Fabian Risks Leben ist ein Scherbenhaufen. Seine Familie droht zu zerbrechen, noch immer weiß Risk nicht, ob sein Sohn an einem Mord beteiligt war. Da wird ein syrischer Flüchtlingsjunge in einem Flüchtlingsheim brutal ermordet. Risks Kollegin Irene Lilja vermutet einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Rassistische Übergriffe stehen in Helsingborg an der Tagesordnung. Doch die Wahrheit ist verworren. Und eine Reihe weiterer Morde lässt Risk und Lilja an allem zweifeln, was sie zu wissen glaubten.
Thriller
Aus dem Schwedischen
von
Katrin Frey
Ullstein
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel Motiv X bei Forum, Stockholm.
ISBN 978-3-8437-2323-7
Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019/Ullstein Verlag. Der Roman ist zuvor unter dem Titel 10 Stunden tot erschienen.
© Stefan Ahnhem 2018. Titel der schwedischen Originalausgabe: Motiv X (Forum, Stockholm)
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: Bürosüd, München
Titelabbildung: © GettyImages / Thomas J Peterson
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24. August 2007
Inga Dahlberg versuchte, an etwas anderes zu denken. Wenigstens für ein paar Minuten. An den wolkenlosen Augusthimmel oder an die Musik, die so laut aus ihren Kopfhörern dröhnte, dass das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen nicht zu ihr durchdrang. An die Tatsache, dass sie kein bisschen erschöpft war, obwohl sie schon zum dritten Mal die blaue Runde lief, oder daran, dass der Ramlösa Brunnspark so grün und so dicht belaubt war, dass man in jede Richtung nur einige Meter weit sehen konnte.
Doch ebenso wie Ameisen immer einen Weg zum Zucker in der Küche finden, ließen sich auch ihre Gedanken nicht davon abhalten, wieder und wieder um den Plan zu kreisen, dem sie in den vergangenen Wochen einen Großteil ihrer Zeit gewidmet hatte. Diesen Plan, der in weniger als drei Stunden in die Tat umgesetzt werden und ihr Leben verändern sollte.
Diesmal durfte nichts schiefgehen. Beim geringsten Zucken der Lider oder einer winzigen Unsicherheit in der Stimme wäre sie verloren. Nach all den Jahren kannte sie Reidar gut genug. Er würde einen Riss in ihrer Fassade sofort ausnutzen, die Kontrolle übernehmen und sie kleinmachen, bis sie ihm wieder gehorchte wie ein dressierter Hund.
Doch was auch passieren und wie auch immer er reagieren würde, sie wusste, was sie zu tun hatte, damit er zum Stift griff und unterschrieb. Und sobald das überstanden war, würde sie sich den gepackten Koffer schnappen und zur Haustür gehen.
Sie wagte kaum zu glauben, dass die Abreise nur noch wenige Stunden hin war. Und noch dazu Paris. Die romantischste Stadt von allen. Die Heimlichtuerei endlich hinter sich lassen. All die verschlüsselten Textnachrichten, die ständige Sorge, auf frischer Tat ertappt zu werden. Ganz zu schweigen von der Angst, jeden Abend mit dem falschen Mann ins Bett gehen zu müssen.
Schon heute Abend würden sie sich draußen frei bewegen. Sie könnten sich auf eine Bank setzen und sich einfach umarmen. Sie könnte den Kopf auf seinen Schoß legen und zugleich sein Gesicht und die Sterne sehen.
Sie und ihr Geliebter.
Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Geliebter. Es gefiel ihr. Es klang nach Zärtlichkeit und Sünde zugleich. Und was hatten sie gesündigt. Bei ihm und bei ihr zu Hause, unter der Dusche und im Auto. Ganz zu schweigen von dem versteckten Stück Strand in der Nähe von Råån, wo sie Dinge getan hatten, die sie nicht für möglich gehalten hatte.
Und nun war dieses Kapitel zu Ende. Bald wäre er nicht mehr ihr Liebhaber, sondern ihr Liebster. Sie würden Kastrup hinter sich lassen, mit Sekt anstoßen und sich freuen, dass der Traum endlich Wirklichkeit geworden war.
