Rosanne Parry

ALS DAS MEER BEBTE

Mit Illustrationen von Lindsay Moore

Aus dem amerikanischen Englisch von Uwe-Michael Gutzschhahn

Für Monica, meine werdende Leitmutter,
und für all unsere künftigen Wegfinderinnen
und treuen Anhänger

Inhalt

VORWORT

FAMILIE

LÄRM

VÖGEL

SAMMELPLATZ

LANGER TANZ

GEBURT

GESTOHLEN

BLUTBUCHT

FOLGEN

RETTUNG

LANGBOOTE

SEEBEBEN

TÄUSCHENDE MEERENGE

WELLEN

LANDENDE

SEEHUND

VERIRRT

BLAUE WILDNIS

DIE VERSCHWUNDENEN

JAGT

HEIMWÄRTS

GEFUNDEN

HUNGER

LACHS

SIPPE

Die »Warmwärts-Sippe«

Über Orcas

Die Sprache der Orcas

Orca-Zähne

Familienleben

Lachse

Die ersten Völker der Salischen See

Wegas Lebenraum

Gefahren in der Salischen See

Anmerkung der Autorin

Dank

VORWORT

Während ich diese Geschichte schreibe, sind die Orcas vor der Westküste der USA und Kanadas, die diese Erzählung inspiriert haben, so bedroht wie nie zuvor. Ihre Zahl ist so niedrig wie fast noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Umweltverschmutzung und Schiffslärm haben diese wunderbaren Tiere an den Rand des Aussterbens gebracht. Und was noch erschreckender ist: Genau die Aspekte des Klimawandels und der Umweltverschmutzung, die den Orcas schaden, sind auch für Menschen gefährlich.

Unsere Meere sind von allergrößter Bedeutung im Kampf gegen die globale Erderwärmung. Unsere Erde zu retten und den Klimawandel umzukehren, wird unsere entscheidende Lebensaufgabe sein.

Rosanne Parry

FAMILIE

Früh am Morgen, ehe der Wind des Tages erwacht, ehe das Schieben des Meeres sich in ein Ziehen verwandelt, gibt es nichts, das den Dunst stört, der über dem Wasser schwebt. Nichts außer mir.

Meine Familie schläft, alle nach oben gestiegen, um Atem zu holen am Ende einer ermüdenden Nacht, in der wir Lachse gesucht und nicht gefunden haben. Wir schwimmen Seite an Seite, ich schaukle in Rückenlage dicht unter der Oberfläche. Jeder Schlag meiner Flossen erzeugt einen Ring auf dem stillen Wasser. Die kleinen Wellen stupsen sanft gegen den Dunst. Er wirbelt auf und verzieht sich aus meinem Weg, als wenn ich etwas Riesiges wäre, eine steigende Flut oder ein Sturm.

Doch so groß bin ich nicht. Noch nicht. Fürs Erste bin ich bloß eine Tochter – nicht stark genug, um eine Jägerin wie Mutter zu sein, und auch nicht klug genug, um eine Wegfinderin wie Großmutter zu sein. Ich bin noch nicht so alt, Mutter zu sein wie meine Cousine Aquila, aber auch nicht mehr jung genug, um meine Familie zu verzücken, wie es die Kleinen mit ihrem Spiel und ihren süßen, zirpenden Stimmen tun. Meine Familie sagt, dass ich mal eine großartige Wegfinderin werde. Doch ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mir irgendwann alle folgen werden.

Wenn ich mit dem Morgendunst tanze, ist mir das egal. Ich wälze mich und lasse die Finne, meine Rückenflosse, durch die Haut des Meers brechen und den Nebel teilen. Ich schnaube eine Fontäne aus meinem Blasloch. Tschaaaah! Die Sonne klettert über den Rand der Berge und wirft einen goldenen Schein über unsere Heimatgewässer, die Salische See. Ich tauche unter ins Dunkle, hole Schwung und hebe den Kopf Richtung Himmel. Ich schlage die Flossen hart gegen den Druck des Wassers, lege sie eng an und schieße hinaus in die Luft. Ich stelle mir vor, mich zu verwandeln in einen Raben, der zwischen den Wolken emporsteigt. Dann neigt sich mein Körper und ich stoße mit einem seligen Klatscher ins Wasser zurück.

