Inhaltsverzeichnis

DAS BUCH
DER AUTOR
Hyperion
PROLOG
ERSTER TEIL
Die Geschichte des Priesters: »Der Mann, der zu Gott flehte«
Aus dem Tagebuch von Pater Paul Duré
ZWEITER TEIL
Die Geschichte des Soldaten: Die Liebenden im Krieg
DRITTER TEIL
Die Geschichte des Dichters: »Hyperionische Gesänge«
VIERTER TEIL
Die Geschichte des Gelehrten: Der Fluss Lethe schmeckt bitter
FÜNFTER TEIL
Die Geschichte der Detektivin: Der lange Abschied
SECHSTER TEIL
Die Geschichte des Konsuls: Erinnerungen an Siri
EPILOG
Der Sturz von Hyperion
ERSTER TEIL
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EPILOG
NACHWORT
Copyright

DER AUTOR

Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Nach dem Studium arbeitete er einige Jahre als Englischlehrer, bevor er sich 1987 als Schriftsteller selbstständig machte. Sein großes Science-Fiction-Epos »Die Hyperion-Gesänge« sowie der historische Roman »Terror« über John Franklins Suche nach der Nordwestpassage waren internationale Bestseller. Zuletzt ist bei Heyne sein Roman »Flashback« erschienen. Dan Simmons lebt mit seiner Familie in Colorado, am Rande der Rocky Mountains.

NACHWORT

Sehen wir es so: Sie haben eine knapp 1400seitige literarische Achterbahnfahrt hinter sich – selten traf dieses klischeebehaftete Prädikat auf einen Text so zu wie auf Dan Simmons’ »Hyperion-Gesänge« –, und wie bei einer Achterbahn üblich fährt die Gondel am Ende wieder in jenen geraden, ruhigen Abschnitt ein, wo die Fahrt begonnen hat. Und wo hat sie noch einmal begonnen? Ach ja, hier:

Der Hegemoniekonsul saß auf dem Balkon seines Ebenholzraumschiffs und spielte Rachmaninows Prélude in cis-Moll auf einem uralten, aber gut erhaltenen Steinway, während sich große grüne Saurierwesen unten in den Sümpfen drängten und heulten.

Die Science Fiction hat in ihrer Geschichte viele gute erste Sätze hervorgebracht – unter meinen persönlichen Greatest Hits rangieren H.G. Wells’ »Der Zeitreisende (denn so wollen wir ihn der Bequemlichkeit halber nennen) war im Begriff, uns eine geheimnisvolle Sache darzulegen«, George Orwells »Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn« und Philip José Farmers »Jim Grimson hatte nie vorgehabt, die Hoden seines Vaters zu verspeisen« –, und der erste Satz von »Die Hyperion-Gesänge« zählt ganz sicher zu den Besten. Wie der Stimmton eines Meisterorchesters enthält dieser Satz bereits das ganze erzählerische und ästhetische Programm des Kommenden, ohne es in irgendeiner Form preiszugeben: den »gothic sense of wonder«, die Fin-de-siècle-Melancholie, die interplanetarische Action.

Simmons’ erster Satz ist allerdings nicht nur auf die Binnenstruktur des Textes bezogen hochinteressant, sondern er illustriert auch wunderbar, in welcher Weise sich die Science Fiction von der zünftigen, üblicher-, aber fälschlicherweise »realistisch« genannten Literatur fundamental unterscheidet: nämlich in der Wahrnehmung. Samuel R. Delany, amerikanischer Literaturwissenschaftler und selbst Science-Fiction-Autor, hat einmal den Versuch unternommen, mit Menschen, die nichts mit dem Genre am Hut haben, ansonsten aber hochgebildete Leser literarischer Texte sind, einen typischen Satz aus einem Science-Fiction-Roman ganz langsam, Wort für Wort durchzugehen, und es stellte sich heraus, dass diese Menschen große Mühe hatten, sich eine alternative Welt vorzustellen, die der Autor in der Zukunft angesiedelt hat und der Aussage in dem jeweiligen Satz erst ihren Sinn verleiht; und dass dies nicht so sehr ihrem Mangel an Fantasie generell zuzuschreiben war – sie haben ja keine Probleme, ein Wohnzimmer bei Austen, eine Datscha bei Tolstoi oder eine Schule bei Dickens zu imaginieren, alles Orte, die aus heutiger Sicht durchaus etwas Fantastisches haben –, sondern eher der Tatsache, dass sie mit den Worten und Bildern einfach nichts anfangen konnten. Der erste Satz der »Hyperion-Gesänge« würde sich für solche Experimente in Sachen literarischer Wahrnehmung wunderbar eignen: Wer oder was ist wohl ein Hegemoniekonsul? Warum sollte ein Raumschiff einen Balkon haben? Wie kommt ein echter (nicht etwa ein nachgebauter) Steinway auf einen anderen Planeten? Und warum sollte man Dinosauriern Rachmaninow vorspielen? Und so weiter. Wenn man sich aber damit schwertut, diesen Satz, die Worte, die er verwendet, die Bilder, die er evoziert, in das Gerüst einer »Welt« einzufädeln, dann – und so geht es eben vielen mit der Science Fiction – ist man für den ganzen Roman verloren.