Doch es sollte ihr niemand kommen und sagen, es wäre leicht gewesen. Anfangs war sie auf Widerstand gestoßen, er hatte nicht zuhören wollen, und sie war sich vorgekommen wie ein quengeliges Kind. Erst als sie damit gedroht hatte, alle Betroffenen in ihre kleine Affäre einzuweihen, war er zur Vernunft gekommen.
Eigentlich war es überhaupt nicht ihr Stil, zu drohen und hysterisch zu werden, aber sie konnte doch nicht ewig in einer Lüge leben. Und im Nachhinein war deutlich geworden, dass es ihm genauso ging. Plötzlich nahm er die Sache in die Hand und schmiedete konkrete Pläne.
Paris war ihre Entscheidung gewesen, aber um die Tickets hatte er sich gekümmert, sogar Businessclass hatte er gebucht, und wenn sie jetzt daran dachte, dass sie in wenigen Stunden Hand in Hand und mit viel Beinfreiheit nebeneinandersitzen würden, musste sie sich kneifen, um ganz sicher zu sein, dass sie nicht träumte.
Aber noch hatte sie nicht alle Vorbereitungen getroffen. Sobald sie zu Hause war, würde sie duschen und die letzten Reste wegräumen. Die Fenster waren bereits geputzt, und die Blumen hatten extra viel Wasser bekommen. Die Bettwäsche war gewaschen und musste nur noch gemangelt werden, bevor sie die Betten beziehen konnte. Das Bœuf Bourguignon, Reidars Lieblingsgericht, schmorte unter dem Deckel und wartete darauf, abgeschmeckt zu werden und den letzten Pfiff zu bekommen.
Es war Freitag, und er würde nach der Arbeit ein Bier trinken, bevor er um kurz vor sieben nach Hause käme und duschte, während sie zum letzten Mal seine stinkenden Arbeitsklamotten sortierte und in die Waschmaschine steckte. Anschließend würde sie das Abendessen auf den Tisch stellen und warten, bis er sich setzte.
Wenn alles ablief wie geplant, würde er ungefähr zu diesem Zeitpunkt merken, dass nicht alles war wie immer, und wissen wollen, warum sie sich ihm nicht gegenübersetzte und auch etwas aß. Eventuell würde er eine höhnische Bemerkung über die vielen gescheiterten Diäten machen, von denen sie seiner Meinung nach noch dicker geworden war, obwohl sie in Wirklichkeit zwölf Kilo abgenommen hatte, seit sie joggte.
Doch diesmal würde sie sich seinen Spott nicht anhören. Stattdessen würde sie ihm ruhig und gefasst mitteilen, dass sie ihn verlassen wollte.
Natürlich wäre es leichter gewesen, ihm einfach einen Zettel auf den Küchentisch zu legen und das Haus zu verlassen. Aber um ihn zur Unterschrift zu bewegen, musste sie es richtig machen. Ihm in die Augen sehen und ihm klarmachen, dass sie nie wieder zusammen zu Abend essen würden.
Je nachdem wie sein Arbeitstag verlaufen war, würde er möglicherweise vom Stuhl aufspringen und handgreiflich werden. Verletzen würde er sie nicht. Nicht in dem Moment. Allerdings könnte er auf die Idee kommen, mit seinem Teller zu werfen oder den Tisch umzukippen. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sich eine Wut bis in die kleinsten Blutgefäße seines Gesichts ausbreiten würde, während er sie mit der Ruhe eines Dampfkochtopfs fragte, wo um alles in der Welt sie denn hinwollte. Wie sie so naiv sein könnte, auch nur für einen Moment zu glauben, dass sie ohne ihn klarkäme.
Anschließend würde er sich ins Abseits manövrieren, indem er sie an den Ehevertrag erinnerte und sie fragte, ob ihr benebeltes kleines Erbsenhirn etwa vergessen habe, dass das Auto, das Haus und die meisten Möbel de facto ihm gehörten.
