Camilla Läckberg
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen
von Katrin Frey
List Taschenbuch
Das Buch
Patrik Hedström und seine neue Kollegin Hanna Kruse haben kaum Zeit, sich kennenzulernen, schon werden sie zu ihrem ersten Einsatz gerufen. Ein Wagen ist in der Nähe von Tanumshede von der Straße abgekommen, die Fahrerin wird tot aufgefunden. War es Mord? Mitten in die hektischen Ermittlungen platzt die Nachricht eines weiteren Mordes. Die Leiche einer Teilnehmerin der Reality Show Fucking Tanum wurde in einem Müllcontainer entdeckt. Patrik und Hanna stoßen auf anonyme Drohungen, Tagebücher und ungeklärte Morde in ganz Schweden. Und auf ein verbindendes Indiz: Bei allen Opfern wurde eine Seite aus Hänsel und Gretel gefunden. Ein Wettlauf mit dem Serienkiller beginnt.
Die Autorin
Camilla Läckberg wurde 1974 im idyllischen Fjällbacka geboren. Sie arbeitete in der freien Wirtschaft, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Mit ihrer Serie um Erica Falck und Patrik Hedström avancierte sie innerhalb kürzester Zeit zur neuen Krimikönigin Schwedens. Camilla Läckberg lebt mit ihrem Lebensgefährten und drei Kindern in Stockholm. Mehr unter: www.camillalackberg.se
Er erinnerte sich vor allem an ihr Parfüm, das immer im Badezimmer gestanden hatte. Der lilafarbene Flakon mit dem schweren süßlichen Duft. Als Erwachsener hatte er ihn nach langem Suchen in einer Parfümerie wiederentdeckt. Er musste lächeln, als er sah, wie das Parfüm hieß: »Poison«.
Sie hatte den Duft immer zuerst auf ihre Handgelenke gesprüht und dann auf dem Hals verrieben. Wenn sie einen Rock trug, auch auf den Knöcheln.
Es hatte so schön ausgesehen. Wie sich ihre mageren und zerbrechlichen Handgelenke anmutig aneinanderrieben. Rings um sie breitete sich der Duft aus. Immer sehnte er sich nach dem Moment, in dem der Parfümhauch ganz zu ihm drang. Dem Augenblick, in dem sie sich vorbeugte und ihn küsste. Immer auf den Mund. Immer so zart, dass er nicht wusste, ob der Kuss wirklich gewesen war oder ob er ihn nur geträumt hatte.
»Kümmer dich um deine Schwester«, sagte sie jedes Mal, bevor sie fast schwebend das Haus verließ.
Hinterher wusste er nie, ob er laut geantwortet oder nur genickt hatte.
Die Frühlingssonne schien ins Kommissariat von Tanum und brachte den Schmutz auf den Fensterscheiben erbarmungslos ans Licht. Patrik hatte das Gefühl, dass der gleiche wintergraue Schmutzfilm auch ihn bedeckte. Es war ein harter Winter gewesen. Das Leben mit Kind war unendlich viel schöner, aber auch unendlich viel anstrengender, als er es sich vorgestellt hatte. Obwohl es mit Maja inzwischen reibungsloser lief als am Anfang, fühlte sich Erica in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau trotzdem nicht so richtig wohl. In jeder Minute, die Patrik an seinem Arbeitsplatz verbrachte, war ihm das schmerzhaft bewusst. Und die Sache mit Anna war noch eine zusätzliche Belastung.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Patrik? Verkehrsunfall auf der Straße nach Sannäs. Nur ein Fahrzeug.« »Okay.« Patrik stand auf. »Sollte nicht heute die Nachfolgerin von Ernst anfangen?«
»Doch«, sagte Annika. »Aber es ist noch nicht acht.«
»Dann fahre ich mit Martin hin. Eigentlich wollte ich die Neue mitnehmen, damit sie sich schon mal ein bisschen eingewöhnen kann.«
»Sie kann einem wirklich leidtun.«
»Weil sie mich begleiten sollte?« Patrik warf ihr einen gespielt beleidigten Blick zu.
»Natürlich, ich kenne doch deinen Fahrstil …« Annika lachte. »Nein, im Ernst. Die Ärmste wird es nicht leicht haben mit Mellberg.«
»In Anbetracht ihres beeindruckenden Lebenslaufs würde ich sagen, wenn jemand mit Mellberg umgehen kann, dann Hanna Kruse. Ihren Referenzen und Zeugnissen nach zu urteilen, ist sie eine ziemlich fitte Frau.«
»Und warum hat sie sich dann in Tanum beworben?«
»Interessanter Punkt.« Patrik zog sich die Jacke an. »Ich werde sie mal fragen, wieso sie sich dazu herablässt, unter lauter Hobbypolizisten in dieser Karrieresackgasse Dienst zu tun.«
Annika klopfte ihm auf die Schulter. »So habe ich es nicht gemeint.«
»Ich weiß, war doch nur ein Witz. Hast du nähere Informationen über den Unfallort? Verletzte? Tote?«
»Nach Aussage des Anrufers, der den Unfall gemeldet hat, scheint sich nur eine Person im Wagen zu befinden. Und die ist tot.«
»Verdammt. Martin und ich fahren hin. Wir sind bestimmt bald wieder da. Inzwischen kannst du Hanna ja alles zeigen.«
Im selben Augenblick war aus dem Eingangsbereich eine Stimme zu hören: »Hallo?«
»Das muss sie sein.« Annika eilte zur Tür. Patrik, der äußerst gespannt auf die Neue war, folgte ihr.
Der Anblick der Frau am Empfangstresen überraschte ihn. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, eine etwas größere Frau vielleicht. Nicht ganz so hübsch und … blond. Sie gab zuerst Patrik und dann Annika die Hand. »Hallo. Hanna Kruse. Ich soll heute hier anfangen.«
Die Stimme entsprach schon eher seinen Erwartungen. Tief und resolut.
Ihr Händedruck, der viele Stunden Krafttraining verriet, rückte Patriks ersten Eindruck noch weiter zurecht.
»Patrik Hedström. Und das ist Annika Jansson, das Rückgrat unserer Dienststelle.«
Hanna lächelte. »Ich verstehe, der weibliche Vorposten in der totalen männlichen Dominanz. Zumindest bis jetzt.«
Annika lachte. »Bei dem ganzen Testosteron in diesem Haus kann ich ein bisschen Verstärkung gut gebrauchen.«
Patrik unterbrach das Geplauder. »Ihr könnt euch später miteinander bekannt machen. Hanna, uns ist soeben ein Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang gemeldet worden. Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich dich gleich mit, damit du mit Vollgas in deinen ersten Arbeitstag startest.«
»Kein Problem«, sagte Hanna. »Ich muss nur meine Tasche irgendwo abstellen.«
Annika nickte. »Ich bringe sie in dein Zimmer. Den Rundgang machen wir, wenn ihr wieder da seid.«
»Danke.« Hanna lief hinter Patrik her, der bereits auf dem Weg zum Ausgang war.
»Und, wie geht’s so?«, fragte Patrik, als sie im Dienstwagen Richtung Sannäs fuhren.