Das ist schade für diese Menschen, denn sie ahnen gar nicht, was ihnen so alles entgeht, aber es sollte eigentlich nicht unser Thema sein; da Sie es bis hierher geschafft haben, hatten Sie dieses Problem ja ganz offensichtlich nicht. Nun ist es aber so, dass die Science Fiction als kulturelles Phänomen schon allein aufgrund ihres enormen Erfolges nicht zu übergehen ist, und daher befassen sich all diese Menschen an ihren Universitäten und in ihren Redaktionen und wo immer sie sich sonst noch institutionalisiert haben, all diese Menschen, die damit eigentlich nichts anfangen können, eben doch mit dem Genre und zimmern es sich so zurecht, dass sie etwas damit anfangen können. Und das geht so: Der Science-Fiction-Autor XY will eigentlich gar keine andere Welt in irgendeiner fernen Zukunft, sondern unsere Welt nur in verfremdeter Form beschreiben, und all seine Gadgets und Neologismen und Special Effects sind Allegorien, Symbole, Metaphern für vertraute Wesenheiten und Vorgänge aus der sozialen Wirklichkeit. Aus dieser Perspektive ist alles plötzlich wunderbar einfach: Da sind die Morlocks die Proletarier des englischen Frühkapitalismus; da ist der »Große Bruder« Väterchen Stalin; da versammelt sich auf der Brücke der Enterprise die UNO; da erhält das Jedi-Laserschwert einen phallischen Sinn; da symbolisiert das Shrike … Ja, was symbolisiert wohl das Shrike?

»Wir wollen keine fremden Welten«, sagt Ulrich Tukur in Steven Soderberghs schöner Solaris-Neuverfilmung, »wir wollen Spiegel.« Spiegel für unsere Ängste und Hoffnungen im Hier und Heute; Spiegel für ein Wesen, das sich, trotz aller Aufklärung und Emanzipation und Daueranalyse, noch immer selbst ein Rätsel ist; Spiegel in Form eines Genres, das am engsten mit dem verbunden ist, was man gemeinhin als Fortschritt, also der Dynamisierung der Materie und all ihren psychopathologischen Begleiterscheinungen, bezeichnet. Die Science Fiction also als kollektive, popkulturelle Couch. Was für ein wunderbares Missverständnis!

Denn es geht in der Science Fiction – wenn sie sich selbst ernst nimmt, wenn sie, anders gesagt, ernst nimmt, dass sie wie jedes literarische Genre etwas Einzigartiges besitzt – tatsächlich um genau das: um fremde Welten.

Natürlich sind Dan Simmons’ »Hyperion-Gesänge« auf den ersten Blick bestens dafür geeignet, die allegorische Sichtweise nicht nur zu bestätigen, sondern um den Text herum einen interpretatorischen Apparat zu errichten, der keinen Stein auf dem anderen lässt. Die unzähligen Bezüge – nicht nur Namen und Orte, auch ganze Handlungsstränge und Plot Points – zum Poesie-Genie John Keats, zu seinem wie im Rausch geschriebenem Werk und seinem frühen Tod; die Struktur des ersten Teils wie Chaucers Canterbury-Erzählungen oder Boccaccios Decamerone; die augenzwinkernden Anspielungen auf Literaturbetrieb und künstlerisches Schaffen, die der Action-Story einen postmodernen Hauch verleihen; ja, all die literarischen, politischen, wissenschaftshistorischen und genre-immanenten Verweise – von Churchill über William Gass, Freeman Dyson, Jack Vance, William Butler Yeats, Stephen Hawking zu William Gibson – und wunderbaren Wortschöpfungen, die Farcaster-Portale, Fatline-Nachrichten, Poulsen-Behandlungen, Schrön-Schleifen, Cybriden … Was mag sich der Autor dabei wohl gedacht haben? Worauf will er uns hinweisen? Was will er uns damit sagen?

