Über das Buch

Was passiert, wenn wir unsere innere Stimme auf stumm schalten und stattdessen Maschinen und Daten zu uns sprechen lassen? Sind wir noch Menschen, wenn wir aus Angst vor Kontrollverlust und Effizienzwahn menschliche Aspekte wie Zufall oder Vergesslichkeit unterdrücken?
Lifelogging – die digitale Lebensprotokollierung und Selbstvermessung des Menschen – boomt. Eine Idee hat die Labore verlassen und ist dabei, den Alltag zu erobern.
Für sein Buch besuchte Selke die Orte und Menschen, von denen die wichtigsten Innovationen ausgehen. Er sprach mit Technik-Entwicklern in den Laboren von Microsoft, traf Gurus und normale Anwender der wachsenden Selbstvermessungs-Szene sowie einen Unternehmer in Hollywood, der mit einem digitalen Friedhof den Wunsch nach Unsterblichkeit bedient. Die neuen Technologien bergen zahllose interessante Möglichkeiten, aber auch Gefahren: Was, wenn Fitness-Armbänder oder Human Tracking zur Normalität werden und unsere Daten vom Staat, den Krankenkassen, Arbeitgebern oder einfach dem Nachbarn eingesehen werden können? Droht eine neue Kultur der Überwachung?

Stefan Selke schaut genau hin und beleuchtet die verschiedenen Facetten des Lifelogging – von der Quantified-Self-Bewegung über digitale Erinnerungshilfen bis hin zur digitalen Résistance. Er zeichnet ein beängstigendes Bild einer neuen Welt, in der wir zentrale Bereiche unserer Existenz der Technik überantworten. Letztlich kann die Frage nach dem »guten« oder »richtigen« Leben nicht an digitale Systeme delegiert werden. Wollen wir zulassen, dass die richtigen Lebensdaten über Zugehörigkeit und Ausschluss, über Karriere und Freundschaften entscheiden?

Über den Autor

Stefan Selke, *1967, landete nach einigen Semestern Luft- und Raumfahrttechnik bei der Soziologie und ist inzwischen als Professor für »Gesellschaftlicher Wandel« an der Hochschule Furtwangen im Schwarzwald am Puls der Zeit. Schon vor Jahren entwickelte und testete er mit Studenten eine Smartphone-App. Er bloggt unter http://stefan-selke.tumblr.com, vernetzt sich unter www.facebook.com/selkestefan und sammelt seine Forschung auf www.stefan-selke.de .

Stefan Selke

Lifelogging

Wie die digitale Selbstvermessung
unsere Gesellschaft verändert

Econ

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ISBN: 978-3-8437-0686-5

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»Einen Wahn verlieren macht weiser

als eine Wahrheit finden.«

Ludwig Börne

Kapitel 6

Wir könnten auch anders

Lifelogging-Systeme werden früher oder später Alltagsanwen­dungen und typische Medien des 21. Jahrhunderts sein. Deshalb wird es Zeit, nicht nur auf deren Potentiale zu schielen, sondern auch nach den Folgen zu fragen. Hans Magnus Enzens­berger kritisierte, dass Theorien und Kritik über neue Medien erst dann entstünden, wenn sich diese im Alltag längst durchgesetzt hätten.1 In diesem Buch habe ich die Heraus­forderung angenommen und eine ambivalente Technologie schon vor ihrer umfas­senden Marktdurchdringung kritisch auf ihre ­Folgen für unser Zusammenleben hinterfragt. In der An­alyse zeigte sich, dass sich die Heilsversprechen auf ein besseres Leben nur teilweise ver­wirklichen lassen und teils auf falschen An­nah­men oder Trugschlüssen beruhen. Die Evangelisten des Life­logging werden also auch im besten Falle bei einigen Punkten recht behalten. ­Abschließend möchte ich darüber spe­kulieren, was uns in nächster Zeit erwartet, denn die aktuellen Entwicklungen sind nicht einfach nur die Fortsetzung des ­Bekannten. Vielmehr deu­tet sich ein Quantensprung an, der zu weiteren Entfremdungs- und Entmenschlichungstendenzen führen wird. Das letzte Kapitel ist also der Zukunftsmusik gewidmet.

Warten auf die Killer-App

Wie viele andere, die sich regelmäßig auf Lifelogging-Kongressen oder der Elektronikmesse CES in Los Angeles versammeln, bringt der Intensivlogger Cathal Gurrin aus Dublin die Sehnsüchte der Szene auf den Punkt: »Alle warten auf die Killer-Applikation, die Lifelogging endgültig zum Durchbruch verhilft.«2 Noch ist sie nicht gefunden. Aber es gibt bereits zahlreiche Entwicklungen, die andeuten, wie die Welt der digitalen Lebens­protokollierung in Zukunft aussehen könnte.

Neben eher pragmatischen Sorgen wie zum Beispiel ge­rin­gen Batterielaufzeiten stellt sich die Frage, wie in Zukunft die digitalen Spielzeuge aussehen, mit denen perfekte Lebens­protokolle erstellt werden. Aufgrund der fortschreitenden Mi­nia­turisierung können Lifelogging-Kameras in Zukunft mühelos in Brillen oder sogar Piercings integriert werden. Gleichzeitig befreien immer größere Speicher von der Notwendigkeit, nur Standfotos aufzunehmen, und machen bald auch Videoauf­nah­men möglich. Ein Beispiel hierfür ist die Wi-Fi-fähige Video­brille Eyes, die aussieht wie eine klassische Ray-Ban-Brille, jedoch eine im Brillenbügel integrierte unsichtbare Kamera enthält. Damit wird es möglich, Lifelogging unerkannt in der Öffentlichkeit auszuüben. Dazu passend könnte sich zum Beispiel Software zur Gesichtserkennung ver­breiten – aus datenschutzrechtlichen Gründen mit einer »Blurring«-Funktion. Die erfassten Szenen könnten zukünftig auf einer be­rührungsempfindlichen Anzeige betrachtet werden, die in ein Armband integriert ist, oder sie werden mit Hilfe eines integrierten Mini-Projektors auf beliebig helle Flächen projiziert. Denkbar ist zudem eine stereoskopische Bilderfassung, weil sich dann bei der Datenausgabe dreidimensionale Bilder produzieren ließen. Über 3-D-fähige Monitore könnten stereoskopische Lifelogs dreidimensional dargestellt werden.

