Jürgen Roth
Spinnennetz der Macht
Wie die politische und wirtschaftliche Elite
unser Land zerstört
Econ
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der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN: 978-3-8437-0417-5
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Inhalt
Zertrümmerte Hoffnungen: eine Einleitung
Das Demokratieprinzip oder Eindrücke über die verschiedenen Spinnennetze der Macht
Die Unkultur der gekauften Meinung
Wenn sich Politiker für Unternehmen stark machen
Über Charity, Immobilien und gepflegte Beziehungen
Wie es um die politische Ethik steht
Das national-liberale Netzwerk: Auf dem Weg zu einer neuen Partei?
Bürgerengagement gegen politisch-wirtschaftliche Seilschaften
Militarisierung der Inneren Sicherheit
Das Rechtsstaatsprinzip oder die Zerstörung des Vertrauens in den Rechtsstaat
Die Macht der Steuerkriminellen
Innenansichten über den sächsischen Rechtsstaat
Der Rechtsanwalt als Kopf einer kriminellen Vereinigung
Wer in die Politik geht, kommt darin um
Erfahrungen mit den Finanzbehörden: Gnade gibt es nicht
Das Finanzamt: Instrument der politischen Disziplinierung
Datenschützer unter Beschuss
Wenn Arbeitslosenhilfe zum Druckmittel wird
Wenn Geld in Sachsen keine Rolle spielt
Das lähmende Klima der Angst: Sittenbild eines Bundeslands
Strafe, Rache oder das sächsische Landrecht
Protokoll über ein deutsches Spinnennetz
Die Wahrheit biegen, bis sie politisch genehm ist
Mehr als politisches Mobbing: die Vernichtung einer aufrechten Beamtin
Der Verfassungsschützer und der Kriminalist
Die unglaubwürdigen Zeugen
Die Journalisten und was ein sächsischer Richter von Pressefreiheit hält
Der aufmüpfige Strafverteidiger
Der Politiker und die Niedertracht
Über das Vermögen des Rostocker Paten und seine Freunde
Die kriminelle Organisation, ein Justizirrtum und die hohe Politik
Der Honorarkonsul und der russische Oligarch
Wie ein zwielichtiger Unternehmer Kronzeuge wurde
Der Prozess gegen eine kriminelle Vereinigung beginnt
Die Vernehmung des Kronzeugen und die »Technik-Panne«
Über die Vernehmung der Verdächtigen und die dürftigen Erkenntnisse
Zeugenschutz als Erpressungsinstrument
Hintergründe eines fragwürdigen Urteils
Über einen Laptop und seine Geheimnisse
Wenn das Bundesverfassungsgericht einem Anwalt nicht haltbare Verschwörungstheorien vorwirft
Eine notwendige Nachbetrachtung
Über Behördenwillkür und die Psychiatrie
Über Schwarzgeld, Steuerkriminalität und Wahnvorstellungen
Wie reagierte die bayerische Politik?
Über das vermeintliche Kindeswohl, die Verwaltung und die Justiz
Das Spinnennetz der Bankenmacht
Wie eine Familie zerstört wurde
Wie die Bank sich aus der Verantwortung stehlen konnte
Wenn der Bundesgerichtshof die Banken schützt
Ein Mann, dem die Banken am Herzen liegen
Wie ein milliardenschwerer Finanzdienstleister hochkarätige Ex-Politiker einkauft
Was die Strukturvertriebe am Laufen hält
Opfer gibt es auf beiden Seiten
Die potemkinschen Dörfer der Inneren Sicherheit
Wie die Mafia den Frankfurter Wohnungsmarkt monopolisiert
Was den Bürgern an Sicherheiten versprochen wird
Das Land der Frühaufsteher: Sachsen-Anhalt und der Fördermittelklüngel
Mord abseits der Rennbahn
Wenn Unternehmensförderung zum Patentklau wird
Skandal um die Kloake Deutschlands
Gutes Geld für Dessau
Kann Korruption auch Biogasanlagen befeuern?
