Das Buch

Liebe deine Nachbarn? Leichter gesagt als getan.

Das Fernglas ist ein Geschenk der Enkel, doch Marion interessiert sich nicht für Vögel. Die Nachbarn zu beobachten ist viel spannender. Hortensia ist die einzige Schwarze in dem wohlhabenden Viertel von Kapstadt. Und sie war schon immer eine Kämpferin, die es ablehnt, Schwäche zu zeigen.

Durch einen Hausschaden muss Marion vorübergehend bei Hortensia einziehen. Das zwingt die Frauen zu unwillkommener Nähe. Ihre Gespräche sind temperamentvoll, doch sie erkennen in der anderen auch etwas Vertrautes. Beide haben harte Verluste und Ungerechtigkeiten erfahren. Oft genug waren auch ihre eigenen Entscheidungen falsch. Mit dem Mut zur Wahrheit und der Kraft der neu gewonnen Freundschaft stellen sie sich den großen Fragen im Leben.

»Eine bemerkenswerte literarische Stimme. Ein Roman über Frauenleben mit feinen Nuancen und voller Hoffnung.« NoViolet Bulawayo, Autorin von »Wir brauchen neue Namen«.

Die Autorin

Yewande Omotoso, in Barbados geboren, wuchs in Nigeria auf. Anfang der neunziger Jahre zog sie mit ihrer Familie nach Südafrika. Ihr erster Roman »Bom Boy« wurde mit dem South African Literary Award für Debütautoren ausgezeichnet. Sie lebt in Johannesburg, wo sie als Architektin und Designerin arbeitet.

Yewande Omotoso

Die Frau nebenan

Roman

Aus dem Englischen von
Susanne Hornfeck

List

Die Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »The Woman Next Door«
bei Chatto and Windus, ein Imprint von
Vintage Publishing / Penguin Random House, London

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ISBN 978-3-8437-1476-1

© 2016 by Yewande Omotoso
© der deutschsprachigen Ausgabe
2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagmotiv: © Katie Edwards / Private Collection Bridgeman Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Emily Doreen Verona Atherley und
Percy Leroy Rice.
Für Ajibabi, Daramola, Oladumoye und
Gabriel Omotoso Falibuyan.

Die Mauer ist das, was sie trennt, zugleich aber auch das Mittel ihrer Verständigung.

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade

KAPITEL 1

Seit Peters Erkrankung hatte Hortensia sich angewöhnt, spazieren zu gehen. Nicht von Beginn an, erst als er schon sehr krank und ans Bett gefesselt war. Das erste Mal war an einem Mittwoch gewesen. Sie erinnerte sich noch genau, weil Bassey, der Koch, mittwochs seinen freien Tag hatte. Daher die Lammmedaillons in einer Tupperdose im Kühlschrank, die sie sich hätte aufwärmen und mit in Olivenöl geschmortem Wurzelgemüse hätte essen sollen, doch sie war nicht hungrig gewesen. Das Haus war ihr beengt vorgekommen, ein Unding bei einer Villa mit sechs Schlafzimmern, aber so hatte sie es empfunden.

»Ich gehe ein bisschen raus«, hatte sie die Treppe hinaufgerufen. Die Krankenschwestern hatten ihr eingeschärft, ihn nicht allein zu lassen, aber Hortensia hatte für die Schwestern und ihre Ansichten nur Verachtung übrig. Sie hielt es auch nicht für nötig, an seine Tür zu klopfen und Bescheid zu sagen. Sie war überzeugt, dass Peters Gehör, ganz im Gegensatz zu seinem verfallenden Körper, durchaus intakt war. Dass er sie durch die vielen Decken, durch die geschlossene Tür der Krankenstation, wie sie es nannte, ja sogar die Treppe hinunter hören konnte; dass er registrierte, wie sie die Haustür hinter sich schloss. Sie verließ das Grundstück durch das Gartenpförtchen, sah die Katterijn Avenue hinauf und hinunter und ging dann nach rechts auf den Koppie zu.

Auf dem Koppie spazieren zu gehen, einer kleinen Erhebung in der ansonsten flachen Landschaft, war naheliegend – und war es schon bei ihrem ersten Spaziergang gewesen. Da sie weder fit noch jung war (und zudem ihr Bein Beschwerden machte), sollte die Steigung sanft und leicht zu bewältigen sein, ihr aber dennoch die Genugtuung einer vollbrachten Leistung geben. Sie war zierlich und machte kleine Schritte. Jetzt im Alter bereitete ihr das Gehen Mühe, aber in ihrer Jugend war sie wegen der schmächtigen Statur und kraftvollen Bewegungen von weitem oft für ein Kind gehalten worden. Die kurz geschnittenen, eng am Kopf anliegenden Locken schienen diesen Eindruck zu bestätigen. Aus der Nähe jedoch hatte ihr dunkles, strenges Gesicht mit den scharfen Wangenknochen und den braunen Augen nichts Kindliches.

