Das Buch

Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie sich als Dienstbotin durchschlägt und später ein Flüchtlingsheim für jüdische Mädchen leitet. Mit Kochunterricht versucht sie ihre Schützlinge von den Kriegswirren abzulenken. Nach dem Krieg geht Alice nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte für Mehlspeisen und Tafelspitz vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den »Küchenmeister« Rudolf Rösch je gegeben?

Recherchen führen Alice’ Enkelin, die Historikerin Karina Urbach, in Wiener, Londoner und Washingtoner Archive, in denen sie längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente findet. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte der NS-Verbrechen.

Die Autorin

KARINA URBACH wurde an der Universität Cambridge promoviert. Sie arbeitete am Deutschen Historischen Institut London und der Universität London. Seit 2015 forscht sie am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie war an mehreren historischen Dokumentationen des ZDF, der BBC und des amerikanischen Senders PBS beteiligt. Neben Sachbüchern wie Hitlers heimliche Helfer und Queen Victoria. Die unbeugsame Königin veröffentlichte sie auch den historischen Roman Cambridge 5, der für mehrere Preise nominiert wurde.

KARINA URBACH

Wie die Nazis
das Kochbuch meiner
Großmutter raubten

Ullstein

Die im Buch zitierten Briefe, Berichte und Erinnerungen spiegeln die Sicht der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Flüchtigkeitsfehler wurden behutsam korrigiert, die Schreibweisen den heutigen Regeln angepasst.



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ISBN 978-3-8437-2357-2


Komplett überarbeitete und ergänzte Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Oktober 2021

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 / PropyläenVerlag

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage von Cornelia Niere, München

Titelabbildung: Das Foto zeigt Alice Urbachs »jüdische Hände«, entnommen aus ihrem Buch So kocht man in Wien!

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für
Wera und Otto
mit einer Umarmung

Vorwort
Buch einer Unbekannten

Ich kann nicht kochen. Daher interessierte mich auch nie, dass bei uns zu Hause zwei Kochbücher mit dem Titel So kocht man in Wien! im Regal standen. Text und Farbfotos beider Bücher waren identisch, nur die Autorennamen auf den Umschlägen unterschieden sich. Auf der Ausgabe von 1938 wurde Alice Urbach als Autorin angegeben, auf der von 1939 ein Mann namens Rudolf Rösch.

Alice Urbach war meine Großmutter. Ich sah sie selten, weil sie in Amerika lebte und ich in Deutschland. Sie starb, als ich noch ein Kind war, und meine Erinnerungen an sie sind vage. Ich wusste aus Familienanekdoten, dass sie in den 1930er-Jahren in Wien eine berühmte Kochbuchautorin gewesen war und ihr Leben dank ihrer Kochkünste hatte retten können. Warum und wie das geschehen war, wurde nie genauer erklärt.

Als ich viele Jahre nach ihrem Tod Historikerin wurde, kam mir nicht die Idee, etwas über sie zu schreiben. Familienforschung gilt unter meinen Kollegen als schwerer Straftatbestand. Der Grund dafür ist verständlich – der Mangel an emotionaler Distanz zu den beteiligten Personen. Genauso wie kein Chirurg seine Familienangehörigen operieren darf, so sollte kein Historiker an der Verwandtschaft herumlaborieren. Bei zittrigen Händen kann die Situation tödlich ausgehen. Denn welcher Historiker ist schon in der Lage, gnadenlos die dunkleren Seiten seiner Familie offenzulegen?

Und dann gab mir eines Tages meine kluge amerikanische Cousine Katrina (nur ein »t« macht den Unterschied in unser beider Namen) eine Kiste mit alten Briefen und Tonbandkassetten. Katrina ist eine engagierte Ärztin, und sie ist Pragmatikerin. In ihren Augen schien es ganz logisch, dass ich die Geschichte unserer Großmutter recherchieren müsse. Doch wie das häufig der Fall ist, kursierten in der Familie viele Anekdoten und wenige Fakten. Als ich die Briefe zu lesen begann und Alice’ Stimme auf Tonband hörte, bekam ich eine erste Ahnung davon, was ihr widerfahren war. Von diesem Moment an wollte ich nichts anderes als ihre Geschichte erzählen.

