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© 2021 Michael Richter
Umschlagbild © Susanne Richter
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7557-0610-6
2., korrigierte Auflage 2022
Wir würden nicht wissen, dass es uns gibt, wenn es uns nicht gäbe. Das klingt tautologisch, birgt aber methodisches Potential. Es ist das Merkmal selbstbewussten Lebens, zu wissen, dass es da ist. Damit besteht ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber Lebensformen die kein oder kaum ein Selbstbewusstsein haben. Da wir sind, ist auch klar, dass wir möglich waren. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass, wenn das Universum uns hervorgebracht hat, es auch Hinweise darauf geben muss, wie und warum wir ausgerechnet die wurden, die wir sind. Entsprechende Fragen werden heute von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen mit Blick auf das Anthropische Prinzip kontrovers diskutiert. Sie werden gestellt, weil die Welt nicht erst seit Kenntnis der Feinabstimmungen von physikalischen Gesetzen, Naturkonstanten und Elementen den Eindruck erweckt, sie sei wegen uns so wie sie ist. Ist der Eindruck berechtigt oder lediglich ein Produkt unserer Egomanie und eines anthropozentrischen Weltbildes?
Normalerweise werden in den Naturwissenschaften Anfangsbedingungen und Naturgesetze definiert, um daraus Entwicklungen abzuleiten. Beim Anthropischen Prinzip beginnt man hingegen beim jetzigen Endzustand, also bei der Tatsache, dass wir existieren, und versucht, „die Anfangssituation so einzugrenzen, dass aus ihr ein Universum hervorgegangen sein müsste, das menschliche Leben entwickelt“. (Dürr 1997, 109) Durch das Prinzip lassen sich exaktere Fragen stellen und klarere Antworten darüber erwarten, in welchem Verhältnis der Beginn der Welt zum momentanen Augenblick eines jeden Menschen steht. Wir wissen nicht, ob die Welt schon von Anfang an darauf angelegt war, Intelligenz hervorzubringen, oder ob sich dies erst später irgendwie ergab und wir das Ergebnis von Myriaden an Zufällen und chaotischen Prozessen sind. Mit Blick auf den Urknall ist zu fragen, was seit damals, vor etwa 13,8 Milliarden Erdenjahren, alles geschehen und unterbleiben musste, damit wir hier und heute darüber sprechen können.
Gehen wir direkt in medias res und schauen uns Fragen an, die Anlass zum Schreiben dieses Buch waren. Die wichtigste hier behandelte Frage ist die, wie sich der mit dem Anthropischen Prinzip postulierte, scheinbar menschenfreundliche Impuls, über mehrere Milliarden Jahre hinweg bis zu unserer Existenz aufbauen oder fortsetzen konnte, obwohl es uns während des mit Abstand größten Zeitraums gar nicht gab. Lässt sich erkennen, was das Anthropische Prinzip in der uns real erscheinenden Wirklichkeit konkret bedeutet? Welche Einflüsse hatte es auf den Verlauf der kosmischen, biologischen und kulturellen Evolution? Wie muss man sich das Wirken eines solchen Prinzips vorstellen, das über Jahrmilliarden Jahre auf kleiner Flamme vor sich hinköchelte, ohne dass Menschen oder vergleichbare intelligente Lebensformen absehbar waren? Lässt sich dies in physikalischen und mathematischen Formeln ausdrücken oder besser in Metaphern? Schließt es die Lücke zwischen Makro- und Mikrokosmos, die eine Zusammenführung von Quantenphysik und Relativitätstheorie so schwer macht? Schwingt das Anthropische Prinzip im Bereich des Mesokosmos gar den Zepter und verbindet Notwendiges mit Zufälligem? Gehört es zur Sammlung natürlicher Werkzeuge des Universums oder eher zum Repertoire Gottes? Wie wirkte das Anthropische Prinzip bei der Entstehung des Lebens sowie bei der Evolution und der Aufteilung unserer Ahnen in unsere sowie die Linien uns verwandter Lebensformen?