Oben auf dem Koppie streifte Hortensia gern durch Gräser und niederes Buschwerk. Sie trug Wanderstiefel und liebte das Knirschen, das die Sohlen in dem unwegsamen Gelände erzeugten. Bei jenem ersten Mal war dieses Gefühl überraschend gewesen; eigentlich hatte Hortensia für die Natur nicht viel übrig. Und angesichts ihres fortgeschrittenen Alters und mit mehr als sechzig Jahren unglücklicher Ehe hinter sich, erschien ihr dieses Vergnügen gefährdet. Das kleinste Ereignis konnte es vereiteln.

Auf der Kuppe des Koppie standen wild wuchernde Schlingpflanzen und vereinzelte Kiefern. Ein Pfad führte durch das hohe Gras, und obwohl er einmal angelegt worden sein musste, sah der Koppie in Hortensias Augen aus wie aufgegebenes Land. Ihr war aufgefallen, dass die Kinder aus der Nachbarschaft dort nicht spielten, und die Erwachsenen von Katterijn schienen den Hügel mit ihrem Starren einebnen zu wollen oder ihn bewusst zu übersehen.

Kurz nachdem sie begonnen hatte, dort hinaufzusteigen – um von einem sterbenden Mann wegzukommen, um ihm Raum zu geben, damit er schneller stürbe, um frische Luft zu schnappen; was davon zutraf, wusste sie nicht –, erwähnte eine der alten Schachteln im Komitee den Koppie, ja sie setzte ihn nachgerade auf die Agenda. Die Treffen der Katterijn-Eigentümerversammlung waren bekannt dafür, dass man dort Alltäglichkeiten aufbauschte, dem belanglosesten Detail noch Bedeutung abrang und sich stundenlang mit Banalitäten aufhielt, die den Teilnehmenden seit dem letzten Treffen widerfahren waren.

Der Koppie war auch insofern eine Überraschung, als Hortensia fünfundachtzig Jahre alt geworden war, ohne die meditative Kraft des Gehens erfahren zu haben. Wie hatte sie das verpassen können?, rügte sie sich selbst. Doch jetzt, wo Peter fast schon nicht mehr war, schien der rechte Moment gekommen zu sein. Sie nahm sich vor, sich viel zu bewegen und sich den Einsichten, die das Gehen hervorbrachte, nicht zu verschließen, den Rückblicken in die Vergangenheit, den Gewissenserforschungen. Es gab Dinge, die Hortensia zu meiden gelernt hatte. Ihr ganzes Leben war mit Arbeit ausgefüllt gewesen. Dafür hatte ihre Firma House of Braithwaite ihr Erfüllung gebracht und sie, vor allem in Dänemark, unter Designern und Textildesign-Studenten bekannt und berühmt gemacht.

Bevor sie den Koppie für sich entdeckt hatte, loderten diese Erinnerungen wie Feuerbälle im Zentrum ihrer Ohrläppchen. Kopfschmerzen hatte ihr Arzt in Nigeria das genannt, als es zum ersten Mal auftrat. Aber es waren keine Kopfschmerzen. Es war Verbitterung, und Hortensia fand heraus, dass sie, wenn sie die dafür verantwortlichen Erinnerungen ignorierte, zwar nicht glücklich, aber immerhin schmerzfrei war. Und dann, viele Jahre später, kam die Entdeckung des Gehens. Die Erkenntnis, dass diese Erinnerungen erträglich waren, solange sie sie beim Gehen heimsuchten. Lag es daran, dass sie sich zurückerinnerte und sich in einem weit offenen Raum gleichzeitig ungehindert vorwärtsbewegte? Nicht dass das Gehen ihr die Erinnerungen versüßt hätte. Sie waren von Wut begleitet. Da half es, dass der Koppie verwaist war und Hortensia ihre Wut herausschreien konnte und damit allenfalls die Eichhörnchen und, den kleinen Sandhaufen nach zu urteilen, eine Ameisenkolonie störte.

Katterijn war eine Enklave von etwa vierzig Häusern innerhalb Kapstadts Vorort Constantia. Nicht alle Besitzer bewohnten die Anwesen selber; viele, vor allem die Europäer, hatten vermietet und brüsteten sich bei Partys mit ihren afrikanischen Sommerhäusern. Den Ursprung der Siedlung bildete ein Weingut. Als Hortensia und Peter nach Südafrika gezogen waren, hatte die Maklerfirma großes Aufhebens um die glorreiche Vergangenheit Katterijns gemacht, die bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreichte. Der Holländer Van der Biljt (ein Name, den Hortensia unaussprechlich fand) war auf Betreiben der Holländischen Ostindiengesellschaft ans Kap gekommen. Damals blühte die Korruption in der Gesellschaft, und Van der Biljt war gegen seinen Willen dort hinbeordert worden, als Mitglied einer von der Direktion eingesetzten Kommission, die gegen Bestechlichkeit vorgehen sollte. Man hatte ihm die Landparzelle überlassen, um ihm seine Aufgabe zu versüßen und ihn zum Bleiben zu bewegen, nachdem sie abgeschlossen war. Er blieb und nutzte das Land, um Wein zu keltern und Obst und Gemüse anzubauen. Einige sagten, Katterijn sei der Name seiner Geliebten, einer Sklavin und Nebenfrau, gewesen; andere, denen daran gelegen war, die Geschichte zu beschönigen, behaupteten, es sei der Name seiner Tochter. Und was wurde aus den Sklaven?, hatte Hortensia gefragt, denn es lag in ihrer Natur, unangenehme Fragen zu stellen. Doch die Maklerin wusste nichts über die Sklaven von Katterijn und lenkte ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die herrliche Aussicht auf den Tafelberg.