»Danke, gut. Aber ein neuer Job ist auch immer ein bisschen aufregend.« »Laut deinem Lebenslauf bist du schon viel herumgekommen.«
»Genau, ich wollte so viele Erfahrungen wie möglich sammeln.« Hanna blickte interessiert aus dem Fenster. »Verschiedene Regionen in Schweden, verschieden große Reviere. Alles, was meine Berufserfahrung erweitert.«
»Aber wozu?«, bohrte Patrik weiter. »Was ist das übergeordnete Ziel?«
Hanna lächelte. Ihr Lächeln war zwar freundlich, aber auch ungeheuer selbstbewusst. »Natürlich eine Führungsposition. In einem der größeren Polizeibezirke. Daher besuche ich ständig Fortbildungen, lerne so viel wie möglich und arbeite, so hart ich kann.«
»Klingt nach einem Erfolgsrezept.« Patrik lächelte, obwohl ihm dieser enorme Ehrgeiz nicht recht behagte. An so etwas war er nicht gewöhnt.
»Ich hoffe es.« Hanna wendete den Blick nicht von der vorüberziehenden Landschaft ab.
»Und selbst – wie lange arbeitest du schon in Tanum?«
Zu seiner Verärgerung hörte er einen verschämten Unterton in seiner Antwort. »Äh … seit meiner Ausbildung.«
»Puh, das könnte ich nicht. Mit anderen Worten, du fühlst dich sauwohl hier.« Sie lachte. »Klingt ja vielversprechend …«
»Ja, das könnte man daraus schließen. Aber vieles beruht auch auf Gewohnheit und Bequemlichkeit. Ich bin hier aufgewachsen und kenne die Gegend wie meine Westentasche. Allerdings wohne ich eigentlich gar nicht mehr in Tanum, sondern in Fjällbacka.«
»Ach, du bist doch mit Erica Falck verheiratet! Ihre Bücher sind toll! Jedenfalls die Krimis. Die Biographien habe ich leider nicht gelesen …«
»Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Den Verkaufszahlen nach zu urteilen, hat halb Schweden den neuesten Krimi gelesen, während kaum einer weiß, dass sie fünf Biographien über schwedische Schriftstellerinnen veröffentlicht hat. Am besten hat sich die über Karin Boye verkauft, die Auflage betrug zweitausend Exemplare, glaube ich. Übrigens sind wir noch nicht verheiratet – aber bald. Wir heiraten am Samstag vor Pfingsten!«
»Oh, da darf man ja gratulieren! Wie schön, eine Pfingsthochzeit!«
»Ja, hoffen wir’s. Ehrlich gesagt, würde ich mich am liebsten nach Las Vegas verziehen, um dem ganzen Trubel zu entgehen. Ich hatte ja nicht geahnt, dass eine Hochzeit so ein Großprojekt ist.«
Hanna lachte herzlich. »Das kann ich mir vorstellen …«
»In deinen Unterlagen steht, dass du auch verheiratet bist. Habt ihr keine große Hochzeit gefeiert, mit Kirche und allem Drum und Dran?«
Ein Schatten fiel über Hannas Gesicht. Hastig wendete sie den Blick ab und murmelte kaum hörbar: »Wir wurden standesamtlich getraut. Aber über diese Geschichte reden wir ein andermal. Na, ich glaube, wir sind da.«
Vor ihnen lag ein Autowrack im Graben. Zwei Feuerwehrmänner versuchten gerade, das Dach aufzuschneiden, doch sie schienen es nicht sonderlich eilig zu haben. Nach einem Blick auf den Fahrersitz wusste Patrik, warum.
Es war kein Zufall, dass die Sitzung bei ihm zu Hause und nicht im Rathaus stattfand. Nach monatelanger Renovierung konnte das Haus, das er als sein »Schmuckstück« bezeichnete, nun endlich besichtigt und bewundert werden. Es war eins der größten und ältesten Häuser in Grebbestad, und es war nicht leicht gewesen, die Vorbesitzer zum Verkauf zu überreden. Sie hatten etwas von »Familienbesitz« gejammert, den sie »an Kinder und Kindeskinder weitergeben« wollten, aber nachdem er sein Gebot immer höher geschraubt hatte, war das Jammern zunächst in ein Murren und schließlich in ein wohliges Brummen übergegangen. Dabei merkten diese einheimischen Trottel gar nicht, dass er erheblich weniger bot, als er zu zahlen bereit gewesen wäre. Vermutlich waren sie nie über die Ortsgrenzen hinausgekommen und hatten im Gegensatz zu Menschen, die den Stockholmer Immobilienmarkt kannten, keine Ahnung, was die Dinge wert waren. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er nach dem Kauf zwei zusätzliche Millionen in die Sanierung des Hauses investiert. Nun präsentierte er das Resultat stolz dem Gemeinderat.
»Hier haben wir eine Treppe aus England eingebaut, die gut mit den epochentypischen Zierelementen harmoniert. War zwar nicht ganz billig – pro Jahr werden nur fünf von diesen Treppen hergestellt –, aber Qualität hat eben ihren Preis. Übrigens haben wir eng mit dem Museum von Bohuslän zusammengearbeitet. Viveca und ich legen großen Wert darauf, Häuser behutsam zu modernisieren, ohne ihre Seele zu zerstören. Wir haben übrigens noch ein paar Exemplare der vorletzten Ausgabe von ›Residence‹, in der das Ergebnis unserer Arbeit dokumentiert ist. Der Fotograf sagte, er hätte noch nie eine so geschmackvolle Renovierung gesehen. Nehmt euch gern ein Heft mit und blättert es zu Hause in Ruhe durch. Erlaubt mir die Bemerkung, dass in ›Residence‹ nur die exklusivsten Häuser präsentiert werden – nicht wie in ›Schöner Wohnen‹, wo Krethi und Plethi ihr neues Zuhause zeigen dürfen.« Mit einem Schmunzeln brachte er zum Ausdruck, wie absurd der Gedanke war, sein Heim könnte in einer solchen Zeitschrift erwähnt werden.
»So, ich schlage vor, wir nehmen Platz und widmen uns den Geschäften.« Erling W. Larson deutete auf den großen Esstisch, den seine Frau diskret mit Kaffee und Kuchen gedeckt hatte, während er den anderen Gemeinderäten das Haus zeigte. Nun stand sie stumm am Tisch und wartete, bis alle sich gesetzt hatten. Erling schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. Seine kleine Viveca war Gold wert. Sie wusste, was sie zu tun und zu lassen hatte, und war eine ausgezeichnete Gastgeberin. Gepflegte Konversation war zwar nicht ihre Stärke, aber er sagte gern, eine Frau, die schweigen konnte, sei ihm lieber als eine, die ständig schwatzte.
»Na, was denkt ihr über den Meilenstein, vor dem wir heute stehen?« Sie hatten sich an den Tisch gesetzt. Viveca schenkte reihum Kaffee in die weißen Tassen aus hauchdünnem Porzellan.
»Du kennst meinen Standpunkt«, sagte Uno Brorsson und ließ vier Zuckerwürfel in seinen Kaffee plumpsen. Erling beobachtete ihn mit Abscheu. Er hatte kein Verständnis für Männer, die ihren Körper und ihre Gesundheit vernachlässigten. Er selbst joggte jeden Morgen zehn Kilometer und hatte sich dezent liften lassen. Letzteres war allerdings nur Viveca bekannt.
