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Das Buch

Es herrscht Eiseskälte im Norden Londons. Mehrere junge Mädchen verschwinden. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen: Er eifert dem berüchtigten Louis Kinsella nach, der vor siebzehn Jahren neun Mädchen entführte, bevor er schließlich gefasst wurde.

Psychologin Alice Quentin steht vor ihrer schwierigsten Aufgabe, denn ihre einzige Chance ist es, Kinsella endlich dazu zu bringen, über seine Entführungen zu reden, damit der Nachahmer aufgehalten werden kann. Er sitzt im psychiatrischen Trakt eines Hochsicherheitsgefängnisses ein. Eigentlich ist Alice bei ihren Besuchen dort sicher.

Aber Kinsella weiß genau, wie er seine Umwelt manipulieren kann. Er fordert von Alice ein Geheimnis für jedes Geheimnis, das er ihr verrät. Und so muss Alice ihm ihre innersten Ängste offenbaren, um die Mädchen retten zu können. Ein teuflisches Spiel …

Die Autorin

Kate Rhodes wurde in London geboren. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lehrte jahrelang an amerikanischen und britischen Universitäten. Für ihre Lyrik wird sie von der Presse hoch gelobt und erhält regelmäßig Preise. Sie lebt in Cambridge, am Ufer des Flusses, für dessen Erkundung sie sich extra ein Kanu zugelegt hat. Ihre Serie um die Kriminalpsychologin Alice Quentin ist eine der größten Entdeckungen im englischen Kriminalroman.

Von Kate Rhodes sind in unserem Hause bereits erschienen:

Im Totengarten
Blutiger Engel
Eismädchen

Kate Rhodes

Eismädchen

Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Uta Hege

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Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1195-1

© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
© 2014 by Kate Rhodes
Titel der Originalausgabe: The Winter Foundlings
(Mulholland Books at Hodder & Stoughton, London)
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: plainpicture/Westend61

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für all die Kinder,
die im Foundling Hospital umsorgt wurden

»Niemand weiß, ob nicht der Tod
das größte Geschenk für den Menschen ist.«

Socrates (469 v. Chr. – 399 v. Chr.)

Prolog

Zitternd vor Kälte steht Ella auf der Treppe vor der Schule. Der Schulhof ist fast menschenleer, und zwei Mädchen aus der sechsten Klasse rennen achtlos an ihr vorbei. Nicht mal ihre Glitzerschuhe fallen ihnen auf. Ihr Opa hat sie Sonnabend für sie gekauft, und sie kann einfach nicht aufhören, sie anzusehen – sie sind rot wie Kirschen und so blank, dass man sich in ihnen spiegeln kann. Am schönsten aber sind die Schnallen. Rund und glänzend wie neue Pennystücke. Am liebsten würde sie in ihren neuen Schuhen auf dem Schulhof tanzen, kräftig mit den leuchtend roten Schuhen auf den Boden stampfen, auf den frisch gefallenen Schnee. Ein Junge verlässt jetzt das Schulgebäude, schleift den Ranzen Richtung Tor, und dann ist sie allein.

Sie wartet schon so lange, dass ihr Lächeln eingefroren ist. Suchend sieht sie in die Richtung, aus der Opa mit dem Wagen kommen muss. Wahrscheinlich ist das Auto wieder mal kaputt. Zum ersten Mal wird sie allein nach Hause laufen müssen, aber das macht ihr nichts aus. Dann wird er endlich merken, dass sie schon ein großes Mädchen ist. Mit zehn ist sie auf alle Fälle alt genug, um den Kilometer bis nach Hause ohne ihn zu gehen.

Auf dem Weg sieht sie all die bunten Lichter, die hinter den Fenstern leuchten. Nur noch ein paar Tage, dann ist endlich Weihnachten. In ihrem Wohnzimmer steht schon der Baum, den sie heute Abend mit Suzanne mit silbernem Lametta und mit roten Kugeln schmücken wird. Der Gehweg ist vereist, und sie muss vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, denn sonst rutscht sie vielleicht aus. Auf der Straße ist es ruhig. Abgesehen von einem Mann, der seine Einkäufe in einen Lieferwagen lädt. Seine Tüten sind zu voll, und eine reißt, als sie gerade an ihm vorbeikommt. Das Obst verteilt sich auf dem Bürgersteig, und als eine Orange dicht an ihr vorüberkullert, stößt er einen Seufzer aus.

»Wärst du wohl so lieb, sie für mich aufzuheben?«, fragt er sie.

Über seine Schulter entdeckte Ella, dass der Wagen ihres Opas vor dem Schultor hält. Im selben Augenblick jedoch schlingt der Mann den Arm um ihren Bauch und presst eine Hand auf ihren Mund. Sie ist zu schockiert, um laut zu schreien, als er sie in den Lieferwagen stößt. Dann fällt mit einem lauten Knall die Tür hinter ihr zu, und sie hört hinter sich ein kratzendes Geräusch. Als sie sich eilig umdreht, sieht sie in der Dunkelheit einen Geist kauern. Oder eher ein Mädchen, das ein weißes Kleid und sein Haar in hoffnungslos verfilzten Rattenschwänzen trägt. Es ist klapperdürr, hat die Knie an die Brust gezogen und den Oberkörper vorgebeugt. Ihr toter Blick ist furchteinflößend, und mit einem Mal fängt Ella laut zu schreien an und trommelt mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür. Durch das Rauchglasfenster sieht sie, dass ihr Opa Richtung Schule läuft und einen ihrer Schuhe, der zwischen den Äpfeln und Orangen auf der Erde liegt. Als der Lieferwagen anfährt, stößt sie sich den Kopf an einem harten Gegenstand, und der stechende Schmerz, der sie durchzuckt, löscht ihr Bewusstsein aus.

