Götz W. Werner
mit Claudia Cornelsen
Die Autobiographie
Econ
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ISBN 978-3-8437-0595-0
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
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eBook: LVD GmbH, Berlin
Die besten Entdeckungsreisen macht man, indem man die Welt mit anderen Augen betrachtet.
Marcel Proust
Prolog Evidenz
oder warum ich im Leben nichts gelernt habe
»Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!« Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft im Leben ich diesen Satz gehört habe. Von Freunden, von Kollegen, in der Duz-Variante von Eltern und anderen Verwandten. Sie alle meinten es nur gut. Sie hatten schon ihre Erfahrungen gemacht und wollten mir Schlimmes ersparen.
Die meisten Menschen meinen, wir handelten aus Erfahrung. Aber das stimmt nicht immer. Wenn wir etwas Bestimmtes tun wollen, wird uns oftmals von guten Freunden sogar die Erfahrung als Gegenargument vorgehalten.
»Denk doch dran«, mahnen sie besorgt, »du wolltest doch nie wieder …«, und dann folgt irgendeine der schlechten Erfahrungen, die man gemacht und über die man sich bei den guten Freunden ausgeweint hat. Stimmt, man wollte nie wieder ein Fahrrad mit einem wackligen Gepäckträger fahren. Ja, man hatte sich in der letzten Wohnung oft darüber beklagt, dass der Weg zum Supermarkt so weit sei. Und genau, man wollte keine Beziehung mehr mit einem Menschen beginnen, mit dem man nicht auch über berufliche Probleme reden kann. Richtig, richtig, richtig. Aber ganz gleich, wie sehr andere dagegen reden, für einen selbst stimmt es trotzdem.
Sie werden das kennen: Diesen Moment, in dem man weiß, dass etwas richtig ist. Dass etwas stimmt. Vielleicht sind Sie gerade auf Wohnungssuche. Sie haben schon unzählige Wohnungen besichtigt, aber plötzlich stehen Sie in einer Wohnung und denken: »Die ist es! Hier will ich wohnen!« Oder Sie möchten sich ein neues Fahrrad kaufen, sind schon dieses und jenes zur Probe gefahren, bis Sie dann plötzlich auf einem Rad sitzen, bei dem Sie sicher sind: »Das soll es sein. Das ist das richtige für mich!« Und mit etwas Glück ist Ihnen auch schon einmal ein Mensch begegnet, bei dem Sie auf einmal und unvermittelt spürten: »Das ist der Mensch, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will!«
Solche Situationen nenne ich Evidenzerlebnisse. Evident ist etwas, das durch unmittelbare Anschauung überzeugt. Es bedarf keiner langen Argumentation, keiner besonderen Methode, keines Vorwissens und keiner Expertise, um etwas als evident zu erkennen. Wenn etwas evident ist, dann braucht es keine Prüfung und lange Analyse mehr. Wobei durchaus wahrscheinlich ist, dass Sie für die Wohnungssuche eine detaillierte Checkliste geschrieben haben. Darauf steht alles, was Ihnen wichtig ist: Lage, Größe, Preis, Ausstattung. Sicher haben Sie auch an das neue Fahrrad im Vorfeld konkrete Ansprüche über Sportlichkeit und Stabilität gestellt. Und möglicherweise hatten Sie vom Mann oder der Frau Ihrer Träume auch klare Vorstellungen, was Aussehen, Charakter oder Hobbys betrifft. Aber in der konkreten Situation hat man ein Evidenzerlebnis, bevor Sie auch nur den ersten Punkt Ihrer Checkliste in Erwägung gezogen haben.