Abschied vom Sozialstaatsprinzip
Hartz IV: eine soziale Abwärtsspirale
Einblicke in eine andere Welt
Über den Dschungel promiskuitiver Beziehungen
Ein »guter« Finanzinvestor und sein Spinnennetz der Macht
Über einige Politiker und ihre Netzwerke
Vom Engagement im Ehrenamt
Buckeln oder aufstehen?
Ach, du schönes Ideal Grundgesetz! Wie oft haben sie dich seit deiner schweren Geburt in Bonn, damals im Nachkriegsjahr 1949, vergewaltigt? Wie viel bist du heute in Deutschland eigentlich noch wert? »Wir haben wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf alle Ewigkeit.« Das sagte Angela Merkel, damals CDU-Vorsitzende, am 16. Juni 2005 anlässlich der Feier zum 60-jährigen Bestehen der CDU. Ist diese Ewigkeit bereits erreicht, sieben Jahre später – oder wurde der erwähnte Rechtsanspruch womöglich schon lange vorher außer Kraft gesetzt? Sicher ist das beim Sozialstaatsprinzip, also der Frage der sozialen Gerechtigkeit der Fall. Sie wurde spätestens im Jahr 2002 durch die damalige SPD/Grünen-Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zu Fall gebracht. Seitdem sind die Barrieren gegen eine soziale Apartheidpolitik kontinuierlich abgebaut worden. Allein das Vermögen des reichsten Prozents der Deutschen ist heute größer als sämtliche Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden zusammen. Ohne soziale Gerechtigkeit wird es jedoch, das ist eigentlich eine Binsenweisheit, keine Legitimation des Staates geben.
Über die möglichen Folgen machte sich Gesine Schwan Gedanken, die ehemalige Bundespräsidentin-Kandidatin und jetzige Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin. »Ich habe schon vor Jahren zwar nicht soziale Unruhen als kollektive Aktion sozusagen vorhergesagt, wohl aber, dass die Wut bei denen sich steigern wird, die sich als hoffnungslos abgehängt betrachten.«1 Was sind die tieferen Gründe dieser so gerne verdrängten Entwicklung? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer fasst einige in wenigen Sätzen zusammen: »Die Mehrheit der Menschen sagt, dass sich Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness in dieser Gesellschaft nicht mehr verwirklichen lassen. Das ist gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und erzeugt Desintegration […]. Die Demokratie ist in einer Krise.«2
Hinter dieser Erkenntnis steckt jedoch ein noch viel größeres Problem: Das Grundgesetz, also das Fundament unserer Demokratie, ist in den Bereichen Sozialstaatsprinzip, Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip in hohem Maße in Gefahr, außer Kraft gesetzt zu werden. Nur zur Erinnerung: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«, lautet Artikel 1 des Grundgesetzes. Dieses sollte eigentlich ein Wertesystem bilden, das als verfassungsrechtliche Wertentscheidung für alle Bereiche im Verhältnis zwischen Staat und Bürger gilt. Es stellt sich die Frage: Weshalb und in welchem Umfang ist in Deutschland das Demokratiestaatsprinzip gefährdet? »Demokratie ist zur Postdemokratie geworden, in der innerhalb der formalen Hülle der Demokratie das Volk als der eigentliche Souverän gegenüber den Lobbyisten und Eliten keine Durchsetzungschancen mehr hat.«3 Anders ausgedrückt: Deutschland ist unter anderem von Netzwerken und Seilschaften – wahren Spinnennetzen der Macht – geprägt, deren Protagonisten durch ihre parasitären gesellschaftlichen und ökonomischen Beziehungen die lebendige Demokratie zu ersticken drohen. Der Politologe Professor Bernd Greiner nennt es »Tendenzen der Re-Feudalisierung. Das heißt, dass neben den offiziellen Strukturen, neben den demokratischen Strukturen, die inoffiziellen Strukturen zunehmend wieder an Gewicht gewinnen. Und diese Eliten, diese selbst ernannten Eliten, die oben sitzen, die schotten sich zunehmend ab.«4 In diesen regionalen wie länderübergreifenden Spinnennetzen sind regelmäßig Männer und Frauen zu finden, die für Sach- und Warenwerte verantwortlich sind, deren Lebensmodell Geld- und damit Machtvermehrung ist – soziale Autisten. Und sie werden dafür nicht nur fürstlich entlohnt, sondern gelten in Deutschland sogar noch als die tragende, die Gesellschaft prägende Elite.