Viel wichtiger als die Weiterentwicklung der Daten erfassenden Spielzeuge wird es aber sein, Lifelogging cool und trendy zu machen. Die Idee einer Sharing-Ökonomie lädt geradezu ein, mit dem Funktionsprinzip von Lifelogging kombiniert zu werden und damit Daten nicht nur zu sammeln, sondern auch anderen zur Verfügung zu stellen. Die Gewohnheit, persönliche Daten über Facebook oder andere soziale Netzwerke zu verbreiten, ist nur ein Schritt auf dem Weg zu einem kollektiven Lifelogging, bei dem das persönliche Aufzeichnen und Teilen von Lebensspuren zu einem Modetrend wird, einer Art digital vernetztem Hedonismus. Veröffentlichte Lifelogs könnten dann von anderen kommentiert werden. Durch geteilte Medien könnten zudem Lücken in der Erinnerung gefüllt werden. Dies vor allem, um die Tatsache zu kompensieren, dass jeder Lifelogger, der eine Kamera am eigenen Körper trägt, seine Umwelt im Normalfall lediglich aus der Ego-Perspektive aufnimmt und damit selbst nicht im Bild ist. Die App »Glance« soll ein ähnliches Problem beheben: In Kombination mit Google Glass soll sie in der Lage sein, sich selbst durch die Augen des Partners beim Sex zu beobachten.3

Die technischen Funktionen von Lifelogging werden sich mit den Möglichkeiten, soziale Austauschbeziehungen zu schaf­fen, überlagern. Erste Online-Plattformen, die Formen eines sozial geteilten Lifeloggings möglich machen, existieren bereits.4 Innerhalb dieser neuen Kultur des Teilens entsteht dann aber ein Teufelskreis. Die Möglichkeit zu teilen schafft das Bedürfnis, immer mehr haben zu wollen, das man teilen kann. Ob man hier von Kommunikation sprechen kann, ist allerdings zweifelhaft. Ein »Livestream«, der aus Daten besteht, zeigt viel, sagt aber wenig. In Anlehnung an Neil Postman könnte man sagen: Wir vermessen uns zu Tode. Je mehr wir von uns zeigen, desto weniger müssen wir miteinander kommunizieren.

Daten und Dinge

Nicht nur Menschen protokollieren ihr Leben. In Zukunft ­werden auch Dinge ihren Lebenszyklus sichtbar machen. Das nächste große Ding, so Jim Gemmell, ist Thing-Logging. Diese Idee geht weit über die eines »Internet der Dinge« hinaus, in dem jedes Objekt eine URL bekommt und eindeutig zugeordnet werden kann. Vielmehr behauptet Gemmell, dass Objekte in Zukunft auch eine Art Geschichte erzählen werden, zum Beispiel ein Auto. Jedes KFZ-Teil erhält bei der »Geburt« einen digitalen Marker, der dieses Teil durch alle Lebensphasen hindurch (Produktion, Anschaffung, Reparatur, Verkauf) eindeutig kenntlich macht. Durch Thing-Logging lassen sich alle Dinge, die uns umgeben, zu einer »sprechenden Ökosphäre« zusammenfassen. Erste Beispiele machen deutlich, dass Dinge tatsächlich eine Geschichte zu erzählen haben. Mehrere britische Universitäten erarbeiteten zusammen die Onlineplattform ­Tales of things. Auf dieser kann der »Lebensweg« von Secondhand-Kleidungsstücken rekonstruiert werden, die vorher mit einem Barcode versehen wurden. Der Käufer erhält so eine Ahnung davon, woher die Ware kommt und wer sie vorher getragen hat. Diese einfache Art, Dingen eine Geschichte hinzuzufügen, ist ein gutes Mittel gegen Wertverfall. BookCrossing ist eine Seite, auf der sich Informationen zu Büchern finden, die der Besitzer nach der Lektüre einfach irgendwo im öffentlichen Raum liegen gelassen hat. Werden diese Bücher gefunden, kann der neue Leser über eine Identifikationsnummer Kommentare zum Fundort und zum Inhalt des Buches im Netz hinterlassen.

Ganz allgemein wird sich das Verhältnis von digitalen und physischen Dingen neu ordnen. Wir sind es gewohnt, physische Dinge auszustellen, zum Beispiel Fotos zu rahmen, die mit der Zeit als Repräsentanten des Lebens und als Erweiterungen der Person betrachtet werden. In der Welt der digitalen Daten gibt es bislang kaum entsprechende Repräsentationsroutinen. Um die eigene Persönlichkeit individuell zu erleben und materiell zu konkretisieren, sind physische Dinge noch immer besser geeignet als Daten. Aber gerade diese Dinge verschwinden immer häufiger aus unserer Welt, weil sie nicht sehr lange haltbar sind oder ihre Haltbarkeit sogar künstlich begrenzt wird oder weil sie einfach aus der Mode kommen so wie das Bücherregal (oder eben das Buch). »Noch ist es uns nicht so bewusst«, meint Richard Banks, »aber wir werden etwas vermissen.«5

