Das Buch
Tante Frieda ist empört. Auf dem nahe gelegenen Golfplatz wurde eine junge Frau ermordet. Sind in dem wunderschönen Hanauer Viertel Hohe Tanne plötzlich Mord und Totschlag an der Tagesordnung? Eigentlich wollte sie gerade ein Festmahl für ihre ausgehungerte Nichte Lena kochen, aber nun muss sie erst einmal herausfinden, was los ist. Sie setzt sich ihren Hut auf, schnappt sich ihren Dackel Amsel und trifft gleichzeitig mit der Polizei am Tatort ein. Und sofort spitzt die rüstige Dame ihre Ohren und findet einige Unstimmigkeiten, die dem Polizeiteam verborgen bleiben.
Auch Hauptkommissar Peter Bruchfeld ist schon wieder bedient. Seit seiner Scheidung ist er sowieso nicht mit guter Laune gesegnet, aber dass er jetzt auch noch zwischen den reichen Schnöseln vom Golfplatz ermitteln soll, versaut ihm so richtig die Stimmung. Für ihn gibt es nur eins, was noch langweiliger ist als Golf spielen: darüber zu reden. Daran kann auch seine Kollegin Bärbel König nichts ändern, die ihn schon aus so manch schwieriger Situation gerettet hat. Aber heute muss er das aushalten.
Die Autorin
Heidi Gebhardt, geboren 1962, war früher als Kundenberaterin in Werbeagenturen tätig und arbeitet heute als freie Autorin. Schon früh hat sie ihre große Liebe zum Kochen und zur Kriminalliteratur entdeckt, der sie sich nach der Geburt ihrer Kinder noch mehr widmen konnte. Die Autorin lebt seit über zehn Jahren im Hanauer Stadtteil Hohe Tanne.
Von Heidi Gebhardt ist in unserem Hause bereits erschienen:
Tante Frieda
Heidi Gebhardt
KEIN MORD
OHNE
TANTE FRIEDA
Ein Hohe-Tanne-Krimi
List Taschenbuch
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Originalausgabe im List Taschenbuch
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
1. Auflage Dezember 2014
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Illustration: Alice Gebhardt
ISBN 978-3-8437-0935-4
Alle Rechte vorbehalten.
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Verbreitung, Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich
verfolgt werden.
E-Book: LVD GmbH, Berlin
1
Mein Bruder kam mir, die Hände gen Himmel gereckt, auf dem Weg durch Friedas gepflegten Vorgarten entgegengerannt und rief: »Hättest du das nicht verhindern können?« Sein Gesicht war schmerzverzerrt, sein Tonfall vorwurfsvoll.
Ich erschrak fürchterlich: »Um Gottes willen! Sven! Was ist denn passiert?«
Das Wiedersehen mit meinem Bruder, den ich nun schon über zwei Jahre nicht gesehen hatte, hatte ich mir anders vorgestellt.
Meine geliebte Tante Frieda, die in Hanau in der Hohen Tanne, einem kleinen Nobelstadtteil, lebte, hatte mich eine Stunde zuvor angerufen und mir aufgeregt mitgeteilt: »Stell dir vor, wer gerade vor meiner Haustür stand! Sven! Hast du Zeit? Kannst du schnell herkommen?«
Natürlich konnte ich! Nur musste ich erst mal meinen Autoschlüssel finden. Nicht dass ich grundsätzlich alles verlege, aber wer hat schon diese Dinge immer parat? Ja, gut, Damen vielleicht. Also, ich meine jetzt richtige Damen, solche, bei denen die Frisur wie ein Helm sitzt, die haben wohlsortierte Handtaschen. Ich besitze keine Handtasche, geschweige denn eine wohlsortierte. Nachdem ich den Autoschlüssel und auch mein Handy unter einem Stapel Zeitungen entdeckt hatte, verließ ich schnellstens meine Altbauwohnung in Frankfurt-Sachsenhausen und setzte mich in mein altes, ramponiertes Auto.
Ich freute mich so sehr, endlich meinen Bruder wiederzusehen!
Und nun empfing er mich mit einem Vorwurf und einem gequälten Gesichtsausdruck, der mich an das Schlimmste denken ließ. Ich stieß ihn zur Seite, stolperte beinahe über Amsel, den kleinen Rauhaardackel von Tante Frieda, und stürzte ins Haus.