Diese Fragen sind mehr als berechtigt, und wenn Sie »Die Hyperion-Gesänge« so wie ich mit einem Lexikon in Griffweite gelesen haben, dann hatten Sie bestimmt auch einen Heidenspaß daran, diesen Anspielungen und Verweisen nachzugehen. Aber das ist nur ein Aspekt des Buches und gar nicht der entscheidende. Denn wenn es der entscheidende wäre, dann würden die »Hyperion-Gesänge« unter dieser Last zusammenbrechen, dann hätten wir es mit einem blutleeren Konstrukt zu tun, an dem die Akademiker glücklich nagen könnten, an dem das Publikum aber – und vielen Romanen inner- und außerhalb des Genres ergeht es ja so – voller Respekt und Bewunderung vorbeigeht.

Doch so war es nicht: Als »Hyperion« 1989 erschien – der zweite Teil kam in kurzer Folge ein Jahr später heraus –, schlug das Buch in der Science Fiction ein wie eine Bombe, gewann praktisch alle Preise, die das Genre zu vergeben hat, fand weltweit ein Millionenpublikum und zählt seither zu jener Handvoll Science-Fiction-Romane, die man unbedingt gelesen haben sollte. Das hat mehrere Gründe: Mit Dan Simmons hatte sich ein ziemlich raffinierter und visuell ungemein begabter Schriftsteller dem Genre zugewandt, der, aus dem Horror kommend, genau weiß, wie man Spannung erzeugt, der wie Stephen King die Kunst beherrscht, etwas zu erklären, ohne es wirklich zu erklären, und der sich schamlos das Beste aus allen Science-Fiction-Welten zusammenklaut und die Möglichkeiten dieses Genres (und anderer) geradezu zelebriert – bis zu dem Punkt, dass einem das Gefühl beschleicht, er wollte den Science-Fiction-Autoren einfach einmal zeigen, wo der Hammer hängt. Außerdem wartete »Hyperion« nach vielen Jahren des »Inner Space« und des »Cyberpunks« – einer Science Fiction also, die sich mehr mit der menschlichen Psyche und ihren möglichen Modifizierungen befasste als mit dem, was Cordwainer Smith einst das große »Auf-und-hinaus« genannt hat – endlich wieder mit einem galaktischen Panorama auf, mit exotischen Raumschiffen und reichlich planet jumping. Und nicht zuletzt wimmelt es in dem Text nur so von faszinierenden Details und wirklich atemberaubenden technischen Ideen, die, wie sonst oft üblich, nicht zu Tode referiert, sondern nahtlos in die Handlung eingefügt werden (ich habe selten einen Science-Fiction-Roman, zumal eine »Space Opera«, gelesen, der auf so vielen Seiten so wenig technisch ist). Aber der Hauptgrund, warum das Buch bis heute unzählige Leserinnen und Leser begeistert und als moderner Klassiker des Genres gilt, ist, dass Dan Simmons eine Welt baut, die absolut fremd und fantastisch und zugleich absolut glaubwürdig ist. Eine Welt, in der es eben nicht darum geht, jedes Handlungselement auf irgendeine vertraute gegenwärtige Situation oder Simulation zu beziehen und daraus einen Aha-Effekt zu erzeugen, sondern eine Welt, die für sich ein einziger großer Aha-Effekt ist. Wenn es stimmt, dass der berühmte Satz von Arthur C. Clarke »Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden« den Unterschied zwischen Science Fiction und Fantasy markiert und nicht etwa einebnet, dann setzt Dan Simmons dies in »Die Hyperion-Gesänge« auf kongeniale Weise um: Er baut eine Welt, in der alles Mögliche möglich ist, aber eben nicht alles; eine Welt, die nicht im Irgendwo schwebt, sondern aus unserer entstanden ist, ja, sich aus unserer geradezu herauskompostiert hat (und es ist ein nicht geringer Teil der Lesefreude, aus dem über den Text verstreuten Informationshäppchen eine Chronologie zu konstruieren); in der die Menschen wie in jeder Epoche unserer tragischen, wunderbaren Geschichte mit dem Werkzeug, das ihnen gerade zur Verfügung steht, die Naturgegebenheiten interpretieren und replizieren und umsortieren; und in der – es sind, wie Pater Duré sagt, »verwirrte und verwirrende Zeiten« – die Menschen sich schließlich die Frage stellen, ob sie noch auf der Höhe ihrer selbst sind und nicht längst mit etwas konfrontiert, das nicht-interpretierbar, nicht-replizierbar, nicht-umsortierbar ist. Etwas, das sie vielleicht selbst irgendwann einmal ins Leben gerufen haben. Oder etwas, das sie irgendwann einmal ins Leben gerufen hat.