Von einer »Parallelwelt« sprach der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident, spätere Bundesfinanzminister und aktuelle SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. »Das Biotop an der Spitze zeichnet sich durch ein asoziales und amoralisches Verhalten aus, das deshalb so ärgerlich stimmt, weil diese Schicht über alle Voraussetzungen verfügt, zum Wohl des Gemeinwesens beizutragen.« Er spricht wohl aus Erfahrung. »Ich bin in all den Jahren als Minister und als Privatperson Maklern, Investmentbankern, Beratern und Jungunternehmen begegnet, die von einer erschreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem ›gemeinen‹ Volk« waren.«5 Peer Steinbrück vergaß leider hinzuzufügen, dass es der von ihm in jeder Beziehung gehuldigte einstige SPD-Kanzler Gerhard Schröder war, der mit der Liberalisierung der Finanzmärkte die Büchse der Pandora überhaupt erst geöffnet hat. »Steinbrück hat noch im März 2006 in der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen einen glühenden Beitrag im Geiste der Eichel-Zeit6 geschrieben. Man werde an der Arbeit der Vorgängerregierung anknüpfen.«7 Erst durch diese politischen Vorgaben wurde die Devise »Bereichert euch!« zu einem Lebenselixier einer parasitären Klasse. Die Politiker, ob von SPD, CDU/CSU, Grünen oder FDP, die von dieser parasitären Klasse angefüttert wurden, klatschten alle beflissen Beifall. Und daran hat sich bis heute wenig geändert. Man könnte ja einmal Chauffeure der Fahrbereitschaft des Deutschen Bundestages fragen, was sie von den Abgeordneten und Ex-Staatssekretären und Ex-Ministern halten, die sie im Laufe der letzten Jahre gefahren haben. Ein langjähriger Chauffeur der Fahrbereitschaft erzählte mir: »Wir werden missachtet, wie der letzte Dreck behandelt und müssen darüber schweigen, dass wir als Privatchauffeure instrumentalisiert werden, um die Abgeordneten zum Einkaufen, in den Urlaub oder ins Bordell zu fahren. Sie wollen, gleichgültig von welcher Partei, wie Könige behandelt werden – von Volksvertretern kann keine Rede sein.« Hinzu kommt, dass die Fahrer extrem schlecht bezahlt werden und von ihrem Gehalt nicht leben können, weil die Fahrbereitschaft des Bundestags zum Teil privatisiert wurde. Das alles interessiert die Abgeordneten nicht. Im dicken schwarzen Mercedes oder Audi vorgefahren zu werden – das allein zählt.
Übrigens sind im öffentlichen Mediendiskurs viele dieser Gallionsfiguren des deutschen Establishments aus Politik, Wirtschaft und Justiz nach wie vor auffallend präsent, insbesondere in den verschiedenen Netzwerken oder, besser gesagt, Spinnennetzen der unkontrollierten und intransparenten Macht. Um das zu belegen, reicht es aus, sich in der Vergangenheit die Flut der politischen Marketing-Talkshows mit ihrer mehr oder weniger klaren Verkaufsabsicht anzusehen. Ein Beispiel: Da gibt es die Initiative Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte Pressure-Group.8 Die INSM war eine Inspiration der Hamburger Werbeagentur Scholz & Friends (Wahlspruch: The Orchestra of Ideas). Sie sollte den Wunsch der Arbeitgeber umsetzen, für einen Wandel des politischen Klimas in Deutschland zu sorgen. »Die Aktivitäten der INSM haben in den letzten Jahren massiv dazu beigetragen, Einstellungen in der Bevölkerung zu verändern und Themen wie Rückbau des Wohlfahrtstaats, Arbeitszeiten, verstärkte Eigenverantwortung, staatliche Ausgaben und Aufgabenbeschränkung in die Diskussion zu bringen.« Zu diesem Ergebnis kam bereits 2004 eine Studie der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung. Laut ARD-Magazin Plusminus sind die INSM-Botschafter auf sämtlichen Kanälen Dauergäste in den Talkshows. Schaut man sich die Internetseite der INSM an, findet sich unter diesen »Botschaftern« kein einziger Vertreter der großen Industriegewerkschaften. »Tatsächlich sind alle bei der gleichen Lobby im Boot – und fordern harte Einschnitte, von denen sie selbst nie betroffen sind«, heißt es im Bericht des Fernsehmagazins.9 Zu ihnen gehörte Wolfgang Clement (SPD), der ehemalige Wirtschafts- und Arbeitsminister. Sein Beispiel zeigt die Kontinuität einer langfristig angelegten politischen Strategie, die durch die internationale Wirtschaftskrise nur scheinbar in die Defensive geraten ist: die Zementierung der neoliberalen Ideologie.