Als ich schließlich wieder an die Oberfläche komme, ist Großmutter da und schaut mir zu. »Schönheit ist Nahrung für den Kopf«, sagt sie.

Wegfinderinnen sind so. Sie sagen lauter unsinnige Dinge. Ich hatte so sehr versucht, nicht an Nahrung zu denken, hatte gehofft, dass das Verlangen dann weniger würde. Aber nun hat Großmutter mich dran erinnert und der Hunger kehrt brüllend wie ein Wintersturm zurück.

»Friss jeden Tag ein bisschen Schönheit, meine Wega, mein leuchtender Stern«, sagt Großmutter. Sie kommt herüber und stupst mich an. »Die Schönheit wird dir Kraft geben.«

Das ergibt doch gar keinen Sinn!, denke ich, aber ich schweige. Niemand stellt eine Wegfinderin infrage. Wir folgen ihr. Immer.

Während der Rest der Familie aufwacht, jage ich die letzten Nebelschleier und beiße sicherheitshalber in sie hinein. Nur für den Fall. Doch sie sind nichts weiter als ein Nieselregen auf meiner Zunge.

Wir versammeln uns um Mutter und Großmutter, schütteln den Schlaf aus dem Körper und folgen ihnen.

»Unsere Chinooks werden zurückkommen«, sagt Großmutter. »Unsere Königslachse. Das haben sie immer getan, seit der Zeit des Eises sind sie immer zurückgekommen.«

Sie führt uns weiter, wählt einen Weg um die Inseln und Buchten herum. Mutter schwimmt Schulter an Schulter mit ihr. Sie ist die Klügste unter den Jägern. Wenn sie unseren Lachs nicht findet, dann findet ihn niemand. Und niemand braucht unseren Lachs mehr als sie: Ihr Bauch wird jeden Tag runder. Wenn ich einen Schwall von Klicklauten aussende, kann ich im Innern meine Schwester sehen, die bald auf die Welt kommt. Es war ein hartes Jahr für uns, ein mageres Jahr. Aber Neugeborene bedeuten immer Glück und auf meine Schwester habe ich schon mein ganzes Leben gewartet.

Wir fallen in unsere gewohnten Fanggründe ein. Großmutter schwimmt voraus. Mutter stupst die Jungen, Deneb und Altair, in die Mitte, wo sie gut unter Kontrolle sind. Onkel Orion schwimmt auf der einen Seite von ihnen, Altairs Mutter Aquila auf der andern. Ich habe keinen bestimmten Platz und zuckle hinterher. So kann ich alle sehen, aber niemand achtet auf mich.

Wir sind ein toller Anblick, wenn wir unterwegs sind. Eine Finne hinter der andern schneidet durchs Wasser und erhebt sich wie eine Meereswelle, schnell, geschmeidig und stark. Haie verziehen sich ins Dunkel, wenn wir in Sicht kommen. Aale gleiten tiefer in ihre Höhlen. Möwen stieben auseinander. Seehunde schauen uns von ihren Ruheplätzen mit ihren großen Augen zu.

Den ganzen Tag schickt Mutter ihren Klickschwall in die seichten Stellen und unter die Felsbögen. Sie umkreist Vorsprünge, die im Wasser aufragen, und von Wäldern bewachsene Inseln auf der Suche nach unserem Lachs. Wir alle suchen. Das Meer ist voll von Fischen, aber sie sind nicht groß genug, nicht fleischig genug, nicht reichhaltig genug für uns. Sie sind keine Lachse.

Das Wasser wechselt die Richtung, hört auf zu ziehen, fängt an zu schieben. Ein weiterer langer Tag der Jagd, ein weiterer Tag des Hungerns. Die Jungen sind inzwischen bereit, alles zu fressen, was sich bewegt. Ich kann ihnen das nicht verdenken.