In John Keats’ Fragmenten »Hyperion« und »Der Sturz von Hyperion« – an denen Dan Simmons, wie er einmal in einem Interview bekannte, vor allem anderen das Wort »Hyperion« fasziniert und seine Fantasie in Gang gesetzt hat – kämpfen die alten Götter, die Titanen, mit aller Macht um ihren Platz im Weltgefüge und werden doch sukzessive von den neuen Göttern, den Olympiern, ersetzt. Und obwohl Keats tief in der Tradition der Hochromantik verwurzelt war und nicht wie seine Zeitgenossen und Freunde Percy und (vor allem) Mary Shelley die poetischen Fühler nach dem Zittern, das die industrielle Revolution ankündigte, ausstreckte, hat er damit in gewisser Weise noch präziser als »Frankenstein« den Kern dessen getroffen, was die Science Fiction später kennzeichnen sollte: Denn wir sind es, die die jeweils veralteten Götter vertreiben; wir sind es, die überhaupt von »Gott« besessen sind, von der Möglichkeit, es ihm, wie Sol Weintraub sagt, »auf seinem Grund und Boden zu zeigen«; wir sind es, die so lange an den Unzulänglichkeiten dieser Welt herumbasteln werden, bis wir uns selbst wie Gott fühlen; und wir – also unsere Abkömmlinge in ferner Zukunft, sollte es denn eine solche Zukunft geben  – sind es, die diesen ganzen Schlamassel ausbaden müssen. Das ist das den »Hyperion-Gesängen« zugrundeliegende, wenn man so will, hermeneutische Programm (das Dan Simmons in den beiden »Endymion«-Bänden konsequent weiterverfolgt, in denen er Brawne Lamias Tochter Aenea, die, wie es am Ende der »Hyperion-Gesänge« anklingt, »Lehrende«, durch Raum und Zeit jagt): Wer oder was steckt wirklich dahinter? Wer belügt wen, wer manipuliert wen, wer erzeugt wen? Welcher Gott, wie Borges fragt, beginnt hinter Gott das »Spiel mit Staub und Zeit und Traum und Tränen«? Und wer, wie Simmons fragt, wird dieses Spiel eines Tages gewinnen?

Das alles könnte den »Hyperion-Gesängen« durchaus einen Zug ins Religiös-Eschatologische verleihen, wie er der Science Fiction – man denke an die unerträglich verquasten Matrix-Fortsetzungen  – zuweilen eigen ist, aber wenn es um Bodenhaftung geht, kann es mit Dan Simmons kaum ein anderer Schriftsteller aufnehmen (lesen Sie seinen großartigen historischen Roman »Terror« und Sie wissen, was ich meine): Im scharfkantigen Hyperion-Universum sind Zeit und Glaube und Physik Macht – und Macht ist auch in der Zukunft immer noch die wichtigste Währung, in der gehandelt wird – und im Übrigen gilt das Benjamin’sche Diktum, wonach jeder Akt der Zivilisation gleichzeitig ein Akt der Barbarei ist. Und trotzdem kann es passieren, dass die reduktionistischrationalistische Sichtweise nur eine von vielen ist: dass ein Baumschiff mehr ist als ein Raumschiff aus Holz und eine schwimmende Insel mehr als eine Laune der Natur. Und dass ein Wesen mit vier Armen und einem Panzer aus stählernen Dornen und diabolisch leuchtenden Augen, das sich durch die Zeiten bewegt, als ginge es mal eben zum Einkaufen, mehr ist als eine irgendwann von uns zu irgendeinem Zweck erzeugte Maschine – vulgo also ein Symbol, eine Allegorie, eine Metapher für die menschliche Hybris. Und auch mehr als der berühmte Hitchcock’sche MacGuffin, der lediglich dazu dient, die Handlung voranzutreiben. Nein, das Shrike – um das sich Simmons wie ein vituoser Akrobat schraubt und windet, sorgfältig darauf achtend, dass er sein Mysterium nicht preisgibt oder gar für einen billigen Effekt opfert – ist das, was wir verstehen wollen, aber nicht können; das, was sich hinter dem Spiegel befindet; das so wundervolle wie erschreckende Rätsel, das es nicht zu lösen, sondern zu bestaunen gilt. (Nicht nur ästhetisch drängt sich hier eine Parallele zu Ridley Scotts Alien auf: Der Versuch einer Antwort auf die Frage, was dieses außerirdische Wesen ist und woher es stammt, generiert, wie im neuesten Film der Serie Prometheus, gänzlich neue, unerwartete, größere Fragen.)