Waren Zufälle unabdingbar, um uns entstehen zu lassen? Gab es permanent Zufälle oder waren sie eher die Ausnahme? Wie wäre z. B. die Entwicklung ohne den Zusammenprall des Planetoiden Theia mit der Erde verlaufen? Hätte das Anthropische Prinzip dann hinsichtlich unserer Existenz umsonst gewirkt bzw. gar nicht? Oder zeigt schon dieses Beispiel, wie anmaßend es ist, das Prinzip allein auf uns Menschen zu beziehen?
War der Mensch in der Quantenwelt potenziell möglich und wurde nur zufällig oder aus Versehen real? Welche Rolle spielen Zufälle und Chaos in der Realität? Sind sie das Ergebnis uns unvorstellbarer Prozesse in Wirklichkeit und Potenzialität? Wie zufällig sind die fixen Feinabstimmungen der Naturkonstanten, Wechselwirkungen und Elemente auf das Kommen der Menschen ausgerichtet? Sind sie anthropisch? Stellen die Wirklichkeit und deren Möglichkeiten das Eigentliche und die von uns wahrgenommene Realität nur einen materialisierten Schein dar, wie ihn schon Platon in seinem Höhlengleichnis 348 Jahre v. Chr. vermutete? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Raimund Poppers These von einem offenen, nichtdeterminierten Universum mit kreativen Menschen? Widerspricht sie der Logik des Anthropischen Prinzips?
Wie sind unterschiedliche Potenzen und Formen unserer und außerirdischer Intelligenz zu bestimmen? Sind sie überhaupt vergleichbar? Sind wir Menschen die Dümmsten unter den Klugen oder die Klügsten unter Dummen? Gilt das Anthropische Prinzip auch für Neandertaler und Denisovaner? War die Beobachtung des Universums ein mit dem Wachstum unserer Hirne zunehmender Prozess? Gilt schon das verwunderte Hinaufschauen zu den Sternen an den Lagerfeuern der Urmenschen als Beobachtung? Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass wir bis zur jüngsten Entdeckung, dass die Welt aus Milliarden Galaxien besteht, die Milchstraße betrachtet haben als sei sie die gesamte Welt? Und wie war es davor, als noch davon ausgegangen wurde, die Erde oder die Sonne sei der Mittelpunkt der Welt? Gibt die Quantenphysik Antworten auf die Frage, ob Beobachtung schon vor und neben uns notwendig und möglich war und ist? Was bedeutet die Auffassung, das Universum habe uns absichtsvoll als intelligente Beobachter hervorgebracht?
Hat sich das Universum durch uns und unsere Kreativität tatsächlich verändert und sei es nur, weil sich gezeigt hat, dass die Welt die in ihr vorhandene Intelligenz auch in der Realität ausdrücken kann? Waren Australien oder Amerika vor der Besiedlung durch beobachtende Jäger und Sammler anders als danach? Hatte es durch die frühen Indianer und Aborigines plötzlich eine transzendente Dimension wie die Traumzeit? Wie muss man sich dieses Anderssein vorstellen? In welchen Dimensionen entfaltete das beobachtende Universum seine neu gewonnene Andersartigkeit? Und welche Auswirkung auf das Universum hatte es, als wir noch glaubten, wir lebten im Zentrum der Welt? Hat sich nur unsere Erkenntnis geändert, nicht aber das Beobachtete? Gibt es verschiedene Grade und Arten der Beobachtung? Gehört die Beobachtung unserer subjektiven Beobachtung zur Beobachtung? Wie ändert sich diese durch ihre Beobachtung? Sind wir nur Beobachter oder mit Blick auf das Universum auch mitfühlende und verständnisvolle Wesen? Wird auch Gott erst durch unsere Beobachtung real?
Ist unser Dasein, um es mit Martin Heidegger auszudrücken, die Form des Seins, der Existenz zukommt? Sind wir in diesem Sinn eher Erscheinung oder Phänomen? Würde sich das Universum wieder ändern, wenn unser teilhabendes Interesse zurückginge oder wir ausgelöscht würden? Was sagt ein solches Szenario über den Charakter der Welt aus?