»Fisch! Fisch! Fisch!«, singt Altair, als mein Bruder Deneb einen der stachligen Kameraden aus den Felsvorsprüngen herausspült, in denen sie sich verstecken. Was die angeht, habe ich meine Lektion schon gelernt! Im nächsten Moment spucken die beiden Kleinen die spitzen Stücke wieder aus.

Die Sonne sinkt, als wir eine weniger felsige Stelle mit weichem Grund finden. Ich erspähe zwei Augen im Schlamm – sie blinzeln. Ich stoppe meinen Blasenstrom und nehme das Maul voll Wasser. An den Augen kann man nie erkennen, wie groß ein Fisch ist. In meiner Fantasie ist er groß genug, um uns alle satt zu machen. Ich spritze das Wasser aus meinem Maul. Es hebt den Fisch aus dem Schlamm und mit einem Schnapp habe ich ihn! Ich drücke zu, bis der Mittelknochen knackt. Alle Fische haben einen Mittelknochen, und wenn man den bricht, hören sie auf zu kämpfen. Ich schüttle Sand und Schlamm von ihm ab.

Der Fisch ist klein. Kaum ein richtiger Happen. Ich stoße eine traurige Luftblase aus und steige nach oben, um Atem zu holen. Deneb erspäht meinen Fang sofort.

»Teilen! Teilen!«

Das sind die ersten Worte, die jedes Waljunge lernt. Wir sind die einzigen Meeresbewohner, die ihre Nahrung teilen.

»Meine schlaue Wega!«, sagt Mutter. »Sieht einfach alles. Es braucht ein gutes Auge, um einen Plattfisch zu entdecken.«

Jeder von uns weiß, dass Plattfische nach nichts schmecken, es ist fast wie Nebel fressen.

»Nur ein kleiner«, sage ich.

Ich biete ihr den ersten Bissen an. Sie teilt ihre Hälfte, also tu ich es auch. Das Stück, das für mich übrig bleibt, lohnt sich kaum runterzuschlucken. Ich wünschte, ich hätte Mutter den ganzen Fisch gegeben. Ich schaue mit meinem Klickschwall durch ihren Bauch und sehe die zusammengerollte Gestalt meiner kleinen Schwester.

»Sie wächst genau so, wie sie soll«, sagt Mutter. »Das verspreche ich dir.«

Es ist nicht nett, in jemanden hineinzusehen, aber ich kann es einfach nicht lassen zu schauen, ob mit Kapella alles in Ordnung ist. Ich reibe ganz leicht mit dem Kopf über Mutters prallen Bauch.

Eine Schwester – meine Schwester!

Jemand, den ich lieben und auf den ich aufpassen kann. Jemand, der an meiner Seite schwimmen und die Arbeit als Wegfinderin mit mir teilen wird.

Großmutter führt uns aus dem seichten und schlickigen Zufluss an eine Stelle, wo das Ufer der Insel steil und felsig ist. Hier ist das Schieben des Meers stärker. Wir ruhen aus und lassen uns tragen.

Nahe der Oberfläche gibt es eine Höhle im Gestein, erinnere ich mich. Ich schwimme näher heran und wie beim letzten Mal, als wir hier vorbeikamen, schläft im Innern eine Seehundmutter mit ihrem Jungen. Ein weiterer Seehund gleitet am Höhleneingang vorbei und kaut sich ungerührt durch die Haut eines Stachelfischs. Vielleicht wäre es doch nicht schlecht, auch mal so einen zu probieren! Hungrig genug bin ich allemal.