Vorbeugend sucht er nach »Metaphern der Materialität«, also Eigenschaften digitaler Dinge, die sie wie physische Dinge auszeichnen und damit zu Repräsentanten unseres Lebens machen. Wirklich funktionieren wird das jedoch nur, wenn sich das Digitale und das Physische verschmelzen lassen und die Teilung der Welt in diese beiden Sphären aufgehoben wird.6 Das Prinzip der Belegung von Oberflächen (»Surfacing«) macht deutlich, wie das funktionieren könnte. Dabei werden digitale Daten in eine physische Hülle gepackt, die nach einer Zeit des Gebrauchs beginnt, wie gewohnt Alterungsspuren aufzuweisen. So könnten digitale Speichervolumen in eine Hülle aus Holz gepackt werden, die selbst altert und so das Altern der Daten anzeigt. Ein erstes Produkt aus der Forschung zu »neuen sentimentalen Dingen« ist das Family Archive System. Hierbei werden alle digitalen Fotos einer Familie in einer Art Möbelstück gespeichert, das an einem zentralen Ort in der Wohnung aufgestellt wird. Das System besitzt zudem eine eingebaute Kamera und kann so vor Ort Fotos aufnehmen und ebenfalls speichern. Auf diese Weise entsteht ein hybrider Erinnerungsschrein, der das Beste aus beiden Welten, der physischen und der digitalen, vereint.7

Gefühle und Emotionen

Neben Orts-, Zeit-, Aktivitäts- und Körperdaten werden in Zukunft vermehrt auch Emotionen und Gehirnzustände vermessen werden. Intensive Lebensmomente sind stets auch mit ­intensiven Gefühlen verbunden, gleich, ob diese positiv oder negativ sind. Musik oder Fotos können diese Gefühle zum Teil wieder aktivieren. In Zukunft wird es auch möglich sein, dass Gefühle ohne weiteres Zutun Aufnahmen oder Datenerfassungen auslösen. Mit der Neurocam wird das bereits jetzt versucht. Sie sieht aus wie eine Kombination aus Kopfhörer und am Kopf tragbarer Kamera. Die Kamera reagiert auf Gefühlsimpulse, die im Gehirn messbar sind. Ist die messbare Emotionalität in einer Situation besonders groß, startet die Videokamera die Aufnahme und erstellt sogenannte Gifs – fünf Sekunden lange Videoclips. Die Neurocam enthält einen Elektroenzephalographen (EEG), der kleinste elektrische Signale messen kann, die im Gehirn während des Denkens entstehen. Er registriert gewissermaßen das Interesse an der Umwelt.8 Diese Form des Lifelogging ist wiederum mit neuen Versprechen verbunden. Eine erste Anwendung dafür ist ein Fahrradhelm, der von Forschern des MIT Media Labs entwickelt wurde. Er arbeitet ebenfalls mit EEG-Headsets und leuchtet in den Farben Rot und Grün. Die Farben signalisieren der Umwelt, ob der Träger konzentriert fährt oder nicht.

Ging es einst darum, den menschlichen Körper mit Tech­­no­lo­gien zu umhüllen (Haus, Auto, Kleidung …), um ihn zu schüt­zen, werden in Zukunft Technologien nach innen verlegt ­werden. Die nanotechnologische Miniaturisierung und die Bio­­tech­nologien ermöglichen das physiologische Eindringen in den Körper. Die Technologie wird den Körper kolonisieren wie zuvor die Lebenswelt.9 Derzeit forscht man an mikro­tech­ni­schen Gehirnimplantaten, die dazu dienen sollen, Gedächt­nis­störungen zu beheben oder Gedächtniskapazitäten auszuweiten. An der Tatsache, dass das Pentagon diese Grundlagenforschungen unterstützt, lässt sich unschwer deren Relevanz ablesen.10

Für Lifelogging wird das bedeuten, dass Neuroimplantate die Funktion der Datenerfassung übernehmen werden. Dabei werden die Daten direkt von den menschlichen Sinnesorganen abgegriffen, die Datenspeicherung erfolgt auf einer Festplatte im menschlichen Gehirn, und die Projektion der Daten erfolgt wieder direkt über die eigenen Sinnesorgane. Hierbei werden Technologien wie »Bionische Augen« oder »Cochlea-Implantate« genutzt werden. Zudem registrieren Geruchsimplantate Aktionspotentiale der Geruchsrezeptoren, die bei einem wahrgenommenen Geruch im Gehirn entstehen, und aktivieren diese erneut, wenn die Lifelogs wieder rezipiert werden. Für Geschmacksimplantate gilt dasselbe. Hormon-Implantate könnten die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe im Blut registrieren und Emotionen und Gefühle klassifizieren. Denkbar ist auch die Erweiterung des visuellen Spektrums (Infrarotsensoren) oder des auditiven Spektrums (Ultraschallsensoren). Warum sollten wir nicht auch bei Nacht perfekt sehen können?

Spätestens hier, beim technologischen Body-Enhancement, zeigt sich, dass Lifelogging nicht nur eine technologische Dimension hat, sondern auch eine politische und vor allem eine ethische. Technisch überrüstete Gesunde, die sich im Dauerrausch der Spitzentechnologien befinden, werden einer Masse an weniger Privilegierten gegenüberstehen, die keinen Zugriff auf diese Technologien haben. Im Zeitalter der verinnerlichten Komponenten wird schließlich der ganze Mensch zum Designobjekt. Letztlich wird diese smarte Ideologie aber nicht beim Menschen haltmachen. Es wird früher oder später wieder zum Versuch kommen, ganze Gesellschaften zu gestalten, ein »Meta-Design der Sitten und der gesellschaftlichen Verhaltensweisen im postindustriellen Zeitalter«.11 Auf der Basis einer intellek­tualistischen Rationalität werden Menschen sein wollen wie Götter.