Und was befindet sich nun hinter dem Spiegel? Wollen Sie es wirklich wissen?

In Shakespeares »König Lear« gibt es im vierten Akt die herrliche Szene, in der der erblindete und lebensmüde Gloster meint, dass ihn sein Sohn Edgar an den Rand einer Klippe führt:

GLOSTER: Wann kommen wir zum Gipfel dieses Bergs?

EDGAR: Ihr klimmt hinan, seht nur, wie schwer es geht!

GLOSTER: Mich dünkt, der Grund ist eben.

EDGAR: Furchtbar steil. Horcht! Hört Ihr nicht das Meer?

John Keats war begeistert von dieser Szene und hat sie in etliche seiner Gedichte einfließen lassen, und man begreift nicht zuletzt daran, warum Dan Simmons so von Keats begeistert ist. Denn das Meer dort draußen ist wie das Meer in uns: ein Meer der Imagination, ein Meer der Geschichten. Geschichten, nach denen wir die Hand ausstrecken, die wir uns auch noch in tausenden von Jahren erzählen werden. Und ab und an entdecken wir eine Geschichte, die sich selbst weitererzählt hat – und nicht mehr hier ist, sondern dort. Dort, wo wir noch nicht sind.

In der Science Fiction – auch das ein geradezu kanonisches Missverständnis – geht es nicht um Wissenschaft, sondern, schon seit den Tagen Jules Vernes und H. G. Wells’ und noch früher den Tagen Johannes Keplers und Cyrano de Bergeracs, um das Erzählen von Wissenschaft, geht es nicht um Welterklärung oder gar Sinnstiftung, sondern darum, dass, wie John Gray in seinem jüngst erschienenen Buch »Wir werden sein wie Gott« schreibt, »noch die akribischte Forschung eine Welt enthüllt, deren Rätsel das Chaos ist und der der menschliche Wille letztlich ohnmächtig gegenübersteht«.

Ohnmächtig vielleicht, aber nicht blind.

Mit »Die Hyperion-Gesänge« hat Dan Simmons nicht nur ein großartiges Science-Fiction-Abenteuer geschrieben, sondern er hat uns auch gezeigt, warum die Science Fiction insgesamt ein großartiges Abenteuer ist: Weil sie auf manchmal absurde, manchmal hochtrabende, manchmal mitreißende, aber immer hinreichend unschuldige Weise – also mit demselben »fragenden und fassungslosen Blick« wie Sol Weintraubs Tochter Rachel – versucht, das Universum, in dem wir erwacht sind, zu verstehen, und gleichzeitig darauf vertraut, dass es nie aufhören wird, uns zu überraschen.

Spiegel gibt es in diesem Universum vermutlich keine. Aber wir haben uns ja auch lange genug selbst betrachtet.

Sascha Mamczak

PROLOG

Der Hegemoniekonsul saß auf dem Balkon seines Ebenholzraumschiffs und spielte Rachmaninows Prélude in cis-Moll auf einem uralten, aber gut erhaltenen Steinway, während sich große grüne Saurierwesen unten in den Sümpfen drängten und heulten. Im Norden braute sich ein Gewitter zusammen. Die Umrisse eines Waldes gigantischer Gymnospermen zeichneten sich vor blutergussschwarzen Wolken ab, Stratokumuli türmten sich neun Kilometer hoch in den aufgewühlten Himmel. Blitze zuckten am Horizont. Näher beim Schiff selbst stapften reptilienhafte Gestalten in das Sperrfeld, schrien auf und trotteten zurück in den indigofarbenen Nebel. Der Konsul konzentrierte sich auf einen schwierigen Teil des Préludes und schenkte weder dem Gewitter noch dem Einbruch der Nacht seine Aufmerksamkeit.

Der Fatline-Empfänger läutete.