Das war 1994 gewesen. In Südafrika hatte es Blutvergießen und Wahlen gegeben. Die USA richteten die Fußballweltmeisterschaft aus, und Nigeria schlug Bulgarien 3:0. Peter, der damals bereits krank war, interessierte sich für kaum etwas, außer für Fußball. Und während die Spieler den Ball sicher ins Tor lenkten, wurde in Nigeria ein demokratisch gewählter Präsident verhaftet; im Jahr zuvor war eine korrekt durchgeführte Wahl annulliert worden. Hortensia und Peter waren sich einig, dass sie Nigeria verlassen wollten. An dauerhafte Wärme gewöhnt, zögerten sie, in das raue englische Klima zurückzukehren. Südafrika mit seiner jungen Demokratie, den langen Sommern und der bekanntermaßen guten medizinischen Versorgung war die naheliegende Alternative, zumal Peters Gesundheitszustand sich verschlechtert hatte. Als sie ihr neues Heim bezogen, wurde Hortensia klar, dass sie die einzige Schwarze sein würde, die als Eigentümerin in Katterijn wohnte. Sie empfand Verachtung für ihre Umgebung, diese von Mauern geschützte weiße Oberschicht, und in dunklen Momenten verachtete sie sich selbst dafür, dass sie hier wohnte.

Trotz der Schönheit hatte Katterijn auch seine hässlichen Seiten, wie Hortensia erst allmählich herausfand. Sie, die klare Verhältnisse schätzte, übersah vorsätzlich die hübsche Oberfläche und entzog sich damit auch der Frage, wie etwas so Schönes Abscheu in ihr wecken konnte. Die Häuser waren in Weiß und Grün gehalten, umgeben von großen Rasenflächen mit Blumen und Büschen, eine manikürte Wildnis, die ursprünglich wirken sollte, es aber nicht war. Die Gärten waren wie gemalt, die Äste beschnitten und zurechtgebogen. Die Bewohner von Katterijn machten es sich zum Zeitvertreib, die Dinge so erscheinen zu lassen, wie sie nicht waren. Doch als Hortensia das alles schließlich herausfand, war sie zu erschöpft, um erneut umzuziehen. Außerdem fragte sie sich, ob ein solcher Ort nicht eigentlich genau das Richtige für sie war.

Einmal im Monat fand in Katterijn eine Eigentümerversammlung statt. Soweit Hortensia wusste, war das Komitee einst von Marion Agostino ins Leben gerufen worden, die ihre Nachbarin war und im Übrigen eine unangenehme Frau, wie Hortensia fand. Allerdings fand Hortensia die meisten Leute unangenehm. Sie hatte durch Zufall von den Versammlungen erfahren, niemand hatte es für nötig befunden, ihr mitzuteilen, dass sie als Eigentümerin berechtigt war, ihre Zeit mit den anderen Eigentümern zu vergeuden. Dieses Versäumnis, so war Hortensia damals überzeugt, geschah keineswegs versehentlich, die Information war ihr absichtlich vorenthalten worden, und was lag näher, als zu glauben, dass das an ihrer Hautfarbe lag. Mit diesem Wissen bewaffnet, hatte Hortensia sich auf den kurzen Weg zu Marions Haus gemacht und an der Tür geläutet.

»Hier ist Hortensia James von nebenan«, sagte sie in die Sprechanlage.

Das Ausbleiben jeglicher Willkommensbekundung von Seiten ihrer Nachbarin oder der anderen Anwohner hatte sie nicht weiter gestört. Schließlich waren Peter und sie nicht nach Katterijn gezogen, um Freundschaften zu schließen; sie waren den Großteil ihres Lebens ohne ausgekommen.

»Moment, ich rufe die Madam«, entgegnete eine körperlose Stimme.

Hortensia lehnte sich mit der Schulter an die Mauer.

»Hallo?« Das musste Marion sein.

»Ich bin’s, Hortensia von nebenan.«

»Ja?«

In dem Moment war Hortensia klar, dass Marion sie nicht hereinbitten würde. Sie ärgerte sich über die Geringschätzung, aber nur kurz, denn es gab wahrlich Wichtigeres.