Avatare und Cyborgs

Stanisław Lem entwarf in einem seiner Werke die Idee eines »phantomatischen Generators«, einer Maschine, die Realitäten erzeugen kann, die nicht von der normalen Realität unterscheidbar sind, perfekte Illusionen also.12 Das, was bei Lem noch Science-Fiction war, rückt nun immer näher. Der Film Tron – Legacy ist die Fortsetzung des 1982 entstandenen Klassikers Tron. Das Filmteam nutze dabei dreidimensionale Aufnahmegeräte, um eine digitale Version des Schauspielers Jeff Bridges zu erstellen, die ihn als 25-Jährigen zeigte. Zwar ist dieser digitale Körper nicht viel mehr als eine Puppe, die selbst nicht agieren kann. Aber Bewegungsdaten des echten Jeff Bridges könnten dazu dienen, sie lebendig werden zu lassen. Dieses Beispiel zeigt, dass es eines Tages möglich sein wird, dreidimensionale Avatare als »digitales Erbe« zu hinterlassen. So stellt es sich ­zumindest Gordon Bell vor. Damit wird eine Form der Unsterblichkeit erzeugt, die sich vom Gefühl der Lebendigkeit eines Erinnerungsfotos radikal unterscheidet. Werden wir der Versuchung widerstehen können, geliebte Personen auf diese Weise wieder zurück ins Leben zu holen?

Damit diese Technik funktioniert, müssen noch viel mehr Daten erfasst werden als bisher, vor allem die Gestik und Mimik einer Person. Microsoft Kinect ist eine Hard- und Software, die schon heute Gesichter und Gesten erkennt, so dass wir intuitiv mit Computern kommunizieren können. »Auf der Basis solcher Technologien können wir beginnen, uns vorzustellen, wie es wäre, nicht nur Bilder von Personen, sondern auch deren Körperdaten, -umrisse und -bewegungen zu archivieren«, erläutert ­Richard Banks.13 Aber auch für Dinge lassen sich »Avatare« anfertigen. Das Backup-Project des Londoner Designers Hector Serrano versucht, Produkte dadurch zu bewahren, dass sie zunächst dreidimensional abgebildet und gespeichert werden. Später könnten sie dann mit 3-D-Druckern wieder »zum Leben erweckt« werden.

Wie sich zeigt, gibt es ein breites Spektrum an Wünschen, von der Verbesserung des Körpers bis zu seiner Transzendierung. Je näher wir dabei den Maschinen kommen, desto dominanter wird das Technische. Es wird immer mehr zum privi­le­gier­ten Zugang zu uns selbst. Im gleichen Zug werden wir selbst zu Cyborgs, zu Mischwesen aus Mensch und Maschine. Der Cyborg – Sigmund Freud sprach noch vom Prothesengott14 – gilt als Chiffre dieser Entgrenzung. In der Figur des Cyborgs spiegelt sich eine, vielleicht unsere, zukünftige soziale Realität wider. Und dabei handelt es sich nicht etwa um Science-Fiction. In ihrem Cyborg-Manifest weist die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway darauf hin, dass es in der westlichen Medizin schon lange selbstverständlich ist, Cyborgs zu konstruieren, also biologische Organismen mit Maschinenapparaten zu verkoppeln. Lifelogging ist also nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum neuen Menschen. Welcher Typ Mensch wird das sein? Ein besserer? Oder nur ein anderer? Die ersten Schritte auf diesem Weg sind jedenfalls bereits zurückgelegt. In Deutschland gründeten die »Bodyhacker« jüngst den ersten Cyborg-Verein.15

Auf der Suche nach Lebensdienlichkeit

Auf der Suche nach Kriterien für humane Digitalisierung stößt man unweigerlich auf den Autor und Philosophen Ivan Illich und seine fast zeitlosen Thesen. Von ihm stammt ein einfaches Kriterium, das erlaubt, den Nutzen technologischer Entwicklungen abzuschätzen. Er nannte es Lebensdienlichkeit oder »Konvivialität«. Eine technische Erfindung ist dann zu begrüßen, wenn sie die Handlungsfähigkeit des Menschen steigert und ihm zudem die Freiheit ihrer Nutzung lässt. Illich sah in seinen Büchern voraus, dass gerade diejenigen Produkte, die den unmittelbaren Lebensinteressen der Menschen dienen sollten, am wenigsten lebensdienlich sind.

Anhand von Lifelogging lässt sich das verdeutlichen. Einerseits scheint es so zu sein, dass viele Selbstvermessungsapparate einem sehr unmittelbaren Interesse dienen, zum Beispiel der Gesunderhaltung oder Leistungssteigerung im Alltag. Andererseits schüren die vorhandenen technischen Möglichkeiten erst die Angst davor, den herrschenden Normen und Ansprüchen nicht mehr zu entsprechen. Die Lebensdienlichkeit der digitalen Heinzelmännchen geht dort verloren, wo sie Konformität erzwingen und Abweichungen bestrafen. Sie tun das nicht direkt, aber mit dem Verkauf jeder App verändert sich auch ein Stück weit die An- und Aberkennungskultur der Gesellschaft, in der wir leben, und damit auch die soziale Wahrnehmungsweise auf den Körper, den Alltag, die Arbeit. Die Faszination Lifelogging kann dabei durchaus auch demütigende Aspekte an den Tag legen.