Der Konsul hielt inne, verweilte mit den Fingern über der Tastatur und lauschte. Donner grollte durch die dichte Luft. Aus der Richtung des Gymnospermenwaldes ertönte der Klageruf einer Meute von Aasbrütern. Irgendwo in der Dunkelheit unten trompetete ein unvernünftiges Tier eine herausfordernde Antwort und verstummte. Das Sperrfeld bürdete der plötzlichen Stille seine Ultraschallschwingungen auf. Die Fatline läutete erneut.

»Verdammt«, sagte der Konsul und antwortete.

Der Computer brauchte ein paar Sekunden, den Schwall verfallender Tachyonen zu konvertieren und zu decodieren, also schenkte sich der Konsul ein Glas Scotch ein. Er nahm auf den Kissen der Projektionsnische Platz, als der Diskey gerade grün blinkte. »Abspielen«, sagte er.

»Sie sind auserwählt worden, nach Hyperion zurückzukehren« , sagte eine heisere Frauenstimme. Das Bild war noch nicht zur Gänze entwickelt; die Luft blieb frei, abgesehen vom Pulsieren des Übertragungscodes, der dem Konsul verriet, dass diese Fatline-Sendung ihren Ursprung auf der Regierungswelt Tau Ceti Center der Hegemonie hatte. Doch der Konsul brauchte die Übertragungskoordinaten nicht, um das zu wissen. Die gealterte, aber immer noch wunderbare Stimme von Meina Gladstone war unverwechselbar. »Sie sind auserwählt worden als Mitglied der Pilgergruppe zum Shrike«, fuhr die Stimme fort.

Was du nicht sagst, dachte der Konsul und stand auf, um die Nische zu verlassen.

»Sie und sechs andere wurden von der Kirche des Shrike ausgewählt und vom All-Wesen bestätigt«, sagte Meina Gladstone. »Es liegt im Interesse der Hegemonie, dass Sie akzeptieren.«

Der Konsul stand reglos in der Nische und hatte dem flackernden Übertragungscode den Rücken gekehrt. Nun hob er, ohne sich umzudrehen, das Glas und trank den Rest Scotch.

»Die Situation ist überaus verworren«, sagte Meina Gladstone. Ihre Stimme klang müde. »Das Konsulat und der Heimat-Regierungsrat haben uns vor drei Wochen Standardzeit über Fatline die Nachricht geschickt, dass die Zeitgräber den Anschein erwecken, als würden sie sich öffnen. Die Anti-Entropiefelder um sie herum dehnen sich rapide aus, und das Shrike wandert mittlerweile bis zum Bridle Range im Süden.«

Der Konsul drehte sich um und ließ sich wieder auf die Kissen fallen. Ein Holo von Meina Gladstones uraltem Gesicht hatte sich gebildet. Ihre Augen sahen so müde aus, wie sich ihre Stimme angehört hatte.

»Eine Einsatztruppe von FORCE:Weltraum wurde unverzüglich von Parvati losgeschickt, um die Bürger der Hegemonie auf Hyperion zu evakuieren, bevor sich die Zeitgräber öffnen. Ihre Zeitschuld beträgt etwas mehr als drei Hyperionjahre.« Meina Gladstone machte eine Pause; der Konsul dachte, dass er die Senatspräsidentin noch nie so grimmig gesehen hatte. »Wir wissen nicht, ob die Evakuierungsflotte rechtzeitig eintreffen wird«, sagte sie dann, »aber die Situation ist noch komplizierter. Ein Wanderschwarm der Ousters, bestehend aus mindestens viertausend … Einheiten … ist im Anflug auf das Hyperion-System. Unsere Evakuierungsflotte dürfte nur knapp vor den Ousters dort eintreffen.«

Der Konsul verstand Gladstones Zögern. Ein Wanderschwarm der Ousters konnte aus Schiffen bestehen, deren Größe von Einpersonenaufklärern bis hin zu Städtekuppeln und Kometenforts reichte, die Zehntausende dieser interstellaren Barbaren beheimateten.

»Die FORCE-Befehlshaber glauben, dass es sich um den großen Schlag der Ousters handelt«, sagte Meina Gladstone. Der Schiffscomputer hatte das Holo jetzt so positioniert, dass die traurigen braunen Augen der Frau den Konsul direkt anzusehen schienen. »Ob sie nur Hyperion wegen der Zeitgräber erobern wollen, oder ob dies ein umfassender Großangriff gegen das Weltennetz ist, bleibt abzuwarten. Vorläufig wurde eine vollständige Kampfflotte von FORCE:Weltraum zusammen mit einem Farcaster-Baubataillon aus dem Camn-System abgezogen, um zur Evakuierungsflotte zu stoßen, doch diese Truppe könnte wieder zurückgezogen werden, was ganz von der weiteren Entwicklung abhängt.«