Enthielten Teilchen und Wellen schon in der Planck-Phase gestalterische Informationen über uns und wenn ja, wie und warum? Hätte ein fiktiver Beobachter des Urknalls ahnen können, dass Leute wie du und ich Milliarden Jahre später aus dem Geschehen hervorgehen würden? Ab wann und wo finden sich in der Evolution Hinweise darauf, dass, wann und wie wir unseren Auftritt beim kosmischen Casting haben würden? Was bedeutete es, dass das Universum dennoch die längste Zeit ohne die durch das Doppelspaltexperiment der Quantenphysik erstmals postulierten Folgen einer Beobachtung auskam?
Wie würde das, was wir Anthropisches Prinzip nennen, in allen raumzeitlichen Zeiträumen bedeuten, in denen intelligente Beobachter nicht mehr denkbar sein werden? Welchen Stellenwert haben sie angesichts des irgendwann definitiven Endes dieser Welt? Was bedeutet Beobachtung, wenn sie nur für das Doppelspaltexperiment oder nur für die Phase gilt, in der es uns intelligente Menschen gibt, nicht aber mehr am Ende der Welt oder danach? War die Tatsache, dass wir potenziell möglich sind, für den Kosmos Antrieb für eine teleologische oder finale Entwicklung? Gab es vielleicht gar keinen Trend (Telos) hin zu intelligenten Wesen, und unsere Existenz ist der Wirkkraft von Kräften oder Prinzipien geschuldet, die wir nicht einmal ahnen?
Stimmt die Behauptung, wir seien seit Beginn der Welt möglich, aber extrem unwahrscheinlich gewesen? Wie wahrscheinlich war die Entstehung eines jeden von uns? Waren einige von uns vor ihrer Zeugung wahrscheinlicher als andere? Gab es am Terminal in Richtung Leben Gedränge oder lief alles eher ruhig ab, weil jeder wusste, dass er irgendwann einmal drankommen würde und Zeit ohne Leben keine Rolle spielt?
Oder änderten sich die Chancen, ins Leben zu treten, mit der Zeit? Ist statistisch gesehen jeder Einzelne von uns so unwahrscheinlich, dass es eigentlich unmöglich ist, dass er es „ohne den kleinsten Ausrutscher in die Realität“ geschafft hat? (Fritsche 2015, VI) Ist es anmaßend, zu meinen, es gebe uns als Menschheit oder als Individuen absichtlich? Wer sollte das Subjekt einer solchen Absicht sein? Sind wir vielleicht sogar unserer eigenen Absicht geschuldet?
Gab es vor, neben oder jenseits des Urknalls, in früheren, parallelen oder von uns nicht einmal zu ahnenden Welten intelligentes Leben? Gilt das Anthropische Prinzip für alle intelligenten Lebensformen im Universum? War unsere Evolution, wie auch die von außerirdischer Intelligenz, von denselben Naturgesetzen, Konstanten und Elementen abhängig, aber auch die Folge regional unterschiedlicher Zufälle und chaotischer Prozesse?
Eines wissen wir recht genau, dass nämlich die Erforschung der Welt seit der Postulierung des Anthropischen Prinzips nicht leichter geworden ist. Es erschwert unser Verstehen in dankenswerter Weise eher, denn wie soll man erklären, auf welche Weise die Bildung von Galaxien oder die Abläufe bei einer Supernova mit unserer irdischen Existenz zusammenhängen oder die kosmische Inflation mit dem Aussterben des Homo neanderthalensis, der Migration der Indoeuropäer in Zentraleuropa und dem Massenmord der Nazis an den Juden? Hier drängt sich der Mesokosmos zwischen Makro- und Mikrokosmos und fordert den ihm zustehenden Platz in der Mitte der Welt ein.