Frieda stand in der Küche vor einem riesigen Entsafter.
»Ach, Lena, schön, dass du da bist!« Sie wischte sich die safttriefenden Finger an der Schürze ab und kam auf mich zu. »Hast du denn deinen Bruder schon begrüßt?« Sie blickte sich suchend nach ihm um. »Fesch sieht er fei aus.«
In dem Moment kam Sven wie ein eitler Gockel in die Küche stolziert und grinste breit.
»Du blöder Idiot«, raunte ich ihm zu.
Frieda blickte mich erstaunt an.
Verschmitzt lachend nahm mich mein Bruder in die Arme. »Mein liebes Schwesterherz! Ich freue mich ja auch so, dich wiederzusehen!«
Ich schubste ihn von mir weg und fuhr ihn ärgerlich an: »Was sollte denn diese doofe Begrüßung? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Mir so einen Schrecken einzujagen!«
Frieda schaute von mir zu Sven und schüttelte den Kopf. »Bei euch wird sich auch nichts mehr ändern!« Und dann fügte sie, an mich gewandt, hinzu: »Lena, ich glaube, dein Bruder ist ernsthaft beleidigt.«
»Ich habe mich mordsmäßig auf Friedas Essen gefreut«, erwiderte Sven darauf in einem gekränkten Ton. »Auf einen Braten mit Klößen. Wisst ihr, wie lange ich so was nicht mehr gegessen habe? Und dann erklärt mir Frieda, dass übermäßiger Fleischkonsum für den Welthunger verantwortlich sei, weil die Rindviecher tonnenweise Getreide und Soja fressen, für deren Anbaugebiete der Regenwald abgeholzt wird.« Sven verzog den Mund. »Stattdessen drückt sie mir ein vegetarisches Kochbuch in die Hand und sagt, »ich dürfe mir was aussuchen! Das hättest du, liebes Schwesterherz, verhindern müssen!«
Ich musste grinsen. Typisch mein Bruder Sven!
Bei diesem Thema wurden Erinnerungen aus unserer Kindheit in mir wach. Bei Frieda gab es schon früher nie öfter als ein-, höchstens zweimal Fleisch in der Woche. Als wir, schon Teenager, an den Sonntagen bis mittags schliefen und durch den Duft von Schmorbraten, geriebenen Kartoffeln für die Klöße und frisch geraspelter Gurke für den Salat, auf ein köstliches Festmahl eingestimmt, wach wurden – das waren immer ganz besondere Momente gewesen.
Mein Bruder und ich haben einen Großteil unserer Kindheit bei Tante Frieda verbracht, weil uns unsere Mutter dort häufig, um genau zu sein, fast jedes Wochenende und in den Schulferien abgeladen hat.
Unsere Mutter hatte, wenn sie mal daran dachte, für uns Essen zu machen, die Fertiggerichte dieser Zeit gekocht: Dosenravioli, Tütensuppen oder Kartoffelbrei aus der Packung. Und wenn wir dann bei Tante Frieda zu festen Zeiten frisch gekochte Mahlzeiten bekamen, so war das für uns der Himmel auf Erden.
Der Gegensatz zwischen dem chaotischen Leben bei unserer Mutter und der aufgeräumten Welt bei Tante Frieda hätte größer nicht sein können. Mit unserer Mutter, die wir Erika nennen mussten, lebten wir in einer schäbigen Hinterhauswohnung in Frankfurt-Bornheim. In meiner verschwommenen Erinnerung war diese Wohnung immer voller fremder Menschen, die qualmend und Rotwein trinkend nächtelang in unserer Küche hockten und diskutierten.
Und bei Frieda herrschten Ordnung und Sauberkeit, es gab köstliches Essen und feste Regeln.