Erst im Nachhinein gehen Sie die Kriterien einzeln durch und prüfen, ob das Evidente der kritischen Betrachtung standhält – wobei durchaus häufig vorkommt, dass einzelne reale Aspekte nicht den ideal erdachten Bedingungen entsprechen. Dann fängt man an, die Checkliste zu korrigieren, etwa indem man einzelnen Kriterien weniger Wert beimisst. »So wichtig ist mir bei dem Fahrrad ein stabiler Gepäckträger gar nicht. Denn so lange Radtouren mache ich eigentlich gar nicht, dass ich eine schwere Tasche transportieren müsste.« Oder indem man die negativen Punkte ins Positive wendet: »Es wäre zwar bequemer, wenn von der neuen Wohnung aus der nächste Supermarkt fußläufig erreichbar wäre. Aber mit dem Bus sind es nur zwei Stationen. Und es ist ohnehin viel gesünder, wenn ich mit dem Fahrrad hinfahre, dann mache ich gleich ein bisschen Sport.« Oder wir werfen die vielen guten Argumente in die Waagschale, um das eine oder andere Manko auszugleichen: »Okay, ich kann mit der Frau nicht über Fußball diskutieren, aber sie sieht toll aus, hat ein großes Herz und ist umwerfend klug!«
Denn bei allem, was wir tun: Worauf kommt es dabei an? Auf die Zukunft! Und eben nicht auf die Verlängerung des Erfahrenen. Nur ein Bürokrat handelt aus der Vergangenheit heraus. Der unternehmerisch veranlagte Mensch fängt immer neu an. Er handelt auf Grundlage von heute und dem, was er aus der Zukunft antizipiert – gestärkt mit den Fähigkeiten, die er in der Vergangenheit entwickelt hat. Mit der Empirie erfasst man die Vergangenheit, mit der Evidenz bewältigt man die Zukunft. Wir bewegen uns durch die Welt, machen unsere Erfahrungen und ziehen daraus irgendeine Erkenntnis. Die Erkenntnis versucht man abzusichern, dann fühlt man sich sicher und geht weiter. Der Weg führt zu einer neuen Begegnung, man entdeckt ein Interesse an der Sache und hat dann eine Intuition. Diese Intuition sagt einem: Jetzt musst du hier weitergehen! Das ist kein Empirieerlebnis; das ist ein Evidenzerlebnis. Die Evidenz verschafft mir Erkenntnis. Man handelt nicht aus Erfahrung, sondern aus Erkenntnis. Vielleicht sind Sie noch gar nicht verliebt, aber Sie treffen das andere Wesen und sagen: Das hat etwas mit mir zu tun. Aus der Evidenz wird eine Erkenntnis. Alle sagen, es ginge nicht, aber Sie spüren, dass es doch gehen könnte. Es ist eine innere Überzeugung, das Richtige zu tun.
Ausbruch aus dem Erfahrungsgefängnis
Es gibt die kleineren Evidenzerlebnisse: Man steigt aus irgendeinem Grund in einen Zug nicht ein, und später stellt sich heraus, dass dieser Zug mit zwei Stunden Verspätung ankommt. Und es gibt die schicksalhaften Evidenzerlebnisse: Man studiert nicht dies, sondern das andere. Man fängt nicht hier, sondern dort mit der Arbeit an.
Oftmals lässt man sich aber auch von Ratschlägen aus der Umgebung beirren. Dann kauft man ein Haus, zu dem einem alle geraten haben. Oder beginnt eine Ausbildung, die zwar die Eltern oder die Lehrer für zukunftsweisend halten, aber die einen selbst eigentlich nicht interessiert. Viele Menschen stecken in einem Erfahrungsgefängnis, das andere für sie errichtet haben. Manche bauen sich ihr eigenes. Sie müssen erst lernen, zwischen den Gitterstäben der Empirie hindurchzuschauen, um hinter dem weiten Horizont neue Handlungsfelder zu entdecken. Manchmal schafft man es erst Jahre später, empirische Entscheidungen zu revidieren und sich den evidenten zuzuwenden.
Ich erinnere mich an einen Mann, der neben mir im Zug saß, ein Rentner, der erzählte, er habe vierzig Jahre lang einen ungeliebten Beruf ausgeübt. Er hätte immer gern Medizin studiert, aber kriegsbedingt nur einen Volksschulabschluss gehabt. Und da er schon sehr früh für seinen Lebensunterhalt sorgen musste, habe er es sich nie leisten können, den Schulabschluss nachzuholen. Deswegen habe er erst jetzt als Rentner angefangen, sich mit Homöopathie zu beschäftigen. Dann strahlte er mich an: Jetzt hole ich nach, worauf ich vierzig Jahre verzichten musste!
Da hat jemand fast sein ganzes Leben gebraucht, um endlich sein Leben zu leben. Tragisch. Aber zum Glück dann doch noch den Mut und die Kraft gefunden, sich darauf einzulassen. Das Wichtigste: Er hat wenigstens das Evidenzerlebnis gehabt. Für ihn war immer evident: Medizin ist sein Metier! Bei anderen Menschen ist manchmal das Gespür für Evidenz fast ganz verschüttet. Oder sie haben es noch nie erlebt. Denn obgleich jeder Mensch mehr oder weniger bewusst die Fähigkeit dazu hat, gibt es Evidenzerlebnisse nicht für jeden gleichermaßen. Man kann sich dafür sensibilisieren, man kann empfänglich werden für Evidenzerlebnisse. Nur, wie geht das?
Dazu eine kleine Geschichte: Mir hat vor vielen Jahren mein damaliger Chef, Helmut Nießner, der später auch Patenonkel meiner ältesten Tochter wurde, sehr imponiert: Seine damals heranwachsende Tochter hatte sich mit einem jungen Mann angefreundet, der aus Sicht eines fürsorglichen Vaters eher ein Graus war. Aber statt der Tochter Vorhaltungen zu machen und sich über die Frisur, die Kleidung oder gar die gesamte Lebensweise ihrer Jugendliebe zu empören, ging er auf – für die damalige Zeit – geradezu sensationelle Weise mit der Situation um: Er freute sich für die Tochter, gratulierte ihr zu dieser Erfahrung und lud das frisch gebackene Paar zu einem gemeinsamen Urlaub mit der ganzen Familie ein. Im Urlaub fand die Tochter dann von selbst heraus, was der Bursche eigentlich für ein Typ war, und damit war die Beziehung beendet. Der Vater hat einfach darauf vertraut, dass die Charakterschwächen des jungen Mannes, die für ihn evident waren, auch der Tochter evident werden würden. Aber er hat sich eben auch dafür geöffnet, im Urlaub möglicherweise die Vorzüge des jungen Mannes zu entdecken – und seinerseits von der Evidenz erfasst zu werden, wie die Tochter sie erlebt hatte. Er hat sich der Situation erlebend gegenübergestellt.