1

Die Kälte überfiel mich in dem Augenblick, als ich meinen Wagen verließ. Ich wünschte mir, ich hätte einen dickeren Mantel angezogen, doch zumindest lenkte mich mein Zittern von den Katastrophenmeldungen im Radio ab – die Meteorologen sagten noch mehr Schnee voraus, der Zugverkehr stand still, und schon wieder suchte man nach einem Mädchen aus Nordlondon, das spurlos verschwunden war.

Auf meinem Weg über den hoffnungslos vereisten Bürgersteig blieb ich kurz stehen und bewunderte das alte Northwood in der winterlichen Pracht. Reihen dunkler Wohnhäuser aus viktorianischer Zeit stemmten sich gegen den Wind. Meine Kollegen im Guy’s Hospital in London waren der festen Überzeugung, dass ich den Verstand verloren hatte. Denn freiwillig tauschte ihrer Meinung nach kein Mensch sein Londoner Apartment und eine bequeme Psychologenstelle an einem der Krankenhäuser dort gegen ein halbjähriges Sabbatjahr in der größten Forensik Englands. Doch ich wusste, dass meine Entscheidung richtig war. Der britische Psychologenverband hatte mich eingeladen, eine Studie über das Laurels durchzuführen, das die Heimstatt einiger der übelsten Gewaltverbrecher unseres Landes war. Die Arbeit wäre faszinierend, und im Anschluss könnte ich ein Buch zu diesem Thema schreiben, doch vor allem wollte ich mir beweisen, dass ich die Gesellschaft von gewalttätigen Serienvergewaltigern und Massenmördern über eine so lange Zeit ertrug. Dass ich über das grässliche Leiden und die grauenhaften Todesfälle, deren Zeugin ich im Engel-Fall geworden war, endgültig hinweggekommen war. Mein Apartment konnte ich glücklicherweise untervermieten, so dass es mir nach meiner Rückkehr wieder zur Verfügung stehen würde.

Mein Herz klopfte wild vor Neugier und Furcht. Bei jedem Schritt entdeckte ich ein neues Warnsignal – Gitter vor den Fenstern, Suchscheinwerfer, Stacheldraht. Dutzende von Hinweisen, die mich daran erinnern sollten, dass in dem Gefängnis und der angeschlossenen Klinik lauter geisteskranke Straftäter versammelt waren.

Die beiden Frauen am Empfang sahen mich mit einem vorsichtigen Lächeln an. Sie waren beide um die 50, eine groß und eine klein, und keine von den beiden schien besonders glücklich über ihren Job zu sein.

»Eisig draußen, nicht wahr?«, fragte mich die Größere der beiden, und die andere setzte ein erneutes, dieses Mal entschuldigendes Lächeln auf, bevor sie meine Handtasche ergriff, sie umdrehte und kräftig schüttelte.

Kugelschreiber, Lippenstifte sowie eine Reihe alter Quittungen ergossen sich auf ihrem Tisch.

»Ich fürchte, Handys sind hier drinnen nicht gestattet«, sagte sie.

»Tut mir leid, das hatte ich vergessen.«

»Sie würden nicht glauben, wenn ich Ihnen sagen würde, was die Leute schon alles in das Gebäude schmuggeln wollten. Drogen, Klappmesser und alles, was man sich nur vorstellen kann.«

Diese Offenbarung musste ich erst mal verdauen. Wer käme wohl auf die Idee, Waffen in ein Haus voll Psychopathen mitzubringen? Höchstens irgendjemand mit einem ausgeprägten eigenen Todeswunsch.

Dann führte mich die Frau zu dem Gerät, das in der Ecke des Empfangsraums stand.

»Die Karte ist einfach ein Ausweis«, meinte sie. »Die Türen gehen entweder mit Schlüsseln oder Fingerabdruck auf.«

Ich drückte meine Zeigefinger auf die Glasabdeckung des Geräts, sah einen grellen Blitz, und dann spuckte die Kiste meinen Ausweis aus. Beinah hätte ich mich auf dem Foto selber nicht erkannt. Ich guckte wie ein Reh, das von Scheinwerfern geblendet mitten auf der Straße stand, und war erschreckend bleich.

Der Ortsplan, den die beiden Frauen mir überließen, stellte sich als völlig nutzlos raus. Schmale Pfade schlängelten sich durch das Labyrinth der Häuser, die auf dem ummauerten Gelände angesiedelt waren. Für ein Maximum an Sicherheit fiel der Blick aus Hunderten von Fenstern auf die engen Wege, über die ich ein ums andere Mal im Kreis lief, bis irgendwann das Laurels vor mir lag. Bei seiner Eröffnung vor fünf Jahren hatten viele Menschen lautstark protestiert, weil Steuergelder in Millionenhöhe auf den Bau verwendet worden war. 36, um genau zu sein. Und tatsächlich wirkte das Gebäude mit der Stahl- und Glasfassade wie ein krasses Denkmal der Architektur, die momentan in Mode war. Als ich durch die Tür trat, fühlte ich mich wie in einem futuristischen Hotel, nur dass dort die Sicherheitskontrollen sicher nicht so streng gewesen wären. Denn kaum hatte ich das Haus betreten, schlossen sich zwei gläserne Türen hinter mir.