Das kann zunächst ganz harmlos sein und sogar ein wenig nach Ironie aussehen. Eines dieser Spaßformate sind täglich aktua­lisierte Selbstporträtserien. Dabei wird jeden Tag ein Selbstporträt online gestellt. Unter dem Namen Daily Photo Projects ist daraus ein eigenes Genre geworden. Markus Pfaff dokumentiert sich zum Beispiel seit dem 27. August 2003.16 Dabei werden körperliche Veränderungen in einem Zeitrafferfilm be­son­ders deutlich. Jamie Livingston nutzte seine Polaroid­kamera, die er am 31. März 1979 geschenkt bekam, bis zu seinem Tod am 25. Oktober 1997 täglich. Nach seinem Tod veröffentlichten Freunde sein umfassendes Lebenswerk. Es muss aber nicht ­immer so monumental sein. Björn Röttgers fotografierte sich täglich über einen Zeitraum von einem Monat – 30 Tage bis zu einer wichtigen Klausur sind so auf eine besonders humorvolle Weise erfasst.17 Künstler, Studierende und Experi­men­tier­freudige finden Gefallen daran, sich selbst bei den Veränderungen ihres Körpers zuzuschauen und andere daran teilhaben zu lassen. Werden diese Bilder im Zeitraffer betrachtet, entsteht ein beeindruckender Zeitmaschinen-Effekt. In Minuten altert der Aufgenommene um Jahre. Und gleichzeitig zeigt sich, dass die fotografierte Person trotz aller Veränderungen immer der gleiche Mensch bleibt: Permanenz trotz Wandel. Im Zeitraffer dampfen die Bildserien, die über Jahre mit eiserner Selbstdisziplin angefertigt wurden, auf nette YouTube-Filmchen zusammen, die auch in Serie konsumiert werden können. In gewisser Hinsicht demonstrieren sie damit die »konsumptive Steigerungs­logik«18 fortschrittsfixierter Wachstumsgesellschaften.

Doch wie sähe eine Alternative aus? Das Credo aller Ideen zu einer »Post-Wachstumsgesellschaft« lautet quer durch alle Schulen immer gleich: Weniger ist mehr. Gibt es eine Möglichkeit, der Beschleunigung zu entkommen, die sich aus mehr Daten ergibt? Wohl kaum. Die Alternative besteht nicht darin, keine Daten zu sammeln, sondern dies anders zu tun. Aber wie?

Wir müssten uns an neue Wege wagen, die eigene Existenz wieder zu spüren. Der Aussagewert von Zahlen oder Bildern ist begrenzt. Selbst in großer Menge wissen sie nur wenig über unsere Motivation und unser Innenleben zu berichten. Eine Alternative liegt darin, auf Qualität statt auf Quantität zu setzen. Es geht darum, wieder zu einer sinnlichen Narrativität des Lebens zu gelangen und dafür die wuchernde Arithmetik an den Nagel zu hängen. Vielleicht wird sich das nicht jeder leisten können oder wollen, aber hier sind ein paar Beispiele, wie es aussehen könnte.

Das Leben und das Schreiben

Zunächst einmal wären alle Mittel zur Eindämmung der Daten- und Informationsflut zu nutzen. Langsam kommt inzwischen eine Diskussion über Datensparsamkeit in Gang. »Facebookfasten« und »Netzabstinenz« sind der richtige Weg, greifen aber noch zu kurz. Mit Sicherheit ist der vollständige Verzicht auf Daten keine praxistaugliche Lösung. Vielleicht hilft auch ein wenig Entschleunigung und Maßhalten, denn weniger Daten ermöglichen mehr Einsicht. Das kann zu überraschenden Erkenntnissen führen, wie im Film Smoke: Ein Tabakverkäufer macht jeden Tag zur exakt gleichen Zeit das Foto einer Kreuzung. Eines Tages besucht ihn einer seiner Kunden, ein Schriftsteller. Er blättert das Album mit den vielen, scheinbar gleich aussehenden Fotos durch. »Es ist nur ein winziger Teil der Welt, aber da passiert auch einiges«, erklärt ihm der Fotograf und warnt ihn, langsamer zu blättern, »du kommst nie dahinter, wenn du nicht langsamer machst, mein Freund. Du bist zu schnell, du schaust dir die Fotos nicht richtig an.« Erst als der Schriftsteller die Seiten des Fotoalbums langsamer umzublättern beginnt, erkennt er auf einem der Fotos seine verstorbene Frau.

Weniger ist in der Tat manchmal mehr. Inzwischen habe ich mir angewöhnt, von jeder Reise nur noch drei Bilder aufzubewahren. Der Prozess, diese Bilder aus allen Bildern auszusuchen, die ich gemacht habe, hat etwas Heilsames. Ich überlege sehr bewusst, welche Situationen mir wertvoll waren oder welche Szene stellvertretend für das Ganze stehen könnte. Inzwischen bin ich stolz darauf, nicht mehr von der Black Box abhängig zu sein, die Tausende von digitalen Bildern enthält, sondern eine kleine, aber stetig anwachsende Galerie von Bildern zu besitzen, die mein Herz erfreuen.

