Die Autorin

Linnea Hartsuyker wuchs in den Wäldern von Ithaca, New York auf und studierte später an der Cornell University und der New York University. Sie hat sich intensiv mit der Geschichte Haralds I. von Norwegen beschäftigt, seit sie durch Recherchen in historischen Kirchenbüchern erfahren hat, dass er zu den Vorfahren ihrer Familie zählt. Sie lebt als freie Autorin mit ihrem Mann in New York City.

Das Buch

Ragnvald Eysteinsson hat lange daran geglaubt, dass der mächtige Wikingerkönig Harald Frieden für Norwegen bringen wird. Obwohl er weiß, dass Haralds Erfolg sein eigenes Verderben bedeuten kann, hält er ihm bedingungslos die Treue.
Ragnvalds Schwester Svanhild genießt derweil als eine von Haralds Ehefrauen mehr Freiheiten denn je. Und trotzdem ist sie einsam und ruhelos. Als ihre Tochter entführt wird, folgt Svanhild ihrer Spur nach Island. Dort trifft sie auf Solvi, den Vater ihrer Kinder und Erzfeind ihres Mannes.
Währenddessen wird Ragnvalds Hoffnung auf Frieden jäh zerstört. Ein Aufstand bricht aus. Seite an Seite mit seinen Söhnen zieht er in den Kampf. Und als alte Helden gestürzt werden, nehmen neue ihren Platz ein.

Linnea Hartsuyker

Gold und Speer

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen
von Edigna Hackelsberger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Februar 2020
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© 2019 by Linnea Hartsuyker
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Golden Wolf
(Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Karte: © 2018 Laura Hartman Maestro
E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2049-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kapitel 1

Freydis Solvisdatter saß auf einer Ruderbank nahe dem Achterdeck des Schiffs. Den Kettfaden ihrer Webarbeit hatte sie an ihrem Gürtel befestigt, das andere Ende war um ein gebrochenes Ruder gebunden. Für die Zeit, während der sie segelten, hatte sie sich ein einfaches Webmuster ausgesucht – der Wellengang des Schiffs und die Rufe der Schiffsleute lenkten sie zu sehr ab, um etwas Komplizierteres zustande zu bringen.

Auch ihre Gefährtin lenkte sie ab. Dota war die Tochter von Aldi Atlisson, des Verwalters von Sogn, sie war fast genauso alt wie die vierzehnjährige Freydis, hatte aber ein ganz anderes Temperament als sie.

»Findest du auch, dass unser Schiffsführer sehr gut aussieht?«, fragte Dota Freydis, und als Freydis keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Er ist noch sehr jung für einen Schiffsführer – meist sind das doch eher grauhaarige alte Männer. Aber ihr in Tafjord, ihr seid sicher viel schönere Männer gewohnt. Es heißt, die Söhne von König Ragnvald sehen noch besser aus als Haralds Söhne, obwohl ich das kaum glauben kann. Gudrod Haraldsson hat vergangenen Sommer Sogn besucht, und der ist so hübsch wie eine Frau. Was meinst du? Welcher sieht am besten aus?«

Freydis entdeckte einen Fehler in ihrer Webarbeit und musste ein paar Reihen ihrer Schussfäden herausnehmen. »König Ragnvalds Sohn Einar«, sagte sie ruhig. Er war der älteste von König Ragnvalds Söhnen, ein Krieger und Dichter und von einer herben Schönheit, die Freydis kaum je ansehen konnte, ohne zu erröten. Man munkelte, er bevorzuge Jungen und ignoriere die meisten Mädchen in Tafjord. Aber Freydis gegenüber hatte er sich immer freundlich gezeigt, und sie hatte sich schon oft gewünscht, ihm ähnlicher zu sein, stark und unberührbar.

»Was ist mit Ivar?«, fragte Dota. »König Ragnvald hat versprochen, Ivar würde mich eines Tages heiraten, damit meine Söhne Könige von Sogn werden können.«

»Auch Ivar sieht gut aus«, meinte Freydis.