Hier in Hannover gibt es einen 4,2 Kilometer langen „Roten Faden“, der in der Innenstadt Wege zu Sehenswürdigkeit markiert, allerdings an vielen Stellen schon sehr abgenutzt und kaum noch zu erkennen ist. Stellen wir uns eine vergleichbare Rote Linie auf dem Weg von der Entstehung der Welt bis zu uns vor.
Der Begriff „Rote Linie“ dient hier nicht als Abgrenzung zwischen zwei Bereichen, sondern als lineare Markierung möglicher Abläufe der Evolution. Sie zieht sich durch das Geschehen und ist fiktiv, eine Abstraktion, ein Konstrukt unseres Denkens, nicht etwas, das außerhalb von uns existiert oder geschehen ist. Sie bedeutet keine von uns unabhängige Realität. Wollte man sie als Abgrenzung zweier Bereiche verstehen, dann würde sie wohl eher die Potenzialität von unserer Realität trennen. Sie käme dann im Sinne von Paul Tillich einer Gratwanderung „auf der Grenze“ gleich. (Tillich 1963) Hier aber dient sie ganz einfach zur Kennzeichnung eines Prozesses von Punkt a nach Punkt b, das heißt vom Urknall zum jeweiligen Ich im jetzigen Augenblick.
Jedes selbstbewusste Lebewesen kann seine eigene Rote Linie zu bestimmen versuchen. Bis zum Ende der biologischen Evolution und zum Beginn der Geschichte lässt sie sich als unsere Linie verstehen, seitdem als Linie zum jeweiligen Ich. Dabei stellt das Individuum den Punkt b, Punkt a hingegen den Urknall dar. Die Rote Linie resultiert aus der Möglichkeit einer retrospektiven Sicht auf die Evolution vom jeweiligen „Ich“ bis zum Urknall und zurück. Es handelt sich um einen Rückblick, der es uns ermöglicht, den Verlauf der Entwicklung des Universums und des Lebens deswegen besser zu verstehen, weil wir den vorläufigen Endpunkt kennen und das Wissen um unsere Entstehung und Existenz als harte Fakten in die Analyse einbeziehen können. Die Rote Linie ist kein Dogma, sondern ein Denkmodell, das sich aus dem Anthropischen Prinzip bzw. Feinabstimmungen der Gesetze, Konstanten und Elemente ergibt und darauf wartet, sich durch immer neue Falsifizierungen entfalten zu können. Das freilich dürfte angesichts der Schärfe der Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen den Wissenschaften hoffentlich das geringste Problem sein.
Neben der Roten Linie der kosmischen Evolution, die vom Urknall über die Entstehung des Universums, der Galaxien, der Sonne und unserer Erde führt, eignet sich das Modell besonders für die Beschreibung der biologischen Evolution bis zum Menschen. Hier hilft der Denkansatz Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Evolution ebenso auszumachen wie Trends, Verzweigungen oder andere Spezifika. Mit Hilfe der Roten Linie soll aber nicht nur besser verstanden werden, was in der Evolution geschehen musste, wichtig sind auch kontrafaktische Überlegungen bezüglich dessen, was nicht passierte und wegen uns auch nicht hätte passieren können. Hier kommt man nicht umhin, mit Spekulationen zu arbeiten, die aber ahnen lassen, was auf Grund des bisher Geschehenen alles hätte anders passieren können.
Um unsere Rote Linie der biologischen Evolution verfolgen zu können, müssen wir jeweils die Lebensformen bestimmen, die genetisch zu unseren direkten Vorfahren zählen. Zu diesem „Wir“ zählen alle Lebewesen, über die unsere Rote Linien bis hin zum Menschen führt. Alle anderen sind dank unser aller Entstehen aus dem ersten prokaryotischen Einzeller mehr oder weniger Verwandte. Am engsten verwandt sind wir wohl mit den Schimpansen, aber auch jede Blumenwiese steht voller Verwandtschaft. Im Grunde sind wir alle eins.