»In der Tat«, gab Erling ein wenig schärfer zurück als beabsichtigt. »Du hast ausreichend Gelegenheit gehabt, deine Meinung zu äußern, und da wir diesen Beschluss nun mal mehrheitlich gefasst haben, halte ich es für das Vernünftigste, jetzt an einem Strang zu ziehen und das Beste aus der Situation zu machen. Es hat keinen Sinn, die Sache noch einmal zu diskutieren. Das Fernsehteam rollt heute an, und – ihr kennt meinen Standpunkt – ich persönlich bin der Meinung, unserer Gegend hätte nichts Besseres passieren können. Bedenkt nur, welchen Aufschwung frühere Staffeln den Orten gebracht haben, in denen sie aufgezeichnet wurden. Åmål hatte ja bereits im Zuge des Kinofilms von Lukas Moodysson eine gewisse Aufmerksamkeit bekommen, aber mit dem Medienrummel anlässlich der Reality-Soap ist das nicht mehr zu vergleichen. Raus aus Töreboda hat die kleine Ortschaft berühmt gemacht, in der die Staffel gedreht wurde. Stellt euch vor, dass sich halb Schweden Raus aus Tanum ansieht! Eine ausgezeichnete Gelegenheit, unsere abgelegene Gegend von ihrer Schokoladenseite zu zeigen!«
»Schokoladenseite!«, schnaubte Uno. »Sex, Alkohol und hirnlose Fernsehtussis, sieht so das Bild aus, das du von Tanum vermitteln willst?«
»Also, ich glaube, es wird total spannend!«, rief Gunilla Kjellin mit ihrer etwas zu schrillen Stimme und warf Erling einen verzückten Blick zu. Sie war hingerissen von ihm. Eigentlich war sie fast schon verliebt in ihn, was sie natürlich nie zugegeben hätte. Erling wusste jedoch genau, was sie für ihn empfand. Und immer wenn er ihre Unterstützung brauchte, nutzte er ihre Gefühle schamlos aus.
»Genau, hört auf Gunilla! So sollten wir alle das kommende Projekt betrachten! Uns erwartet ein großes Abenteuer, und für diese Chance sollten wir dankbar sein.« In Erlings Tonfall lag ansteckende Begeisterung. Seine Stimme hatte ihm in seinen Jahren in dem riesigen Versicherungsunternehmen gute Dienste erwiesen. Nicht nur die Angestellten, auch der Vorstand hatten ihm immer interessiert zugehört. Beim Gedanken an diese turbulenten Jahre seines Berufslebens wurde er ein wenig sentimental. Doch Gott sei Dank hatte er sich rechtzeitig zurückgezogen. Hatte sein wohlverdientes Geld eingesteckt und seinen Hut genommen, bevor die blutrünstige Journalistenmeute Wind von der Sache bekam und sich auf seine Kollegen stürzte. Wie auf eine Beute, die man zu Tode hetzen und in Stücke reißen wollte. Es war Erling alles andere als leichtgefallen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Aber im Nachhinein erwies es sich als die beste Entscheidung seines Lebens.
»Nehmt doch noch von dem Gebäck, es ist aus der Konditorei Elg.« Er zeigte auf den Teller mit den Blätterteigteilchen und Zimtschnecken. Artig beugten sich alle vor und bedienten sich. Er selbst hielt sich zurück. Dass er trotz gesunder Ernährung und regelmäßigem Sport einen Herzinfarkt bekommen hatte, war ihm nur ein zusätzlicher Ansporn.
»Wie gehen wir mit eventuellen Sachbeschädigungen um? Ich habe gehört, dass so etwas während der Dreharbeiten in Töreboda vorgekommen ist. Steht der Sender dafür gerade?«
Erling schnaufte ungeduldig in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Der junge Wirtschaftsbeauftragte der Gemeinde hängte sich immer an Kinkerlitzchen auf, anstatt das große Ganze zu betrachten. Was verstand der schon von wirtschaftlichen Zusammenhängen? Der knapp Dreißigjährige hatte vermutlich noch nie über so viel Geld entschieden wie Erling in seinen besten Jahren an einem einzigen Tag. Nein, für Pfennigfuchser wie diesen Erik Bohlin hatte er nicht viel übrig. Mit Nachdruck sagte er: »Das soll uns jetzt nicht kümmern. Angesichts des wachsenden Touristenstroms, der uns ins Haus steht, sind ein paar zerbrochene Fensterscheiben nun wirklich nicht der Rede wert. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass die Polizei ihr Bestes tut, um die Lage unter Kontrolle zu halten.«
Er ließ seinen Blick einen Moment auf jedem Einzelnen ruhen. Diese Technik hatte sich schon früher als effektiv erwiesen. So auch jetzt. Alle senkten gehorsam den Blick und schluckten jeglichen Protest hinunter. Sie alle hatten Gelegenheit gehabt, ihre Meinung zu sagen, aber nun war man auf gute demokratische Weise zu einem Entschluss gekommen, und die Fernsehbusse mit den Teilnehmern würden heute in Tanum eintreffen.
»Es wird schon werden«, seufzte Jörn Schuster, der sich noch immer nicht davon erholt hatte, dass Erling den Posten des Bürgermeisters übernommen hatte, auf dem er selbst fast fünfzehn Jahre gesessen hatte.
Erling wiederum konnte nicht nachvollziehen, warum Jörn im Gemeinderat geblieben war. Wäre er so schmählich abgewählt worden, hätte er den Schwanz eingezogen und sich getrollt. Aber wenn Jörn diese Schmach ertragen wollte, war das seine Sache. Vieles sprach dafür, den alten Fuchs zu halten, obwohl er inzwischen – bildlich gesprochen – seine scharfen Zähne eingebüßt hatte. Solange Jörn im Gemeinderat war, machten seine treuen Anhänger wenigstens keinen Ärger.
»Tja, dann legen wir jetzt mit Volldampf los. Um eins werde ich persönlich das Fernsehteam begrüßen, ihr seid natürlich ebenfalls willkommen. Ansonsten sehen wir uns bei der regulären Sitzung am Donnerstag.« Er stand auf und ließ keinen Zweifel daran, dass es für seine Gäste nun Zeit war zu gehen.
Uno brummte noch immer missmutig vor sich hin, aber die restliche Truppe stand hinter ihm, dachte Erling. Diese Sache roch einfach nach Erfolg.
Zufrieden genehmigte er sich auf der Terrasse eine Zigarre. Im Esszimmer deckte Viveca schweigend den Tisch ab.
»Da da da.« Maja saß auf dem Kinderstuhl und lallte fröhlich, während sie geschickt dem Löffel auswich, den Erica ihr in den Mund zu stecken versuchte. Nach einer Weile gelang es ihrer Mutter, ihr den Löffel in den Mund zu befördern, aber die Freude hielt nicht lange an, da Maja nun vorführte, wie gut sie ein Auto nachahmen konnte. »Brumm, brumm«, machte sie mit einer derartigen Hingabe, dass sich der Brei gleichmäßig auf Ericas Gesicht verteilte.