Schon oft habe ich darüber nachgedacht, was wohl aus meinem Bruder und mir geworden wäre, wenn wir unsere Tante, die ältere Schwester unseres viel zu früh verstorbenen Vaters, nicht gehabt hätten. Im Leben von Frieda war alles geordnet und hatte feste Zeiten. So wie der Festschmaus am Sonntag gehörten bei Frieda »Dörra Küchla« zum Rosenmontag und im Mai ihre legendäre Maibowle (wehe, das Wetter spielte nicht mit!). Unumstößlich gab es im November eine Martinsgans und im Advent eine Weihnachtsbäckerei, die ihresgleichen suchte: Im Keller hatte sie ein Regal, auf dem große Einweckgläser standen, gefüllt mit den herrlichsten Plätzchen. Sehr zur Freude der Nachbarskinder, die sich eine Auswahl in kleine Zellophantüten packen durften.
Es waren vielleicht auch diese festen Rituale, die uns Halt in unserem ansonsten regellosen Leben gaben.
»Ach, Sven«, bedauerte Frieda nun, »wenn du doch nur vorher angerufen hättest! Dann hätte ich dir doch alles gekocht, was du dir wünschst! Aber jetzt, so auf die Schnelle …« Frieda überlegte kurz, dann verkündete sie: »Pellkartoffeln mit Kräuterquark! Dafür habe ich alles da! Lena, holst du die Kartoffeln und dann im Garten Schnittlauch und Petersilie?«
Frieda nahm Topf und Schüssel aus dem Küchenschrank, während sich mein Bruder lässig und breitbeinig an den blankgescheuerten Holztisch setzte und nicht den Eindruck machte, dass er sich an der Arbeit irgendwie beteiligen würde.
Mein Bruder kam nach unserer Mutter. Genau wie sie blieb er nie lange an einem Ort. Ein Weltenbummler, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt und damit seine Reisen finanzierte.
Beim Essen erzählten wir uns, was in der Zwischenzeit so alles passiert war.
Tante Frieda berichtete, dass sie neue Nachbarn bekommen hatte. Das Haus gegenüber war verkauft worden, und jetzt lebte ein junges, bezauberndes Paar dort, von dem sie ganz angetan war. Sie schwärmte regelrecht von den neuen Bewohnern: Laura, eine bildhübsche junge Frau, von der sicher auch Sven begeistert sein würde. Und klug war sie obendrein, wie Frieda beteuerte. Diese Laura war Rechtsanwältin, und Constantin, ihr Mann, irgendwas mit »Events«. Frieda sprach dieses Wort aus, als wäre es etwas Schlimmes.
Ich lächelte nachsichtig und klärte Frieda auf: »Der organisiert nichts anderes als Veranstaltungen.«
»Das weiß ich wohl«, entgegnete Frieda schnippisch. Dann fuhr sie freudig fort: »Das Beste aber ist, Constantin ist Jäger und versorgt mich mit Wild! Neulich hat er mir eine Rehkeule vorbeigebracht. Die mache ich für euch am Sonntag.« Und an Sven gewandt fügte sie hinzu: »Für dich koche ich extra die Gummiklöße, wie sie meine Freundin Waltraud immer gemacht hat. Du erinnerst dich doch daran, oder?«
Während ich mich freute – die Gummiklöße hatten nichts mit Gummi zu tun, es konnte nur keiner mehr erklären, wie diese Klöße zu ihrem Namen gekommen waren –, fing mein lieber Bruder empört an zu schimpfen: »Das sagst du mir erst jetzt? Drohst mir mit einem vegetarischen Essen und hast eine Rehkeule im Keller? Können wir die nicht heute Abend machen? Du glaubst gar nicht, was ich für einen Appetit auf Fleisch habe!«
Vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Bruder in der Wildnis vor einem lodernden Lagerfeuer, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Hand ein riesiges, rohes Stück Fleisch am Knochen.