Genau darum geht es: Man muss sich selbst aufmerksam machen – auf die Menschen und die Welt um einen herum. Es braucht Menscheninteresse und Weltinteresse. Und es braucht Wärme und Licht. Zuerst muss man für andere Menschen und für die Welt Interesse entwickeln. Man muss sich für das, was einem entgegenkommt, erwärmen können. Zu der Wärme kommt dann das Licht, indem man die Welt und die Menschen mit seinem Denken beleuchtet – das Geisteslicht, das Denklicht.
Initiative kommt immer aus der Wärme, Reflektion kommt aus dem Kopf. Initiativ wird man mit dem Herzen, und der Kopf fragt dann: Halt mal, wo führt das hin?, und checkt, ob das auch der richtige Weg ist.
Man kann nicht sagen: Ich will jetzt was ganz Tolles machen, ich lege mich mal einen Tag in die Tiefkühltruhe. Ein cooler Typ ergreift keine Initiative. Den muss man erst anfeuern. Erst wenn ein Funke überspringt oder die Leidenschaft entflammt, dann schreitet man zur Tat.
Um sich für Evidenzerlebnisse zu sensibilisieren, sollte man hinaus in die Welt treten, mit Neugier und Offenheit schauen und sich darauf einlassen, wer und was einem begegnet und wofür man sich erwärmt. Jeder Mensch kommt ohne Bewusstsein auf die Welt. Erziehung ist nicht nur dafür da, Wissen zu vermitteln, sondern Erziehung muss ein Feuer entfachen. Gute Eltern, gute Freunde und gute Pädagogen sind in der Lage, die vorhandene Glut zu erahnen und entsprechend anzufachen – das Implizite explizit zu machen. Aber man muss sich auch selbst bemühen. Den roten Faden im Leben findet der Mensch nur, wenn er sich auf die Suche macht. Der Mensch ist ein suchendes Wesen, und das Leben ist ein permanenter Suchvorgang. Wer sich zurückzieht, wird nicht nur einsam, sondern lebt irgendwann nur noch abgekühlt. Irgendwann sitzt er ratlos vor dem Fernseher und weiß gar nicht mehr, was er eigentlich will, was ihm noch Spaß macht, wofür er lebt. Einen solchen Menschen muss man erst wieder hinausführen in die Welt und öffnen für das Funkenfeuer, das uns das Leben bereithält. Irgendwann wird auch er entdecken, welcher der für ihn richtige Weg ist. Der Schlüssel für Evidenz ist also Entwicklung von Weltinteresse und Menscheninteresse. Man muss sich Einlassen auf Welt und Mensch.
Seelische Offenheit mit
selten harmonischer Begleitmusik
Ein guter Arzt kommt oft über das Evidenzerlebnis zur Therapie. Zunächst macht er eine ausführliche Anamnese. Vielleicht fragt er den Patienten nach seinen Geschwistern, den Eltern und so weiter. Dadurch macht er sich mit ihm vertraut. Das geht nicht mit Coolness, sondern nur mit Wärme. Anschließend schickt er den Patienten ins Labor. Da werden Blutwerte und ähnliches analysiert. Anschließend betrachtet der Arzt durch die Wärme der Begegnung hindurch die nüchternen Werte und fragt sich, was sich ihm jetzt aufgrund der Anamnese und der Ergebnisse offenbart. Der Arzt sucht das Evidenzerlebnis.
Dazu muss man die Menschen und die Welt an sich herankommen lassen und schauen: Berührt es mich? Lehne ich es ab? Was macht es mit mir? Das erfordert eine seelische Offenheit. Das ist kein akademischer oder wissenschaftlicher Weg. Es geht nicht darum, Vokabeln oder Grammatik zu lernen oder sich Techniken und Methoden anzueignen, sondern diese seelische Offenheit zu entwickeln und zu trainieren. Wenn man erst hinaustritt in die Welt, dann wirft einem das Leben eine Vielzahl von Bällen zu. Es geht dann nur darum, die richtigen aufzufangen. Es sind Angebote, die das Schicksal einem unterbreitet, und es braucht dann Geistesgegenwart und Evidenz, im entscheidenden Moment zu sagen: »Ja, jetzt greife ich zu!«
Es ist selten so, dass es nur eine richtige Entscheidung gibt. Je nachdem wie ich mich entscheide, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Mit jeder neuen Möglichkeit, die sich bietet, muss ich mich neu entscheiden, immer auf Basis von Evidenz. Man bekommt eine innere Gewissheit, obwohl es keinen äußerlichen Beweis gibt. Man hat seinen persönlichen Polarstern vor Augen. Und dann weiß man immer ganz genau, wie es weitergeht.