Ich tauche unter Wasser und schicke meinen Klickschwall aus. Ich warte auf das Echo, hebe das Kinn, um noch den kleinsten Laut aufzufangen. Auf diese Weise sehe ich die Spalten und Klüfte im Felsen, wo Fische sich gern verstecken, so deutlich, als wenn die Sonne bis dort hinschiene. Ich entdecke ein paar von den stacheligen Gesellen und dann … einen großen silbernen Blitz. Rasch dreh ich mich um. Sende wieder Klicklaute aus. Ja, o ja! Glatte Flanken, grau gesprenkelt, hakenförmiges Maul und sehr schnell.

Ein Lachs! Ein Silberlachs!

Ich schieße nach vorn, er weicht aus in Richtung der Felsen, auf der Suche nach einer Nische, die zu schmal ist für meine Zähne, zu schmal, um ihm zu folgen. Ich bleibe an ihm dran und er schwimmt im Zickzack an der Steilwand der Klippe hoch. Bei der Jagd zerkratze ich mir die Flanke, doch ich kann ihn schon schmecken. Ich schnappe zu – daneben. Er springt. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schieße ebenfalls aus dem Wasser. Ich fange ihn nicht in der Luft, aber mit einem Schwung meines Kopfs schlage ich ihn gegen die Klippe. Er stürzt zurück ins Meer, betäubt. Ich packe ihn, drücke die Zähne tief in seine fleischigen Seiten. Lachs! Endlich!

Einen Moment lang halte ich ihn bloß im Maul und stoße runde Bläschen des Glücks aus. Ich habe ihn ganz allein gefangen! Einen Silberlachs – nicht so groß wie unsere Königslachse, doch er ist Nahrung, echte Nahrung. Ich spüre das ölige Wohlgefühl in meinem Mund. Er gehört mir! Nur mir. Ich könnte ihn komplett verschlingen. Meine Familie ist ein Stück vorausgeschwommen und dreht gerade in die nächste Drift zwischen den Inseln ab. Sie würden es nie erfahren, wenn ich den Fisch nicht teilte. Ich probiere ein kleines Stück. Es ist so köstlich, wie ich es in Erinnerung habe.

Ich hebe den Kopf aus dem Wasser und sehe zu, wie meine Familie dicht beisammen unter dem Sternenhimmel dahinschwimmt. Einer hinter dem andern, stoßen sie ihre Fontänen aus Luft, Wasser und Salz aus. Große Fontänen von Mutter und Großmutter, mittelgroße von Aquila, die nur zehn Fangzeiten älter als ich ist. Der alte Onkel Orion hat den größten Blas von allen. Deneb und Altair haben den kleinsten. Gleich werden sie um eine Klippe biegen, sodass sie mich nicht mal mehr mit dem stärksten Klickschwall wahrnehmen könnten. Mein Herz rast. Ich war noch nie allein. Ich könnte den ganzen Lachs auffressen und dann hinterherschwimmen. Ich könnte. Mein Magen gluckert vor Begeisterung bei dem Gedanken.

Und dann sehe ich, wie Onkel Orions große Rückenflosse umdreht, und ich spüre, wie sein Klickschwall über mich hinwegstreift. Mutter ruft meinen Namen und dann rufen auch Großmutter und Aquila. Sie sind alle hungrig. Trotzdem warten sie. Auf mich.

Von einem Herzschlag zum nächsten sind meine gierigen Gedanken fort. Ein kleiner Bissen gemeinsam ist mehr als ein Festmahl allein. So viel mehr! Ich trage meinen Lachs zu ihnen und wir teilen. Er reicht nicht. Aber wir sind zusammen, egal was das Schieben und Ziehen des Meeres bringen mag.

LÄRM

Wega hat einen Lachs gefangen. Einen großen! Na gut, einen mittelgroßen. Ich springe knapp über sie weg, um es zu feiern. Sie hält den Lachs zwischen den Zähnen und ich nehme mir einen Bissen. Es ist lange her, seit wir das letzte Mal einen Silberlachs gefunden haben. Alle sagen, Silberlachse sind nicht so gut wie Königslachse, aber bei meinem Hunger kümmert mich das überhaupt nicht.

»Gut gejagt«, sagt Mutter.