Vor der Suche nach unserer Roten Linie muss geklärt werden, welchen Erkenntniswert ein solcher Ansatz vor dem Hintergrund der Qantenphysik haben kann. Zunächst einmal verflüchtigt sich dadurch schlagartig jeder Erkenntnisoptimismus, müssen wir doch in Rechnung stellen, dass die Linie für uns wegen der mesokosmischen, dreidimensionalen und sinnlichen Wahrnehmung nur als wundersam anmutender Weg durch eine noch kaum erkundete, geheimnisvolle Quantenwelt erfahrbar ist. Wir wissen, dass die Welt anders ist, als wir sie wahrnehmen und mit unseren widersprüchlichen Wahrheiten zu verstehen versuchen. Unsere Suche gleicht der Reise von Alice ins Wunderland. Wie sie nicht weiß, dass sie nur eine Figur in einem wundervollen Märchen ist, können wir Wirklichkeit und Potenzialität nur als Realität wahrnehmen und versuchen, sie mit unseren ideologieträchtigen Wahrheiten zu verstehen. Uns Nicht-Physikern geht es wie Kindern, die ein Bilderbuch anschauen, ohne zu ahnen, wie, wo und warum es entstanden ist und wer es geschrieben bzw. gemalt hat.
Naturwissenschaftler versuchen, den tatsächlichen Charakter der Wirklichkeit durch Formeln zu beschreiben, die, auch wenn sie stimmen, selbst den klügsten Köpfen der theoretischen Physik oder Mathematik nicht in Gänze verständlich sind. Auch für sie gibt es deswegen nur den Weg, Erkenntnisse der Quantenphysik oder Relativitätstheorie in der verständlicheren Sprache der klassischen Physik zu formulieren und zwecks Anschaulichkeit ihrer Modelle auf eine ultimative Genauigkeit zu verzichten. Was nutzen korrekte Formeln, wenn sie sich selbst den klügsten Experten nicht erschließen? Dem Laien bleibt ohnehin nur die Möglichkeit, Gleichungen in Gleichnisse zu übersetzen, um wenigstens ahnen zu können, worum es geht.
Unsere Rote Linie markiert den wundersamen Weg zwischen der uns dreidimensional erscheinenden Realität und der Potenzialität der Wirklichkeit, die vielfältiger ist, als dies für uns jemals erkennbar sein wird. Im Sciencefiction-Film „Valerian - Die Stadt der tausend Planeten“, betrachten Agenten der Regierung der menschlichen Territorien bei einer Mission das bunte Treiben eines virtuellen Basars auf dem Planeten Kyrion durch eine spezielle Brille. Nur so können sie das Markttreiben überhaupt sehen, ohne Brille haben sie einen leeren Platz vor sich. Leider ist eine solche Brille käuflich schwer zu erwerben, sie würde uns aber sicher weiterhelfen. Max Planck hat bereits Ende der 1920er Jahre auf die Notwendigkeit hingewiesen, unser Wahrnehmungsvermögen durch geeignete Instrumente etwas aufzupeppen. Uns erscheinen Zustände wie das Quantenvakuum leer, obwohl dort ein quirliges Treiben interagierender Fraktale herrscht. Offenbar entstand die Welt beim Urknall nicht aus dem Nichts, sondern schöpfte aus der unendlichen Potentialität der Wirklichkeit, die uns bis heute unbekannt und nicht erfahrbar ist. Wir wissen nur, dass es sie gibt, nicht aber was sie wirklich bedeutet.
Das Buch versteht sich als Untersuchung im Sinne der Big History und verbindet Kenntnisse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. (Christian 2018) Im Rahmen der Geschichtswissenschaft wird versucht, den Ansprüchen des Faches zu genügen, nicht aber hinsichtlich anderer Fachbereiche. Deren Ergebnisse werden laienhaft und mit Blick auf interdisziplinäre Zusammen hänge ausgewertet. Das Bemühen konzentriert sich darauf, exemplarisch konträre Sichtweisen in verständlicher Weise in Beziehung zueinander zu setzen, um dadurch einige Zusammenhänge besser zu verstehen.