Man muss sich – wie Christoph Kolumbus oder Heinrich der Seefahrer – ins Ungewisse begeben. Damals war die Erde noch eine Scheibe. Es gab nur Küstenschifffahrt. Trotzdem wagt sich ein Mensch, obwohl er die Scheibe im Bewusstsein hat, immer weiter raus aufs Meer. Er sieht kein Land, nichts mehr. Er segelt einfach im Vertrauen darauf weiterzukommen. Durch dieses »Hinwegschreiten über die Übergänge«, wie es der Philosoph Johann Gottlieb Fichte formuliert hat, gewinnt man Erkenntnisse, durch die man in Zukunft das Leben kreativer, schöpferischer, tatkräftiger, einsichtsvoller gestaltet. Auf diese Weise sind mir viele wunderbare Dinge widerfahren, mit denen ich nie gerechnet hatte – eben weil ich gar nicht erst gerechnet habe.
Wenn ich in diesem Buch also das »aus der Erfahrung Erkannte« beschreibe, dann standen die Lerneinheiten in keinem Stundenplan, gab es kein Klassenzimmer und keine ausgebildeten Pädagogen. Ich habe gelernt, was auf den Tisch kam. Manche Lektion habe ich mir selbst eingebrockt, manche war schwer verdaulich und brauchte etwas länger, bis ich sie verstehen konnte, und bis heute weiß ich nicht zu sagen, welches das Hauptgericht und welches das Dessert war – oder ob ich überhaupt schon über die Vorspeise hinausgekommen bin. Selbst wenn in der Rückschau auf meinen Weg der vergangenen Jahrzehnte alles scheinbar so linear, strategisch und zielgerichtet aussieht.
Übrigens, die Begleitmusik zu solcher Art des Hinwegschreitens klingt selten harmonisch. Den Refrain dazu kennen Sie schon. Er lautet: »Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!«
Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.
Kurt Tucholsky
Kapitel 1 Der Anfang
oder wie ich wider Willen ein Unternehmen gründete
Anfang der 1950er-Jahre wurden zwei Schuhverkäufer nach Afrika geschickt. Sie sollten den Markt erkunden und nach drei Tagen ein Telegramm über ihre ersten Eindrücke schicken. Telegrafiert der eine: »Nullmarktchancen, alle laufen barfuß.« Telegrafiert der andere: »Riesenmarktchancen, noch keiner trägt Schuhe.«
Das ist eine in der Wirtschaftswelt sehr beliebte Geschichte, die ich 1981 bei dem Vortrag eines Franzosen im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Zürich aufgeschnappt habe. Sie illustriert, wie sich das alte Motiv vom halbleeren oder halbvollen Glas auch im unternehmerischen Denken widerspiegelt: Der nicht-unternehmerisch Disponierte sieht das Problem; der unternehmerisch Disponierte sieht die Gestaltungsmöglichkeit.
Der Vortrag hat mich damals sehr beeindruckt, obgleich ich alles nur in der Simultanübersetzung verfolgen konnte, weil ich kein Französisch verstehe. In Frankreich hatte gerade François Mitterand als erster Sozialist die Regierung übernommen. Der Referent berichtete, dass viele Unternehmen diesen Regierungswechsel als Bedrohung erlebten. »Aber«, sagte er, »wir haben es uns in unserem Unternehmen zur Angewohnheit gemacht, aus einer Bedrohung ein Problem zu machen und aus einem Problem eine Gestaltungsmöglichkeit.« Da leuchtete mir spontan ein: Es gibt keine Probleme; es gibt nur Herausforderungen. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gelernt, dass die Chinesen für die Chance und die Krise ein und dasselbe Schriftzeichen nutzen.
Wenn man sich dieses Zusammenspiel von Krise und Chance zur Lebenshaltung macht, dann fühlt man sich nie bedroht. Man hadert auch nicht mit seinen Fehlern, obwohl man ständig etwas falsch macht. Aber Fehler werfen einen nicht aus dem Gleis. Man muss dann eben anders weitermachen. Fertig. Allerdings sollte man aufpassen, dass man nicht übermütig wird. Große Risiken sollte man nur eingehen, solange man sicher ist, das eine Entscheidung reversibel ist. Leider können viele Menschen nicht gut unterscheiden, was reversibel und was irreversibel ist. Dabei ist das eigentlich ganz einfach: Solange ich auf meine Fähigkeit vertrauen kann, eine Lösung zu finden, wenn etwas schief geht, solange ist eine Entscheidung reversibel. An dieser Stelle kommen Evidenz und Empirie zusammen.
So war es auch im Sommer 1973.