Oder wie wäre es mit Schreiben, um das eigene Leben zu re­flektieren? Das klingt zwar ein wenig altmodisch, ist aber äußerst wirksam. Eingefleischte Tagebuchschreiber schwören auf die geistige Hygiene, die mit dem regelmäßigen Schreiben einhergeht. Martin Walser sagte einmal: »Wenn ich eine Weile nicht schreibe, werde ich so sauer, dass ich mir bösartig vorkomme. Schreibend kann man fast alles ertragen. Ich habe da meine Notizbücher […]. Ich halte mich dadurch am Leben, dass ich reagiere. Nicht reagieren können, heißt ersticken.«19

Tagebuchschreiber schaffen es, deutlich intensiver im Hier und Jetzt zu leben. Regelmäßiges Schreiben ist eine Form der Wachsamkeit sich selbst gegenüber, wie dieser Eintrag einer anonymen weiblichen Tagebuchschreiberin aus dem Tagebucharchiv Emmendingen zeigt. »Ich wollte mir über Sachen klar werden, die mich beschäftigen. […] Ich wollte meine Erlebnisse aufschreiben, um mich später genauer daran erinnern zu können und mir nach allen Veränderungen noch vorstellen zu können, wie ich damals war.«20 Wer über narrative Daten verfügt, ist zu viel umfassenderen und komplexeren Einsichten fähig. »Man erkennt in der Rückschau, wie ein geheimnisvoll verborgener Lebensfaden den Menschen an sein Ziel führt, wie viel Glück und Schutz man auch erfahren durfte. Unvorstellbar bei Beginn, wie viele Situationen, Begebenheiten, wie viel farbiges Leben wieder auftauchen, die dem Bewusstsein längst entfallen schienen! Man lebt sein Leben ein zweites Mal!« Im Vergleich dazu wirkt Lifelogging wie eine langweilige Abkürzung. Es gibt ganze Personengruppen, die standardmäßig sogenannte Log­bücher führen. Wilfried Erdmann, viermaliger Weltumsegler, kennt sich besonders gut damit aus, denn er hat sie bereits zu mehreren Büchern zusammengefasst. Mehrere Stapel seiner Logbücher aus fünfzig Jahren Segelerfahrung lagern in einer Metallkiste. Es sind einfache Notizbücher, auf denen der Name des jeweiligen Schiffes und eine Jahreszahl prangen. Aus diesen Koordinaten lässt sich eine ganze Lebensreise rekonstruieren. Erdmann erinnert sich, wie er zu Beginn seiner ersten Weltumseglung einen wichtigen Tipp von einem seiner großen Vorbilder bekam, dem Franzosen Bernard Moitessier. »Das Wichtigste, was ich von ihm gelernt habe, war, Erlebtes gleich aufzuschreiben«, so Erdmann. An Land wird der Segler dann zum Autor, der seine Reisen zu spannenden Memoiren verdichtet. »An meinem Logtagebuch konnte ich mich ›aberzählen‹«, erklärt er, »ohne diese detaillierten Aufzeichnungen wäre zu viel verlorengegangen, die Reisen wären nie zu Büchern geworden.«21

Zählen und Erzählen

Es gibt also Alternativen zur Sammlung digitaler Daten. Oder man sammelt digitale Daten auf eine andere Weise. Lebensdienlichkeit bedeutet auch, Daten im Alltag anders zu begegnen, sie anders als nur zur Kontrolle von Abweichungen zu nutzen. Es sind weniger die Daten selbst als vielmehr die selbstverzweckende Nutzung, die uns schadet. Wir müssen lernen, den Daten, die wir erzeugen, anders zu begegnen.

Richard Banks etwa glaubt nicht daran, dass das methodische Durchsuchen von Datenbanken in Zukunft der angemessene Umgang mit »sentimentalen Daten« sein wird. Vielmehr sieht er im Prinzip der zufälligen Entdeckung (»Serendipity«) einen geeigneten Zugang. Das Unerwartete kann völlig neue Assoziationen auslösen – ein Lied, das man unerwarteterweise hört, ein Bild, das man unerwarteterweise sieht. Banks berichtet aus seiner eigenen Erfahrung: »Meine Frau und ich erzeugen jedes Jahr ungefähr 10.000 digitale Fotos. Einige davon hängen bei uns in der Küche, einem Raum, in dem wir uns oft aufhalten. Die beiläufige Betrachtung dieser Bilder hat etwas Spontanes. Wir bleiben stehen, sehen ein Detail und erinnern uns an irgendeinen Aspekt unseres Lebens.«22 Der Forscher ist jedenfalls davon überzeugt, dass es mehr Sinn macht, zufällig Aspekte aus dem eigenen Leben immer wieder neu zu entdecken, als diese in eine fixierte Form wie Listen, Grafiken oder eine Timeline zu gießen. »Serendipity besitzt eine eigene Qualität. Sie ist keine Verlegenheitslösung und kein bloßer Zufall«, erläutert Banks, »es ist eine bestimmte Perspektive, die Emotionen auslöst. Der Computer kann diesen emotionalen Job nicht leisten.« Die meisten Lifelogger nähern sich dem Thema Daten von einer sehr informatiklastigen Seite. Sie wollen maschinenlesbare Datenbanken schaffen. Gordon Bell und andere Prediger des Lifelogging-Zeitalters glauben daran, dass Computer eines Tages dazu in der Lage sein werden, Sinn in den Daten zu erkennen. Welche Art von Sinn das sein wird, sagen sie nicht. Gerade daran zeigt sich, dass die Entwicklung von Lifelogging zu intensiv von der technischen Seite her gedacht und vorangetrieben wird. »Ich glaube, wir sollten nicht so viel Vertrauen in die Maschinen haben«, sagt Richard Banks. »Sie generieren keine Bedeutung aus den Inhalten, die wir sammeln.«