»Gib ihm lieber die Rehkeule, Frieda!«, meinte ich grinsend, »bevor er selbst noch auf die Jagd geht und irgendwas anschleppt!«
Frieda wackelte abwägend mit dem Kopf. »Die Keule muss doch erst noch auftauen! Der nette Jäger hat mir auch eine ganze Tüte mit Wildfrikadellen gegeben, die gehen schneller.« Sie nickte mir zu. »Lena, wärst du so lieb und holst die …«, ich fiel ihr ins Wort: »… Fleischküchla.«
Viele Begriffe haben wir von Frieda, die ursprünglich aus Oberfranken kommt, einfach übernommen. Ein wenig bissig schob ich hinterher: »Wenn wir Sven damit eine Freude machen können.«
Ich stapfte in den Keller zu Friedas gut gefülltem Gefrierschrank und maulte vor mich hin: »Kaum ist der Sven da, schon kann die Lena springen.«
Als wir nach dem Essen noch eine Tasse Tee tranken – die »Fleischküchla« lagen zum Auftauen neben der Spüle und bekamen die gierigen Blicke von Sven und dem Dackel ab –, versuchte eine Nachbarin, die vor dem Haus stehen geblieben war, durch das Fenster zu uns in die Küche zu schauen. Scheinbar hatte sie unsere Umrisse erspäht, denn sie fuchtelte wild mit den Armen herum. Die Frau machte einen sehr aufgeregten Eindruck.
Frieda ging zur Haustür, gefolgt von Amsel, um zu erfahren, was los war.
Sven und ich blieben am Tisch sitzen und waren mucksmäuschenstill. Wir wollten hören, worum es in dem Gespräch ging. Verstehen konnten wir kein Wort – aber es musste etwas passiert sein, denn Friedas Stimme wurde erschreckend hoch, und es waren Gesprächsfetzen zu vernehmen, die blankes Entsetzen zu uns herübertrugen.
2
Hauptkommissar Peter Bruchfeld lehnte sich an seinem Schreibtisch entspannt zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, stieß sich mit dem Stuhl auf Rollen etwas ab und legte zufrieden die Füße auf den Schreibtisch. Er schaute aus dem Fenster und grinste in sich hinein.
Sein ungeliebter Chef Josef Geppert war zu einem Gespräch mit dem Staatsanwalt und dem Leiter der Polizeistation gerufen worden. Peter hoffte schon lange, dass Geppert rausgeschmissen werden würde. Vorhin hatte er gesehen, wie Geppert mit hochrotem Kopf in sein Büro geeilt war und die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Peter malte sich aus, wie Josef Geppert vom Staatsanwalt auseinandergenommen worden wäre, und seine Laune wurde immer besser.
Bärbel König, seine Lieblingskollegin, kam mit einer Tüte vom Bäcker ins Büro und pfiff durch die Zähne. »Jippie-ay-ey! Sind wir jetzt hier im Wilden Westen?«
Peter blickte Bärbel fragend an.
Sie zeigte auf seine Cowboystiefel.« Wo hast du die denn her?«
Nicht ohne Stolz erzählte Peter, dass er endlich alle Koffer und Umzugskartons, aus denen er nun schon fast ein Jahr seit seiner Scheidung lebte, ausgeräumt und dabei diese »geilen Stiefel« entdeckt habe, die er sich vor über zehn Jahren gekauft habe.
»Fühl mal!«, forderte er Bärbel auf. »Feinstes Leder! In Texas angefertigt!«
Mit einer Handbewegung gab Bärbel ihm lächelnd zu verstehen, dass er die Füße vom Tisch nehmen sollte. Sie wedelte fröhlich mit der Tüte und sagte: »Hier, ich hab was zum Kaffee mitgebracht. Hast du welchen gekocht?« Sie schaute sich suchend nach der Kanne und den Tassen um.
»Nee, noch keine Zeit gehabt.« Peter stand auf und rieb sich zufrieden die Hände. »Die haben den Geppert zum Gespräch geladen. Ich hab ihn vorhin gesehen.« Peter gluckste vergnügt. »Hoffentlich wird er in den Ruhestand geschickt.«
Während er die Glaskanne der Kaffeemaschine an dem Handwaschbecken in der Ecke mit Wasser füllte, klingelte das Telefon.
Bärbel, die gerade dabei war, ihre Jacke auszuziehen, griff mit der freien Hand zum Hörer. Sie hörte aufmerksam zu und fragte dann nach: »Fundort gesichert? … Noch nicht? Verstehe … Spusi schon verständigt? … Wir sind unterwegs.«
Während sie hastig ihre Jacke wieder anzog, trieb sie Peter ebenfalls zur Eile an: »Wir müssen los. Eine Frau ist erschossen worden!«
Peter stellte die Kanne eilig auf den Waschbeckenrand, von dem sie ins Waschbecken rutschte und klirrend zerbrach.