»Ich nehme jetzt auch an den Sitzungen teil.« Sie wollte nicht den Anschein erwecken, als frage sie um Erlaubnis. »Den Sitzungen der Eigentümerversammlung.«

»Ach, ich wusste nicht, dass Sie die Eigentümer sind.«

Hortensia lauschte noch immer wie eine Bettlerin an der Sprechanlage. »Tja, das sind wir nun mal.«

»Oh, das war wohl ein Missverständnis. Und …« – Hortensia hörte regelrecht, wie Marion einen anderen Gang einlegte –, »der Herr ist Ihr Ehemann?« Es klang nach einem Vorwurf, nicht nach einer Frage.

»Wer, Peter? Ja.« Auch dieser Wortwechsel war nichts Neues für Hortensia. Sie hatte sich im London der 1950er Jahre in einen weißen Mann verliebt und war schon viele Male aufgefordert worden, ihre Beziehung zu bestätigen, ihre Verbindung, ja ihre Liebe zu beglaubigen. Schon nach dem ersten Jahr ihres Zusammenseins hatte sie Routine darin. »Ja, Peter ist mein Ehemann.«

»Verstehe.«

In der Stille, die folgte, schien Marion sich ihren nächsten Zug zurechtzulegen, doch dann hörte Hortensia nur einen Seufzer und hätte beinahe die Details für die nächste Sitzung verpasst. Marion schickte sogar noch Angaben zur Kleiderordnung hinterher.

»Wir kleiden uns sorgfältig für unsere Sitzungen, Mrs James. Wir legen Wert auf Etikette.« Es klang, als habe Hortensia in Fragen der Etikette Nachhilfe nötig.

Die Sitzungen schienen der Überwachung des Viertels zu dienen; man hielt ein Auge auf »zweifelhafte Elemente«, wie die Bibliothekarin der örtlichen Bücherei Hortensia erklärt hatte. Unsinn, hatte sie gedacht und sich schon nach wenigen Treffen in ihren Vorbehalten bestätigt gesehen. Es war die reine Wichtigtuerei. Alte Frauen mit Perücken, lackierten Fingernägeln und Lippenstift, der sich in den Fältchen um ihre Münder verlor; furchtsame, weiße Frauen aus reichen Familien, die sich einredeten, für den Lauf der Welt von Bedeutung zu sein. Hortensia ging nur zu den Treffen, um sich darüber zu amüsieren, wie diese alten Schachteln ernsthaft über belanglose Dinge schwatzten. Auf diese Weise konnte sie sich überlegen fühlen; eigentlich aber war es bloß ein Zeitvertreib, der sie von anderem ablenkte.

Manchmal jedoch schlug Hortensias Erheiterung in Empörung um. Zum Beispiel als ein schwarzes Ehepaar nach Katterijn gezogen war – allerdings nicht in eines der Häuser an der Avenue, sondern zur Miete in eine Doppelhaushälfte in einer Nebenstraße. Das Paar hatte zwei Kinder, und der Nachbar, ein kränklicher, zahnloser Alter, schimpfte, dass sie seinen Briefkasten in Ruhe lassen sollten. Die Sache kam bei der Sitzung zur Sprache. Er behauptete, die Kinder machten sich an seinem Briefkasten zu schaffen. Woher er das wisse. Hatte er sie dabei erwischt? Nein, aber er habe es gerochen, als er die Treppe herunterkam, um die Post zu holen. Er kenne den Geruch brauner Kinder. Diese Belästigungen müssten ein Ende haben, forderte er. Hortensia hatte ihn laut verflucht und die Sitzung verlassen. Schließlich hatte der Himmel ein Einsehen, die Belästigungen hörten auf – der Mann starb.

Trotzdem ging Hortensia immer wieder hin. Um die anderen zu verhöhnen, um ihnen zu beweisen, dass sie Heuchler waren, oder einfach, um etwas zu tun zu haben.

Hortensia sah auf ihre Armbanduhr. Normalerweise nahmen etwa zehn Personen teil, zehn von den rund dreißig Eigentümern. Heute Abend waren zwölf anwesend – alles Frauen, alle über sechzig, alle weiß. Typisch für Katterijn. Ausnahmsweise schien heute etwas Wichtiges auf der Tagesordnung zu stehen. »Entscheidend«, war das Wort, das ihre Nachbarin Marion gebraucht hatte.

»’n Abend«, grüßte Hortensia die verhuschte Bibliothekarin, deren Name ihr gerade nicht einfiel.