Die Gründung des »Deutschen Drogisten-Verbandes« lag fast auf den Tag genau hundert Jahre zurück. Am 11. April 1873 hatten sich bei einem Delegiertentreffen die deutschen Drogisten in Berlin zusammengeschlossen, vor allem in Abgrenzung zu den zahlreichen Apothekern. Denn im 19. Jahrhundert wurden Tabak, Spirituosen, Gewürze und selbst Konditoreiprodukte als »Apothekerwaren« bezeichnet. Heilkräuter durften generell nur in Apotheken verkauft werden. Der Verband machte politische Lobbyarbeit im Deutschen Reichstag, und die Gesetze änderten sich. Schon bald reichte das Drogerie-Sortiment von Zahnpulver, Hautcreme und Schuhputzzeug über Heilkräuter und Backpulver bis hin zu Treibstoff für die damaligen Automobile. Bald entstanden die ersten Reformhäuser. Die Menschen begannen den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen der Industrialisierung entgegenzuwirken. Ob Pfarrer Kneipp als Vertreter der Naturheilbewegung oder Eduard Baltzer, der Vorreiter des Vegetarismus – man suchte einen würdevollen Umgang mit Mensch und Tier. Die »Lebensreformer« entwickeln neue Nahrungsweisen mit Vollkornbrot, pflanzlichem Fleischersatz, Fruchtsäften und Heilkräutern. Auch rund um die neu aufkommende Fotografie gab es alle Materialien, die für die Entwicklung von Fotos nötig waren, in der Drogerie.
Schon drei Jahre zuvor, nämlich 1870, hatte mein Urgroßvater in Heidelberg eine Drogerie eröffnet, die mein Vater als junger Mann in den 1920er Jahren übernahm. Er steuerte den Laden in der Heidelberger Hauptstraße, Ecke Märzgasse, durch die Wirren der Inflationszeit, die Jahre des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, in den er wegen starker Arthrose glücklicherweise nicht eingezogen wurde. Nach dem Krieg eröffnete er 1950 die erste Filiale, auf die in den bald einsetzenden Wirtschaftswunderjahren zahlreiche weitere folgten.
Ich bin als Kind immer im Laden herumgesprungen und habe mir schon als Sechsjähriger einen weißen Kittel gewünscht. Damals verkaufte man die meiste Ware offen, unverpackt. Den intensiven Geruch nach Seifen, Salben und Kräutern habe ich noch heute in der Nase.
Eine Idee liegt in der Luft
1973 hatten sich die Zeiten gewandelt. Ich war Ende zwanzig und hatte eine Idee. Was mir fehlte, war Geld und Unterstützung. In mir gärte schon seit einigen Jahren ein Gedanke, der mir sofort und zutiefst eingeleuchtet hatte. Ein Evidenzerlebnis, auch wenn ich es damals noch nicht mit diesem Begriff hätte fassen können. Diese innere Sicherheit ließ mich meinen Plan unbeirrbar verfolgen, obwohl alle um mich herum abrieten. Mein Vater sprach schon längere Zeit nicht mehr mit mir. Meine Schwiegereltern liefen Sturm. Keine Bank gab mir Kredit. Jeder sagte nur: »Um Gottes willen!«
Es war niederschmetternd. Aber ich wusste, dass sie falsch lagen. Die meisten Menschen betrachten die Welt nicht aufgrund wahrnehmbarer Fakten, sondern aufgrund ihrer Vorurteile. Erst im Nachhinein meinen sie, sie hätten es genauso gesehen und gemacht.
Dabei war ich keineswegs der einzige, der wahrgenommen hatte, dass die Branche vor einem substantiellen Strukturwechsel stand. 500 Kilometer nördlich von Karlsruhe, wo ich meinen ersten eigenen Laden eröffnete, war fast zeitgleich ein ebenfalls junger Drogist auf dieselbe Idee gekommen: Als ich im August 1973 starten wollte, erfuhr ich, dass in Hannover schon im März 1972 Dirk Roßmann seinen »Markt für Drogeriewaren« eröffnet hatte. 1975, anderthalb Jahre nach meinem Beginn in Karlsruhe, eröffnete Anton Schlecker in Kirchheim unter Teck seinen ersten Drogeriemarkt. Rossmann und dm sind heute, vierzig Jahre später, jeder auf seine Weise noch dabei. Schlecker hat sich 2012 verabschiedet, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Idee lag in der Luft. Sie war – rückblickend lässt sich das leicht sagen – in keiner Weise so abwegig, wie damals alle meinten. Der gesamte Einzelhandel war im Umbruch. Das, was uns heute so selbstverständlich erscheint – der Supermarkt nämlich –, war bis weit in die 1950er Jahre in Deutschland etwas völlig Unbekanntes. Lebensmittel kaufte man in Geschäften mit kleiner Fläche und vor allem mit einer Bedientheke, über die der Kaufmann die Ware dem Kunden einzeln reichte. Erst mit dem steigenden Warenangebot in den Jahren des Wirtschaftswunders begann die Zeit der Supermärkte: Kaiser’s, Hill, Bolle oder Tengelmann machten den klassischen Einzelhändlern das Leben schwer. Deswegen wagten die beiden Brüder Karl und Theo Albrecht ein Experiment, nachdem ihre Versuche, mit vergrößerten Verkaufsflächen und verbreitertem Sortiment dem Druck der neuen Wettbewerber standzuhalten, kläglich gescheitert waren. Sie entwickelten die Idee des Discountgeschäftes: kleines Sortiment, Selbstbedienung, Warenverkauf aus dem aufgeschnittenen Versandkarton, direkt von der Palette oder aus schlichten Holzregalen, kein Kreditverkauf, keine Rabattmarken, dafür möglichst billige Preise.