»Den habe ich noch nie gesehen – sieht er König Ragnvald ähnlich? Ist er auch so groß und schaut so grimmig drein?«

»Nein«, erwiderte Freydis. »Er sieht viel besser aus. Und er schaut nett und freundlich drein. Alle, die ihm begegnen, bewundern ihn.« Und Freydis mochte ihn auch, denn er behandelte sie wie eine jüngere Schwester, er machte Späßchen mit ihr und beschützte sie, aber er zog ihre Blicke nicht so sehr auf sich wie Einar.

»Nett und freundlich – das klingt langweilig«, meinte Dota. »Aber wenigstens ist er wohlhabend. Bist du nicht aufgeregt, dass du jetzt nach Vestfold segelst? Ich bin noch nie so weit gereist.«

Auch für Freydis war es die erste weite Reise. Sie hatte in Sogn das Licht der Welt erblickt, aber ihr ganzes Leben, bis vor einem Jahr, in den Hallen von Tafjord verbracht. Dort kannte sie jeden Stein, jedes Lebewesen und all die kleinen Geister der Schluchten und Täler von Tafjord. Dann hatten Hilda und Alfrith sie nach Sogn geschickt und ihr gesagt, sie würde dort glücklich sein, und nun schickte man sie nach Vestfold, wie einen Sack Getreide, ohne sie gefragt zu haben.

»Nun?«, fragte Dota nach. »Du bist schon aufgeregt, oder? In Vestfold gibt es mehr junge Männer. Alle Söhne Haralds sind dort und auch Harald selbst. Ich habe gehört, Prinzessin Gyda sei die schönste Frau in ganz Norwegen, obwohl sie jetzt wohl auch schon älter wird. Trotzdem ist es eine wunderschöne Geschichte, findest du nicht? Harald hat ganz Norwegen für sie erobert.«

Der Wind flaute ab, und das Schiff begann in den Wellentälern zu schaukeln. Freydis Magen machte sich unangenehm bemerkbar. Sie band ihre Webarbeit los, wickelte sie um ihre Hand und richtete den Blick starr auf den Horizont. Ihr Cousin Rolli, einer von Köng Ragnvalds jüngeren Söhnen, hatte ihr beigebracht, wie man auf diese Weise Seekrankheit vermeidet. An den zwei Tagen ihrer Reise letzten Sommer von Tafjord nach Sogn hatte sie sich während der gesamten Überfahrt übergeben müssen, was ihre Mutter erzürnt hatte. Sie hätte gerne eine Tochter gehabt, die das Meer ebenso liebte wie sie selbst.

»Was meinst du, wen wirst du heiraten, Freydis?«, fragte Dota. »Du bist ziemlich hübsch, und du bist König Haralds Stieftochter. Das sollte dir von Nutzen sein.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Freydis. Ihr Traum war, Priesterin der Freya zu werden, eine Frau, die in die Zukunft sehen konnte und für die Fruchtbarkeit des Landes sorgte. Manchmal wurden diese Priesterinnen die Geliebten der Könige und gebaren deren Kinder, wann immer sie sich dafür entschieden. Aber König Harald und König Ragnvald hatten beide zu viele Söhne und zu wenige Töchter. Freydis würde eines Tages eine Ehe eingehen müssen, um ein Bündnis zu schmieden, diesem Schicksal musste sie sich beugen.

Freydis’ grau-braun getigerte Katze Torfa kroch unter der Ruderbank hervor und stürzte sich auf die losen Fäden der Webarbeit in Freydis’ Hand, dann rannte sie mit dem Stück Tuch in der Schnauze davon. Freydis raffte ihre Röcke und rannte ihr hinterher, aber Torfa geriet zwischen den Beinen der Schiffsleute, denen sie ausweichen musste, immer mehr in Panik und verkroch sich unter einer Ruderbank.

Freydis war halb unter die Bank gekrochen, um Torfa hervorzulocken, als das Schiff plötzlich eine abrupte Wende machte und den Wind aus den Segeln verlor. Sie stand schnell auf und schlug sich dabei fast den Kopf an der Reling an, dann hörte sie den Schiffsführer rufen: »Angreifer! Von Norden!«

Freydis drehte sich um und sah das Schiff, das schnell auf sie zusteuerte. Es war klein und schmal, fast zu klein für ein Drachenschiff, obgleich es die Schilde außen an den Seiten zur Schau stellte und die Galionsfigur am Bug ihre Zähne fletschte, was Angriff bedeutete. Das Boot glitt durch die Wellen, links und rechts sprühte die Gischt hoch, und der Abstand zwischen den beiden Schiffen verringerte sich rasch. Vor ihnen verlangsamte Aldis anderes Schiff seine Fahrt, das ihn selbst und die Mehrzahl seiner Krieger an Bord hatte, und bereitete die Wende vor, um sein schwächeres Begleitschiff zu verteidigen.