»Hortensia, gut, dass Sie gekommen sind. Der heutige Abend ist entscheidend.«

Offenbar war das Wort durch ein Rundschreiben Marions in Umlauf gebracht worden. Und tatsächlich spürte Hortensia eine ungewohnte Spannung im Raum. Wie immer setzte sie sich auf einen Stuhl neben der Tür. Sie tat das, um allen, die es sehen wollten, zu zeigen, dass sie jederzeit gehen konnte. Jeder konnte jederzeit gehen, doch sie legte besonderen Wert darauf, als Erste gehen zu können. »Guten Abend, meine Damen.« Marion Agostino schien die Worte durch die Nase zu pressen. Ihr Lächeln war in einem Rot eingefasst, viel zu grell für ihre weiße Haut, dachte Hortensia. Das Missfallen stand ihr ins Gesicht geschrieben, und sie hoffte, die anderen würden es bemerken. »Die heutige Sitzung ist von entscheidender Bedeutung.«

Ein Schauder überlief ihre in ein Bouquet aus Yardley, Anaïs Anaïs und Talkumpuder gehüllten Zuhörerinnen. Bisweilen hoffte Hortensia, die Frauen würden, wie sie selbst, nur so tun und wären eigentlich aus denselben Gründen da wie sie. Nicht wegen der Diskussionen über nicht reparierte Zäune und nicht abgeholten Bauschutt, auch nicht wegen der Hecken, die geschnitten gehörten, oder der drei Angebote, die es zu prüfen galt, sondern wegen des Versprechens auf etwas Harmloses, angenehm Langweiliges, womit man Zeit verbringen und dem eigenen Tod näherkommen und wieder eine kleine Etappe abhaken konnte. Nach so vielen, ihrer Ansicht nach zu vielen Lebensjahren wünschte Hortensia sich den Tod. Sie hatte nicht die Absicht, sich das Leben zu nehmen, immerhin gab es die Sitzungen der Katterijn-Eigentümerversammlung, mit denen sich ein wenig Zeit totschlagen ließ.

»Also.«

Hortensia beobachtete, wie Marion ihren mageren Hals reckte und die Finger über einer Kladde faltete, auf der in sorgfältig schablonierten Buchstaben »Katterijn-Eigentümerversammlung« stand. Diese abgegriffene Mappe – wie Hortensia war sie seit zwanzig Jahren bei den Treffen anwesend – galt ihr als Symbol für die Unsinnigkeit des Ganzen.

»Ja, es gibt da einen wichtigen Tagesordnungspunkt, aber zunächst möchte ich die Punkte besprechen, die beim letzten Treffen nicht behandelt wurden …«

Wie zu erwarten, kam Marion vom Hundertsten ins Tausendste, umkreiste ein Thema nach dem anderen. Marion, der Geier. Hortensia sah sich am Tisch um. Es ging um eine Schaukel im Park, unweit der Straße, die zurück ins Stadtzentrum führte. Eine Gruppe von Obdachlosen hatte sich dort breitgemacht. Man hatte Wäsche auf den Streben trocknen sehen, unangenehme Gerüche wahrgenommen. Jemand schlug vor, die Sache der Stadtverwaltung zu melden. Dann ging es um eine Baumgruppe, die jemandem die Aussicht auf den Tafelberg nahm, aber von jemandes Großmutter dort gepflanzt worden war. Und so fort.

»Gut, das wäre erledigt.« Marion setzte zum großen Coup des Abends an. Ihr Haar war in einer verwaschenen Farbe gefärbt, die kaschieren sollte, dass sie bereits über achtzig war. Bei einem der Treffen hatte Hortensia mitgehört, wie Marion sich als Frau Ende sechzig bezeichnete, und sich fast an dem lauwarmen Roibuschtee verschluckt, den sie gerade trank.

»Und nun, meine Damen, kommen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt. Ich weiß nicht, ob alle davon Kenntnis haben – ich meinerseits habe nur davon erfahren, weil meine älteste Enkelin, wie Sie sicher wissen, Jurastudentin ist. Nun, der Punkt ist, dass jemand Anspruch auf Grund und Boden in Katterijn erhoben hat. Die Mitteilung wurde in der Government Gazette veröffentlicht … und zwar von der Land Claims Commission.«

»Was ist das?«, erkundigte sich Sarah Clarke.

Sarah war die Einzige, die sich bei den Treffen gelegentlich zu Wort meldete. Sie war die Klatschbase der Siedlung und nur ausnahmsweise in der Rolle der Fragenden – eigentlich gab es kaum etwas, das Sarah Clarke nicht wusste.

»Das ist … die Kommission … sie kümmert sich um Landansprüche und dergleichen.«

Hortensia rollte mit den Augen. Sie wusste natürlich, worum es ging, und sagte das auch. Die Kommission war in den 1990ern gegründet worden, um den Entrechteten ihr Land zurückzugeben. Als Marion in ihre heilige Mappe griff, warf sie Hortensia einen giftigen Blick zu.

Sie zog einen Plan von Katterijn hervor und breitete ihn mit einer Andacht auf dem Tisch aus, wie sie Papier nur selten zuteil wurde.

»Nun haben wir da also«, sie erhob sich, um auf eine bestimmte Parzelle zu deuten, »eine Gruppe von«, sie blätterte in ihren Papieren, eher um sich wichtigzumachen, denn um einer Information willen, »drei Familien … oder besser gesagt eine Großfamilie, die Samsodiens.«

Marion blätterte weiter, und dieses Mal – das musste Hortensia zugestehen – suchte sie tatsächlich nach einer Information. Mehr noch, die Frau wirkte nervös.