»Ist nicht einfach, ganz allein einen Lachs zu fangen«, ergänzt Großmutter. »Wie hast du ihn entdeckt?«

»Also …« Wega wirkt ein bisschen aufgeregt. Ich bin froh, dass nicht ich Großmutter antworten muss. Meine Schwester ist so viel mutiger als ich! »Ich habe eine Felswand mit Spalten und Klüften gesehen. Stachelige Fische verstecken sich dort gerne, deshalb dachte ich, vielleicht versteckt sich da auch ein Lachs. Ich war nicht sicher, ob ich einen finden würde«, ergänzt Wega. »Es war einfach nur so ein Gefühl.«

Großmutter schenkt ihr ein seltenes Nicken der Zustimmung.

»Es ist an der Zeit«, sagt Mutter. »Du denkst wie eine Jägerin. Komm und führ uns wie eine Wegfinderin.«

Ich sehe, wie Wega an ihrem ganzen weißen Bauch entlang rot wird.

»Wohl wahr, es ist an der Zeit«, sagt Großmutter.

Sie stupst Wega in die Wegfinder-Position. Das hat es noch nie gegeben! Manchmal führt Aquila uns, wenn wir in einem einfachen Teil des Meers schwimmen. Ich dachte, Wega müsse viel älter werden, ehe sie dran ist. Ein Zittern geht durch ihren Körper vor Stolz und Kraft. Sie ist bereit!

»Seid ihr sicher?«, fragt sie, weil eine Wegfinderin niemals prahlt.

»Wir lernen zu führen, indem wir es versuchen«, antwortet Mutter. »Und indem wir einander vertrauen. Du weißt den Weg.«

»Dein Stern, der dir den Namen gegeben hat, steht oben am Himmel«, sagt Großmutter ernst. »Die Lachszeit liegt vor uns. Unsere Sippe wird sich sammeln.«

»Ich kenne den Weg«, sagt Aquila eifrig. »Der Sammelplatz liegt warmwärts, zwischen den Mittelinseln hindurch …«

Sie redet und redet. Aquila weiß immer alles. Ständig ist sie an Großmutters Seite und jedes Mal hat sie die richtige Antwort. Und dauernd unterbricht sie Wega. Dafür könnte ich ihr in den Schwanz beißen!

Ich will mich gerade zu Aquila stehlen, als Onkel Orion mich abfängt. Er stößt eine große warnende Luftblase unter meinem Kinn aus. Ich verstehe nicht, wie sich ein so alter Kerl derart schnell bewegen kann. Aber ich drehe gehorsam ab und schicke stattdessen Wega ein Zirpen der Ermutigung.

»Ich werde den Weg finden«, sagt sie.

Sie wird uns führen! Ich springe, drehe mich, klatsche ins Wasser. Ich schwimme einen Kreis um sie herum, schlage meine Fluke, die Schwanzflosse, aufs Wasser, um noch dem kleinsten Fisch zu verkünden, dass meine Schwester – meine Wega – heute die Führung übernehmen wird. Dabei ist sie erst elf Fangzeiten alt – und doch bereits eine Legende!

Ich ordne mich so ein, dass ich an erster Stelle hinter ihr bin. Außerdem halte ich mich bereit, Aquila in die Fluke zu beißen, wenn sie wieder die Besserwisserin herauskehrt.

»Schwimm voraus«, sagt Mutter.

Wega schickt ihren Klickschwall in die Wassermassen vor uns, obwohl ich weiß, dass sie alles genau im Kopf hat. Sie kennt zu jedem Algenwald und zu jedem komisch geformten Felsen eine Geschichte. Sie weiß, wo die Netzboote sind und wie man sich nicht drin verheddert. Es gibt viele Wege zwischen den Mittelinseln hindurch, die uns alle zum Sammelplatz führen können. Aber Wega wird sich für den besten entscheiden: den Weg, wo es Fische zu fressen gibt.