Beklommen suchte ich nach dem Büro des Anstaltsleiters, Dr. Aleks Gorski, der als ziemlich furchteinflößend galt. Als ein Gefangener im letzten Jahr von hier geflohen war, hatte er sich rundheraus geweigert, die Verantwortung dafür zu übernehmen, und stattdessen die Regierung attackiert, weil sein Sicherheitsbudget beschnitten worden war. Und kaum dass man den Flüchtling wieder eingefangen hatte, hatte er der Presse eine Reihe wutschnaubender Interviews gewährt. Seine unverblümte Art hatte ihn eine Reihe wichtiger Verbündeter gekostet, und es war ein offenes Geheimnis, dass sich seine Vorgesetzten danach sehnten, jemand anderen auf seinem Stuhl zu sehen.

Offenbar ging gerade wieder mal das Temperament mit Gorski durch, als ich den Raum betrat. Er war um die 40, trug einen etwas eng sitzenden Anzug sowie blank polierte Schuhe, und sein Haar war militärisch kurz geschorenen. Sein Lächeln legte sich zu schnell, um einladend zu sein.

»Ich hatte Sie um neun erwartet, Dr. Quentin.«

»Tut mir leid, aber ein Teil der Autobahn war gesperrt. Haben Sie meine Nachricht nicht bekommen?«

Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und sah mich über die meterlange, dunkelbraune Mahagonifläche hinweg an. »Ihr Abteilungsleiter sagt, dass Sie ein Buch über uns schreiben wollen. Worum soll’s dabei hauptsächlich gehen?« Gorski sprach sehr schnell und eine Spur zu laut mit starkem polnischen Akzent.

»Ich interessiere mich für die Behandlung ausgeprägter und gefährlicher Persönlichkeitsstörungen und die Rehabilitation Gefangener, bevor man sie entlässt.«

»Kaum einer unserer Männer kommt hier jemals wieder raus, aber natürlich sind Sie für das Studium psychischer Störungen genau am rechten Ort. Unsere Insassen sind einzig deshalb hier, weil das Gefängnissystem sie ausgespien hat.« Er unterzog mich einer kühlen Musterung. »Wissen Sie, wie lange unsere weiblichen Angestellten hier normalerweise durchhalten?«

»Ein Jahr?«

»Vier Monate. Nur eine Handvoll hält auf Dauer durch, und diese Frauen teilen wir in zwei Gruppen auf – die Löwenbändigerinnen und die, die mit den Männern flirten wollen. Weil die eine Hälfte was beweisen muss und sich die andere zu gewaltbereiten Männern hingezogen fühlt. Zu welcher dieser beiden Gruppen Sie gehören, weiß ich natürlich noch nicht.«

Ich starrte ihn verwundert an. Solche Sätze waren doch sicher schon seit einer Ewigkeit verboten? »Das spielt keine Rolle, Dr. Gorski. Ich bin hier, weil ich etwas über das Wohlergehen Ihrer Patienten lernen will.«

»Sie sollten sich vor allem über Ihr eigenes Wohlergehen Gedanken machen. Letzten Sommer hat ein Insasse eine der Schwestern so heftig attackiert, dass sie eine Woche auf der Intensivstation gelegen hat. Diese Männer werden Ihnen etwas antun, wenn Sie sich nicht vorsehen. Ist Ihnen das klar?«

»Natürlich.«

Gorski nickte knapp. »Gut, dann führe ich Sie erst einmal herum.«

Inzwischen sehnte mich schmerzlich nach meinem normalen Boss im Guy’s. Er war so cool, dass er wie ein Beruhigungsmittel auf die Menschen wirkte, die er traf. Wohingegen Gorski sprunghaft wie seine Patienten war. Auf der Psychopathie-Checkliste von Hare würde er auf jeden Fall sämtliche Aggressionspunkte sowie die Höchstpunktzahl für den Mangel an Respekt vor sozialen Grenzen erreichen.

Auf dem Weg über den Flur sog ich den Geruch des Hauses ein. Wie in jedem andern Krankenhaus roch es auch hier nach Raumluftspray, Desinfektionsmittel und irgendetwas Unbestimmtem, das irgendwo in einer fernen Küche auf dem Herd zu brutzeln schien. Zwei Pfleger führten einen adipösen, jungen Mann an uns vorbei, und ein dritter lief mit einem solchen Abstand hinter ihnen her, als träte der Patient im nächsten Augenblick nach hinten aus.

»Was für ein Personal-Patienten-Verhältnis haben Sie?«, erkundigte ich mich.

»Im Augenblick sind wir unterbesetzt, aber normalerweise drei zu eins.«

»Ist dieser hohe Personalschlüssel zu allen Zeiten nötig?«

Gorski nickte nachdrücklich. »Weil es andauernd zu irgendwelchen Streitereien kommt. Erst gestern wurde einem Insassen der Hals mit einer zerbrochenen CD-Hülle so grässlich aufgeschlitzt, dass man ihn mit zwanzig Stichen nähen musste.«

Während er dies sagte, trat er vor mir durch die Tür des Tagesraums. Hier war die Atmosphäre auf den ersten Blick völlig entspannt und friedlich. Aus der Ferne erschienen mir die grauhaarigen Männer, die in Jogginganzug oder Jeans bequem in Sesseln saßen, Tee tranken und einen alten Spielfilm schauten, wie ein Grüppchen sanftmütiger Opas. Frauen bekamen sie hier offensichtlich kaum zu sehen, denn sie alle drehten sich verwundert zu mir um.

An der Decke hing uralter Weihnachtsschmuck, doch alles andere, was ich zu Gesicht bekam – die Rudergeräte und die Laufbänder im Fitnessstudio, der Projektor im hauseigenen Kino, die Tischtennisplatte und der Billardtisch im Spielzimmer –, war offenbar brandneu.