»Worauf erheben sie Anspruch, Marion?«

»Einen Augenblick, Hortensia. Nur einen Moment.«

Sie fand, wonach sie suchte. »Das Verfahren wurde in diesem Monat wieder aufgenommen, also … was ich sagen wollte: Es wurde 1998 eingestellt und dann, aus verschiedenen Gründen, am ersten Juli –«

»Warum wurde es eingestellt?«, fragte eine Frau, deren Namen Hortensia sich nie merken konnte.

»Nun, Dolores, es wurde eingestellt, weil …« Sie blätterte wieder. »Das steht hier nicht, aber –«

»Man konnte seine Ansprüche bei der Kommission nur zwischen 1994 und 1998 geltend machen. Das war das Zeitfenster.« Hortensia begann die Sache Spaß zu machen. Es war ungewöhnlich, dass Marion sich das Heft so leicht aus der Hand nehmen ließ, umso mehr war Hortensia darauf erpicht, ihre Chance zu nutzen. Die anderen Mitglieder kannten die Rivalität zwischen den beiden und lehnten sich nur zu gern zurück, um dem Schauspiel seinen Lauf zu lassen. Es war bekannt, dass die beiden Frauen nicht nur eine Hecke teilten, sondern auch eine gesunde Abneigung füreinander hegten; beides kultivierten sie mit einem Elan, der nicht recht zu ihrem fortgeschrittenen Alter passen wollte.

Marion wirkte geknickt. Sie lieferte sich Gefechte mit Hortensia, wann immer die beiden sich begegneten, in der Warteschlange bei Woolworths oder vor der Post, aber die Treffen der Eigentümerversammlung schienen sakrosankt – sie war jedes Mal von neuem schockiert, wenn Hortensia ihre Autorität in Frage stellte.

»Die Kommission«, fuhr Hortensia fort und ignorierte das wütende Funkeln in Marions Augen, »war ein Ergebnis des Restitution of Land Rights Act, den die damals neue Regierung verabschiedet hat.« Hortensia betonte die Worte »neu« und »Regierung«, denn sie wusste, wie sehr das die Frauen irritierte.

»Schon gut, Hortensia. Wir sollten auf die Angelegenheit zurückkommen, mit der wir hier befasst sind. Die Geschichtsstunde können wir auf nach der Sitzung verschieben. Vielen Dank. Die Samsodiens beanspruchen also Land. Vornehmlich das Gelände des Vineyard. Es wundert mich, dass die von Struikers nicht hier sind. Ich werde sie anrufen und bitten, zur nächsten Sitzung zu kommen. Aber auch wenn es ihr Land ist, betrifft diese Angelegenheit uns alle. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die Grundstückspreise.«

Hortensia hasste die von Struikers, religiöse Eiferer der schlimmsten Sorte, denen das Weingut Katterijn gehörte. Sie produzierten dort überwiegend Weißwein, manchmal auch Rotwein, in limitierter Abfüllung. Beide Weine fand Hortensia ungenießbar. Nicht etwa wegen ihres Geschmacks; Hortensia verschmähte sie aus Prinzip. Bei dem Gedanken, etwas zu trinken, das durch die Hände von Ludmilla und Jan von Struiker gegangen war, wurde ihr übel.

»Sie widern mich an«, hatte Hortensia nach einem Abendessen bei Sarah gegenüber Peter geschimpft. Die von Struikers waren ebenfalls eingeladen gewesen, und Ludmilla hatte das Jahr erwähnt, in dem sie und Jannie nach Kapstadt gekommen waren, um ihr »kleines Projekt« zu starten. – »Es hat eine geschlagene Minute gedauert, bis sie kapiert hat, dass etwas faul war, wenn man in den Sechzigern in Südafrika ein Unternehmen gegründet hat.«

Ludmilla sprach das ›V‹ wie ein ›F‹ und glich der größten aus einem Satz von Matrjoschka-Puppen. Einmal, als Hortensia sich noch dazu herabließ, das Paar zu sich einzuladen, hatte sie ihr die Wangen zum Begrüßungskuss dargeboten und war mit einem Hauch schlechten Atems abgespeist worden. So sammelte sie, Detail für Detail, das belastende Material.

»Der Anspruch reicht bis in die Sechziger zurück, als die von Struikers das Land erworben haben. Ich habe die Unterlagen für die Anwesenden kopiert. Sie können sich alles genau durchlesen, dann diskutieren wir es in der nächsten Sitzung. Es ist eine lange Geschichte.«

»Wie meinen Sie das?« Zu gern hätte Hortensia einen Streit vom Zaun gebrochen.