Aldis’ Sohn Kolbrand, der neben Freydis stand, zog sein Schwert. »Am besten tun wir so, als hätten wir keine Frauen an Bord«, sagte er zu ihr und seiner Schwester Dota. »Verkriecht euch unter die Bänke.« Er packte Dota am Ellbogen und schob sie darunter, dann warf er ein paar leere Säcke über sie. Dota ergriff Freydis’ Hand. Es wurde heiß in ihrem Versteck, während sie dort verharrten. Dotas Atem ging keuchend, und Freydis kniff die Augen fest zusammen, um nicht wie Dota in Panik zu verfallen.

Das angreifende Schiff krachte gegen ihres, und eine Stimme rief herüber: »Wenn ihr nicht flieht, werden wir euch gegenüber Gnade walten lassen.«

Jetzt, wo Freydis den Horizont nicht sehen konnte, verschlimmerte sich ihre Übelkeit. Sie versuchte ihre missliche Lage aus der Ferne zu betrachten, so wie sie es immer tat, wenn sie unter Aufsicht ihrer Tante Alfrith eine Wunde nähte. Beim Anblick von Blut und Fleisch drehte sich ihr der Magen um, wenn sie mit gleichmäßigen Stichen die Haut zusammenzog und die Wunde schloss. Sie streichelte Dotas kaltschweißige Hand. Ein Schiff gegen zwei. Aldi und seine Männer waren im Vorteil, nicht die Angreifer.

Etwas Schweres landete auf der Planke über Freydis’ Kopf. Sie drehte sich um und spürte, wie die Spitze eines Enterhakens, der durch die Bank gedrungen war, ihre Kopfhaut aufschürfte. Das Schiff schaukelte, als die Angreifer die Boote aneinanderzogen, damit sie an Bord springen konnten. Dota begann zu wimmern, verstummte aber, als Freydis wieder ihre Hand drückte.

Das Schiff schaukelte erneut, als die Stiefel der Männer aufs Deck polterten. Von ihrem Versteck aus konnte Freydis nicht viel sehen; Füße kamen in ihr Blickfeld und verschwanden wieder. Sie hörte einen Mann aufschreien, und ein Körper stürzte in den Raum zwischen den Bänken, seine toten Augen starrten sie an, und Blut floss quer übers Deck zu ihr hin.

»Wir sind König Haralds Männer«, schrie der Schiffsführer. »Ihr dürft uns nicht angreifen.«

»Das sagen Plünderer immer«, erwiderte ein junger Mann in vertrauter, wohlklingender Stimme. »Wir sind König Haralds Männer und König Ragnvalds.«

»Das war Aldis Sohn Kolbrand, den euer Riese getötet hat«, schrie der Schiffsführer zurück, und seine Stimme war schrill vor Panik. »Dafür werdet ihr alle sterben.«

Freydis versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken, denn die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Dota begann wieder ängstlich zu wimmern. Freydis holte tief Luft, streichelte ihre Hand und versuchte, sie damit zu beruhigen, aber welchen Trost hatte sie zu bieten? Ihr Bruder Kolbrand war tot. Er hatte nie viel Zeit für Freydis gehabt, war aber seiner Schwester zugetan gewesen und hatte ein fröhliches Gemüt gehabt. Dotas leises Weinen war das Einzige, was Freydis vor Panik bewahrte. Dota brauchte sie, um ruhig zu bleiben.

Der Schlachtlärm legte sich, und Freydis hob das Stück Sackleinen, das sie verbarg. Doch als sie den Knöchel eines Mannes in hellen Gamaschen sah, schreckte sie zurück und biss sich auf die Wange, um ihr Zittern zu unterdrücken. Sie durfte ihrer Furcht nicht nachgeben. Sie war die Tochter einer von König Haralds mächtigsten Frauen und die Nichte des mächtigsten Mannes in Norwegen neben dem König. Dota war die Tochter von Aldi, den König Ragnvald erwählt hatte, um sein südliches Königreich zu verwalten. Von diesen Plünderern hatten sie nichts anderes zu erwarten, als in Geiselhaft genommen zu werden.