»Scheiße«, sagte Erica müde, bereute aber sofort ihre Wortwahl.
»Brumm, brumm.« Ausgelassen spuckte Maja den Rest der Pampe auf den Tisch.
»Seiße«, wiederholte Adrian, woraufhin ihn seine große Schwester streng zurechtwies.
»So was sagt man nicht, Adrian!«
»Aber Ica hat das auch gesagt.«
»So was darf man aber nicht sagen, oder, Tante Erica, darf man doch nicht?« Emma stemmte entschlossen die Hände in die Hüfte und sah Erica herausfordernd an.
»Nein, natürlich darf man das nicht. Es war blöd von mir, so etwas zu sagen, Adrian.«
Zufrieden widmete sich Emma wieder ihrem Müsli. Erica betrachtete sie liebevoll, aber besorgt. Sie hatte früh erwachsen werden müssen. Manchmal verhielt sie sich eher wie Adrians Mutter als wie seine große Schwester. Anna schien es nicht zu bemerken, doch Erica fiel es auf. Sie selbst hatte diese Rolle auch in viel zu jungen Jahren schultern müssen.
Und nun war alles beim Alten: Sie war wieder die Mutter ihrer Schwester. Während sie gleichzeitig die Mutter von Maja war und eine Art Zweitmutter für Emma und Adrian, bis Anna wieder aus ihrem Dämmerschlaf erwachte. Erica warf einen Blick in Richtung Obergeschoss und begann, das Chaos auf dem Tisch abzuräumen. Oben war es ruhig. Anna stand selten vor elf auf, und Erica ließ sie schlafen. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen.
»Ich will heute nicht in den Kindergarten«, teilte Adrian mit und setzte eine Miene auf, die unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, ihn zu zwingen.
»Natürlich gehst du in den Kindergarten, Adrian.« Emma stemmte erneut die Hände in die Seiten. Erica machte ihre acht Monate alte Tochter ausgehfertig, so gut es ging, und setzte dem drohenden Geschwisterstreit ein Ende: »Emma, zieh deine Jacke an. Adrian, ich möchte das heute nicht mit dir diskutieren. Du gehst mit Emma in den Kindergarten und damit basta.«
Adrian öffnete den Mund, um zu protestieren, aber der Blick seiner Tante sagte ihm, dass er an diesem Morgen lieber gehorchen sollte. Ungewöhnlich fügsam trottete er in den Flur.
»So, jetzt zieh deine Schuhe an.« Erica stellte ihm seine Turnschuhe hin, doch Adrian schüttelte heftig den Kopf.
»Ich kann nicht, du musst mir helfen.«
»Natürlich kannst du das, im Kindergarten ziehst du deine Schuhe doch auch allein an.«
»Nein, ich kann nicht. Ich bin noch zu klein«, fügte er sicherheitshalber hinzu.
Erica seufzte und setzte Maja ab, die schon zu krabbeln begann, bevor ihre Hände und Knie den Fußboden berührt hatten. Sie hatte früh damit angefangen und war mittlerweile eine wahre Krabbelmeisterin.
»Bleib hier, Süße«, rief Erica, während sie Adrian die Schuhe anzog. Maja ignorierte die Ermahnung und begab sich freudig auf Entdeckungsreise. Erica merkte, wie ihr am Rücken und unter den Achseln der Schweiß ausbrach.
»Ich kann Maja holen«, sagte Emma diensteifrig und fasste Ericas Schweigen als Zustimmung auf. Leicht schwankend schleppte sie Maja heran, die sich in ihren Armen wand wie ein junges Kätzchen. Erica sah, wie Majas Gesicht bereits die rote Färbung annahm, die für gewöhnlich ein ohrenbetäubendes Brüllen ankündigte. Schnell nahm sie ihre Tochter selbst auf den Arm. Dann scheuchte sie die Kinder aus dem Haus und zum Auto. Wie sie dieses morgendliche Theater hasste!
»Rein ins Auto, schnell. Wir kommen schon wieder zu spät, und ihr wisst, dass eure Kindergärtnerin Ewa das gar nicht gern mag.«
»Das mag sie nicht gern.« Emma schüttelte sorgenvoll den Kopf.
»Nein, das mag sie wirklich nicht gern.« Erica schnallte Maja in den Kindersitz.
»Ich will vorne sitzen.« Adrian verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Er war bereit zum Kampf. Aber Ericas Geduld war am Ende.
»Setz dich jetzt sofort auf deinen Platz!«, brüllte sie. Es erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung, dass er wie der Blitz auf seinen Kindersitz huschte. Emma setzte sich auf ihr Kissen in der Mitte und schnallte sich selbst an. Etwas zu ruppig legte Erica Adrian den Gurt an, hielt aber inne, als sie plötzlich eine Kinderhand an ihrer Wange spürte.
»Ich hab dich liiieb, Ica.« Adrian guckte so niedlich, wie er nur konnte. Zweifellos ein Versuch, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln, aber es funktionierte jedes Mal. Erica schmolz augenblicklich dahin. Sie beugte sich vor und gab ihm einen dicken Kuss.
Bevor sie rückwärts aus der Einfahrt fuhr, warf sie einen letzten Blick auf das Fenster von Annas Schlafzimmer. Die Rollos waren immer noch unten.
Jonna legte die Stirn an die kalte Fensterscheibe des Busses und betrachtete die vorüberziehende Landschaft. Totale Gleichgültigkeit breitete sich in ihr aus. Wie immer. Sie zog sich die Pulliärmel über die Hände. Mit den Jahren hatte sich dieser Tick zu einem Zwang entwickelt. Sie fragte sich, was sie eigentlich hier machte. Wie war sie bloß hierher geraten? Was war so faszinierend an ihrem Leben und ihrem Alltag? Jonna konnte es nicht nachvollziehen. Sie war doch nur eine kaputte und einsame Ritzerin. Vielleicht hatten die Zuschauer deshalb Woche für Woche für sie gestimmt. Weil es im ganzen Land Mädchen wie sie gab. Mädchen, die sich mit Begeisterung in ihr wiedererkannten, wenn sie Streit mit den anderen Teilnehmern hatte, wenn sie heulend im Badezimmer saß und sich mit der Rasierklinge die Unterarme aufritzte oder wenn sie so viel Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit ausstrahlte, dass die anderen im Haus sich von ihr zurückzogen wie von einer Tollwütigen. Vielleicht gerade deswegen.
»O Mann, ist das aufregend! Ich meine, dass wir noch eine Chance gekriegt haben!« Jonna hörte die atemlose Erwartung in Barbies Stimme, verweigerte aber jegliche Reaktion. Schon allein diesen Namen fand sie zum Kotzen. Doch die Zeitungen liebten ihn. »BB-Barbie« machte sich auf den Titelblättern ungeheuer gut. Eigentlich hieß sie Lillemor Persson, wie ein Boulevardblatt recherchiert hatte. Sie hatten sogar alte Fotos aus der Zeit ausgegraben, als Barbie noch ein mageres kleines Mädchen mit braunen Haaren und viel zu großer Brille war. Und nicht die geringste Ähnlichkeit aufwies mit der silikonstrotzenden blonden Sexbombe von heute. Man hatte ihnen ein Exemplar der Zeitung ins Haus gebracht. Jonna hatte sich über die Bilder kaputtgelacht. Aber Barbie hatte geweint und dann die Zeitung verbrannt.