Und auch Gorski wirkte plötzlich wie ein völlig neuer Mensch. Er erklärte voller Leidenschaft den ganzheitlichen Ansatz, den er bei der Therapie verfolgen würde, wenn der Staat endlich irgendwann die finanziellen Mittel aufgestockt hätte. Psychologen und Psychiater würden dann zusammen mit Gestaltungstherapeuten individuelle Behandlungspläne für die Insassen entwerfen, und die Männer verbrächten mehr Zeit als bisher außerhalb der Zellen. Im Augenblick jedoch reichten die Gelder nur für eine Teilzeitstelle im Bereich der Kunsttherapie.

Als wir neben einem abgesperrten Fenster stehen blieben, sah ich, dass schon wieder dichter Schnee vom Himmel fiel.

»Nutzen die Patienten auch die Einrichtungen, die die Hauptklinik zu bieten hat?«, erkundigte ich mich.

»Wenn die Fortschritte, die sie erzielt haben, es zulassen, durchaus. Ich kann Ihnen ein Beispiel zeigen, wenn Sie wollen.«

Gorski legte seinen Finger auf den Touchpad neben einer Tür, und wir traten in den Hof hinaus. Ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten, und wischte mir ständig die dicken Schneeflocken aus dem Gesicht.

Zwei Pfleger standen frierend draußen vor der Bibliothek. Die hohen Decken und die Buntglasfenster ließen darauf schließen, dass wir in der alten Krankenhauskapelle waren, aber den vernachlässigten Eindruck des Gebäudes machten sie nicht wett. Neben der Tür waren uralte Bücher aufgetürmt, doch viele der Regale an den Wänden waren leer, und die DVD-Auswahl war auf Top Gun, Die Verurteilten und The Green Mile beschränkt.

Der Bibliothekar, der am anderen Ende des Raums über einem Stapel Blätter saß, war die einzige Person im Lesesaal.

»Erkennen Sie ihn wieder?«, flüsterte mir Gorski zu.

Ich sah genauer hin, bemerkte, dass das linke Handgelenk des Mannes an den Stuhl gefesselt war, und plötzlich wurde mir bewusst, dass es sich um Louis Kinsella handelte. Er drehte sich auf seinem Stuhl zu uns herum und bedachte uns mit einem höchst beunruhigenden, durchdringenden Blick.

Noch immer sah er meinem Vater täuschend ähnlich, und genau wie er sah er mich an und ließ mich wortlos wissen, dass ich eine furchtbare Enttäuschung für ihn war. Allerdings sah er erheblich älter aus als zu der Zeit vor 17 Jahren, als sein Bild in allen Zeitungen gewesen war. Seine kurz geschnittenen, damals braunen Haare waren zwischenzeitlich grau, und sein Gesicht war kantiger, mit vorstehenden Wangenknochen und mit einer ausladenden Stirn. Allerdings trug er noch dieselbe Halbbrille wie damals.

Ich hatte für mein Abitur gelernt, als die Mordserie des Mannes ihren Höhepunkt erreichte, und zusammen mit den Fakten hatte sich mir auch sein Gesicht unauslöschlich eingeprägt. Vielleicht war ich damals so fasziniert von ihm gewesen, weil mein Vater zu der Zeit todkrank war. Wir hatten ihn zu Hause gepflegt, doch er konnte nicht mehr sprechen und sich fast nicht mehr bewegen. Und in dem Moment, als seine körperlichen Kräfte ihn verließen, hatte es sein Doppelgänger als der schlimmste Kindsmörder Englands aller Zeiten auf die Titelblätter aller Zeitungen geschafft – ein Rekord, der auch nach beinah zwanzig Jahren ungebrochen war.

Als wir uns zum Gehen wandten, folgte mir Kinsella mit den Augen, und erst als wir wieder draußen waren, atmete ich auf.

Auf dem Weg über den Hof schien die Kälte merklich zuzunehmen, und verwundert blickte ich an mir herab und verstand, wovon der Mann so fasziniert gewesen war. Die Schneeflocken, die in der Bibliothek auf meinem roten Mantelstoff geschmolzen waren, sahen aus wie Spritzer frischen Bluts.

2

»So reagieren alle. Einige von meinen Leuten bleiben nicht einmal im selben Raum wie er. Weil die Stille unerträglich ist.« Gorski lächelte herablassend, als er mich zittern sah.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Kinsella ist sehr wählerisch, was seine Kommunikation betrifft. Die meisten Menschen schweigt er an. Mir schickt er hin und wieder eine schriftliche Beschwerde, doch gesprochen hat er schon seit Jahren nicht mehr. Das ist ein Ausdruck des Protests, weil er seine Strafe im Gefängnis und nicht hier absitzen will.«

»Er denkt also, er ist geheilt?«

»Er hat bei der Verhandlung steif und fest behauptet, dass Psychopathie ein Persönlichkeitsmerkmal und keine Krankheit ist. Und dass man ihn entlassen soll, weil er schließlich gelernt hat, seine Impulse zu beherrschen. Das Plädoyer von seinem Anwalt war sehr überzeugend.«

»Aber Sie sind anderer Meinung?«

»Selbstverständlich. Er hat in den letzten Jahren nur deshalb keinen Menschen umgebracht, weil er keine Gelegenheit dazu bekommen hat. Sie haben doch bestimmt gehört, was in Highpoint geschehen ist.«

»Er hat jemanden angegriffen, nicht wahr?« Ich erinnerte mich an die Schlagzeile vor ein paar Jahren, doch die Einzelheiten waren mir entfallen.