»Nun, wir werden diese Forderung natürlich anfechten. Ich kann das auf keinen Fall zulassen, und Ludmilla und Jan sehen es sicherlich genauso. Wenn man diese Leute nur richtig unter Druck setzt, werden sie ihre Forderung kaum aufrechterhalten. Die sind doch bloß auf das schnelle Geld aus.«

»Wenn Sie von ›diesen Leuten‹ reden, meinen Sie Schwarze, stimmt’s?«

»Ich meine mit Sicherheit nicht Sie, und ich würde –«

»Ihre Borniertheit ist unerträglich, Marion. Ich habe Sie schon mehrfach dazu aufgefordert, Ihre rassistischen Sprüche zu Hause zu lassen.«

»Mit Verlaub, aber –«

»Meine Damen, bitte, ich schlage vor, dass wir die Sitzung für heute beenden. Das war’s doch, Marion, oder?« Sarah hatte durchaus ihre guten Seiten. Fett, wie sie war, bildete sie einen guten Puffer. »Wir reden bei unserem nächsten Treffen weiter. Müssen wir der Kommission eine förmliche Erwiderung schreiben? Vielleicht solltest du erst mal mit Ludmilla reden und uns dann informieren.«

»Ja, schon, aber …« Marion lächelte. Sie hat sich rasch wieder gefangen, dachte Hortensia bedauernd. »Da ist noch etwas anderes. Etwas, das das Anwesen der James betrifft.«

Hortensia horchte auf.

»Das ist ein besonderer Fall. Eigentlich kein Fall. Keine Forderung, eher eine Anfrage.« Marion kostete den Moment voll aus. Auch wenn sie kurz zuvor noch so zerstreut gewirkt hatte, schien sie alle Details dieses »besonderen Falles« im Kopf zu haben; sie konnte alles wortwörtlich hersagen, als hätte sie es selbst geschrieben.

»Ich habe einen Brief von einer Frau namens Beulah Gierdien erhalten. Ihre Großmutter hieß Annamarie und kam 1919 zur Welt, und zwar genau hier«, sagte Marion, und einige der Frauen sahen sich im Sitzungsraum um, als erwarteten sie, auf einem der Stühle oder dem dicken azurblauen Teppich die Nachgeburt vorzufinden. »Annamaries Mutter war Sklavin auf der Farm, deren Haupthaus die heutige Nummer 10 war.« Marion sah Hortensia vielsagend an. »Hier steht, dass auf der Nummer 12, also meinem Grundstück, die ehemaligen Sklavenunterkünfte lagen … nun, dieser Teil ist … hier scheinen sie sich geirrt zu haben. Ich werde das jedenfalls anfechten, aber wo war ich stehengeblieben? Ich muss sagen, es ist ein ziemlich umständliches und seltsames Ansinnen.« Sie genoss es sichtlich, die anderen auf die Folter zu spannen. »Es geht nicht um Geld, Hortensia, Sie können beruhigt sein.«

»Nun manchen Sie schon, Marion. Ich muss nach Hause.«

»An genau diesem Haus scheint Beulah Gierdien interessiert zu sein, Hortensia. Oder vielmehr an einem der Bäume auf dem Grundstück. Sie nennt ihn den ›Silber‹.«

»Der Silberbaum, ja. So einen habe ich. Und was will sie, den Baum?«

»Ganz so einfach ist es nicht.«

Agatha, die Bibliothekarin, hustete. Eine Frau mit frisch aufgespritzten Lippen goss sich Wasser in ein Glas, hatte aber Schwierigkeiten, daraus zu trinken. Einige streckten sich auf ihren Stühlen; ein Gähnen unterbrach die Stille.

»Offenbar markierten unsere Silberbäume – Ihr einer und mehrere von meinen – die Grenze zwischen den Grundstücken. Damals gab es keine Zäune. Jedenfalls scheint der Stamm Ihres Baumes irgendwelche Schnitzereien aufzuweisen.« Hier zog Marion eine Augenbraue hoch. »Sie müssen das natürlich überprüfen, Hortensia, aber sie schreibt hier etwas von Markierungen.«

»Markierungen wofür?«

»Dafür, wo Annamaries Kinder begraben liegen. Und wo sie, wie sie es in ihrem letzten Willen gewünscht hat, auch selbst begraben sein möchte.« Marion strahlte.

»Sie will ihre Großmutter auf meinem Grundstück begraben?«

»Nicht ganz. Sie möchte die Asche ihrer Großmutter auf Ihrem Grundstück beisetzen. Die Frau ist schon eine Weile tot.«

Über das erregte Stimmengewirr hinweg schnippte Hortensia mit den Fingern, damit Marion ihr die Dokumente herüberreichte. Es waren mehrere Blätter, in ordentlicher Handschrift beschrieben. Hortensia begann sie zu überfliegen.

»Vielleicht legen wir eine Pause ein, meine Damen, während Hortensia sich mit dem Inhalt vertraut macht.« Marion – ihr Gesicht die Güte selbst – erhob sich, und die anderen folgten.