»Schöne Scheiße!«, schimpfte Bruchfeld. »Wie krieg ich die Scherben da wieder raus?« Er starrte in das Waschbecken.
»Ist doch jetzt egal, komm endlich!« Bärbel hatte ihre Schutzweste und das Holster bereits angelegt, schnappte sich Peters Jacke und eilte damit zur Tür.
3
Sven und ich warteten ungeduldig darauf, dass Frieda von der Haustür zurückkehren würde, damit wir endlich erfahren konnten, was ihr die Nachbarin Schreckliches mitgeteilt hatte.
Nach einer Weile kam Frieda zurück in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Was ist denn passiert?«, wollten wir wissen.
»Brauchst du einen Schnaps?«, fragte Sven eifrig.
Frieda nickte stumm, und Sven sah mich fragend an.
Ich beeilte mich, im blitzblank sauberen und aufgeräumten Wohnzimmer aus der polierten Wurzelholzanrichte einen Schnaps zu holen. Mit einer Cognacflasche und einem altmodischen bauchigen Schwenker mit Goldrand lief ich zurück in die Küche.
Nach einem ordentlichen Schluck schüttelte sich die kleine Frieda erst einmal. Der starke Alkohol ließ sie am ganzen Körper erschauern, bevor sie tonlos hauchte: »Mord! Mord auf dem Golfplatz. Die Frau aus dem neuen Haus ist erschossen worden.«
Sven, der wohl dachte, es wäre ein Ereignis aus längst vergangenen Zeiten und fernen Orten, nickte beiläufig und fragte: »Wann denn?«
Friedas Augen blitzten. »Na, gerade eben.«
»Wie … eben? Jetzt? Wo … denn?«, stammelte Sven erschrocken.
Frieda schnalzte ungeduldig mit der Zunge. Sie konnte es noch nie leiden, wenn jemand etwas nicht sofort begriff und schwerfällig oder unaufmerksam war und nachfragen musste.
»Hier! Jetzt! Auf dem Golfplatz! Die Polizei ist schon da!«
Sven verzog ungläubig das Gesicht. »Und woher will die Frau, die gerade hier war, das wissen? War sie dabei?«
Frieda nahm einen zweiten Schluck von dem Cognac und schüttelte sich wieder, als wäre es bittere Medizin.
»Ihre Freundin ist auf dem Platz. Sie hat einen Anruf von ihr bekommen. Alle Golfer müssen warten, bis die Polizei sie befragt. Auch ihre Freundin, mit der sie verabredet war.«
Mir schien es, als fühlte sich Frieda ein klein wenig geehrt, dass sie sofort von dem Verbrechen unterrichtet worden war.
»Hm.« Sven überlegte laut: »Ob das gut ist, wenn mit den Handys sofort alles in die Öffentlichkeit getragen wird?«
Frieda machte eine wegwerfende Handbewegung und sprang im nächsten Moment schwungvoll auf.
»Kinder«, verkündigte sie, »erinnert ihr euch? Ich habe ja auch mal Golf gespielt! Ist zwar schon sehr lange her, aber jetzt gehe ich auf den Golfplatz. Immerhin habe ich eine lebenslange Ehrenmitgliedschaft!«
»Frieda, bist du völlig verrückt geworden?« Ich gab mir keine Mühe, zu verbergen, dass ich ihr Vorhaben ziemlich absurd fand.
Aber Frieda ließ sich von meinem Einwand nicht beeindrucken. Sie trieb Sven an, er möge sofort in der Garage und im Keller nachschauen, wo sie ihr Golfbag vor vielen Jahren verstaut hatte. Frieda selbst eilte in ihr Schlafzimmer und kam kurz darauf in ihrer alten Golfkluft in die Küche. Stolz drehte sie sich im Kreis.
»Passt immer noch wie angegossen! Ich bin überhaupt nicht kleiner geworden und meine Füße nicht größer!«
»Wenn du noch kleiner werden würdest, dann wärst du auch ein Zwerg«, konterte Sven trocken.