»Er hat mit seinen bloßen Daumen einem Mitgefangenen das Auge ausgedrückt.« Gorski wartete auf meine Reaktion und wandte sich dann ab. Anscheinend war er fest entschlossen, mich bereits auf meinem ersten Rundgang durch das Laurels aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht wollte er herausbekommen, wie zäh ich war.

Die geschlossene Abteilung war das nächste Highlight. Die fensterlosen Zellen waren mit dunkelgrünem Schaumstoff ausgekleidet, doch die lauten Schreie, die aus einer Zelle in der Nähe drangen, machten deutlich, dass sich nicht jeder der Patienten durch gedeckte Farben beruhigen ließ. Ich lugte durch die Klappe in der Tür und sah einen jungen Mann, der sich gegen die Wand warf, abprallte, zu Boden fiel, eilig wieder aufstand und gleich wieder Anlauf nahm, als hätte er dort eine für uns unsichtbare Tür entdeckt.

»Einer unserer Neuzugänge«, raunte mir der Anstaltsleiter zu.

Nach der Begegnung mit Kinsella und nachdem ich zugesehen hatte, wie ein junger Mann gleich einem Squashball quer durch seine Zelle flog, fragte ich mich langsam doch, ob mein Entschluss, hierherzukommen, nicht ein wenig voreilig gewesen war. Vielleicht hätte ich auch weiterhin im Guy’s meine Kraft darauf verwenden sollen, depressiven Menschen auf dem Weg aus ihren dunklen Löchern beizustehen.

Neben einer schmalen Tür blieb Gorski stehen und hielt mir einen Schüssel hin. »Dies ist Ihr Büro. Judith Miller, meine Stellvertreterin, ist Ihre Supervisorin. Sie werden sie am Mittwoch auf der Personalversammlung kennenlernen.«

Ich fragte mich, wie lange Dr. Miller schon im Laurels war. So abfällig, wie Gorski von ihr sprach, gehörte sie wahrscheinlich eher zur Löwenbändigerinnen-Fraktion.

Ich schob den Schlüssel in das Schloss und stellte fest, dass mein Büro nicht größer als die Besenkammer meines Londoner Apartments war. Durch ein schmales Fenster fiel ein Streifen grauen Lichts, und da der wackelige Schreibtisch praktisch den ganzen Raum einnahm, stand der altersschwache Schreibtischsessel direkt an der Wand. Ehe ich jedoch Gelegenheit bekam, mich zu beschweren, hatte Gorski sich schon aus dem Staub gemacht.

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit dem vergeblichen Versuch, mein Outlook-Konto in Betrieb zu nehmen. Irgendwer hatte mir einen Stapel Unterlagen hingelegt, darunter eine Liste der verschiedenen Therapiegruppen und die Termine der Treffen des Pflegeteams. Ich wühlte die Papiere durch, suchte nach bekannten Namen und vermutete, dass Gorski Einzelsitzungen mit seinen schlimmsten Psychopathen für mich vereinbart hatte, um zu sehen, wie nervenstark ich war.

Der Gemeinschaftsraum des Northwood-Personals war etwas völlig anderes als das Café im Guy’s. Das Café war permanent bis auf den letzten Platz besetzt, und es ging so laut her, dass man sein eigenes Wort fast nicht verstand, wohingegen hier nur eine Handvoll Menschen an den Tischen saßen und schweigend in ihre Kaffeebecher starrten. Was, da sie den ganzen Tag lang in Alarmbereitschaft waren, falls mal wieder irgendwo die Hölle losbrach, durchaus zu verstehen war.

Als ich durch den Raum ging, sahen ein paar von ihnen auf, bevor sie abermals in ihre Grübeleien versanken, und ich fragte mich, wie sie sich von der pausenlosen Anspannung befreiten, wenn sie nach der Schicht nach Hause fuhren. Vielleicht hörten sie ja laut Nirvana und sprangen mit wild wippenden Köpfen in den Wohnzimmern herum.

Ich holte mir etwas aus dem Getränkeautomaten, trat ans Fenster und erkannte, dass die Aussicht ebenfalls ein Grund für die gedrückte Atmosphäre war. Es schneite immer noch, die Suchscheinwerfer auf der Außenmauer tauchten das gesamte Areal in gleißend helles Licht, und neben dem Eingangstor parkte ein Krankenwagen, mit dem offenkundig gerade jemand eingeliefert worden war. Das Grundstück war so gut gesichert wie die Kriegsgefangenenlager für die alliierten Offiziere während des Zweiten Weltkrieges: Ein paar Wachmänner mit Bajonetten und Gestapo-Wappen an den Mützen hätten die Szene komplett gemacht. Wieder sah ich mich in der Cafeteria um, doch niemand blickte noch mal auf.

Auf dem Weg zurück in mein Büro passierte ich drei Pfleger mit einem Gefangenen im Schlepptau, der aus Leibeskräften schrie. Er sah aus wie die Illustration in einem alten Lehrbuch über Geisteskrankheiten. Denn alles an dem Mann war ungepflegt, von den Rissen in den Ärmeln bis zu dem verfilzten Bart.

»Ich gehöre nicht hierher«, schrie er die Männer an. »Sie wollen mich umbringen.«

Er zupfte nervös mit seinen klauengleichen Händen an seiner Garderobe, und ich fragte mich, warum er wohl hier gelandet war. Ein ums andere Mal bemühte sich einer der Pfleger, seinen Arm zu packen, und von weitem sah es aus, als würde er versuchen, inmitten eines ausgewachsenen Sturms eine Vogelscheuche festzuhalten, ehe sie von dannen flog.