Die Recherche führte mich von Wien über London nach New York. Neben dem geografischen erweiterte sich auch der Kreis der Protagonisten. Alice war Teil einer weitverzweigten Familiengeschichte, die in einem Getto begann und sich in Wiener Millionärskreisen fortsetzte. In ihrem Leben spielten namhafte Personen wie die Psychoanalytikerin Anna Freud oder die Physikerin Lise Meitner eine Rolle, aber auch völlig unbekannte Menschen. Dazu gehörten eine amerikanische Geheimdienstagentin namens Cordelia Dodson, ein Münchner Verleger und 24 jüdische Kinder, die Alice während des Zweiten Weltkriegs im englischen Lake District betreute. Wichtig wurde auch die Geschichte von Alice’ eigenen Kindern – ihren Söhnen Otto und Karl. Während Otto in China einige Abenteuer erlebte, glaubte Karl lange Zeit vor den Nationalsozialisten in Wien sicher zu sein.

Dieses Buch ist im Laufe der Recherchen auch zu einer Diebstahlanzeige geworden. Alice war eine Sachbuchautorin, die erleben musste, wie ihr Werk plötzlich von einem »Arier« übernommen wurde. Was ihr widerfuhr, war Teil eines groß angelegten Betrugs, den deutsche Verlage nach dem Krieg fortsetzten. Alice’ Fall machte diese kriminellen Methoden im Herbst 2020 öffentlich und führte zu überraschenden Enthüllungen. Sie werden in dieser Neuausgabe erstmals beschrieben.

Alice kämpfte bis zuletzt um ihr Buch, hätte es selbst jedoch abgelehnt, als eine weibliche Hiobsfigur beschrieben zu werden. Sie wollte, dass man sich an ihre »Abenteuer und Taten« erinnert. Ihr Sohn Otto versuchte ebenfalls, Rührseligkeit zu vermeiden. Als er sich 1938 bemühte, seinen Bruder Karl aus Wien zu retten, schrieb er ihm: »Ich möchte dich bitten, alle Sentimentalitäten … auszuschalten. Es ist absolut unnötig, dankbare Apfelsauce in deine Briefe zu schießen.«1

Dieses Buch wird versuchen, ohne die Apfelsauce auszukommen.

Karina Urbach

Cambridge, im Juni 2021

Wiener Oper, 1938

»Rot-Weiß-Rot
bis zum Tod!«

Cordelia Dodson, 20031

Am Freitag, den 11. März 1938, kauften Cordelia, Elizabeth und Daniel Dodson Karten für die Wiener Staatsoper. Sie waren schon länger in Wien und kannten sich gut in der Stadt aus. Trotzdem hätte man sie nicht für Einheimische halten können. Die drei Geschwister sahen genau so aus, wie man sich junge Amerikaner aus bester Familie vorstellt: hochgewachsen, sportlich und – auf eine teure Art – leger gekleidet. Cordelia war die Älteste und eindeutig die Anführerin der Gruppe. Die 25-Jährige entschied darüber, was die Geschwister unternahmen, und für diesen Abend hatte sie einen Opernbesuch angesetzt.

Wenn man Cordelias späteren Aussagen glaubt, beschloss sie nach den Ereignissen des 11. März, ihr Leben zu verändern.2 Bis zu diesem Zeitpunkt war es ein äußerst behütetes Leben gewesen. Wie viele amerikanische Collegestudenten ihrer Generation kannte Cordelia nur ein Leben in Sicherheit. Ihr Vater, William Dodson, war Vorsitzender der Handelskammer von Portland, Oregon.3 Er hatte all seinen Kindern eine teure Universitätsausbildung finanziert, aber seine größten Hoffnungen lagen auf Cordelia. Es war kein Zufall, dass er ihr den Vornamen einer Shakespeare-Heldin gegeben hatte. Und wie King Lears Tochter würde auch Cordelia Dodson die Erwartungen ihres Vaters am Ende nicht enttäuschen.

Der Grund, warum Cordelia nach Wien gekommen war, lag bereits ein paar Jahre zurück. Als Schülerin hatte sie sich für die Autoren des Sturm und Drang begeistert und entschieden, deutsche Literatur zu studieren. Es war Zufall gewesen, dass sie sich am amerikanischen Reed College in Portland für Literaturwissenschaften eingeschrieben hatte, und es war auch Zufall gewesen, dass sie dort den österreichischen Austauschstudenten Otto Urbach kennenlernte. Der weitere Verlauf der Geschichte war kein Zufall mehr. Cordelia war auf Ottos Rat nach Wien gereist. Sie hatte seine Mutter Alice und seinen Bruder Karl kennengelernt, und diese Freundschaft würde am Ende das Leben von mehreren Menschen retten.