Da stand unsere liebe Tante in Klamotten, die eher an ein Faschingskostüm erinnerten: In der dunkelgrünen karierten Flanellhose in Karottenform und der eng mit einem Gürtel geschnürten hohen Taille ähnelte Frieda eher einem Knallbonbon denn einer Golfspielerin. Der rote Clubblazer aus weichem Jersey mit gigantischen Schulterpolstern und großen goldenen Knöpfen und die Golfschuhe mit den langen Lederfransen setzten dem Ganzen die Krone auf. Frieda sah aus, als wäre sie aus der Zeit gefallen.
Sven gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich etwas sagen müsste.
»Ähem, Frieda«, ich räusperte mich, »wirklich toll, dass dir das alles noch passt. Aber glaubst du denn, dass du noch Golf spielen kannst?«
Sofort stellte sich Frieda in Position, wackelte mit den Hüften, trippelte hin und her, tat so, als würde sie einen Golfschläger in den Händen halten, und holte aus. »Ich brauche natürlich erst noch ein bisschen Übung!«
In diesem Moment wusste ich, es würde ein schwieriges Unterfangen werden, Frieda von etwas abzubringen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Also, um genau zu sein, es war unmöglich.
»Frieda«, ich versuchte meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, »ganz großartig, wirklich! Aber nicht in diesem Aufzug!« Ich musste mir echt ein Grinsen verkneifen.
Frieda sah fragend an sich herunter. Mit einem enttäuschten Blick erkannte sie sofort, was meine Heiterkeit hervorrief. Sie musste nicht lange überlegen, bevor sie ihren nächsten Geistesblitz kundtat: »Dann muss ich mich eben neu einkleiden! Wir gehen in den Laden auf dem Golfplatz! Hopp, hopp, wir dürfen keine Zeit verlieren!«
4
Mit dem Opel Kombi vom Polizeifuhrpark und Blaulicht auf dem Dach näherten sich Bärbel und Peter dem Golfplatz. Sie wurden von den Kollegen in den Streifenwagen eskortiert. Der Konvoi musste jedoch direkt vor dem wunderschönen alten Steintor, das für eine Durchfahrt mit den Autos zu schmal war, halten. Fast gleichzeitig sprangen alle Beamten aus den Wagen und stürmten durch das Tor.
Aus dem linken Gebäude mit der Glasfront kam die Clubsekretärin geeilt. Sie hatte sich ein Taschentuch vor den Mund gepresst und gab lediglich »Loch fünfzehn« von sich.
Bärbel blickte zu Peter, der mit den Schultern zuckte.
»Wo?«, fragte sie nur kurz nach, denn sie wollte keine Zeit verlieren. Sie wusste, dass es unglaublich wichtig war, sofort den Tatort zu besichtigen und zu sichern. Manchmal entschied es sich in den ersten Stunden nach einer Tat, ob der Täter gefasst werden konnte.
»Und wer hat die Frau gefunden?«, fragte Bärbel noch schnell nach.
Die blonde Sekretärin winkte zwei sportlichen Männern zu, die etwas abseits eine Zigarette rauchten. »Unsere Pros haben die Frau gefunden und Sie sofort angerufen. Die beiden werden Sie mit den elektrischen Golfcarts hinfahren« erklärte sie mit einer Mischung aus weinerlicher Stimme und einem Ton, der vielen Vorzimmerdamen eigen ist.
»Kommen wir da nicht mit unserem Auto hin?« Peter klang schon verdächtig schlecht gelaunt. Auf der Terrasse des Restaurants standen die Golfspieler in Grüppchen zusammen und sprachen aufgeregt miteinander.
Peter fühlte sich sichtlich unwohl und raunte Bärbel leise, damit es die anderen nicht hören konnten, zu: »Das fehlt mir grade noch, lauter Schnösel, von denen einer schlauer und wichtiger ist als der andere.«
»Man kommt mit dem Auto nur bedingt zu Loch fünfzehn«, sagte ein Pro, der geduldig gewartet hatte, bis er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit von Peter sicher sein konnte. Ruhig erklärten die beiden Golflehrer, dass einer mit dem Hauptkommissar im Auto auf dem Wirtschaftsweg möglichst nahe an den Fundort heranfahren würde. Der andere Pro sollte mit Bärbel König im Golfcart den direkten Weg quer über den Platz nehmen.