Es war dunkel, als ich ging. Jemand hatte in der Zwischenzeit die Wege frei geschaufelt, aber auf dem Parkplatz lag noch immer dicker Schnee. Ein Lieferwagen schob sich vorsichtig mit durchdrehenden Reifen Richtung Straße, ehe er im Wald verschwand. Mein Toyota war bis unters Dach mit Kisten beladen, und ich freute mich, die Sachen, die ich in den nächsten Monaten in Northwood bräuchte, endlich in dem Cottage abzuladen, das vorübergehend mein Zuhause sein sollte. Doch als ich den Motor starten wollte, tat sich nichts. Er räusperte sich nicht einmal. Ich trommelte mit meinen Fäusten auf das Lenkrad und stieß eine Reihe lauter Flüche aus. In meiner Eile, den Termin mit Gorski wahrzunehmen, hatte ich vergessen, das Licht auszuschalten.

Eisige Luft wehte mir entgegen, als ich wieder aus dem Wagen stieg, und während ich im Kofferraum das Überbrückungskabel suchte, nahm ich in der Ferne die Lichter des Krankenhauses wahr.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine Stimme, und ich richtete mich eilig wieder auf.

Ein fremder Mann blickte auf mich herab, doch es war zu dunkel, um zu sehen, ob seine Miene eher besorgt oder belustigt war.

»Meine Batterie hat schlappgemacht.«

»Bleiben Sie hier. Ich hole meinen Wagen.«

Wenig später stellte er seinen Geländewagen direkt vor meinem Toyota ab und nahm mir das Überbrückungskabel aus der Hand. Am liebsten hätte ich gesagt, dass ich es auch allein anschließen könnte, doch zumindest hatte ich auf diese Art Gelegenheit, ihn mir etwas genauer anzusehen. Er war mittelgroß und muskulös und hatte sich die Mütze so tief in die Stirn gezogen, dass seine Haarfarbe nicht zu erkennen war. Das Einzige, was ich erkennen konnte, waren sein festes Kinn, die breiten Wangenknochen und der ausdruckslose Blick. Ich hatte keine Ahnung, ob er es genoss, dass er den edlen Ritter spielen konnte, oder ob ihm diese Rolle eher auf die Nerven ging.

Wortlos wartete er ab, bis der Motor wieder ansprang. Und während ich selbst eiskalte, nasse Füße hatte, weil eisiges Wasser durch die Sohlen meiner Schuhe drang, hatte er es in seinem dicken Mantel und den Wanderstiefeln offensichtlich mollig warm. Vor allem hatte ich bisher noch kaum jemand getroffen, der so in sich zu ruhen schien.

»Sie sind die Neue, stimmt’s?«

»Stimmt.« Ich nickte mit dem Kopf. »Ich führe Recherchen im Laurels durch.«

»Sie Glückliche. Da sind Sie ja ganz dicht an unseren Weltklasse-Freaks und -Psychos dran.« Sogar bei diesem Satz blieb seine Miene völlig ausdruckslos.

»Gehören Sie zum Ärzte- oder Pflegerteam?«

Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Gott, nein, dann brächte ich wahrscheinlich früher oder später einen von den Männern um. Ich bin ein einfacher Fitnesstrainer, weiter nichts.«

Einfach sah er ganz bestimmt nicht aus. Seine Augen waren so hell, dass sie fast farblos waren, und machten mich aus irgendeinem Grund nervös.

Stotternd sprang mein Wagen an, und er nahm das Überbrückungskabel wieder ab.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Dafür bin ich Ihnen etwas schuldig.«

»Spendieren Sie mir einfach irgendwann mal einen Drink. Hat Ihnen schon jemand erzählt, was mit Gorskis letztem Gast geschehen ist?«

»Nein, bisher noch nicht.«

»Ist vielleicht auch besser so.« Er hob die Hand zu einem kurzen Gruß und ging davon.

Ich war so glücklich, dass mein Wagen wieder lief, dass ich seine letzten Worte umgehend vergaß. Und ehe mir auffiel, dass ich nicht mal wusste, wie er hieß, war er schon verschwunden.

Charndale wirkte wie eine Geisterstadt auf mich. Ich passierte einen Pub, ein Postamt sowie eine Reihe kleiner, hinter Holzzäunen versteckter Häuser, ohne dass ich auch nur eine Menschenseele sah.

Als mir bewusst wurde, wie winzig diese Ortschaft war, fragte ich mich, ob ich wohl für das Dorfleben geeignet war. Ich hatte unter anderem deshalb diesen Forschungsauftrag angenommen, um mir zu beweisen, dass ich auch ein Leben außerhalb von London führen konnte. Ich hatte nach dem Engel-Fall versucht, das Grauen, das ich miterleben musste, zu vergessen, und fast jede Nacht einen mit meiner Freundin Lola draufgemacht. Deshalb musste ich jetzt endlich wieder lernen, auch einmal allein zu sein, nur war mir das Leben auf dem Land vollkommen fremd. Bisher hatte ich dort höchstens hin und wieder meine Ferien verbracht, war tagsüber gewandert und abends zum Essen in meine Pension zurückgekehrt.

Laut piepsend zeigte mir mein Navy an, dass ich nach links in einen schmalen Weg einbiegen müsste, der vollkommen unbeleuchtet war, und meine Beklommenheit nahm zu. Ich hatte nur mit Mühe eine Unterkunft gefunden – und vielleicht war dieses Cottage ja nur frei gewesen, weil es so abgelegen war. Ich fuhr durch eine schmale Öffnung in der kahlen Hecke, hinter der das Ivy Cottage lag. Am Ende einer schmalen Gasse hob sich das weiß gekalkte Häuschen im Licht des Mondes vor dem schwarzen Hintergrund der Bäume ab.