Reidar sagte leidenschaftlich gern de facto. Es schien ihn einen halben Meter größer zu machen und seinen Behauptungen etwas Unwiderrufliches zu verleihen. Genau dann, wenn er glaubte, Oberwasser zu haben, und pures Adrenalin durch seine Adern strömte, würde der Scheidungsantrag auf den Tisch kommen.
Anfangs begriff sie nicht, warum ihr die Kopfhörer, die mit dem kleinen iPod verbunden waren, aus den Ohren gerissen wurden. Geschweige denn, woher der Druck kam, mit dem etwas in ihre Brüste und dann auch in Schlüsselbeine und Hals schnitt. Erst als sie rücklings zu Boden fiel, sah sie die gespannte Angelschnur im Licht aufblitzen.
Der Himmel war schön, so strahlend blau und wolkenlos, wie er schon den ganzen Sommer über gewesen war. Abgesehen von ihrem eigenen Herzschlag hörte sie das Zwitschern Tausender Vögel, die sich irgendwo außerhalb ihres Gesichtsfelds aufhielten. Moment mal, hatte sie nicht eben noch Musik gehört? Und warum lag sie mitten auf der Laufstrecke auf dem Rücken?
Sie griff sich an den schmerzenden Hals und setzte sich auf. Ihr Hinterkopf pochte. Vermutlich hatte sie höchstens eine Minute verloren und würde noch alles erledigen können, bevor Reidar nach Hause kam.
Sie hatte sich gerade mit Mühe aufgesetzt, als schräg hinter ihr Zweige knackten. Sie drehte sich um und sah, wie sich das dichte Laub bewegte.
»Hallo? Ist da jemand?«, rief sie, obwohl daran kein Zweifel bestand. »Habt ihr die Schnur gespannt? Hallo!« Sie war wütend geworden und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen, obwohl sie keine Zeit zu verlieren hatte.
Als der Mann aus der Blätterwand hervortrat, verflüchtigte sich ihr Zorn, und sie begriff, dass sie so schnell wie möglich auf die Beine kommen und sich aus dem Staub machen sollte. Aber es ging nicht. An der Stelle, an der sie saß, schien die Schwerkraft besonders stark zu wirken. Und ihr Blick wurde geradezu magisch von dem Mann angezogen, der mit einem Spaten in der Hand aus dem Gebüsch kam.
Trotz des wolkenlosen Sommerhimmels trug er eine dunkelgraue Regenjacke und Stiefel, die bis weit über die Knie reichten und in eine Hose übergingen. Unter der Kapuze seiner Regenjacke trug er eine Sturmhaube, die nur die Augen frei ließ.
Sie holte tief Luft, aber bevor sie um Hilfe schreien konnte, hob er den Spaten, und sie erblickte an seinem Handgelenk die Armbanduhr. Es war eine Omega Speedmaster. Für so eine Uhr hatte sie ein ganzes Monatsgehalt ausgegeben.
Es war stockfinster, und das Klebeband auf ihrem Mund saß so straff, dass sie befürchtete, ihre Lippen könnten zerreißen, wenn sie zu schreien versuchte. Andererseits fühlte sich ihr Gesicht ohnehin zerfetzt und angeschwollen an. Gott im Himmel, er musste sie mit dem Spaten geschlagen haben.
Sie konnte noch immer nicht glauben, dass er derjenige gewesen war, der die Angelschnur gespannt, sie bewusstlos geschlagen und ausgezogen hatte. Wenn diese Omega nicht gewesen wäre. Oder hatte sie sich getäuscht? Vielleicht hatte der Verkäufer nur den Preis in die Höhe treiben wollen, als er ihr versicherte, dieses Apollo-Modell sei ungemein selten. Natürlich, so war es gewesen.
Allerdings war fraglich, welche Rolle es im Moment überhaupt spielte, zu wissen, wer ihr das angetan hatte. Sie lag hier nackt und gekrümmt, Klebeband über Mund und Augen, und hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Oder hatte sie es bereits hinter sich? Hatte er erledigt, was er vorgehabt hatte, und sie einfach hier zurückgelassen?