Indem sie alles wegließen, was der Einzelhandel bis dahin für selbstverständlich erachtet hatte, und sich auf Qualität und Preis konzentrierten, gewannen die Aldi-Märkte enorme Kostenvorteile, die sie an den Kunden weitergeben konnten. Und die Verbraucher wussten die günstigen Preise zu schätzen. Bereits in den 1970ern war Aldi zum Hecht im Karpfenteich des Einzelhandels aufgestiegen. Es war naheliegend, das Discounter-Prinzip auch in anderen Handelsfeldern anzuwenden als nur im Lebensmittelhandel. Jedenfalls für mich.
Ich war 28 Jahre alt, eigentlich in einem großen Drogeriefilialbetrieb beschäftigt und hatte gar nicht vor, mich selbstständig zu machen. Ich schlug lediglich meinen damaligen Vorgesetzten vor, was mir evident erschien: »Wir setzen auch im Drogeriemarkt auf das Discountprinzip.« Leider fanden die Herren das nicht auf Anhieb plausibel, sondern fragten kritisch nach: »Wie wollen Sie das machen?«
Die Antwort fiel mir nicht schwer, sie lag auf der Hand: »Wir verkaufen statt 15 000 nur 2000 Artikel, dafür machen wir statt 10 000 Mark 120 000 Mark Umsatz!«
Doch die alten Drogerie-Hasen lachten bloß: »Sie können nicht rechnen, junger Mann! Diese Mathematik ist Ihnen etwas über den Kopf gewachsen.«
Nach ihrer Erfahrung schlug ich lauter Dinge vor, die sich gegenseitig ausschlossen. Das waren sachkundige Leute, sie wussten, wovon sie sprachen. Und sie waren zu höflich, um mir einen Vogel zu zeigen, aber eigentlich haben sie genau das gemeint: der kleine Spinner da, mit 28 Jahren, Flausen im Kopf!
Mich machte das wütend. Denn natürlich konnte ich meine Vorschläge nicht mit Empirie belegen, sondern nur wenn ich die Chance bekäme, sie in der Praxis unter Beweis zu stellen. Selbst mein Verweis auf die Aldi-Erfolge fruchtete nicht. Stattdessen bekam ich zur Antwort: »Was der Aldi macht, das ist nur eine vorübergehende Erscheinung« oder: »Das mag im Lebensmittelhandel funktionieren, aber im Drogeriemarkt wird das nie und nimmer klappen.«
Ende der Preisbindung – Anfang vom Ruin?
Die Diskussionen waren schon schwierig genug. Doch auch meine persönliche Lebenssituation machte die Sache nicht leichter. Ich hatte vor wenigen Jahren geheiratet, war junger Familienvater und trug damit privat große Verantwortung. Meine Frau Barbara, die ich bei einem meiner Besuche in Heidelberg 1967 kennengelernt hatte, war mit mir nach Karlsruhe gezogen. Im Mai 1971 war unsere Tochter Cornelia auf die Welt gekommen; im November 1972 unser Sohn Christoph. Mit der Stelle als Prokurist konnte ich gut für den Lebensunterhalt aller sorgen. Sollte ich das einfach so aufgeben? Wir lebten sparsam, aber ich verfügte über kein nennenswertes Eigenkapital. Zudem war die wirtschaftliche Situation in Westdeutschland damals sehr angespannt. Wenn ich mich nun selbstständig machte, würde ich für einen Kredit mindestens 14 Prozent Zinsen zahlen müssen. Oder mehr. Mein Schwiegervater, der als Verkaufsleiter in der Druckfarbenbranche relativ gut verdiente, rechnete mir quasi täglich vor, wie riskant meine Überlegungen wären und dass ich die ganze Familie in den Ruin stürzen würde.
Ich argumentierte, dass ich die Familie nur dann in den Ruin stürzen würde, wenn ich an der bisherigen Stelle bliebe; denn ich hielt die traditionellen Drogerie-Konzepte für veraltet und nicht mehr zeitgemäß. Sie hatten keine Zukunft, das war mir klar. Aber diese Einschätzung teilte in meiner Umgebung niemand. Egal mit wem ich sprach, ich biss überall auf Granit. Nur meine Frau Barbara hielt zu mir, obwohl sie mir in der Sache selbst keinen Rat geben konnte. Sie kannte sich in der Branche nicht genügend aus, vertraute aber darauf, dass ich eine vernünftige Entscheidung fällen würde. Was sollte ich tun?