Von dieser Rettungsaktion und ihrer Rolle darin konnte Cordelia noch nichts ahnen, als sie am 11. März 1938 mit ihren Geschwistern in die Oper ging. Auf dem Spielplan stand Tschaikowskis Eugen Onegin, die Vorstellung begann um 19 Uhr. Eugen Onegin ist keine einfache Oper. Sie handelt von einem russischen Adligen, der die Liebe einer gewissen Tatjana zurückweist und kurz darauf aus völlig banalen Gründen einen Bekannten im Duell erschießt. Interessant an der Figur Onegins ist, dass er keine Empathie zeigen kann. Ein ähnliches Phänomen – ein absolutes Versagen der Empathie – würde bald ganz Wien ergreifen, die Belegschaft der Staatsoper inklusive. Nicht nur der jüdische Dirigent des Abends, Karl Alwin, auch die Darstellerin der Tatjana, Jarmila Nowotna, konnten auf das Mitgefühl ihrer Mitmenschen schon bald nicht mehr hoffen.

Warum Cordelia mit ihren Geschwistern ausgerechnet Eugen Onegin ansah und nicht einen Tag später Wagners Tristan und Isolde, ist nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht war Wagner schon ausverkauft, oder sie mochte ihn nicht. Vielleicht hatte sie aber auch keine besondere Ahnung von Opernmusik und tat nur, was Touristen in Wien bis heute tun – sie kaufen die erstbeste Karte und buchen anschließend noch einen Tisch im Restaurant. An Cordelias Opernbesuch war also nichts Ungewöhnliches, aber die Atmosphäre, in der er sich abspielte, war keineswegs alltäglich. Seit Tagen herrschte eine angespannte Stimmung in der Stadt. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hatte am 9. März eine Volksbefragung angekündigt, in der alle Österreicher die Möglichkeit haben sollten, sich für ein »freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich« auszusprechen. Doch schon am 10. März setzte Hitler durch, dass die Befragung abgesagt wurde. Nun warteten alle auf den nächsten Schachzug.

Um 19 Uhr 47, als Cordelia und ihre Geschwister noch dem ersten Akt von Onegin folgten, hielt Schuschnigg eine Radioansprache. Er teilte seinen Zuhörern mit, dass er sich entschieden habe, der »Gewalt« zu »weichen« und mit sofortiger Wirkung zurückzutreten. Damit war der Weg frei für die österreichischen Nationalsozialisten. Ein paar Stunden später übernahm Hitlers Vertrauter Arthur Seyß-Inquart die Macht.

Vielleicht erfuhren die Dodsons schon in der Pause nach dem dritten Bild von der Radioansprache. Spätestens aber um 22 Uhr, als sie die Staatsoper verließen, erkannten sie, dass etwas Gefährliches passiert war. Ihr Wiener Freund Karl Urbach stand am Ausgang, um sie abzuholen. Sein Gesichtsausdruck war eindeutig. Der geplante Restaurantbesuch würde ausfallen müssen.

Cordelias Vorliebe für die Literatur des Sturm und Drang war bis zu diesem Zeitpunkt rein theoretischer Natur gewesen. Sie interessierte sich für Emotionen und hatte auf dem College ein Seminar in Psychologie belegt. Was sie in den nächsten Tagen in Wien erleben sollte, war jedoch eine Explosion von Emotionen, die jeden Psychologiekurs gesprengt hätte.

Am Morgen des 12. März 1938 überschritten die ersten deutschen Truppen die Grenze zu Österreich, am Sonntag, den 13. März, erreichten sie Wien. Die Stadt, durch die Karl seine amerikanischen Gäste wochenlang voller Stolz geführt hatte, verwandelte sich in ein nationalsozialistisches Flaggenmeer. Es war eine Orgie aus Jubel und Hass. Cordelia konnte beides beobachten – sowohl ekstatische Siegesgewissheit als auch absolute Verzweiflung. Was sie dabei überraschte, war das enorme Tempo der Verwandlung: »Alles geschah so schnell, die Bürgerrechte, der Schutz durch die Polizei, alles, was man bisher für selbstverständlich gehalten hatte, verschwand sofort. … Ich lernte die Nazis zu hassen, sie waren so arrogant und so gnadenlos.« Ohne Alice’ und Karls Namen zu erwähnen, sagte sie über die Szenen auf den Straßen: »Die Verfolgung der Juden war unmenschlich.«4 Cordelia traf eine Entscheidung, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde. Sie wollte etwas für ihre neuen jüdischen Freunde tun. Sie wusste zwar noch nicht, was sie unternehmen konnte, aber sie war bereit, gefährliche Wege zu gehen.

Aus der naiven Collegestudentin wurde im Zweiten Weltkrieg eine nervenstarke Mitarbeiterin des Office of Strategic Services (OSS), dem elitärsten der amerikanischen Nachrichtendienste. Und das lag auch an ihrer Begegnung mit einer kleinen rundlichen Frau namens Alice Urbach.