»Sieh mal, die vielen Leute!« Barbie zeigte auf den Menschenauflauf, der den Bus in Empfang nahm. »Mann, die sind alle wegen uns hier, Jonna. Wegen uns, stell dir das mal vor!« Sie konnte sich kaum auf ihrem Sitz halten. Jonna betrachtete sie verächtlich. Dann setzte sie die Kopfhörer ihres MP3-Players auf und schloss die Augen.
Patrik ging langsam um das Auto herum. Es war eine steile Böschung hinuntergerollt und gegen einen Baum geprallt. Abgesehen vom stark beschädigten vorderen Teil war der Wagen intakt. Schnell war er offenbar nicht gefahren.
»Der Fahrer scheint gegen das Lenkrad geprallt zu sein. Ich nehme an, das war auch die Todesursache.« Hanna war neben der Fahrertür in die Hocke gegangen.
»Das sollten wir dem Rechtsmediziner überlassen.« Patriks Tonfall klang etwas schärfer als beabsichtigt. »Ich meine, es wäre besser …«
»Schon gut.« Hanna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine überflüssige Bemerkung von mir. Ich werde mich auf meine Beobachtungen konzentrieren und keine Schlüsse ziehen – vorerst.«
Patrik hatte das Auto umrundet und ging neben Hanna in die Hocke. Die Autotür stand weit offen. Der Kopf des noch immer angeschnallten Unfallopfers lag auf dem Lenkrad, von wo das Blut auf den Boden getropft war.
Hinter ihm machte ein Techniker gerade Fotos von der Unfallstelle.
Patrik drehte sich um. »Stehen wir im Weg?«
»Kein Problem, wir haben fast alles, was wir brauchen. Jetzt würden wir das Unfallopfer gern aufrichten und fotografieren. Wäre das möglich? Habt ihr genug gesehen?«
»Was meinst du, Hanna?« Patrik bemühte sich, seine neue Kollegin mit einzubeziehen. Er wollte ihr die ersten Arbeitstage so leicht wie möglich machen.
»Ich glaube schon.« Hanna und Patrik machten dem Kriminaltechniker Platz. Dieser fasste das Opfer behutsam an den Schultern und lehnte es zurück in den Sitz. Erst jetzt sahen sie, dass es sich um eine Frau handelte. Auf Grund der kurzen Haare und der neutralen Kleidung hatten sie die Person zunächst für einen Mann gehalten, aber am Gesicht war deutlich zu erkennen, dass das Unfallopfer eine etwa vierzigjährige Frau war.
»Das ist Marit«, stellte Patrik fest.
»Marit?«
»Sie hat einen kleinen Laden im Affärsvägen. Tee, Kaffee, Schokolade.«
»Hat sie Familie?« Hannas Stimme hatte einen etwas seltsamen Klang angenommen. Patrik betrachtete sie aufmerksam von der Seite.
»Ich weiß es nicht, aber wir werden es herausfinden.«
Der Kriminaltechniker hatte genug Fotos gemacht und zog sich zurück. Patrik trat einen Schritt vor, und Hanna tat es ihm nach.
»Achtung, nichts anfassen!«, rief Patrik instinktiv. Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Entschuldigung, ich vergesse ständig, dass du keine Anfängerin mehr bist. Du musst noch ein bisschen Nachsicht mit mir haben.«
»Du brauchst mich aber auch nicht wie ein rohes Ei zu behandeln«, lachte seine neue Kollegin. »So empfindlich bin ich nun auch wieder nicht.«
Patrik stimmte erleichtert in ihr Lachen ein. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er bis jetzt nur mit Kollegen zusammengearbeitet hatte, die er in- und auswendig kannte. Die Neue würde mit Sicherheit für frischen Wind sorgen. Außerdem konnte es nur besser werden. Kein Wunder, dass Ernst rausgeflogen war, nachdem er im Herbst diesen Bock geschossen hatte.
»Was siehst du?« Patrik betrachtete Marits Gesicht aus der Nähe.
»Ich rieche vor allem etwas.« Hanna schnupperte. »Hier stinkt’s wahnsinnig nach Schnaps. Sie muss betrunken gewesen sein.«
»Sieht so aus«, antwortete Patrik nachdenklich. Mit sorgenvoll gerunzelter Stirn blickte er ins Wageninnere. Dort war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Auf dem Boden lagen ein Bonbonpapier, eine leere Colaflasche und eine offenbar herausgerissene Buchseite, auf dem Beifahrersitz eine leere Wodkaflasche.
»Scheint kein komplizierter Fall zu sein. Trunkenheit am Steuer.« Hanna machte ein paar Schritte zurück. Der Krankenwagen stand schon zum Abtransport der Leiche bereit. Es gab nicht mehr viel zu tun.
Patrik ging noch einmal ganz nah ans Gesicht des Opfers heran und betrachtete die Verletzungen genauer. Irgendetwas stimmte nicht.
»Darf ich das Blut mal ein bisschen abwischen?«, fragte er die Leute von der Spurensicherung, die ihre Ausrüstung einpackten.
»Kein Problem, wir haben alles dokumentiert. Hier ist ein Tuch.« Der Kriminaltechniker reichte ihm ein weißes Stück Stoff, und Patrik bedankte sich mit einem Nicken. Vorsichtig, fast schon zärtlich, rieb er das Blut weg, das aus einer Wunde auf ihrer Stirn gelaufen war. Bevor er weitermachen konnte, schloss er ihre Augen behutsam mit dem Zeigefinger. Unter dem Blut kam eine Landkarte aus Wunden und blauen Flecken zum Vorschein. Das Gesicht war mit voller Wucht auf das Lenkrad geprallt, da das Auto ein älteres Modell ohne Airbag war.
»Könntest du noch ein paar Bilder machen?«, bat er den jungen Mann, der ihm das Tuch gegeben hatte. Der Techniker nickte und griff nach seiner Kamera. Hastig schoss er noch einige Fotos und warf Patrik einen fragenden Blick zu.
»Das reicht«, meinte Patrik und ging auf Hanna zu, die einen verwirrten Eindruck machte.
»Was hast du gesehen?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Patrik ehrlich. »Es war nur irgendetwas … Ich weiß nicht …« Er winkte ab. »Wahrscheinlich gar nichts. Wir fahren jetzt zurück, damit die anderen ihre Arbeit hier abschließen können.«
Sie setzten sich ins Auto und fuhren wieder Richtung Tanum. Auf dem gesamten Rückweg herrschte im Auto eine merkwürdige Stille. Und in dieser Stille wollte irgendetwas Patriks Aufmerksamkeit erregen. Er wusste nur nicht, was es war.
Bertil Mellberg hatte erstaunlich gute Laune. So fröhlich war er sonst nur, wenn er mit seinem Sohn Simon zusammen war, von dessen Existenz er die ersten fünfzehn Jahre nichts geahnt hatte. Simon besuchte ihn zwar leider nicht oft, aber immerhin besuchte er ihn überhaupt, und eine gewisse Beziehung hatten sie mittlerweile aufbauen können. Keine überwältigende, sondern eine, die an der Oberfläche kaum sichtbar war und im Verborgenen lebte. Aber es gab sie.