»Und weshalb hat diese Frau Ihnen geschrieben?«

Marion zuckte mit den Schultern. »Sie hat den Kontakt zur Eigentümerversammlung durch das Constantiaberg Bulletin bekommen. Vermutlich hat sie gedacht, dass die Besitzer im Ausland leben, und sich deshalb an unser Komitee gewandt.« Es war immer eine Bestätigung, wenn Außenstehende die Bedeutung ihrer Arbeit erkannten.

Hortensia blieb sitzen, sie las weiter. Das Katterijn-Anwesen hatte ursprünglich 65 Hektar umfasst, war über die Jahre aber immer wieder aufgeteilt und weiterverkauft, aufgeteilt und weiterverkauft worden. In den 1960ern wurde nur noch ein kleiner Teil landwirtschaftlich genutzt, das Land, das jetzt den von Struikers gehörte.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Annamaries Großvater Jonah auf dem ursprünglichen Weingut gearbeitet. Er und eine Gruppe von Sklaven hatten außerdem die meisten Gebäude aus der damaligen Zeit errichtet, von denen einige noch standen: das Postamt zum Beispiel, schrieb Beulah, und die Bibliothek, die aus vormaligen Stallungen entstanden war. Sie hatten den Kreisverkehr angelegt und die meisten Bäume gepflanzt, die heute eine großzügige Parkanlage innerhalb des Vororts bildeten. Jonah war ein dunkelhäutiger Mann mit papierweißen Augen und kleinen Füßen, weswegen seine Frau ihn offenbar häufig geneckt hatte. Hortensia verzog das Gesicht, als sie das las. Genau jene Art von sentimentaler Erinnerung, die sich die Leute zurechtlegen und die sie immer so ärgerte.

Als Jonah und seine Frau ihre Kinder bekamen, waren sie Sklaven, doch im Alter lebten sie in Freiheit. Ihre Tochter Cessie brachte eine Tochter namens Annamarie zur Welt. Jonah und seine Frau durften nach ihrer Befreiung als Arbeiter auf dem Anwesen wohnen bleiben und erhielten Lohn. Diese Regelung galt auch für Annamaries Eltern, die in Katterijn blieben und dort ihre Tochter aufzogen. Annamarie lernte Lesen und Schreiben, doch 1939 wurde die kleine Familie durch den Land Act von 1913 gewaltsam vom Anwesen vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt war Annamarie 20 Jahre alt und selbst Ehefrau und Mutter. Aber ihr erstes Kind starb bei der Geburt und auch ein weiteres lebte nicht lange, worauf ihr Mann eines Nachts verschwand; seine Leiche wurde im See treibend gefunden. Der Vater und die Säuglinge waren unter dem Silberbaum auf dem Grundstück der heutigen Nummer 10 begraben worden.

Hortensia blickte auf. Marion stand kauend an dem Tisch mit den Erfrischungen, als ihre Blicke sich trafen. Marion bot ihr ein Lächeln an, das Hortensia ignorierte; sie wandte sich wieder den Aufzeichnungen von Beulah Gierdien zu.

Nach dieser Tragödie zog Annamarie nach Lavender Hill und heiratete ein zweites Mal. Aus dieser Ehe entsprang ein Sohn, Beulahs Vater.

Hortensia legte die Papiere beiseite.

Einige Mitglieder drängten sich bei den Pastetchen, denn die Sitzung dauerte länger als gewöhnlich, unerträglich lange. Jemand hatte selbstgemachte Müsliriegel mitgebracht, die zunächst verschmäht worden waren (zu viele Kalorien), doch schließlich griffen alle zu. Die Frauen beluden ihre Teller, füllten ihre Tassen und begaben sich wieder auf ihre Plätze.

»Da sehen Sie, Hortensia, diesmal geht es nicht um Ihr Lieblingsthema, die Rassenfrage. Ausnahmsweise sind wir mal auf derselben Seite.« Marions Lächeln schien ausbrechen und die Welt in Brand setzen zu wollen.

»Keinesfalls.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte keinesfalls, Marion. Wir sind nicht auf derselben Seite. Das sollten Sie mittlerweile wissen. Egal was Sie sagen, ich widerspreche. Wir werden niemals auf derselben Seite sein. Ich mache mich nicht mit Heuchlerinnen gemein.«

Marion war rot geworden. Und verstummt.

»Ich denke nicht daran, den Anspruch der Samsodiens zurückzuweisen. Lasst diejenigen, die ein Anrecht auf Grund und Boden verloren haben – Land, das ihnen von Ganoven vorenthalten wurde, wie ich hinzufügen möchte –, lasst diese Menschen ihre Forderungen stellen.«

»Und diese Person, diese Gierdien?«, brachte Marion kieksend heraus.

»Das« – Hortensia deutete auf die Blätter vor sich – »ist sentimentaler Schnickschnack, den ich zu ignorieren gedenke. Ich frage mich, wie Sie auf die Idee kommen konnten, die kostbare Zeit der Eigentümerversammlung mit solchen Bagatellen zu verschwenden.«

Marions Schultern sackten enttäuscht zusammen. Sarah Clarke schlürfte ihren Tee. Die Sitzung wurde vertagt.