Als wir uns aufmachen, singen Aquila und Mutter dem kleinen Altair »Seite an Seite und Finne an Fluke« vor, damit er dicht bei ihnen bleibt. Genauso haben sie auch mir das Lied immer vorgesungen, als ich noch klein war.

Ich höre, wie Wega sich die Geschichte von jedem Meereszeichen vorsagt, an dem wir vorbeikommen – der Steilhang mit dem Vorsprung voller Vogelnester … die Felsspitze mit dem Baum, der vom Blitz getroffen wurde … das gesunkene Boot mit all den Aalen im Innern. Ich wiederhole jedes Wegzeichen, wenn sie es ausspricht. Wega wird unsere Sippe auch dann noch führen, wenn sie alt ist. Und ich? Ich werde eine Finne haben, so groß wie die von Onkel Orion, und auf dem Rücken eine üble Narbe tragen wie er, die von meinen mutigen Heldentaten kündet.

Ein Stück voraus gibt es einen Durchlass zwischen der steil aufragenden Insel und der mit den flachen Hängen, wo das Wasser so schnell strömt wie der Wind. Wega gönnt uns einen Augenblick Ruhe, während sie sich umschaut.

»Das Schieben ist stark hier«, ruft sie. »Aber danach folgen einfachere Gewässer.« Sie ermutigt uns, wie es Wegfinderinnen immer tun.

Plötzlich ertönt das schreckliche Dröhnen eines Menschenträgers. Der Lärm ist so laut, dass er alles verdunkelt. Ich hebe meinen Kopf aus dem Wasser, um dem Geräusch zu entfliehen. Die Knurrer des Boots wühlen das Meer auf, sie kommen direkt auf uns zu. Wieso hat Wega uns diesen Weg geführt? Wir müssen hier weg!

Mein Herz rast. Wega wird uns in eine andere Richtung lenken, da bin ich ganz sicher. In der letzten Fangzeit wurde sie von dem Knurrer eines großen Boots gebissen. Die Kerbe an ihrer Finne ist immer noch sichtbar. Sie hasst die großen Boote!

Wega schwebt im Wasser, vollkommen still. Ich kann gar nicht aufhören zu zittern, aber sie zuckt noch nicht mal. So mutig! Sie hat ganz eindeutig einen Plan. Wir könnten uns zurückziehen und den langen Weg außen um die Inseln herum nehmen. Ich bin müde, aber ich werde ihr überallhin folgen.

Wega schaut zu Mutter, sendet einen Klickschwall durch ihren Bauch, um das Junge zu sehen. Mutter ist viel müder als ich. Der lange Weg außen herum wird ihr schwerfallen. Doch ich werde ihr helfen. Sie kann in meinem Schatten schwimmen, wenn sie erschöpft ist. Ich beobachte Wega und warte auf ihr Zeichen, umzukehren.

Die Lichter des Menschenträgers scheinen in alle Richtungen. Das Tuten des Horns ist lauter als eine ganze Kolonie von Seehunden. Wir müssen hier weg, jetzt!

»Weiter!«, ruft Wega da. »Bleibt dicht zusammen.« Und sie stürzt sich vor dem Menschenträger in den Durchlass.

Einen Moment lang verharren wir und versuchen zu verstehen, wieso sie der Gefahr nicht ausweicht. Doch sie ist meine Schwester – meine Wegfinderin – und ich bin der Erste, der ihr folgt.

»Wir kommen!«, rufe ich ihr über den Lärm hinweg zu.

Sie weiß, dass wir es schaffen werden, rechtzeitig vorbei zu gelangen. Warum sonst würde sie es tun? Ich zucke zusammen vor dem stampfenden Lärm und schwimme an ihre Seite. Unsere Familie folgt.

Wega versucht, Tempo zu machen, aber der kleine Altair kann nicht schneller, selbst wenn Aquila ihn vorwärtsstupst. Ich sende einen Klickschwall, um unseren Weg zu sehen, doch der Lärm überdröhnt meine Laute und um mich herum wird es dunkel.