Zum Glück für interessierte Laien bemühen sich viele Naturwissenschaftler nach einigen Seiten Formeln, Kurven oder nach einem Feuerwerk aus Fachbegriffen, immer wieder einmal um ein paar verständliche Formulierungen, sei es um sich selbst der Richtigkeit von Aussagen zu vergewissern oder sei es, mit Experten anderer Disziplinen kommunizieren zu können. An diesen neuralgischen Punkten lohnt es sich für Laien, nach allgemein verständlichen Resümees wie im Wald nach Trüffeln zu suchen. Bei strittigen Themen kommen dabei, hoffentlich ausreichend, gegensätzliche Meinungen zu Wort, ohne dass diese immer bewertet werden. Daraus ergibt sich die den Lesefluss zwar störende, aber auf Grund des Charakters des Buches unabdingbare permanente Benennung zitierter Experten. So entsteht eine Art Forschungsüberblick von einer Metaebene aus und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Ohne diese Verweise könnte der Eindruck entstehen, ich würde mir anmaßen, fremde Forschungsergebnisse als eigene auszugeben. Mein Beitrag beschränkt sich darauf, unterschiedliche Sichtweisen zu den behandelten Themen zueinander in Beziehung zu setzen.
Die Tatsache, dass ein Historiker von einer selbstkonstruierten Metaebene aus versucht, das Geflecht sich überlappender und widersprüchlicher Forschungslinien vergleichend zu betrachten, kann den Eindruck erwecken, als würden involvierte Experten noch während des Disputs am lebendigen Leib historisiert. Um dies zu vermeiden, wurden die Expertenmeinungen meist im Präsens zitiert, auch wenn einige bereits verstorben sind. In wenigen Jahren gilt dann ohnehin für uns alle der Imperfekt. Naturwissenschaftler müssen diese Herangehensweise ebenso akzeptieren, wie der Autor kommende Vorwürfe mangelnder Kompetenz kontern muss. Selbstgenügsam ließe sich behaupten, dass sich die Funktion des Historikers im vorliegenden Fall aus der Gleichgewichtigkeit seines relativen Unwissens bezogen auf alle tangierten Disziplinen ergibt. Ihm wird man dabei eher als einem Physiker oder Biologen vorwerfen, von Naturwissenschaften keine Ahnung zu haben; aber man wird ihm das hoffentlich auch eher nachsehen als einem Experten auf dem Feld der exakten Wissenschaften.
Tröstlich ist dabei, dass fast alle Profis der exakten wie der Geisteswissenschaften in anderen Fachbereichen nur dilettieren, was Diskussionen fachübergreifender Aspekte erschwert. Dabei wird gerade dies immer wichtiger, weil, so Paul Feyerabend, die Wissenschaftslandschaft eigentlich von der Tendenz geprägt ist, die Welt als Ganzes zu erfassen, eine „Formel für alles“ zu finden. Heute werden große Teile der Chemie in die Physik absorbiert; Biologie und Physiologie überschneiden sich mit Physik und Chemie; die Archäologie zwingt Anthropologen und Erkenntnistheoretiker zum Umdenken; die Genetik alle Disziplinen zum Paradigmenwechsel. (Feyerabend 1992, 14)
Hier kann der Historiker als Handwerker unter den Geisteswissenschaftlern mit Hilfe seines geschichtstheoretischen Instrumentariums einen interdisziplinären Überblick verschaffen, der so für Vertreter einzelner Fächer weder möglich noch anstrebenswert ist. Luici Cavalli-Sforza weist allerdings auf Schwächen historischer Forschung hin, die daher rühren, dass sich Geschichte nicht wiederholen lässt, weswegen ihr eine Beweisführung durch Experimente fehlt. Wir können die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 nicht ein zweites oder drittes Mal stattfinden lassen, um die verschiedenen Abläufe vergleichend zu analysieren.