Und schon sind wir bei einem der vielfältigen politisch-wirtschaftlichen Spinnennetze, die unter allen Umständen den politischen und gesellschaftlichen Status quo beibehalten wollen. Ein kurzer Rückblick: Im Januar 2008, kurz vor den Wahlen zum Hessischen Landtag, trug Wolfgang Clement mit dazu bei, dass in Hessen die linke SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti nicht den bisher regierenden CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch ablösen konnte. Denn Clement hatte vor den anstehenden Landtagswahlen öffentlich davor gewarnt, sie zu wählen, weil sie weder Atomkraftwerke noch neue Kohlekraftwerke wolle. Andrea Ypsilanti erzählte mir, dass sie sich und ihre »klare alternative linke Politik« von der rechten SPD-Führung und der Energiewirtschaft denunziert sehe. Denn bei der SPD-Führung in Berlin stieß sie mit ihrer Politik auf erbitterten Widerstand. Sie nannte im Interview auch den damaligen SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der in Hintergrundgesprächen Journalisten entsprechend »gefüttert« habe. »Es waren zwei starke Blöcke, die meine Politik und meinen Wahlsieg verhinderten. Die einen sagten, deine Politik widerspricht unserer politischen Programmatik. Der andere Block war die Energiewirtschaft, die ihre ureigenen Interessen durchsetzte.« Und gemeinsam waren beide stark – und entsprechend erfolgreich: Roland Koch durfte weiterregieren.
Um auf Wolfgang Clement zurückzukommen. Natürlich bestand bei seinen Warnungen vor der Wahl von Andrea Ypsilanti keinerlei Zusammenhang damit, dass er damals im Aufsichtsrat der RWE-Kraftwerkstochter RWE Power saß, Senior Advisor der Citigroup Global Markets Deutschland war und als Strategic Operational Partner der Investmentfirma RiverRock European Capital Partners zur Verfügung stand.10 Inzwischen ist er aus der SPD ausgetreten und jetzt Vorsitzender des Kuratoriums der Arbeitgeberinitiative INSM.
»Sorgfältig wird das Funktionieren des politischen Geschäfts verdeckt«, analysierte bereits im Jahr 2001 der Verfassungsrechtler Professor Hans Herbert von Arnim. »Die treibenden Kräfte, Motive, Absprachen und damit die Hintergründe und ursächlichen Zusammenhänge der Politik bleiben den Bürgern verborgen. Umso schockierender wirkt es, wenn durch Zufall doch einmal die Nebelwand aufreißt und dem Bürger den Blick freigibt auf einzelne Teile des Netzwerks von Macht und Interessen.«11 Nichts hat sich seit dieser Aussage von Hans Herbert von Arnim geändert – im Gegenteil. Diejenigen, die sich intensiv für Menschen einsetzen, ihnen helfen, ob Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Lehrer, Kindergärtnerinnen oder Altenpfleger, um nur einige zu nennen, werden allesamt miserabel bezahlt. Die gesellschaftliche und soziale Würdigung ihres Engagements, ihrer Verlässlichkeit, ihrer sozialen Empathie ist eher dürftig. Im öffentlichen Mediendiskurs tauchen sie fast nie oder allenfalls als Statisten auf. Ihre Stimme wird nicht gehört, obwohl sie doch eigentlich die Elite einer sozialen Demokratie repräsentieren.