Das schwer zu erklärende Gefühl rührte daher, dass ihm am Samstag etwas Merkwürdiges passiert war. Nach monatelangem Drängen seines guten, oder vielmehr einzigen, Freunds Sten – vielleicht hätte man ihn eher als Bekannten bezeichnen können – hatte er sich endlich überreden lassen, zum »Tanz auf der Tenne« in Munkedal mitzugehen. Mellberg hielt sich zwar für einen ausgezeichneten Tänzer, hatte aber seit Jahren keine Tanzfläche mehr unsicher gemacht. Und »Tanz auf der Tenne« klang irgendwie nach Polka und Ringelpiez mit Anfassen. Doch zum Glück hatte Sten, der dort regelmäßig hinging, nicht nachgegeben. Bei solchen Tanzveranstaltungen werde nicht nur die passende Musik für ihre Altersgruppe gespielt, vielmehr böten sich dort auch hervorragende Jagdgründe. »Da sitzen die Weiber wie die Hühner auf der Stange und warten nur auf einen Gockel wie dich.« So hatte Sten sich ausgedrückt. Mellberg konnte nicht leugnen, dass das verlockend klang. In den letzten Jahren hatten sich die Frauen in seinem Leben ein wenig rar gemacht, und sein bestes Stück brauchte dringend Bewegung. Dennoch war er skeptisch. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welcher Typ Frau zum »Tanz auf der Tenne« ging: geldgierige alte Schreckschrauben, die auf einen Kerl mit dicker Rente aus waren und nicht auf eine scharfe Nummer. Aber mit heiratswütigen Weibern hatte er noch nie Schwierigkeiten gehabt, sagte er sich. Und so beschloss er, sein Glück zu versuchen. Sicherheitshalber zog er seinen guten Anzug an und sprühte sich ein feines Duftwässerchen auf den einen oder anderen Körperteil. Als Sten ihn abholte, stärkten sie sich mit einem Schluck aus dem Flachmann. Da Sten vorsichtshalber einen Fahrer organisiert hatte, konnten sie sich bedenkenlos einen hinter die Binde kippen. Nicht, dass Mellberg ein Moralapostel gewesen wäre, aber Trunkenheit am Steuer machte sich einfach nicht gut. Seit dem Vorfall mit Ernst behielten seine Vorgesetzten ihn im Auge. Er musste sich am Riemen reißen, oder wenigstens so tun, als ob. Was der Dienstherr nicht weiß, macht ihn nicht heiß.
Der Tanz war schon in vollem Gange. Mellberg betrat den Saal ohne größere Erwartungen, und seine Vorurteile wurden auch sofort bestätigt. So weit das Auge reichte, nur Frauen in seinem Alter. In diesem Punkt stimmte er mit Jack Nicholson vollkommen überein – wer hatte schon Lust auf wabbelige und faltige Haut, wo doch so viel knackiges Frischfleisch herumlief? Allerdings musste Mellberg zugeben, dass der Schauspieler auf diesem Gebiet etwas mehr Erfolg hatte als er selbst. Es musste an Jacks Berühmtheit liegen. Ganz schön ungerecht.
Mellberg wollte sich gerade eine kleine Stärkung besorgen, als ihn jemand ansprach. »Wo sind wir bloß gelandet! Man kommt sich richtig alt vor, wenn man hier so steht.«
»Ich bin auch nicht freiwillig gekommen.« Mellberg warf einen Blick auf die Frau neben sich.
»Wem sagen Sie das! Mich hat Bodil hergeschleift.« Die Frau zeigte auf eine der Damen, die auf der Tanzfläche schwitzten.
»In meinem Fall ist Sten der Schuldige.« Mellberg deutete ebenfalls auf die Tanzfläche.
»Ich heiße Rose-Marie.« Sie gab ihm die Hand.
»Bertil.«
In dem Augenblick, als sich ihre Handflächen berührten, veränderte sich sein Leben. In den vergangenen dreiundsechzig Jahren hatte er so manche Frau begehrt. Er kannte Lust, Begierde und Geilheit. Aber er war noch nie verliebt gewesen. Nun erwischte es ihn umso heftiger. Verwundert musterte er sie. Vor ihm stand eine eher kleine und etwas füllige Frau um die sechzig mit kurzen, grellrot gefärbten Haaren. Doch er sah nur die blauen Augen, die ihn neugierig und intensiv ansahen, und versank in ihrem Blick, wie es in den Groschenromanen immer so schön heißt.
Der Rest des Abends verging viel zu schnell. Sie tanzten und redeten, er holte ihr Getränke und rückte ihr den Stuhl zurecht, wenn sie sich hinsetzen wollte. Dinge, die definitiv nicht zu seinem Standardrepertoire gehörten. Doch an diesem Abend war alles anders.
Nachdem sie auseinandergegangen waren, fühlte er sich plötzlich unbeholfen und leer. Er musste sie unbedingt wiedersehen. Und nun saß er da, an einem Montagmorgen in der Dienststelle. Und kam sich vor wie ein kleiner Junge. Vor ihm lag ein Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer.
Schließlich atmete er tief durch und wählte die Nummer.
Wieder hatten sie sich gestritten. Zum hundertsten Mal? Sie zählte nicht mehr mit. Zu oft waren ihre Auseinandersetzungen in verbale Boxkämpfe ausgeartet. Jede beharrte auf ihrem Standpunkt. Kerstin wollte Offenheit. Marit wollte Geheimhaltung.
»Schämst du dich für mich – für uns?«, hatte Kerstin geschrien. Wie so oft war Marit ihrem Blick ausgewichen. Denn genau da lag das Problem. Sie liebten sich, und Marit schämte sich dafür.
Zu Beginn hatte Kerstin gedacht, es spiele keine große Rolle. Wichtig war nur, dass sie sich gefunden hatten. Nachdem das Schicksal – und ihre Mitmenschen – ihnen tiefe Verletzungen zugefügt hatten. Welche Rolle spielte da das Geschlecht des geliebten Menschen? Was spielten die Kommentare und Ansichten der anderen für eine Rolle? Doch Marit konnte das nicht so sehen. Sie war nicht bereit, sich den Meinungen und Urteilen ihrer Umgebung auszusetzen. Alles sollte so bleiben wie in den vergangenen vier Jahren. Sie wollte, dass sie ein heimliches Liebespaar blieben und sich nach außen als Freundinnen ausgaben, die sich aus finanziellen Gründen und Bequemlichkeit eine Wohnung teilten.
»Warum ist es dir so wichtig, was die Leute denken?«, hatte Kerstin im gestrigen Streit gefragt. Marit weinte, wie immer, wenn sie sich stritten. Und wie immer brachten Marits Tränen Kerstin noch mehr in Rage. Tränen waren Öl auf das Feuer ihres Zorns, der sich hinter der Mauer des Schweigens aufgestaut hatte. Sie hasste es, Marit zum Weinen zu bringen. Sie hasste die Umwelt und die Umstände, die sie zwangen, dem Menschen weh zu tun, den sie am meisten liebte.