Freydis versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen, indem sie darüber nachdachte, was sie sagen müsste: Meine Mutter Svanhild ist König Haralds Frau. Ich bin eine wertvolle Geisel. Alfrith hatte ihr immer wieder eingeschärft, dass die Worte von Frauen die Macht hatten, das Schicksal zu wenden, besonders die Worte von Frauen, die sich mit Kräutern und Magie auskannten. Auf der Insel Smola war sie eine einfache weise Frau gewesen, bevor König Ragnvald sie dort sah und sie als Konkubine und Mutter seiner jüngeren Söhne erwählte. Vielleicht müsste Freydis gar nicht mehr zu den Angreifern sagen. Sie hoffte es, denn sie wurde immer rot und begann zu stottern, wenn sie mit Männern reden musste.

Ein Paar Füße ging vor ihr einige Male auf und ab, dann erstarrte sie, als plötzlich der Sack, der sie und Dota bedeckte, fortgerissen wurde und mit ihm Freydis’ Kopftuch. Sie schrie auf und griff unwillkürlich danach. Jemand packte sie an ihrem Zopf und zerrte sie grob an den Haaren aus ihrem Versteck, dann stieß er sie wieder von sich, mit dem Bauch gegen eine Bank, sodass sie würgen musste und nach Luft rang.

»Hier sind Frauen – Mädchen«, rief der Plünderer mit dieser vertrauten, wohlklingenden Stimme. »Reich gekleidet.«

Einer der Männer zerrte Dota weg, als sie schrie. Freydis krümmte sich auf dem Deck. Sie sah ihr Kopftuch in Reichweite auf dem Boden liegen und streckte die Hand danach aus, aber der Mann packte sie am Arm und drehte ihn brutal auf den Rücken. Sie spürte, wie etwas knackte und ein furchtbarer Schmerz durch ihre Schulter schoss.

Der Mann ließ ihre Hand los, und Freydis fiel mit einem Ruck auf die Seite zurück. Gebrochen oder ausgekugelt, hörte sie im Geiste Alfriths kühle Stimme sagen. Sie biss die Zähne fest zusammen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, und schützte ihren Arm mit der anderen Hand. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und Zorn über ihre Hilflosigkeit wogte in ihr auf.

»Freydis, bist du das?«, fragte der Mann.

Sie blickte hoch und erkannte Hallbjorn Olafsson, den Halbbruder ihres Cousins Einar, mit dem sie aufgrund der verworrenen Familienbande allerdings nicht blutsverwandt war. Er hatte dasselbe rotblonde Haar und die hohen Wangenknochen wie Einar, die sie beide von ihrer Mutter, Vigdis, geerbt hatten, obwohl Hallbjorns Gesichtszüge gröber waren.

Hallbjorn war vergangenen Sommer nach Tafjord gekommen und unter anderem der Grund dafür gewesen, dass man Freydis nach Sogn geschickt hatte – ihre Tanten hatten gemeint, er schenke ihr zu viel Aufmerksamkeit. Freydis hatte auch gehört, dass er König Ragnvald gerne tot sähe, weil der seinen Vater Olaf ermordet hatte, aber er würde seine Rache nie ausführen, nicht gegen einen so mächtigen König.

»Freydis?«, fragte er noch einmal.

Freydis nickte. »Ja«, erwiderte sie mit heiserer Stimme. Sie schluckte und sagte dann, an Hallbjorns Füße gerichtet, ihre vorher zurechtgelegten Worte auf: »Die Tochter von Svanhild, der Frau König Haralds. Ich bin eine wertvolle Geisel, solange ich unverletzt bin. Wenn ich getötet oder geschändet werde, wird man mich rächen. Dota ist Aldis Tochter. Er ist Verwalter von Sogn, eingesetzt und unterstützt von König Ragnvald. Auch sie ist als Geisel von großem Wert.«

»Freydis, du musst keine Angst haben«, beruhigte Hallbjorn sie. Er fasste sie sanft am Kinn und hob ihr Gesicht an, sodass sie ihn ansehen musste. Er hatte braune Augen, während Einars blau waren, aber dasselbe freche Lächeln, und seine Berührung machte sie verlegen. Freydis entwand sich ihm und senkte wieder den Blick.