Ich glaube, Wega rufen zu hören: »Kehrt um!« Oder vielleicht heißt es auch: »Macht schneller!«

Ich drehe mich wieder und wieder um, doch ich sehe und spüre meine Familie nicht. Die Knurrer peitschen riesige Schaumwolken ins Wasser. Der Menschenträger ist jetzt fast über uns. Wieder höre ich ein Rufen, aber ich verstehe nicht, was ich tun soll. Ich strecke meine Flipper, die Schwimmflossen, aus. Ich weiß, meine Familie ist in der Nähe, aber bei diesem Lärm scheint es, als wäre sie einen Ozean weit entfernt. Das Einzige, was ich durch den Krach höre, ist mein rasendes Herz.

Dann tauchen Mutter und Großmutter aus dem Dunkel auf und schwimmen ganz nah an mich heran. Ich drücke mich an sie und zittere vor Erleichterung. Ich möchte aufsteigen und Luft holen, doch der Menschenträger ist zu nah. Ich drücke mein Blasloch fest zusammen und warte. Mutter und Großmutter vereinigen ihren Klickschwall. Ein schwacher Schimmer unseres Wegs scheint vor uns auf. Ich schwimme in den Schatten der stärksten Wegfinderinnen meiner Familie.

Sie führen uns unter den Menschenträger. Wega zittert, obwohl wir ein ganzes Stück weg von den beißenden Zähnen am hinteren Ende sind. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schwimme schneller, fort von den Knurrern, fort von dem Stöhn-Ratter-Surr, raus aus der Meerenge zwischen den Inseln, hinein in das seichte Wasser einer geschützten Bucht. Ich stürze mich in die hohen, dünnen Stängel eines Algenwalds und schnappe nach Luft.

Die Hitze der Panik in meinem Innern lässt nach und auch das Zittern hört auf. Mir ist kalt und ich schäme mich. Wega hat uns falsch geführt. Wie konnte sie das nur tun?

»Das war knapp!«, schreie ich. »Warum hast du das gemacht?«

Einen Atemzug später bereue ich es schon. Wer bin ich, dass ich eine Wegfinderin infrage stelle? Onkel Orion würde das niemals tun. Es war Wegas erster Versuch. Ihr Herz rast genauso wie meines. Mutter und Großmutter gehen dazwischen, besänftigen uns und preisen unseren Mut.

Niemand spricht mit Wega. Sie hält sich fern von uns.

Wir ruhen zusammen aus in der Bucht, dämmern, wachen auf und dämmern weiter. Die glatten, flachen Wedel des Seetangs streichen über unsere Flanken und das stete Rollen der Wellen schaukelt uns. Kurz bevor die Sonne aufgeht, führt Großmutter uns aus dem Algenwald ins offene Wasser. Als sie sich dem Meer zuwendet und in Richtung Sammelplatz aufbricht, dreht Wega ab und schwimmt fort.

Allein.

Ich kann es nicht glauben. Zwei Fehler in einer Nacht! Soll ich es Mutter sagen? Soll ich es nicht sagen? Alle haben den Blick auf Großmutter gerichtet. Sie können es sich nicht mal vorstellen, die Familie zu verlassen.

Ich kann es mir vorstellen. Mein Herz jagt meiner Schwester nach, doch der Rest meines Körpers bleibt, wo er ist. Ich weiß, wo ich hingehöre. Trotzdem fühle ich mich wie zerrissen.

VÖGEL

Ich habe sie falsch geführt. Wie konnte ich nur so eine schlechte Entscheidung treff en? Der Lärm des Menschenträgers dröhnt mir immer noch in den Ohren. Mein Herz pocht. Ich war mir so sicher, wir würden vorbeikommen – doch das Boot war schneller. Und Altair war so langsam.

Was, wenn Mutter oder Kapella in ihrem Bauch verletzt worden wären? Ohne mich geht es ihnen besser. Aquila ist die, die sie brauchen. Sie wird einmal eine perfekte Wegfinderin sein.

Das Meer breitet sich vor