Sie befand sich immer noch unter freiem Himmel, so viel stand fest, aber sie war nicht mehr auf ihrer Laufstrecke im Brunnspark, sondern in der Nähe von Wasser. Trotz des Tapes auf ihren Ohren hörte sie es plätschern.
Eigentlich lag sie nicht, sondern kniete eher in einer zusammengesunkenen, vornübergebeugten Yogaposition, beide Arme nach vorn ausgestreckt. Eine merkwürdige Haltung, vor allem in Anbetracht der harten und rauen Unterlage.
Sie versuchte zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Wieso hatte er sie ausgerechnet nackt und in dieser Position zurückgelassen?
Sie fühlte kaum Schmerz. Weder im Gesicht noch am restlichen Körper. Alles an ihr schien wie betäubt. Als ob ihr Körper ihr nicht mehr gehörte. Er musste ihr ein Medikament verabreicht haben. War sie etwa längere Zeit bewusstlos gewesen? Vielleicht Stunden?
Wie auch immer, jetzt musste sie hier weg und so schnell wie möglich nach Hause und unter die Dusche, damit sie mit allem fertig war, wenn Reidar von der Arbeit kam. Hoffentlich war sie nicht zu weit weg von zu Hause und die Verletzung im Gesicht nur halb so schlimm.
Er würde natürlich wissen wollen, was passiert war. Aber es spielte keine Rolle. Unter keinen Umständen durfte das ihren Plan durchkreuzen. Jetzt musste sie erst einmal das Klebeband abziehen, ohne dass sich die Verletzungen verschlimmerten.
Doch als sie versuchte, einen Arm zu heben, schlug von irgendwoher der Schmerz zu. Sie schrie direkt ins Klebeband. Der Schmerz schoss vom Handrücken in die Hand und blitzschnell den Arm hinauf. Außerdem schien die Hand arretiert zu sein. Was hatte er gemacht? Sie versuchte, die andere Hand zu bewegen, aber da war es genauso. Es tat so weh, dass ihr schlecht wurde. Als sie versuchte, die Beine zu bewegen, strahlte von den Waden ein noch heftigerer Schmerz aus, falls das überhaupt möglich war.
Sie saß fest. Wie hatte er … Es wollte ihr nicht in den Kopf. An was für ein Monster war sie geraten?
»Sieh mal einer an. Das wurde aber auch Zeit«, ertönte eine Stimme. »Wurde auch Zeit.«
Er war wieder da. Oder war er die ganze Zeit hier gewesen? Und klang die Stimme nicht genau wie seine?
»So. Hoch mit dir. Auf alle viere.«
Sie überwand den Schmerz und gehorchte.
»Prima. Geht doch, du musst nur wollen.«
Es klang wirklich nach ihm. Aber er durfte es nicht sein. Vielleicht lag es am Klebeband auf ihren Ohren.
Sie spürte seine behandschuhte Hand auf ihrer Hüfte, als wäre sie ein Pferd, das begutachtet wird. Dann strich die Hand über ihren unteren Rücken und zwischen ihre Beine.
»Jetzt musst du nur aufpassen, dass du nicht wieder umfällst. Sonst bist du wirklich am Arsch.«
Er war es. Eindeutig.
Es war Ingvar. Ingvar Molander, der Mann, den sie über alles liebte und den sie endlich dazu gebracht hatte, sie in wenigen Stunden nach Paris zu bringen.
Als sich die Unterlage, auf der sie befestigt war, in Bewegung setzte, schoss der Schmerz aus Händen und Waden. Sie schrie, so laut sie konnte, brachte aber nur ein dumpfes Murmeln hervor.
Kurz darauf begann die Unterlage in verschiedene Richtungen zu kippeln, und sie musste jeden Muskel ihres Körpers anspannen, um sich auf allen vieren zu halten. Als kaltes Wasser über ihre Hände spülte, ging ihr allmählich auf, was sie erwartete.