Genau an den Schnittstellen zwischen der humanen Solidargemeinschaft eines demokratischen Rechtsstaats und den egomanischen Partikularinteressen einer sich als exklusiv verstehenden Elite stellt sich in meiner Naivität die zentrale Frage, welche ethischen Grundlagen heute Deutschland prägen. Das lässt sich noch zuspitzen: Herrschen in Deutschland, aufgrund der Ökonomisierung aller Bereiche der Gesellschaft, überhaupt noch ethische Grundsätze? Oder anders gefragt: Wie viele deutsche Top-Politiker, hochkarätige Bürokraten, Banker und Wirtschaftskapitäne haben dem Teufel namens soziale und ethische Verantwortungslosigkeit ihre Seele verkauft? Hatten sie jemals eine solche Seele, die irgendwann bedauerlicherweise durch die Realität des Machtmanagements verschüttet wurde?
Das sei ein Teil des Problems, sagt Christine Bauer-Jelinek, renommierte Wiener Psychotherapeutin und Wirtschaftscoach. Sie wird von vielen österreichischen wie deutschen Unternehmern und Politikern um Rat gebeten. »Die zu mir kommen, die wollen wirklich ein ethisches Verhalten praktizieren, haben Ideale. Aber sie sagen, wenn ich das versuche umzusetzen, habe ich keine Chance, wirtschaftlich und politisch zu überleben. Und ich habe doch Familie und muss mich um mein Einkommen kümmern.«12 Es ist also kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem unserer Gesellschaftsordnung, das ethisches Verhalten in den entscheidenden Führungspositionen – egal ob Politik, Bürokratie oder Wirtschaft – blockiert. Aber auch das stimmt: »Wer ethische Motive für sich in Anspruch nimmt, verfolgt womöglich in Wahrheit ganz private Ziele und kann genauso korrupt sein wie ein Geschäftsmann oder Politiker.«13
Die Frankfurter Börse ist ein zentraler Teil des wirtschaftlichen und damit politischen Machtapparats. Dirk Müller gilt dort als ausgewiesener Experte, und er ist der Ansicht: »Natürlich gibt es Politiker, die ethische Prinzipien leben, die sich selbst über die Verhältnisse aufregen. Am Ende setzen sich aber die durch, die weniger Skrupel haben als diejenigen, die die Nähe zur Macht und zum Geld suchen. Sie haben mehr Einfluss als diejenigen, die es sauber und anständig machen wollen. Ich habe hier am Parkett viele Leute getroffen, die eine hohe Ethik haben. Aber es sind die Schweinehunde, die in die entscheidenden Positionen kommen.« Und ein Geschäftsführer, der in verschiedenen deutschen Unternehmen gearbeitet hat, schrieb mir Folgendes: »In all diesen Unternehmen, und das schreibe ich nicht aus irgendeiner Verbitterung heraus, sondern ganz emotionslos, gab es generell keine unternehmerische Ethik, ob kleine oder große Unternehmen. Und gerade die Unternehmen, die sich die Company-Compliances14 ganz groß auf die Stirn geschrieben haben, zeigten die geringste Moral, man wird sogar getrieben, neue und sichere Wege zu finden.«
Kann es überhaupt unter den gegenwärtigen globalen kapitalistischen Verhältnissen eine Verbindung von Wirtschaft und Ethik geben? Diese Frage beschäftigt Professor Bernd Klees, den ehemaligen Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialrecht an der Fachhochschule Braunschweig. »Nicht wenige sehen in der eher künstlichen Beziehung zwischen Wirtschaft und Ethik einen unaufhebbaren Selbstwiderspruch, eine Art schwarzen Schimmel. So äußerte sich etwa George Soros dahingehend, dass Märkte nun einmal von Grund auf unmoralisch seien; Leute mit Skrupeln hätten in diesem Umfeld keine Chancen. Auch ein Manager eines global agierenden Unternehmens artikulierte sich auf einer vom Theologen Hans Küng geleiteten Tagung dahingehend kurz und bündig: ›In unserem Unternehmen ist das Wort Ethik verboten.‹ Sollten solche Haltungen vielfach zutreffen, wäre Wirtschaft unter den gegebenen Bedingungen ethischem Denken und dessen Fragestellungen gegenüber hermetisch abgeriegelt.«15