Ausschlaggebend war letztlich, dass sich die politischen Rahmenbedingungen änderten. Schon seit einigen Jahren wurde in Deutschland die Abschaffung der sogenannten »vertikalen Preisbindung« diskutiert. Man wollte die Marktwirtschaft durch mehr Wettbewerb beflügeln. Dem stand die lange Tradition der Preisbindung entgegen. Die Industrie hatte sich über die Jahrzehnte das Privileg gesichert, dem Handel die Verkaufspreise diktieren zu können. Wir kennen das heute nur noch aus dem Buchhandel oder den Apotheken. Die Hersteller legen fest, was ein Produkt kostet, und jeder Händler muss das Produkt zu genau diesem Preis verkaufen.
In den Wettbewerb treten die Händler dann nicht, indem sie den Kunden unterschiedliche Preisangebote machen, sondern allein über die Art der Warenpräsentation, das Liefertempo, die Beratung oder einen zusätzlichen Service. Damit der Handel ökonomisch überlebt, muss er versuchen, die Differenzen unterschiedlicher Mietpreise und Lohnkosten dadurch auszugleichen, dass er mit der Industrie individuelle Einkaufskonditionen aushandelt: Wer 500 Packungen einer Zahncreme ordert, zahlt einen günstigeren Stückpreis als derjenige, der nur 10 bestellt. Oder das Zahlungsziel verlängert sich: Der Händler muss die Rechnung des Herstellers nicht sofort, sondern erst in einem halben Jahr bezahlen. Oder es gibt irgendwelche Rabatte, etwa dass man gemischte Pakete mit kombinierten Produkten zum Vorzugspreis bekam. Besonders beliebt war der Naturalrabatt, bei dem man bei einer gewissen Bestellmenge eine zusätzliche Menge des Produktes ohne Berechnung dazu erhielt.
Kurz: Die Spielräume des Handels waren begrenzt. Die Macht der Hersteller hingegen war groß. Dem wollte man durch das »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« entgegenwirken, das 1965 erstmals in Kraft trat und fortan ständig novelliert wurde. Die siebte und bislang letzte Novelle gab es 2005, als eine Angleichung an das EU-Wettbewerbsrecht erfolgte. Anfang der 1970er Jahre, man war bei der zweiten Gesetzesnovelle, stand ein grundsätzliches Verbot der Preisbindung ins Haus, die bis dahin bei Markenartikeln die Regel war. Natürlich gab es entsprechende Diskussionen, und viele hielten das Gesetz gar nicht für durchsetzbar. Deswegen wurden die alten Praktiken mit Vehemenz fortgeführt. Ich aber war davon überzeugt, dass das Gesetz beschlossen und in Kraft treten würde. Und dann würden die Menschen sich nicht mehr in den traditionellen Theken-Drogerien teure Markenartikel über den Tresen reichen lassen, sondern in modernen Selbstbedienungsläden eigenhändig die günstigsten Angebote heraussuchen wollen.
Deswegen sprach ich mit den mir bekannten Banken, um einen Kredit zu bekommen. Damals gab es für Festgeld 15 % Zinsen; für einen Kredit musste man ca. 17 % zahlen. Ich war zu allem bereit. Doch Sparkasse und Volksbank winkten gleich ab: »Nein, nein, bei uns kriegen Sie keinen Kredit!«
Allein die Deutsche Bank wies mir nicht sofort die Tür, sondern der Berater, Herr Heil, war schlau genug, um auf Zeit zu spielen. Tausend Mal habe ich gefragt: »Wann kriege ich denn endlich den Kredit?«, Woche um Woche wurde ich vertröstet: »Ja, wir müssen noch …, Sie wissen doch, hier in Karlsruhe … Das muss erst nach Frankfurt, Deutsche Bank …«
Rauchende Kassen und
der schnellste Kassierer der Welt
Die Zeit lief. Ich konnte nicht länger warten. Im Sommer 1973 wusste ich: »Jetzt oder nie!« Dort, wo einst das Stammgeschäft der Firma Roth gewesen war, in der Herrenstraße 26–28 in Karlsruhe, war nach dem Umzug das Ladengeschäft frei. Kurz entschlossen unterschrieb ich den Mietvertrag. Da ich von Anfang an fest vorhatte, mehr als diesen einen Laden aufzumachen, suchte ich einen Mitstreiter, der bereit war, auf lange Sicht das Geschäft allein zu führen, damit ich mich um die Eröffnung weiterer Läden kümmern könnte. In Armin Föll, einem früheren Kollegen aus der Firma Roth, fand ich jemanden, der mein Konzept verstand und den Mut hatte, sich als Mitgesellschafter auf das Experiment einzulassen. Er leitete das Geschäft bis zu seiner Pensionierung mit großem Erfolg.