»Bleib hier«, sagte er, und sie hörte, wie sich seine Schritte von ihr entfernten.

Einen Augenblick später sah sie ein noch viel größeres Paar Füße, und als sie aufblickte, erkannte sie ihren Cousin Rolli Ragnvaldsson, einen wahren Riesen von einem Jüngling. Ihre Mutter Svanhild hatte Rolli im vergangenen Jahr sein eigenes Schiff gegeben, und seither hatte er mit seinen Freunden Wikinger gespielt. Natürlich war er immer dort zu finden, wo Hallbjorn war. Auch Rolli war immer freundlich zu ihr gewesen. Er würde sie gut behandeln. Sie sank erleichtert nach vorn, zuckte aber sogleich zusammen, als sie ihre Schulter bewegte.

»Freydis, was machst du hier bei diesen Plünderern?«, fragte Rolli. Er hatte ein fröhliches, offenes Gesicht und eine breite Stirn, die nun von Sorge umwölkt war.

»Plünderer?«, fragte Freydis. Rolli beugte sich zu ihr, um sie besser zu verstehen. »Ich bin hier nicht bei irgendwelchen Plünderern.«

»Dieses Schiff – wem gehört es?«, wollte Rolli wissen.

»Es gehört Aldi Atlisson – dem Verwalter von Sogn«, erklärte Freydis noch einmal.

»Das ist das Schiff meines Vaters – ich würde es überall erkennen«, erwiderte Rolli, »und es war nicht sein Schiffsführer, der es segelte. Wo ist mein Vater? Wo ist König Ragnvald?«

»Das solltest du Aldi fragen«, erwiderte Freydis. Ihr wäre es lieber, er würde mit einem der Männer an Bord sprechen anstatt mit ihr. »Er ist auf dem anderen Schiff. Wir segeln nach Vestfold. Was macht ihr hier, Rolli?«

»Wir – ich dachte, ihr wärt Plünderer«, sagte er. »Ich dachte, jemand hätte das Schiff meines Vaters gekapert.«

Nun war Freydis alles klar: Rolli hatte das Boot gesehen und gemeint, er müsse die norwegische Küste beschützen. Aldis Schiffe waren weit genug vom Festland entfernt gesegelt, um Verdacht zu erregen, denn bei diesem guten Wetter nutzten sie die starken Winde vor den Küsteninseln.

»Das war töricht.« Freydis Stimme klang scharf vor Schmerzen. »Warum habt ihr nicht gefragt? Ihr habt Aldis Sohn Kolbrand getötet – das ist ein schweres Verbrechen.«

»Hallbjorn«, wandte sich Rolli an seinen Freund, und in seiner Stimme schwang Panik mit, »das hier sind keine Plünderer. Was sollen wir jetzt machen?«

»Wir bringen sie an Land«, entschied Hallbjorn. »Nehmt das Schiff. Das andere wird uns sicher folgen. Dann können wir alles klären.«


Dota und Freydis schmiegten sich eng aneinander, während Hallbjorn Aldis Schiff an die Küste einer schmalen Düneninsel steuerte und dort an Land ging. Die Insel hatte keine Bäume, nur gelbes Gras, das sich wie in Wellen im Wind wiegte, und auf der anderen Seite war das Meer. Das Schiff lief knirschend auf dem Sand auf und kam zum Stehen. Rolli stellte eine Leiter auf, und Hallbjorn winkte Freydis herbei, damit sie hinunterkletterte.

Dota folgte ihr hastig und schluchzte auf, als Hallbjorn sie zurückstieß. »Du bleibst an Bord«, befahl er Dota. »Ich habe gehört, dass du eine gute Geisel abgibst.«

Rolli musste Freydis die Leiter hinunterhelfen, da sie nur eine Hand gebrauchen konnte. Hallbjorn befahl einigen seiner Gefolgsleute, Aldis Männern Handfesseln anzulegen und sie zu bewachen. Andere junge Krieger von Rollis Schiff legten die vier Krieger, die im Kampf gefallen waren, in einer Reihe auf dem Strand ab, die Füße zur Brandung gerichtet. Die Gesichter der toten Männer verfärbten sich bereits grau, und ihre blutigen Wunden stachen von der Blässe des Todes ab. Kolbrand unterschied sich nicht groß von den anderen, der Tod ebnete die Unterschiede an Rang und Alter unter ihnen ein. Rollis Fehler würde nicht leicht wiedergutzumachen sein.