Ich ließ die Scheinwerfer des Wagens an, um nicht ganz im Dunkeln bis zum Haus zu laufen, doch die Schlüssel, die ich von der Maklerin bekommen hatte, hätte ich gar nicht gebraucht. Denn als ich die Tür berührte, schwang sie leise quietschend auf, als hätte sich der Ort nach einem Gast gesehnt. Die Putzfrau hatte offenbar vergessen abzuschließen, was mir wieder einmal zeigte, wie fern ich an diesem Ort der Großstadt London war. Dort hätte jemand in der Zwischenzeit wahrscheinlich alles, was nicht niet- und nagelfest war, eingesammelt und sich aus dem Staub gemacht.

Da es im Flur genauso kalt wie draußen war, bildeten sich kleine, weiße Wölkchen vor meinem Gesicht, als ich meine Kisten aus dem Wagen in die Wohnung trug. Dann entdeckte ich den Thermostat und stellte ihn auf maximale Wärme ein.

Die Zimmer hatten eine gute Größe, zeugten aber mit den Spitzendeckchen auf den Tischen und dem Teppich, der im Stil der 60er so bunt gemustert war, dass man von seinem Anblick Kopfschmerzen bekam, vom eher fragwürdigen Geschmack der Eigentümerin. Doch wenigstens mein neues Schlafzimmer versprühte einen altmodischen Charme. Das Bett hatte ein eisernes Gestell, und die Tapete mit dem Rosenmuster klammerte sich sicher schon seit mehreren Jahrzehnten an den Wänden fest.

Ich hängte meine Kleider in den Schrank und spähte aus dem Fenster. Alles, was ich sehen konnte, waren einen Reihe Kiefern und der Vollmond, der, umrahmt von einem gelben Dunstschleier, an einem unvorstellbar klaren Himmel hing. Die wunderbare Aussicht machte die schreckliche Kälte in dem Häuschen wieder wett. In London war der Himmel wegen all der Lichter nie wirklich zu sehen, wohingegen ich hier die Sternbilder ganz deutlich erkennen konnte.

Mit einem lauten Stöhnen riss der Boiler mich aus der Betrachtung des Naturschauspiels. Es klang, als würde er auf Hochtouren laufen, doch die Heizkörper waren noch immer nur lauwarm.

Hier war wirklich nichts auch nur annähernd heimelig, dachte ich, als ich wieder in die untere Etage kam. Immer noch im Mantel, hockte ich mich auf den Rand der Couch. Der riesengroße, schwarze Fernseher war mindestens 30 Jahre alt, und die Lautstärkeregelung war unberechenbar. In den Nachrichten wurde berichtet, dass die zehnjährige Ella Williams Freitagnachmittag vor ihrer Grundschule gekidnappt worden war. Auf dem Foto wirkte sie erheblich jünger, und ihre Mitschüler zogen sie wahrscheinlich oft wegen ihrer braunen Ringellöckchen und dem Kassengestell auf, hinter dem ein paar wache, neugierige Augen blitzten. Dann wurde ihr Großvater gezeigt – ein gebrechlich aussehender, grauhaariger Mann, der sich bemühte, nicht in Tränen auszubrechen, als er von der Kleinen sprach. Ella war bereits das vierte Mädchen aus Nordlondon, das in den letzten zwölf Monaten verschwunden war. Die beiden ersten Mädchen, die vor einem Jahr gekidnappt worden waren, hatte man nach Monaten tot aufgefunden, doch das dritte Opfer wurde noch gesucht. Sarah Robinson, die nach ihrem Verschwinden vor drei Wochen auf den Titelseiten aller Zeitungen zu sehen gewesen war. Mit ihrem goldenen Haar, türkisfarbenen Augen, der samtweichen Haut und dem strahlenden Lächeln sah die Kleine wie eine Prinzessin aus. Unglücklich studierte ich das Bild. Ich hatte mir geschworen, meine Arbeit für die Polizei endgültig zu beenden, doch die seltenen Fälle, wenn ein Kind noch lebend aufgefunden wurde, waren unglaublich befriedigend.

Ich blickte wieder auf den Fernseher und sog hörbar die Luft ein. Don Burns stand vor dem Polizeirevier King’s Cross und füllte mit seinen breiten Schultern fast den ganzen Bildschirm aus. Er hatte noch mehr abgenommen, seit ich ihn vor einem halben Jahr zum letzten Mal gesehen hatte, sah aber noch immer wie ein Rugby-Spieler aus. Allerdings wie einer, dessen Team nach hartem Kampf geschlagen worden war. Auch wenn es vollkommen idiotisch war, wünschte ich, der Fernseher verfügte über einen Pausenknopf, um ihn mir genauer anzusehen. Die Kälte hatte seine Haut gebleicht, und seine dunklen Haare waren ungekämmt, doch irgendwas an ihm zog meinen Blick auch weiter magisch an. Ich wünschte mir mit einem Mal, ich hätte seine Einladung zum Abendessen nach dem Engel-Fall nicht ausgeschlagen, aber mir war klar gewesen, dass er noch einmal die Einzelheiten durchgehen wollte, und ich hätte es in dem Moment noch nicht ertragen, noch mal auf die grauenhaften Erlebnisse einzugehen. Und bis ich mich erholt hatte, war zu viel Zeit vergangen, um ihn noch zurückzurufen und die Einladung zu akzeptieren.

Inzwischen hatte auch er sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Er blickte völlig reglos in die Kamera, und mir fiel wieder ein, weshalb ich so große Stücke auf ihn hielt. Weil man sich darauf verlassen konnte, dass er niemals irgendwelchen Mist erzählte. Weil er einfach immer völlig ehrlich war.