Doch was bedeutet heute die Forderung nach ethischem Verhalten in Wirtschaft oder Politik? Tatsächlich ist es nicht mehr als ein ideologischer Krückstock, um sich vor der entscheidenden Frage zu drücken – der politischen Systemfrage. Professor Wolfgang Kersting lehrte bis 2011 Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Er beschäftigte sich dabei vor allem mit den Themen Sozialstaat, Gerechtigkeit und Gesellschaftsordnung. »Die Gesellschaft ist geradezu süchtig nach Moral, nach Weisung und Orientierung. Niemals zuvor war Moral so ein gängiger Artikel, niemals zuvor konnte man mit Moral so viel Geld verdienen«, stellte er fest. Recht hat er ja, wenn man sieht, wer heutzutage über Ethik spricht. »Früher lehrte Not beten, heute ruft Not, die eingebildete nicht weniger als die wirkliche, den Ethiker auf den Plan. Ethik wird zum Allheilmittel; die Gesellschaft wird nach Professionalitäts-, Produktions- und Distributionszonen durchkämmt, und jeder dieser Regionen wird eine Ethik beigesellt, als eine Art Gouvernante des moralkritischen Anstands und der zivilisationskritischen Zucht.«16
Wenn es schon so schwierig ist, über die Notwendigkeit ethischer Normen als Grundlage einer demokratischen Bürgergesellschaft einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, bleibt nur eine zentrale Frage: Wie sieht es heute mit den hehren Verfassungsprinzipien in Wirklichkeit aus, mit dem Rechtsstaats-, dem Sozialstaats- und dem Demokratieprinzip? Nicht besonders gut, obgleich sicher noch besser als in den meisten vergleichbaren demokratischen Ländern. Daran sollte sich durch einen Anpassungsprozess, hin zu weniger demokratischen Prinzipien, auch nichts ändern. Genau einen solchen Anpassungsprozess jedoch wollen einflussreiche Protagonisten in Deutschland, ob in Politik oder Wirtschaft, erreichen. Sie sind dafür mitverantwortlich, dass diese Verfassungsprinzipien ausgehöhlt werden und damit das Vertrauen der Bürger in die Demokratie zerstört wird. Diese Protagonisten haben alle ein Gesicht, einen Namen. Um sie und ihre diversen Machenschaften sichtbar zu machen, darum geht es auch in Spinnennetz der Macht.
1 NDR Info, 11. August 2011.
2 Wilhelm Heitmeyer: »Wutgetränkte Apathie«, Der Spiegel, 3. April 2010.
3 www.solidarische-moderne.de/de/article/304.ein-neuer-modus-des-politischen-antworten-auf-die-demokratiekrise.html.
4 Bernd Greiner, zitiert nach Detlef Grumbach: »Re-Feudalisierung und Privatisierung der Macht«, dradio.de, 2. Juni 2010.
5 Zitiert nach Andreas Zielcke: »No-Go-Area am oberen Ende«, Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2010, S. 13.
6 Bundeskanzler war Gerhard Schröder.
7 Der Spiegel, 4. März 2009.
8 http://de.wikipedia.org/wiki/Initiative_Neue_Soziale_Marktwirtschaft.
9 Plusminus, ARD, 13. Oktober 2005.
10 Geoffrey Geuens: »Die Absahner«, Le Monde diplomatique, 8. Juni 2012.
11 Hans Herbert von Arnim: Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2001, S. 19.
12 Christine Bauer-Jelinek: Gespräch, Salzburg, 9. Oktober 2012.
13 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011, S. 221.
14 Der Begriff bedeutet die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen, regulatorischer Standards und der durch das Unternehmen selbst bestimmten ethischen Standards und Anforderungen.
15 Bernd Klees: »Wirtschaftsethik der Globalität«, http://prof-dr-bernd-klees.de/page5.php.
16 Wolfgang Kersting: Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist 2002, S. 297.