Doch bevor es losging, marschierte Peter Bruchfeld auf die Terrasse, zückte seinen Ausweis und sagte laut und mit fester Stimme zu der Gruppe, die sich ihm neugierig zuwandte: »Ich muss Sie leider bitten, diesen Ort nicht zu verlassen, bis wir mit jedem von Ihnen gesprochen haben. Ihre Personalien werden in der Zwischenzeit aufgenommen. Danke für Ihr Verständnis.« Damit drehte er sich abrupt um und überhörte absichtlich die Fragen, wie lange das dauern würde und mit welcher Wartezeit man rechnen müsste.
In der Zwischenzeit trafen auch die Kollegen von der Spurensicherung ein. Auch sie ließen ihr Fahrzeug vor dem Tor stehen, streiften sich ihre weißen Schutzanzüge über und liefen dann mit ihrer Ausrüstung auf den Platz.
Unverzüglich setzte sich die Polizeikarawane in Bewegung.
5
Ich setzte mich nach Friedas »Hopp, hopp!« erst mal an den Küchentisch und holte tief Luft.
»Bist du wahnsinnig? Du sagst uns eben, da sei ein Mord passiert, und willst im selben Moment unbedingt dahin?« Ich schüttelte den Kopf. »Ohne mich. Der Mörder läuft da vielleicht noch frei rum, und wir sind dann die Nächsten! Kommt nicht in Frage!« Ich verschränkte die Arme und starrte vor mich hin.
Sven kratzte sich am Kopf und meinte: »Ja, also, ich verstehe das jetzt auch nicht, Frieda …«
Frieda seufzte, setzte sich ebenfalls an den Tisch, beugte sich vor und flüsterte, so als wollte sie uns in ein Geheimnis einweihen: »Der Mörder ist sicher schon über alle Berge! Die Polizei ist vor Ort, da müssen wir doch keine Bange haben. Das ist eine einmalige Gelegenheit, sich selbst ein Bild zu machen.«
»Willst du der Polizei als Beraterin zur Seite stehen oder was?«, warf ich ein.
Frieda sah mich fast ein bisschen entgeistert an und erwiderte: »Natürlich nicht. Ich möchte mich einfach auf dem Golfplatz umsehen. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl.« Die kleine Frieda streckte sich und fügte stolz hinzu: »Außerdem kenne ich den Platz wie meine Westentasche und bin alt. Ein unschätzbarer Vorteil!«
Sven starrte Frieda mit offenem Mund an und blickte ziemlich belämmert drein.
Ich schluckte. »Du willst also allen Ernstes da rumschnüffeln?«
Frieda sah mich vorwurfsvoll an. »Was heißt denn hier ›rumschnüffeln‹?« Sie hob abwehrend die Hände. »Ich habe so ein komisches Gefühl, so, als ob ich rausfinden könnte, was passiert ist.«
Sven legte den Kopf schräg. »Und wenn die Polizei den Mörder schon verhaftet hat?«, gab er Frieda zu bedenken.
Frieda setzte eine zufriedene Miene auf. »Na, dann gibt es doch noch weniger einen Grund, nicht auf den Golfplatz zu gehen!«, erwiderte sie.
Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Noch lieber hätte ich den Kopf gegen die Tischplatte gehauen. Dieses Verlangen habe ich immer, wenn ich Friedas unbestechlicher Logik nichts mehr entgegenzusetzen habe.
»Oh nee, Frieda!«, maulte ich. »Nicht schon wieder Detektiv spielen! Das brauche ich echt nicht.«
Sven schaute verwundert von mir zu Frieda. »Was meinst du damit? Detektiv spielen? Du … Frieda?«
Sven hatte ja keine Vorstellung, wozu sich unsere Tante auf ihre alten Tage noch berufen fühlte! Und es dauerte natürlich nur wenige Minuten, bis sie uns so weit hatte, dass wir sie zum Golfclub fuhren.