»Stell dir vor, was Sofie durchmachen müsste, wenn es herauskäme!«
»Sofie ist viel härter im Nehmen, als du denkst. Benutze sie nicht als Vorwand für deine eigene Feigheit!«
»Glaubst du etwa, es ist leicht für eine Fünfzehnjährige, von ihren Mitschülern gehänselt zu werden, weil sie eine Lesbe zur Mutter hat? Das muss die Hölle sein! Das tue ich ihr nicht an!« Das Weinen verzerrte Marits Gesicht zu einer hässlichen Fratze.
»Glaubst du im Ernst, dass Sofie uns noch nicht durchschaut hat? Meinst du wirklich, dass wir ihr etwas vormachen können? Nur weil du ins Gästezimmer ziehst, wenn sie hier ist? Pah, Sofie hat es schon lange kapiert! An ihrer Stelle würde ich mich schämen, weil meine Mutter ihr Leben hinter einer Lüge versteckt, nur damit die Leute nicht reden.«
Inzwischen schrie sie so laut, dass sich ihre Stimme überschlug. Marit sah sie mit diesem gekränkten Blick an, den Kerstin mit den Jahren zu hassen gelernt hatte. Sie wusste aus Erfahrung, was nun folgen würde. Und richtig, Marit stand abrupt auf und zog sich schluchzend die Jacke über.
»Hau doch ab, verfluchte Scheiße! Das machst du doch immer! Hau ab! Diesmal brauchst du nicht zurückzukommen!«
Als die Tür hinter Marit zugeschlagen war, setzte Kerstin sich an den Küchentisch. Sie atmete so heftig, als wäre sie gerannt. Vielleicht war sie das auch. War dem Leben hinterhergerannt, das sie sich für sie beide wünschte. Marits Angst verhinderte, dass sie es wirklich führen konnten. Zum ersten Mal hatte Kerstin ihre Worte ernst gemeint. Sie spürte, dass ihr langsam, aber sicher die Kraft ausging.
Doch nun, am Morgen danach, war dieses Gefühl einer tiefen und quälenden Sorge gewichen. Sie hatte kein Auge zugetan. Hatte darauf gewartet, dass die Tür aufging und die vertrauten Schritte auf dem Parkett ertönten, hatte dar auf gewartet, sie endlich umarmen, trösten und um Verzeihung bitten zu können. Aber Marit war nicht nach Hause gekommen. Die Autoschlüssel waren auch nicht mehr da. Wo zum Teufel steckte sie? Ob etwas passiert war? Vielleicht war sie zu Sofies Vater gefahren, ihrem Exmann. Oder etwa zu ihrer Mutter nach Oslo?
Mit zitternden Fingern nahm Kerstin den Hörer ab und begann herumzutelefonieren.
»Wie groß ist Ihrer Ansicht nach die Bedeutung für den Tourismus in der Gemeinde Tanum?« Der Reporter des Bohusläningen hielt Stift und Notizblock bereit und wartete auf die Antwort.
»Immens. Wirklich immens. Fünf Wochen lang wird täglich eine halbe Stunde hier aus Tanum gesendet. So eine gute Gelegenheit, unsere Gegend bekannt zu machen, gab es noch nie!« Erling schmunzelte. Vor dem Heimathof hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die den Bus mit den Teilnehmern erwartete. Hauptsächlich Teenies, die vor Aufregung kaum stillstehen konnten. Bald würden sie ihre Idole live erleben.
»Könnte die Show nicht auch den gegenteiligen Effekt haben? In früheren Staffeln ging es vor allem um Streitereien, Sex und Alkohol. Ich nehme nicht an, dass man den Touristen einen solchen Eindruck vermitteln möchte.«
Erling sah den Reporter leicht verärgert an. Dass die Leute alles so negativ sehen mussten! Diesen Mist hatte er bereits in seinem Gemeinderat zu hören bekommen, und nun ritt die lokale Presse ebenfalls darauf herum.
»Sie haben bestimmt schon mal gehört, dass jede Publicity gute Publicity ist. Mal ehrlich, im nationalen Vergleich führt Tanum ein eher verschlafenes Dasein. Mit Raus aus Tanum wird sich das ändern.«
»Ja, aber …«, begann der Reporter, doch nun hatte Erling die Geduld verloren.
»Leider habe ich jetzt keine Zeit für weitere Kommentare, da ich das Empfangskomitee abgebe.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging mit großen Schritten auf den Bus zu, der soeben eingetroffen war. Die Jugendlichen drängten sich voller Erwartung vor der Tür. Erling fühlte sich bestätigt. Das war genau das Richtige für diesen Ort. Nun würde Tanum endlich aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.
Als sich die Bustüren zischend öffneten, stieg zuerst ein Mann um die vierzig aus. Den enttäuschten Blicken der Fans war zu entnehmen, dass es sich nicht um einen Teilnehmer handelte. Erling hatte noch keine der vielen Reality-Soaps gesehen und wusste daher nicht, wer oder was ihn erwartete.
»Erling W. Larson.« Er streckte die Hand aus und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Die Fotografen knipsten.
»Fredrik Rehn.« Der Mann ergriff Erlings ausgestreckte Hand. »Wir haben telefoniert, ich organisiere diesen Zirkus.« Nun lächelten sie beide.
»Im Namen von Tanum heiße ich euch herzlich willkommen. Wir sind froh und stolz, euch hierzuhaben, und freuen uns auf eine spannende Staffel.«
»Besten Dank. Unsere Erwartungen sind hoch. Nach zwei erfolgreichen Staffeln wissen wir, dass dies ein Erfolgsformat ist, und freuen uns auf gute Zusammenarbeit. Doch wir wollen die jungen Leute nicht länger auf die Folter spannen.« Fredrik setzte ein breites und außergewöhnlich weißes Lächeln für das aufgeregte Publikum auf. »Hier kommen die Teilnehmer von Raus aus Tanum: BigBrother-Barbie, Big-Brother-Jonna, Expedition-Robinson-Calle, Bar-Tina, Robinson-Uffe und, last but not least, Farm-Mehmet.«
Als die Teilnehmer der Reihe nach aus dem Bus stiegen, brach Massenhysterie aus. Die Leute kreischten, winkten und drängelten sich nach vorn, um ihre Lieblinge anzufassen oder um Autogramme zu bitten. Die Kameramänner filmten emsig. Zufrieden, wenn auch ein wenig verwundert, betrachtete Erling die hysterischen Reaktionen auf die Ankunft der Teilnehmer. Dabei überlegte er, was nur mit der heutigen Jugend los war. Wie konnte diese Ansammlung von Rotzlöffeln und Versagern eine derartige Begeisterung auslösen? Nun, er brauchte es schließlich nicht zu verstehen – wichtig war, dass man die mediale Aufmerksamkeit optimal nutzte. Und sollte er am Ende, wenn die Sendung sich als voller Erfolg herausgestellt hatte, als großer Wohltäter dastehen, wäre das natürlich ein angenehmer Nebeneffekt.
