger und Salieri die Komposition lernen zu lassen, und er heißt Beethoven.«

Einleitung

Der Nonkonformist