Ein starker Wind wehte vom Festland herüber und erschwerte Aldis Schiff, die Insel zu erreichen. Nicht einmal die Ruderer konnten viel gegen diese heftige Küstenbrise ausrichten. Freydis saß auf einem Stück Treibholz, während Rolli und Hallbjorn ihr Schiff endgültig aus den Wellen zogen. Einer ihrer Männer entzündete ein Feuer, und Rolli und Hallbjorn setzten sich davor und wärmten daran ihre Hände.

Freydis nahm all ihren Mut zusammen und setzte sich neben sie auf ein Stück Treibholz. Sie strich mit den Fingern über ihr geschwollenes Schultergelenk, und schon bei der kleinsten Berührung durchfuhr sie ein stechender Schmerz.

»Cousin«, sagte sie zu Rolli mit gedämpfter Stimme, um das Zittern darin zu unterdrücken, »dein Freund hat mir die Schulter ausgekugelt. Ich muss sie schnell wieder einrenken, sonst …« Ihr heftiges Schluchzen hinderte sie daran, ihnen ihre Befürchtung zu schildern, dass sie sonst verkrüppelt und hilflos würde und schlechtere Aussichten hätte, gut zu heiraten, und dass sie so nur eine wertlose Geisel sei.

Hallbjorn eilte zu ihr und setzte sich neben sie. Er legte ihr den Arm um die Schulter, und bei seiner Berührung schrie sie auf. »Wir haben keine Heiler dabei. Du wirst warten müssen.«

»Lass sie los!«, befahl Rolli. »Du tust ihr weh.«

Hallborn nahm den Arm von ihr. Das plötzliche Nachlassen des Schmerzes ließ sie nur noch heftiger weinen. Sie versuchte, den Schmerz wegzuatmen, bis sie ihr Schluchzen unterdrücken konnte.

»Ich … ich bin selbst Heilerin, zumindest so weit, dass ich mir die Schulter wieder einrenken kann.« Ihr Gesicht juckte von den Tränen, die darauf trockneten. »Ich weiß, wie es geht, aber ich brauche Hilfe.«

»Dein Wert ist ja wirklich nicht zu unterschätzen«, staunte Hallbjorn. »Sag mir, was ich tun soll. Ich hab dir Schmerzen verursacht, und ich möchte das wiedergutmachen.« Er nahm Freydis’ Hand, hielt sie sanft und streichelte ihre Haut. Seine Berührung verursachte ihr Übelkeit.

»Nein«, sagte sie. »Nicht du – mein Cousin Rolli. Er ist stärker.« Hallbjorns freundliches Lächeln verschwand, wie Wasser in einem Korb, aber er ließ sie los.

Freydis wies Rolli an, ihr Handgelenk festzuhalten, dann bewegte sie sich gegen den Druck, den er ausübte. Sie biss die Zähne zusammen, als ihre Arm- und Schulterknochen gegeneinanderknirschten. Alfrith würde jetzt sagen, Schmerz sei nur ein Gefühl, und sie müsse durch ihn hindurchgehen, als watete sie durch eine wilde Brandung. Sie konnte das aushalten und überließ Rolli mehr und mehr von ihrem Gewicht, dann riss sie sich mit einem Ruck von ihm los. Sie spürte ein Knacken und einen stechenden Schmerz, als hätte ihr jemand ein heißes Messer durch die Schulter gejagt.

»Lass mich los!«, befahl sie Rolli. Er gab ihr Handgelenk frei, und sie kniete sich auf den Sand und hielt sich vorsichtig den Arm. Dann wartete sie reglos, bis sie hörte, wie sich Rolli und Hallbjorn wieder auf ihre Holzstücke am Feuer setzten, und stand auf.