Noch Anfang des Jahres 1973 hatten der Drogistenverband und auch die Fachpresse beharrlich behauptetet, die Preisbindung würde bestehen bleiben und nur die Vertriebsbindung würde verboten. Nun, sie irrten. Wie ich es geahnt hatte, fiel die Preisbindung. Im Juli wurde das Gesetz beschlossen und sollte zum 1. Januar 1974 in Kraft treten. Am 28. August feierten wir Eröffnung.
Statt der damals üblichen 60 Quadratmeter hatte unser erster Laden, den wir schlicht »dm – drogeriemarkt« nannten, satte 190 Quadratmeter. Bei der Bedienung setzten wir radikal auf Selbstbedienung. Alle Artikel standen dem Kunden offen. Er griff die Ware selbst aus dem Regal und legte sie in seinen Korb oder Einkaufswagen, mit dem er dann zur Selbstbedienungskasse spazierte. Statt 10 000 Artikeln gab es nur 2000. Das entsprach derselben Relation, wie sie Aldi in der Lebensmittelbranche eingeführt hatte: Dort hatten die Albrecht-Brüder das Sortiment von den üblichen 3000 Artikel auf etwa 250 reduziert. Das zwang uns dazu, pro Artikel mehr Umsatz zu machen, aber wir vertrauten darauf, dass die Menschen ihre Ware lieber bei uns kaufen würden als andernorts, wenn sie den Preisunterschied wahrnahmen. Und dass wir dann eben nicht nur zwei, sondern zwanzig Tuben Zahncreme pro Tag verkaufen würden.
Anfangs bekamen wir von großen Unternehmen wie zum Beispiel Dralle (Birkin Haarwasser), Dr. Schiffer (Biovital), Buers Lecithin oder Klosterfrau noch einstweilige Verfügungen geschickt, weil wir ja die noch geltende Preisbindung nicht einhielten. Diese Schreiben habe ich einfach ignoriert und vertraute darauf, dass die Gerichte solche Verfügungen nicht mehr bearbeiten würden – nach dem Motto, das neue Gesetz kommt ja sowieso. Aber die Industrie war noch in Übung und hielt an der alten Tradition der Abmahnung von Preisbindungsvergehen bis zum letzten Tag fest. Zum Glück für mich ohne Folgen.
Währenddessen brummte das Geschäft. Und zwar vom ersten Tag an. Mein Konzept – straffes Sortiment, reine Selbstbedienung, niedrige Preise – ging hundertprozentig auf. Ich weiß es noch wie heute: Damals hat eine Dose Elnett-Haarspray – gebundener Preis – 9,90 DM gekostet. Wir haben sie für 6,98 DM verkauft. Das war nicht nur ein paar Pfennige billiger, das war richtig billig! Das hat sich sofort in der Stadt herumgesprochen, und alle kamen zu dm. »Da musst du gleich hingehen«, hieß es, »sonst ist bald alles ausverkauft!«
Gleich am ersten Tag begann die Kasse zu rauchen, im wahrsten Sinne des Wortes. Damals gab es Kassen, die zwar nicht mehr mit der Kurbel, sondern schon elektrisch, aber immer noch mechanisch betrieben wurden. Sie waren für damalige Verhältnisse sündhaft teuer. Eine Kasse kostete etwa 3500 Mark. Und wir brauchten zwei davon. Zum Glück kannte ich den örtlichen Vertreter der Firma NCR, des Herstellers der Ladenkassen, von früher und hatte ihn im Vorfeld um einen Gefallen gebeten: »Herr Krammer, ich kann nicht gleich neue Kassen kaufen. Sie müssen mir erst Leihkassen geben, bis ich das Geld zusammen habe, um sie Ihnen abzukaufen.«
Das hat er dann ermöglicht und mir irgendwelche gebrauchten Geräte zur Verfügung gestellt. Aber als die Kassen dann gleich so stark belastet wurden, fing eine an zu rauchen und zu qualmen, offenbar hatte sich der abgelagerte Staub entzündet. Große Aufregung. Der Laden war voller Leute, Schlangen an beiden Kassen. Es war im doppelten Sinne dramatisch. Nicht nur dass die Leute sich erschraken, wir hatten jetzt auch noch eine Kasse weniger. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich schnappte mir die qualmende Kasse, sprang in meinen alten Renault 4 und düste rüber ins Lager des Geräteherstellers: »Herr Krammer, ich brauche eine neue Kasse. Schnell.« Kasse gegriffen, wieder ins Auto, zurück in den Laden und weiter ging’s. Hinterher hat mich Herr Krammer lachend zum schnellsten Kassierer der Welt erklärt.
Schon nach wenigen Tagen hatte ich so viel Geld in der Kasse, dass ich zu Herrn Heil ging, dem zögerlichen Berater bei der Deutschen Bank, um Geld anzulegen. Der staunte nicht schlecht, als ich ihn bat, mir ein Festgeldangebot für 50 000 Mark zu erstellen. Zufällig lag zwei Tage später ein Schreiben in meinem Briefkasten: Der Kreditantrag sei bewilligt. Zufall, reiner Zufall!