Ein weiterer Weg, um aus der Datenfalle zu entkommen, ist mehr Sorgfalt. Diese Sorgfalt geht gerade verloren. Nur wenige können sich noch sorgfältig der Welt nähern. Aber es gibt sie noch. In dem Onlineprojekt collectionaday.com werden jeden Tag sorgfältig arrangierte Fotos von kleinen Alltagssammlungen ins Netz gestellt. Das Projekt Things organized neatly ist ebenfalls eine sorgfältige Fotosammlung von Austin Radcliffe. Es ist, wie die New York Times schrieb, eine Webseite, die »Zeug sammelt, damit wir das nicht tun müssen«. Wir können so physikalische Dinge ge­nießen, ohne diese besitzen zu müssen. »Es geht um die Liebe zu Dingen – ohne die Dinge.« Was an gebrauchten Gegenständen so besonders ist, erkennt man erst nach einiger Zeit. Die irische Künstlerin Nicky Bird machte aus der irritierenden Vorstellung, dass man Erinnerungen kaufen kann, ein Kunstprojekt. Sie ersteigerte auf eBay Fotoalben unbekannter Menschen und arrangierte sie zu einer Ausstellung.23 Mit dem Projekt A painting a day hat der Künstler Edward B. Gordon aus der Flüchtigkeit des Alltags ein Geschäftsmodell entwickelt. Er malt Schnappschussszenen und versteigert diese im Internet.24 Seine Eintagsmalerei ist eine ganz andere Form von Lebensprotokoll. Seine Käufer kommen aus der ganzen Welt. Sie scheinen die Idee zu honorieren. »Malen heißt, sehr viel weglassen«, sagt Gordon, »fokussieren auf die Essenz.« Sein Programm ist also das genaue Gegenteil des omnipräsenten und dauerhaften Lifeloggings, das daraus besteht, immer mehr Details hinzuzu­fügen. Durch das Weglassen entsteht eine neue Qualität, ein neuer Blick. Seine Bilder sollen den täglichen Umbruch symbolisieren, die Verwandlung der Welt, in der wir leben. In der Zurückhaltung liegen das Faszinierende und der eigentliche Gewinn.

Es wird am Ende darauf ankommen, ob wir die Welt nur zählen oder erzählen. Wir könnten auch anders, denn nicht jede Möglichkeit verpflichtet zu ihrer Nutzung. Wir brauchen weder eine totale Transparenz noch ein perfektes Gedächtnis. Nicht die Technik sollte die Black Box sein, sondern der Mensch, das einzige Wesen, das sein eigenes Erleben erleben kann. Von Goethe stammt der wundervolle Satz: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« Lifelogging ist das Gegenteil, der Auszug aus dem eigenen Selbst in eine digitale Wüste. Würden wir es wagen, nach innen zu blicken, wir sähen ein undurchschaubares und vergängliches Gewirr von Vorgängen. Wir würden erkennen, dass es zu unseren Daseinsbedingungen gehört, dass alles provisorisch ist und niemand etwas Genaues weiß.

Kritische Thesen zu Lifelogging

Kritische Thesen zu Lifelogging (Teil 1)

Kritische Thesen zu Lifelogging (Teil 2)

Kritische Thesen zu Lifelogging (Teil 3)

Epilog: Lob der Unberechenbarkeit

An einem verschneiten Winterabend in Wien besuchte ich einen Vortrag im Rathaus der Stadt. Ein Gentechniker erklärte seine große Vision. In Zukunft, so führte er anhand von For­schungs­ergebnissen vor, werden wir alle »unsere eigene Reparaturwerkstatt sein«. Der Wissenschaftler sprach von der Rückkehr ins Paradies – einer neuen, technikgetriebenen Version des Paradieses. Es war das Versprechen eines modernen Priesters und Schamanen. Aber die neue Biologie des Lebens ist genau wie dessen Digitalisierung ein Heilsversprechen, das auf grandioser Selbstüberschätzung beruht. Den Anwesenden war das egal. Im Glanz ihrer Augen konnte ich erkennen, dass das Versprechen auf Gesundheit und langes Leben jede noch so ­homöopathische Dosis Skepsis längst aus ihrem Bewusstsein vertrieben hatte.

Das Problem dieser scheinbar so unwiderlegbaren Heilslehren besteht darin, dass sie in der Absicht, Leiden zu minimieren und das menschliche Leben technisch zu optimieren, ­genau das zerstören, was unser Dasein eigentlich ausmacht: Zufälle, Emotionen, Sinnlichkeit, Unkontrollierbares, das Scheitern an den eigenen guten Vorsätzen, Erfolge und Niederlagen, also das Menschliche überhaupt. Friedrich Nietzsche nannte Menschen, die sich allzu leidenschaftlich auf den Fortschritt einließen und sich konformistisch an den Zeitgeist klammerten, »Legionäre des Augenblicks«.

Die Priester und Schamanen des Lifelogging sind solche Legionäre, die uns viel über den Zeitgeist verraten, aber wenig ­darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein. Denn die Welt muss nicht so sein, wie sie ist. Es gibt immer eine Alternative zu dem, was uns als natürlich, selbstverständlich und unausweichlich erscheint. Der Mensch ist ein Meisterwerk (Shakespeare), und zu dieser Meisterschaft gehört auch die Begabung zur Vernunft. Aber der gute Immanuel Kant würde sich heute im Grabe herumdrehen, wenn er sähe, wohin das alles geführt hat und dass der Mensch vor lauter Rationalität dabei ist, sich selbst abzuschaffen.

Am Beginn der Beschäftigung mit Lifelogging stand – wie bei vielen anderen auch – der Versuch, die eigenen »Problem­zonen« mit technischer Unterstützung in den Griff zu bekommen. Das ­eigene Körpergewicht zu reduzieren, die eigene Aktivität zu steigern, sogar die Sitzhaltung am Schreibtisch mittels einer App zu verbessern. Diese Selbsterkundungen wirken sich immer verstörender auf mich aus. Blinkende Lämpchen, bunte Grafiken, täglich aktualisierte Tabellen – ich fühlte mich bald wie der berühmte Pawlow'sche Hund: konditioniert und abgerichtet. Und wofür? Schützte mich meine WLAN-fähige Waage wirklich vor meinen Lebenslügen? Dann hätte ich auch alle Spiegel ­abhängen müssen. Machten mich die Selbstvermessungen zu einem besseren Menschen? Sie haben mir noch nicht einmal gezeigt, worauf es bei einem guten Leben wirklich ankommt!