Beim Bewegen tat ihr Arm immer noch weh, aber jetzt waren es nur noch Schmerzen, doch er fühlte sich nicht mehr wie gebrochen an. Als sie spürte, dass sie es ertragen konnte, hob sie ein Stück Treibholz auf und riss damit einen Streifen von ihrem Rock ab. Sie band den Stoff zu einer Schlinge und legte sie sich um den Hals. Ihr Arm wollte ihr nicht gehorchen, also musste sie ihn mit dem anderen in der Schlinge lagern, und schließlich ließ der Schmerz nach.

Rollis Männer hatten sich am Feuer um ihn versammelt, während Freydis abgelenkt gewesen war. Rolli saß da, kaute auf einem Streifen Trockenfleisch herum und ignorierte sie, bis einer seiner Männer das Wort ergriff: »Wir werden Ärger bekommen«, meinte er. »Das war der Sohn eines Königs, den du getötet hast.«

»Es war ein Versehen«, sagte Rolli. »Mein Vater wird das Manngeld zahlen.« Er klang nicht überzeugt, und das aus gutem Grund – Ivar war König Ragnvalds Lieblingssohn und sein Erbe, während Rolli häufig abgehauen war, um mit den Kindern der Fischer zu spielen, obwohl er eigentlich das Handwerk eines Königs lernen sollte. Sein Vater war vielleicht nicht bereit, einem Sohn zu helfen, der so lange rebelliert hatte. Wenn das der Fall wäre, könnte Rolli von seinem Land und seiner Familie verbannt werden, und jeder könnte ihn töten, ohne dass er für seinen Tod zur Rechenschaft gezogen würde. Viele überlebten auch eine kurze Zeit der Verbannung nicht.

»Wenigstens wird deine Mutter dir helfen«, sagte Hallbjorn und brach in Gelächter aus. Niemand fiel darin ein, obwohl Freydis zögernd lächelte. Rolli war der Liebling seiner Mutter, ihr zauberhafter, hünenhafter Sohn, und auch er liebte sie abgöttisch. »Keine Sorge, Jungs«, fuhr Hallbjorn fort. »Wie Klein-Freydis mir versichert hat, haben wir wertvolle Geiseln bei uns.«

Gegen Abend drehte der Wind, und endlich konnte auch Aldis Schiff zu ihnen segeln. Rolli stellte seine Männer am Ufer auf, und sie zogen ihre Schwerter, als der Schiffskiel knirschend am Strand auflief. Das Boot neigte sich zur Seite, als Aldis Männer an die Reling eilten und ins seichte Wasser sprangen. Rollis Männer rannten auf sie zu und drängten Aldi und seine Gefolgsleute gegen das Schiff.

Im Gemenge von Kriegern und Waffen konnte Freydis nicht sehen, was sich dort abspielte, aber sie hörte über die Brandung hinweg Aldis zornige Stimme. »Rolli Ragnvaldsson, was hast du getan?«, schrie er. »Dein Vater wird sich schämen.«

Einige von Rollis Männern zuckten bei diesem Vorstoß zurück, aber dann stürzte sich Rolli auf ihn, und im Nu hatten seine Männer Aldis Krieger entwaffnet und trieben sie den Strand hinauf.

»Wo ist mein Sohn?«, schrie Aldi. Zwei von Rollis Männern hielten ihn an den Armen fest. »Wo ist meine Tochter?«

Rolli öffnete den Mund, blieb aber still, bis Hallbjorn vortrat. »Dein Sohn ist tot«, sagte Hallbjorn zu Aldi, »und deine Tochter ist unsere Geisel. Du solltest dir überlegen, was du uns im Tausch für ihr Leben geben willst.«

Das Blut wich aus Aldis Gesicht, er kippte nach vorn und ließ seine Arme von den Händen der Männer, die ihn gefangen hielten, herunterhängen. »Was ist mit den anderen Gefangenen?«, fragte Aldi und blickte zu Rolli auf. »Du hattest kein Recht dazu, sie festzunehmen. Hält dein Vater so wenig von mir, dass er dich schickt, um dich über mich lustig zu machen?«

»Mein Vater hat mich nicht geschickt«, wehrte sich Rolli. »Ich dachte, ihr wärt Plünderer – warum segelst du in seinem Schiff und ziehst das falsche Banner auf?«

»König Ragnvald hat mir sein Schiff geliehen«, erwiderte Aldi und starrte Rolli wütend an. »Dafür wirst du geächtet werden.«

»Ich könnte dich jetzt töten«, sagte Rolli unsicher.