Die Feststellung, es gebe keine experimentellen Versuche, stimmt inzwischen auch nicht mehr ganz. Nicht nur werden Schlachten wie die bei Leipzig oder Waterloo von engagierten Laien bis ins Detail nachgestellt und Dörfer unserer Vorfahren mit damaligen Werkzeugen nachgebaut, auch die Experimentelle Archäologie arbeitet mit wissenschaftlichen, unter kontrollierten Bedingungen durchgeführten und vollständig dokumentierten Experimenten. Man denke nur an den Versuch, Kolosse wie die in Stonehenge mittels der primitiven Technologie der Erbauer vor 4 000 Jahren zu transportieren.
Historiker nutzen zudem Analogien, wobei verschiedene Disziplinen nützliche Informationen über die Geschichte der Evolution des Menschen beisteuern können. Diese dienen als unabhängige Bestätigung oder als zusätzlicher Beweis einer historischen Hypothese. Die multidisziplinäre Forschung kann hier in beschränktem Maß als Äquivalent für die Verwendung von bestätigenden Experimenten verwendet werden. (Cavalli-Sforza, Luici 1996, 45)
Mit Blick auf naturwissenschaftliche Disziplinen wird Korrektheit der Aussagen angestrebt, ebenso aber auch Anschaulichkeit. (Barkleit 2007, 101-157) Es ergibt sich das Problem, dass selbst die von einigen naturwissenschaftlichen Experten angestrebte vermeintliche Anschaulichkeit für Laien oft nicht nachvollziehbar ist. Für sie kommt fast jede Formel einem Rauswurf aus den Kernbereichen der Disziplinen gleich. Ich nutze deswegen das, was Odo Marquardt „Inkompetenzkompensationskompetenz“ nennt. (Marquardt 1981, 23-38) Die Inkompetenz bezieht sich auf die Naturwissenschaften ebenso wie auf andere Geistes- wie Sozialwissenschaften, die Kompetenz auf die Anwendung von Methoden der Geschichtswissenschaft. Ein weiteres Problem stellt die kaum bestreitbare fachliche Überheblichkeit vieler Naturwissenschaftler dar, besonders für die von Physikern, in deren Augen wir eine Art „Muggeln“ sind. Das liegt wohl daran, dass sich ihre Disziplin im Lauf des letzten Jahrhunderts zur Leitwissenschaft fast aller Fachbereiche entwickelt hat. Sie hat mit ihren neuen faszinierenden Gedanken und ausgeklügelten Methoden sogar die Philosophie teilweise abgelöst und drängt selbst Theologen zu neuen Denkansätzen.
Dabei sind auch Physiker nicht in der Lage, alle selbstgestellten Fragen zu beantworten. Schon Emil Du Bois-Reymond forderte das notwendige „stille Bewusstsein“ des Naturwissenschaftlers für das Rätsel, „was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen“. Diesbezüglich müsse er „ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: ‚Ignorabimus‘.“ (Wir werden es niemals wissen.) (Bois-Reymond 1872, 464) Mit ähnlicher Intention meint Harold J. Morowitz, die Naturwissenschaften hätten „das Ende des Verstehens noch nicht erreicht“ und stünden sogar „noch ziemlich dicht am Anfang“. Im 13,8 Milliarden Jahre alten Universum entspreche der Zeitraum des Bemühens, das Universum beobachtend zu erfassen, „kaum mehr als einem Millionstel der gesamten Zeit“. Es sei „erregend, wieviel noch zu entdecken bleibt“. (Morowitz 1988, 261) In allen Forschungsfeldern gibt es riesige Wissenslücken, die nach heutiger Erkenntnis auch nicht geschlossen werden können. Für Reinhard Schmoeckel handelt es sich dabei nicht nur um Lücken, sondern um „riesige schwarze Ozeane des Nichtwissens, aus denen für den historisch Normalgebildeten nur ein paar hell beleuchtete Inseln herausragen, ohne dass klar wird, dass die meisten dieser Inseln aus gemeinsamem Urgrund emporgestiegen sind“. (Schmoeckel 1982, 11)