»So, wir machen jetzt Schluss. Ihr werdet noch genug Gelegenheit haben, die Teilnehmer zu sehen. Schließlich werden sie fünf Wochen hier wohnen.« Fredrik verscheuchte die Jugendlichen, die sich noch immer um den Bus drängten. »Die Teilnehmer müssen ihre Sachen auspacken und sich ein bisschen ausruhen. Ihr werdet doch hoffentlich nächste Woche den Fernseher einschalten? Ab Montagabend, neunzehn Uhr, lassen wir es krachen!« Er streckte beide Daumen in die Höhe und bleckte noch einmal seine unnatürlich weißen Zähne.
Widerwillig zogen sich die jungen Leute zurück. Die meisten trotteten auf die Realschule zu, einige nutzten jedoch die günstige Gelegenheit, um den Unterricht für heute sausen zu lassen, und schlenderten stattdessen in Richtung Supermarkt.
»Die Sache fängt gut an«, sagte Fredrik und legte Barbie und Jonna seine Arme um die Schultern. »Na, Mädels, seid ihr bereit?«
»Absolut.« Barbies Augen leuchteten. Der ganze Wirbel hatte ihr wie immer einen Adrenalinstoß verschafft, und nun hüpfte sie aufgeregt auf und ab.
»Und du, Jonna, wie fühlst du dich?«
»Gut. Aber ich würde jetzt gern in Ruhe auspacken und so.«
»Das kriegen wir hin, Mädchen.« Fredrik drückte sie noch fester. »Hauptsache, es geht euch gut.«
Er wendete sich an Erling. »Ist die Unterkunft fertig?«
»Selbstverständlich.« Erling zeigte auf ein älteres rotes Holzhaus ganz in der Nähe. »Die Teilnehmer sind in unserem Heimathof untergebracht. Wir haben Betten und alles Nötige hineingestellt, ihr werdet euch bestimmt wohl fühlen.«
»Hauptsache, es gibt was zu saufen, dann kann ich überall pennen«, grinste Mehmet, der von Der Farm bekannt war. Die übrigen Teilnehmer kicherten und nickten zustimmend. Kostenloser Alkohol war eine Voraussetzung für ihre Teilnahme. Und die Gelegenheit, im Zuge ihrer wachsenden Bekanntheit jede Menge Sex zu haben.
»Keine Sorge, Mehmet«, lachte Fredrik. »Eine gut sortierte Bar und einige Kästen Bier warten auf euch.« Er wollte auch Mehmet und Uffe die Arme um die Schultern legen, doch die beiden entschlüpften ihm. Sie hatten ihn frühzeitig als Schwulen eingestuft und wollten um keinen Preis mit ihm herumschwuchteln. Das musste ihm klar sein! Allerdings bewegten sie sich auf einem schmalen Grat, denn sie mussten sich Fredrik natürlich warmhalten. Das hatten ihnen die Teilnehmer früherer Staffeln geraten. Der Produzent entschied, wer wie viel Sendezeit bekam, und das allein zählte. Ob man sich dann vollkotzte, auf den Boden pinkelte oder sich auf andere Weise zum Affen machte, spielte keine Rolle mehr.
Von all diesen Dingen hatte Erling keinen Schimmer. Er ahnte nichts von der Drecksarbeit, die ein Reality-Soap-Teilnehmer leisten musste, um im Rampenlicht zu bleiben. Ihn interessierte nur der Aufschwung in Tanum. Und die rühmliche Rolle, die er selbst dabei spielen würde.
Als Anna endlich aufstand und herunterkam, hatte Erica bereits Mittag gegessen. Obwohl es schon nach eins war, sah Anna aus, als hätte sie kein Auge zugetan. Schlank war sie immer gewesen, aber nun war sie so mager, dass Erica manchmal entsetzt die Luft anhielt.
»Wie spät ist es?«, fragte Anna mit brüchiger Stimme. Sie setzte sich an den Tisch und griff nach der Kaffeetasse, die Erica ihr reichte.
»Viertel nach eins.«
»Da da.« Maja ruderte mit den Armen, um Annas Aufmerksamkeit zu erregen, doch ihre Mutter bemerkte es gar nicht.
»Mist, habe ich so lange geschlafen? Warum hast du mich nicht geweckt?« Anna nippte am heißen Kaffee.
»Ich wusste nicht, ob dir das recht ist. Anscheinend brauchst du den Schlaf«, antwortete Erica vorsichtig und setzte sich neben ihre Schwester.
Sie fasste Anna schon lange mit Samthandschuhen an, und seit der Sache mit Lucas war es nicht besser geworden. Seitdem sie wieder unter einem Dach wohnten, fielen sie prompt in die alten Muster zurück, von denen sie sich vorher mühsam befreit hatten. Erica schlüpfte automatisch in die Mutterrolle, und Anna war hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, bemuttert zu werden, und dem Wunsch, sich aufzulehnen. In den letzten Monaten war die Stimmung im Haus ziemlich gedrückt gewesen, viel Unausgesprochenes lag in der Luft und wartete darauf, im richtigen Moment herauszuplatzen. Da Anna noch immer nicht aus ihrem Schockzustand herausgefunden hatte, behandelte Erica sie wie ein rohes Ei. Sie hatte panische Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.
»Sind die Kinder brav in den Kindergarten gegangen?«
»Na klar, kein Problem.« Erica ließ Adrians kleinen Anfall bewusst unerwähnt. Fast alle praktischen Dinge blieben an ihr hängen. Sobald die Kinder das geringste Theater machten, zog sich Anna zurück. Sie war wie ein ausgewrungener Lappen, hing kraftlos herum und suchte nach Halt. Erica machte sich große Sorgen.
»Reg dich bitte nicht auf, wenn ich das jetzt sage, Anna, aber … solltest du nicht vielleicht mal mit jemand sprechen? Wir haben doch die Nummer von diesem Psychologen, der so gut sein soll. Ich glaube, es würde dir wirklich …«
Anna fiel ihr barsch ins Wort. »Nein. Damit muss ich alleine fertig werden. Es ist alles meine Schuld. Ich bin eine Mörderin. Ich kann mich nicht einfach bei einem Wildfremden ausheulen.« Ihre Hand umklammerte die Kaffeetasse so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Anna, ich weiß, wir haben tausendmal darüber gesprochen, aber ich sage es noch einmal: Du hast Lucas nicht ermordet, es war Notwehr. Du musstest nicht nur dich selbst verteidigen, sondern auch deine Kinder. Das hat niemand bezweifelt, du wurdest in allen Punkten freigesprochen. Wenn du es nicht getan hättest, hätte er dich umgebracht.«
Während Erica sprach, zuckten Annas Gesichtsmuskeln. Maja spürte die Spannung im Raum und begann zu quengeln.
»Ich kann nicht mehr«, stieß Anna zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich gehe wieder ins Bett. Holst du die Kinder ab?« Sie stand auf und ließ Erica allein in der Küche zurück.
»Ja, ich hole die Kinder ab«, murmelte Erica. Tränen schossen ihr in die Augen. Bald war sie mit ihrer Kraft am Ende. Irgendjemand musste etwas tun.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Hanna ging geradewegs in ihr neues Zimmer und packte ihre Sachen aus. Patrik klopfte an die Tür zum Kämmerchen von Martin Molin.
»Herein.«
Ohne Umschweife setzte sich Patrik vor Martins Schreibtisch. Die beiden arbeiteten viel zusammen und besuchten sich oft gegenseitig in ihren Büros.