Wie es aussah, hatte er inzwischen eine neue Partnerin. Eine große, schwarzhaarige Frau in einem makellosen, sicher alles andere als billigen Kostüm, die sich so nah an seiner Seite hielt, als wäre sie mit ihm verwachsen. Was ich ein wenig übertrieben fand.

Plötzlich zog sich mein Brustkorb zusammen. Entweder die Kälte machte mir zu schaffen, oder es war die Erinnerung an meinen letzten Fall mit Burns, die wieder hochkam. Alles hatte damit angefangen, dass man in der U-Bahn einen Mann vor einen Zug gestoßen hatte. Was der Auftakt zu der schlimmsten Mordserie, die ich jemals erlebt hatte, gewesen war.

Doch diesmal hatte ich eine perfekte Ausrede, falls mich die Polizei um Hilfe bat. Wegen meines Forschungsauftrags hier in Northwood hatte ich ganz einfach keine Zeit.

Ich ging in die Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd. Bisher hielten sich die negativen und die positiven Eindrücke von meinem neuen Wirkungsort die Waage. Mein Wagen war nicht angesprungen, aber aus dem Nichts war urplötzlich ein Retter aufgetaucht, und in meinem neuen Heim kam ich mir wie in einem Iglu vor, dafür aber war der Nachthimmel beeindruckend schön.

Ich hörte das Zischen einer Glühbirne, und plötzlich lag der Flur in vollkommener Dunkelheit. Ich tastete mich bis zur Haustür, um sie abzusperren, doch der Mechanismus war kaputt. Ich würde mich darum kümmern müssen. Wütend riss ich an der Tür, und als sie aufging, hörte ich ganz in der Nähe eine Eule schreien. Ihr Ruf war so laut und rein, dass ich unmöglich hätte sagen können, ob er Begrüßung oder Verwünschung war.

3

Ellas Gedanken sind ein Block aus hartem Eis. Sie weiß nicht, wie lange sie bereits hier eingesperrt ist, hier, an diesem kalten, dunklen Ort. Sie kann nur mit Bestimmtheit sagen, dass der Raum ganz aus Metall ist. Die Rostflocken auf dem Boden kratzen an ihren nackten Fußsohlen, und außer dem Klappern ihrer Zähne hört sie kein Geräusch. Es ist so dunkel, dass sie ihre Hand nicht einmal sehen kann, wenn sie sie dicht vor ihre Augen hält. Das Licht der Taschenlampe, die der Mann zurückgelassen hat, wird langsam schwächer, und das andere Mädchen, Sarah, hat den Mund bereits seit Stunden nicht mehr aufgemacht. Wenn sie atmet, klingt es so, als gieße jemand etwas aus einer Flasche. Im bleichen Licht der Taschenlampe hat sie ihre Augen so weit aufgerissen, als ob sich das Dach des Raums geöffnet hätte, damit sie die Sterne zählen kann. Ella versucht, nicht zu zucken, als Sarah mit ihren dünnen Eisfingern ihr Handgelenk umfasst.

»Du musst lächeln«, flüstert sie. »Du darfst nicht schreien, weil ihn das wütend macht. Tu alles, was er sagt.«

Ella ergreift ihre Hand, und Sarah klappt die Augen zu. Noch immer dringt das gurgelnde Geräusch aus ihrem Hals, als ob sie unter Wasser atmen würde. Aber Ella kann nichts anderes tun, als ihre Hand zu halten und zu reden. Sarah zu erzählen, wie ihr Zimmer aussieht, was für Mahlzeiten ihr Opa kocht und dass ihre Schwester an Gespenster glaubt. Doch schon bald schläft sie vor lauter Kälte ein und wird erst wieder wach, als die Tür geöffnet wird. Der Mann streckt einen Arm herein, zerrt Sarah hoch, und als die Tür wieder ins Schloss geworfen wird, fängt Ella an zu schreien.

Sie schreit so lange, bis sie Halsschmerzen bekommt.

Und dann bricht sie in Tränen aus, weil Sarah nicht mehr da ist und die Dunkelheit von allen Seiten immer näher kommt. Inzwischen ist die Taschenlampe aus, und es gibt nirgendwo mehr Licht. Sie kann nur abwarten und denken, wobei nur zwei Gedanken tröstlich für sie sind. Letzte Woche hat die Lehrerin gesagt, dass sie das klügste Mädchen der Schule ist. Die Erinnerung an dieses Lob hellt ihre Stimmung aber nur für wenige Sekunden auf. Immer wieder denkt sie an den Rat, den Sarah ihr gegeben hat, aber es wird alles andere als einfach, nicht zu schreien, denn das Geräusch steigt wie von selbst in ihrer Kehle auf. Aber nächstes Mal, wenn er die Tür aufmacht, wird sie ganz still bleiben und sich bemühen zu lächeln. Das gelingt ihr zwar noch nicht, aber das ist etwas, was wie üben kann.

Plötzlich ist ihr so kalt, dass sie etwas tun muss, um sich aufzuwärmen. Als sie aufsteht, stößt sie mit dem Kopf gegen die Decke, aber während ihre nackten Füße auf dem eisigen Metallboden vor Kälte zittern, schwenkt sie ihre Arme hin und her. Die Metallwände der Kiste greifen das Geräusch von ihren Schritten auf, während sie auf der Stelle läuft, bis sie wieder Gefühl in ihren Händen hat und den schmalen Wintersonnenstrahl entdeckt, der durch den Türspalt fällt.