Der Konsul nickte und hob geistesabwesend den Scotch zum Mund. Er sah das leere Glas stirnrunzelnd an und ließ es auf den dicken Teppichboden der Holonische fallen. Auch ohne militärische Ausbildung begriff er die schwierige taktische Entscheidung, vor der Gladstone und die Oberbefehlshaber standen. Wenn nicht schnellstens ein militärischer Farcaster im Hyperion-System installiert wurde – mit ungeheuren Kosten –, konnten sie der Invasion der Ousters keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Die möglichen Geheimnisse, die die Zeitgräber enthielten, würden dem Feind der Hegemonie in die Hände fallen. Wenn es der Flotte aber rechtzeitig gelang, einen Farcaster zu bauen und die Hegemonie sämtliche Reserven von FORCE darauf konzentrierte, die ferne Kolonialwelt Hyperion zu verteidigen, ging das Weltennetz die schreckliche Gefahr eines Angriffs der Ousters anderswo entlang der Grenze ein oder – ein Szenario, das vom Schlimmsten ausging – das Risiko, dass den Barbaren ein Farcaster in die Hände fiel und sie ins Netz selbst eindrangen. Der Konsul versuchte sich vorzustellen, wie die bewaffneten Truppen der Ousters durch Farcaster-Tore auf hunderten von Welten in schutzlose Städte einfielen.

Er schritt durch das Holo von Meina Gladstone, hob das Glas auf und schenkte sich noch einen Scotch ein.

»Sie sind auserwählt worden, an der Pilgerfahrt zum Shrike teilzunehmen«, sagte das Ebenbild der alten Präsidentin, die die Presse gerne mit Lincoln oder Churchill oder Alvarez-Temp oder jedweder Prä-Hegira-Legende verglich, die zur Zeit historisch en vogue war. »Die Tempelritter entsenden ihr Baumschiff Yggdrasil, und der Befehlshaber der Evakuierungsflotte hat Befehl, es passieren zu lassen. Mit einer Zeitschuld von drei Wochen können Sie zur Yggdrasil gelangen, bevor diese vom Parvati-System aus den Sprung macht. Die sechs anderen Pilger, die von der Kirche des Shrike auserwählt wurden, werden an Bord des Baumschiffes sein. Unsere Geheimdienstberichte sprechen dafür, dass mindestens einer der sieben Pilger ein Agent der Ousters ist. Wir wissen – zum derzeitigen Zeitpunkt  – noch nicht, wer es ist.«

Der Konsul musste lächeln. Unter sämtlichen Risiken, die Gladstone einging, musste die alte Frau auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er der Spion war und sie einem Agenten der Ousters wichtige Informationen über Fatline zukommen ließ. Aber hatte sie ihm irgendwelche wichtigen Informationen gegeben? Flottenbewegungen waren feststellbar, sobald die Schiffe den Hawking-Antrieb benützten, und wenn der Konsul der Spion gewesen wäre, hätte ihn die Eröffnung der Sprecherin womöglich abgeschreckt. Das Lächeln des Konsuls verschwand; er trank seinen Scotch.

»Sol Weintraub und Fedmahn Kassad gehören zu den sieben auserwählten Pilgern«, sagte Gladstone.

Der Konsul runzelte die Stirn. Er betrachtete die Wolke von Ziffern, die wie Staubkörnchen um das Bild der alten Frau herum flimmerten. Fünfzehn Sekunden Fatline-Übertragungszeit blieben.

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Meina Gladstone. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Geheimnisse der Zeitgräber und des Shrikes gelüftet werden. Diese Pilgerfahrt könnte unsere letzte Chance sein. Wenn die Ousters Hyperion erobern, müssen ihr Agent eliminiert und die Zeitgräber um jeden Preis versiegelt werden. Das Schicksal der Hegemonie könnte davon abhängen.«

Die Übertragung war zu Ende, abgesehen vom Flimmern der Rendezvouskoordinaten. »Antwort?«, fragte der Schiffscomputer. Trotz der gewaltigen Energien, die aufgewendet werden mussten, war das Raumschiff imstande, einen kurzen codierten Impuls in das unverständliche Brabbeln der FTL-Sendungen zu schicken, die die von Menschen bewohnten Teile der Galaxis miteinander verbanden.