Bevor es losging, setzte Frieda noch ihren kleinen Strohhut auf. »Ist ja nur zum Einkaufen!«, beruhigte sie uns. »Wird schon nix passieren, die Polizei ist ja sicher auch noch dort!«
6
Bärbel wurde auf dem kürzesten Weg zum Tatort gefahren. In dem offenen Golfcart wehte ihr die warme Sommerluft durch die Haare. Sie staunte über den gepflegten Golfplatz: alter Baumbestand, der in kleinen Wäldchen die Golfbahnen voneinander trennte, Teiche, auf denen Enten ihre Runden drehten, idyllische Bachläufe, Büsche und blühende Hecken, aus denen aufgeregtes Vogelgezwitscher ertönte.
Sie fragte den Fahrer des Golfcarts, was genau seine Aufgabe auf dem Golfplatz wäre, und er erklärte ihr mit einem entzückenden englischen Akzent, dass er Golflehrer sei, kurz »Pro« genannt.
Bärbel genoss für einen kurzen Moment die Atmosphäre, in der sie sich so erhaben fühlte, und überlegte, ob sie nicht auch mal das Golfen ausprobieren sollte.
Doch dann erinnerte sie sich augenblicklich daran, warum sie eigentlich hier war, und begann den Pro zu befragen.
»Wir hatten heute ein kleines Club-Turnier. Der letzte Flight kam um ungefähr viertel vor eins an«, berichtete er sachlich und ruhig.
Bärbel, die dem attraktiven Mann an den Lippen hing, fragte nach: »Was meinen Sie mit ›Flight‹?«
Der Golflehrer musste einen kurzen Moment nachdenken, wie er diesen Begriff verständlich ins Deutsche übersetzen konnte. »Die Gruppe, also die Spielergruppe, höchstens vier.« Er blickte Bärbel prüfend von der Seite an, ob er sich verständlich ausgedrückt hatte, und, da keine Frage nachkam, fuhr er fort: »Wir hatten ein kleines Mittagessen organisiert. Mein Kollege und ich sind danach über den Golfplatz gegangen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung war, und haben die Schilder mit Zusatzaufgaben wieder eingesammelt«.
»Zusatzaufgaben?«, fragte Bärbel interessiert nach.
»Nearest to the Pin, solche Sachen«, war seine Antwort.
»Und dann?«
»Dann haben wir die Frau direkt am Loch fünfzehn liegen sehen – den Putter noch in der Hand. Als wir bei ihr waren, haben wir das Einschussloch in der Brust bemerkt. Scheußlich, das alles … Haben sofort Notarzt und Polizei angerufen. Dann haben wir alle Spieler, die auf dem Weg waren, zurückgeschickt und den Platz gesperrt.«
Bärbel war erstaunt über die umsichtige Reaktion der beiden Golflehrer. »Weiter nichts angerührt oder verändert?«, wollte sie wissen.
Der Pro schüttelte den Kopf und bremste ab. Sie hatten den Fundort erreicht.
Bärbel war tatsächlich als Erste eingetroffen.
Der Anblick, der sich Bärbel bot, war bizarr: Eine junge Frau lag mit verdrehten Beinen am Boden, gerade so, als wollte sie noch weglaufen, wobei der Oberkörper jedoch nicht mitgekommen war. Ihre Augen starrten in die Ferne, hatten aber nicht den Ausdruck von Entsetzen oder Erschrecken. Es lag eher ein Erstaunen darin, wie Bärbel fand. Der Mund der toten Frau war leicht geöffnet, aber nicht wie zum Schrei, eher als wollte sie hallo sagen und als hätte sie ihn nicht mehr schließen oder zum Schrei weiter öffnen können. Alles muss blitzartig passiert sein. So schnell, dass die Frau gar nicht mehr begreifen konnte, was ihr geschah, dachte Bärbel, und, in einem Anflug von Mitgefühl, so schnell, dass es ihre Seele wohl nicht mehr geschafft haben würde, aus dem Mund gen Himmel zu gehen.
Bärbel schüttelte energisch den Kopf, um jeden Gedanken an arme Menschenseelen damit weit von sich zu schleudern. Sofort konzentrierte sie sich auf das, was sie sah: Die Frau trug eine sehr teuer aussehende Hose, ein Shirt und Perlenohrringe. Den Putter streckte sie weit von sich, hielt den Griff aber mit der sorgsam manikürten Hand fest umschlossen.
Der mittlerweile eingetroffene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.