»Ja, töte ihn – sieh nur, er kniet schon vor dir und erwartet den Hieb«, sagte Hallbjorn, »und wir verkaufen die Überlebenden als Sklaven in den Süden. Dein Vater braucht von dieser Sache nie zu erfahren.«

»Nein«, sagte Rolli. »Du hast mich heute in eine schlimme Lage gebracht, Hallbjorn.«

Aldi rappelte sich hoch auf die Füße und wandte sich hastig ab. »Dein Freund hat recht – das Beste, worauf du hoffen kannst, ist Ächtung. Es wäre besser, wenn du mich jetzt tötest, oder ich nehme dir das Leben als Preis für das meines Sohnes. Ich hätte deinen Vater damals töten sollen, als er den Tod meines Vaters Atli verursachte, aber ich war bereit, meine Rache gegen Land einzutauschen. Aber diesmal nicht.«

»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte Rolli mit brüchiger Stimme. »Mein Vater wird das verstehen.«

»Wenn wir geächtet werden …«, grollte Hallbjorn.

»Hör auf damit!«, befahl Rolli. »Der Verwalter meines Vaters kann die Leiche seines Sohnes haben und seine Tochter. Die Übrigen werden unsere Geiseln sein, um sicherzustellen, dass er in Frieden abreist.«

»In Frieden!«, höhnte Aldi. »Nach dem hier wird es keinen Frieden geben.«

»Geh, Hallbjorn, und finde seinen Sohn«, befahl Rolli. »Wir werden dieses Schiff behalten, und du kannst ihm das Schiff meines Vaters zurückgeben.«

»Dein Vater wird für diese Sache einstehen müssen, wenn du es nicht tust«, drohte Aldi. Er sah zu Rolli auf, und sein Gesicht war weiß und voller Gram. Rollis Männer bargen die Leichen vom Strand, und Rolli half Dota vom Schiff hinunter.

Freydis watete hinaus in die Brandung und reichte Dota einen Arm, dann ging sie mit ihr dort hinüber, wo Aldi mit seinen Männern stand. Als sie an Hallbjorn vorbeigingen, packte er Dotas Arm, zog sie von Freydis weg und stieß sie auf Rolli zu.

»Wir brauchen mehr Geiseln«, sagte Hallbjorn zu Rolli, »oder dieser Mann wird dich töten.«

Rolli stieß sie zurück und fragte Hallbjorn: »Willst du Harald zwingen, mich zu ächten?«, dann sagte er an Aldi gewandt: »Es tut mir leid für deinen Sohn. Ich werde das in Ordnung bringen.«

»Wer hat hier das Kommando?«, wollte Aldi wissen. »Wer ist verantwortlich für dieses Verbrechen?«

»Ich«, erwiderte Rolli.

Hallbjorn stürzte sich plötzlich auf Dota, die erschreckt aufschrie. Freydis wirbelte herum und sah, dass er Dota wieder gepackt hatte und ihr einen Dolch an den Hals hielt. Dotas Augen waren vor Furcht geschlossen, und auch Hallbjorns Blick schoss panisch zwischen Aldi und Rolli hin und her. »Ich kann nicht zulassen, dass du das tust«, rief Hallbjorn. »Wir brauchen Geiseln, sonst werden wir geächtet.«

Freydis trat vor. Ihre Mutter setzte gegen die Schwerter der Männer oft ihr Wort ein. Auch Freydis konnte das jetzt tun. »Ich bin König Haralds Stieftochter«, sagte sie in ruhigem Ton. »Wenn du eine Geisel brauchst, dann hast du mich doch schon.«

»Lass sie gehen«, befahl Rolli.

Hallbjorn stieß Dota zu ihrem Vater, dann packte er Freydis’ unverletzten Arm und zog sie an sich, sodass sie die Wärme seiner Haut spüren und seinen Schweiß und seine lederne Kleidung riechen konnte. »Das ist wahr«, sagte Hallbjorn zu Aldi. »Wir haben eine viel bessere Geisel als deine Tochter. Und nun geh, bevor ich’s mir anders überlege.«