»Nein«, sagte der Konsul, ging hinaus und lehnte sich über das Balkongeländer. Die Nacht hatte sich niedergesenkt, die Wolken hingen tief. Sterne waren keine zu sehen; ohne das gelegentliche Aufleuchten eines Blitzes im Norden oder die sanfte Phosphoreszenz über den Sümpfen wäre es völlig dunkel gewesen. Plötzlich war sich der Konsul überdeutlich bewusst, dass er momentan das einzige vernunftbegabte Wesen auf einer namenlosen Welt war. Er lauschte den urzeitlichen nächtlichen Geräuschen, die vom Sumpf emporstiegen, und dachte an morgen, an den Ausflug mit dem Vikken-EMV bei Tagesanbruch, an einen ganzen Tag im Sonnenschein, an Großwildjagd in den Farnwäldern im Süden, an die Rückkehr zum Schiff, ein gutes Steak und ein kaltes Bier. Er dachte an das ausgeprägte Vergnügen der Jagd und den ebenso ausgeprägten Trost der Einsamkeit: Einsamkeit, die er sich durch die Schmerzen und den Alptraum verdient hatte, die er schon einmal auf Hyperion erdulden musste.

Hyperion.

Der Konsul ging wieder hinein, zog den Balkon ein und versiegelte das Schiff, als die ersten schweren Regentropfen herunterprasselten. Dann ging er die Wendeltreppe zu seinem Schlafraum im Bug des Schiffes hinauf. Der kreisrunde Raum war dunkel, abgesehen von den stummen Explosionen der Blitze, die die Ströme von Regenwasser deutlich machten, die über das Oberlicht flossen. Der Konsul zog sich aus, legte sich auf die feste Matratze und schaltete Stereoanlage und Außenmikrofone ein. Er lauschte, wie sich die Wut des Gewitters mit dem Tosen von Wagners »Ritt der Walküren« vereinte. Orkanartige Windböen beutelten das Schiff. Das Bersten des Donners erfüllte den Raum, immer wenn das Oberlicht weiß aufblitzte und Phantombilder auf den Netzhäuten des Konsuls gleißten.

Wagner ist nur gut bei Gewittern, dachte er. Er machte die Augen zu, konnte die Blitze aber durch die geschlossenen Lider wahrnehmen. Er erinnerte sich an das Glitzern von Eiskristallen, die durch die verfallenen Ruinen auf den flachen Hügeln bei den Zeitgräbern wehten, und das noch kältere Funkeln von Stahl auf dem unmöglichen Baum aus Metalldornen des Shrike. Er erinnerte sich an Schreie in der Nacht und den hundertfacettigen rubin-und-blutroten Blick des Shrike selbst.

Hyperion.

Der Konsul befahl dem Computer lautlos, sämtliche Lautsprecher auszuschalten, und bedeckte die Augen mit dem Unterarm. In der plötzlichen Stille dachte er daran, was für ein Wahnsinn es wäre, wieder nach Hyperion zurückzukehren. In den elf Jahren, die er als Konsul auf dieser fernen, rätselhaften Welt verbracht hatte, hatte die geheimnisvolle Kirche des Shrike ein Dutzend Barken mit Pilgern von anderen Welten zu den windumtosten Ödländern um die Zeitgräber nördlich der Berge reisen lassen. Niemand war zurückgekehrt. Und das war in normalen Zeiten gewesen, als das Shrike Gefangener der Gezeiten der Zeit und von Kräften, die niemand verstand, gewesen war, und die Anti-Entropiefelder sich auf wenige Meter rings um die Zeitgräber herum beschränkt hatten. Und die Gefahr einer Invasion der Ousters nicht bestanden hatte.

Der Konsul dachte an das Shrike, das nun überall frei auf Hyperion herumwandern konnte, und an die Millionen Eingeborenen und die Bürger der Hegemonie, die dem Wesen, das den physikalischen Gesetzen trotzte und ausschließlich durch den Tod kommunizierte, hilflos ausgeliefert waren, und er erschauerte, obwohl es in der Kabine warm war.

Hyperion.

Nacht und Gewitter gingen vorüber, doch eine weitere Gewitterfront raste der aufziehenden Dämmerung voraus. Zweihundert Meter hohe Gymnospermen bogen und wiegten sich vor den brausenden Luftmassen. Kurz vor Tagesanbruch erhob sich das Ebenholzraumschiff des Konsuls auf einer Säule blauen Plasmas, stieß durch Wolken, die sich zusammenballten, und strebte dem Weltraum und dem Rendezvouspunkt entgegen.