Ohne Zweifel wird sich das große Hamsterrad unbeirrt von meinen kritischen Thesen weiterdrehen. Und irgendwie müssen wir es schaffen, Umdrehung für Umdrehung damit klarzukommen. Das ist das eine. Das andere ist der neue Fetisch der Berechenbarkeit einer jeden Umdrehung. Wir alle werden in Zukunft darüber entscheiden müssen, wie berechenbar wir sein wollen und wie konformistisch und rational wir uns verhalten. Die Entscheidung kann uns niemand abnehmen.

Ich persönlich werde in Zukunft jede digitale Technologie nutzen, in der ich einen lebensdienlichen Sinn für mich erkennen kann. Trotzdem möchte ich, als Bürger, Konsument und Mensch, weiter unberechenbar bleiben.

Danksagung

Auf dem Berliner Forum Wissenschaft und Innovation der Friedrich-Ebert-Stiftung formulierte im April 2005 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einen bemerkenswerten Gedanken über Furtwangen im Hochschwarzwald – die Stadt, in der ich lebe: »Das enge Tal im Schwarzwald ist buchstäblich vollgestopft mit dem, was wir ›Hidden Champions‹ nennen, die in vielen Branchen Weltklasse anbieten. In Furtwangen lebt bis heute also jener Geist des fleißigen Tüftelns, herrscht eine Mentalität der Standfestigkeit und existiert ein Glaube an die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Genau das sind die Haltungen, von denen ich denke, dass wir sie ganz verstärkt wieder brauchen.« Ich stimme in so gut wie nichts mit Gerhard Schröder überein, aber dieses eine Mal hatte er recht. Ich danke daher den vielen Schwarzwäldern und vor allem den Bewohnern der Stadt Furtwangen, die mich aufgenommen haben. Es hat nur ein paar Jahre gedauert, bis wir uns liebgewonnen haben. Nun aber finde ich hier Ruhe und Kraft.

Es ist kein Zufall, dass sich ein Soziologe gerade in Furtwan­gen, der Heimatstadt der Kuckucksuhr, mit einem Thema wie Lifelogging beschäftigt. Die Querverbindungen zwischen der Sinnbastelei mit Daten und der Tüftlerkultur des Schwarzwaldes sind jedenfalls für mich deutlich sichtbar, und so danke ich zunächst Eduard Saluz, dem Direktor des Deutschen Uhrenmuseums, dafür, diesen einzigartigen Ort auch als Kulisse für die Videos nutzen zu dürfen, die dieses Buch in der E-Book-Fassung bereichern.

An der Hochschule Furtwangen konnte ich vieles von dem lernen, was ich über das Verhältnis von Technik, Mensch und Gesellschaft schrieb – jeden Tag habe ich mit Technikern zu tun, die vor lauter Unbeirrbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit die Folgen ihres Handelns nicht immer angemessen mitreflektieren. Wie willfährig sie daran mitarbeiten, Menschen zu Objekten und das Leben zu einem vermessbaren Projekt zu machen, irritiert mich immer wieder. Dennoch will ich ihnen allen danken, denn diese unmittelbare Anschauung hat mich in meiner Skepsis geschult und weitergebracht. Die intellektuelle Verwirrung lässt in dem Moment nach, in dem man sich selbst zwingt, Argumente zu finden.

Einigen in diesem Buch zitierten Personen möchte ich aus fachlichen Gründen ganz besonders danken. Sie stellten mir Quellen zur Verfügung oder standen für persönliche Interviews bereit: Richard Banks, Gordon Bell und Abigail Sellen von Microsoft Research, Mike Massimi von der Universität Toronto, Aiden Dohorty von der Universität Oxford und Cathal Gurrin von der Universität Dublin und Tyler Cassity von Hollywood Forever.

Ich danke Sören Gahrmann, der mich bei meinen Exkursionen in das Feld der Selbstvermesser unterstützte, sowie allen Studierenden, die sich im Rahmen von Abschlussarbeiten und Seminaren an der Fakultät »Digitale Medien« der Hochschule Furtwangen mit dem Thema Lifelogging beschäftigt haben, insbesondere Patrick Burkert, Timo Gemmrich, Maria Gutknecht, Christiane Knittel, Toprak Özgür und André Lang.

Steffen Hinderer, Hatto Knittel und Markus Mohr möchte ich für die gemeinsame kontinuierliche Arbeit am Thema Lifelogging im Rahmen von Studienprojekten danken. Besonderer Dank gilt Markus Tralls, der als Projektleiter das Team zu­sam­mengehalten und für Kontinuität gesorgt hat. Es sind exakt diese Typen von forschenden Studierenden, die Gerhard Schröder auch im Blick hatte und auf die die Hochschule Furtwangen zu Recht stolz ist. Allerdings wäre es schön, wenn die Tüftler nicht nur unter sich blieben.

Die Fragen des 21. Jahrhunderts werden soziale und nicht technische sein.

Ich danke den akademischen Mitarbeitern an der Fakultät ­»Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft«, nämlich Peter Biniok, Iris Menke, Michaela Hölz, Felix Hollerbach und Ines Hülsmann, die mir während des Schreibens an diesem Buch den Rücken frei­gehalten haben. Ich hoffe, dass wir gemeinsam noch mehr bewegen.

Abschließend möchte ich von Herzen meiner Frau Marion danken. In ihrem fürsorglichen und liebenden Blick erkenne ich mich immer wieder neu. Dafür brauche ich keine Selbstvermessung. Ihr ist dieses Buch gewidmet.