Pia Herzog

Leben ohne Vergangenheit

Meine Erinnerungen liegen auf der Straße


Rediroma-Verlag


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Alle Rechte beim Autor

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DANKSAGUNG

 

An dieser Stelle möchte ich allen Menschen danken, die mir in meinem Leben begegnet sind, die es mir ermöglicht haben, so viel Fantasie zu entwickeln. Besonderer Dank gilt meinen Freunden und meiner Familie, die mich ermutigt haben, ein weiteres Buch zu schreiben. Danke für die anregenden Gespräche und Diskussionen, die entstanden sind. Danke für die Zeit! Danke, dass es euch gibt!

 

Danke an Herrn Daniel Bieter vom Verlag und an den Lektor, ohne den das Buch nicht fehlerfrei wäre.

 

Inhalt

 

1. Das Brautkleid

2. Auf der anderen Seite des Lebens

3. Meine Erinnerungen liegen auf der Straße

4. Mit 38 Jahren lerne ich meine Eltern kennen

5. Zuhause

6. Erik

7. Wer bin ich bloß?

8. Gehöre ich zu Erik?

9. Warten auf unsere Emma

10. Die Wahrheit kommt ans Licht

 

ÜBER DIE AUTORIN


1

Das Brautkleid

 

„Gefällt Ihnen das Kleid?“, fragte mich die Verkäuferin. Ich sah mich im Spiegel an. Bin ich das wirklich? Ich finde mich schön. Irgendwie sehe ich aus wie eine Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet. Ich neigte leicht den Kopf nach rechts, um über meine eigene Schulter zu blicken, damit ich das Kleid auch von hinten sehen konnte.

„Ja“, antwortete ich. „Es ist wunderschön.“

Meine Mutter drückte sich gerade eine Träne weg. Ich sah immer noch in den Spiegel und fragte mich, ob Martin, mein zukünftiger Ehemann, mich in diesem Brautkleid wohl schön finden würde. Das Brautkleid war reinweiß mit viel Glitzer und Spitze. Es war hochgeschlossen, aber ohne Ärmel. In acht Wochen, am 14. August, würde ich meine große Liebe heiraten. Es gab keinen besseren Ehemann als Martin. Wir hatten uns vor vier Jahren beim Oktoberfest in München kennengelernt. Als wir herausfanden, dass wir beide in Hannover wohnten, beschlossen wir, uns im Biergarten am Maschsee wiederzutreffen. Von da an trafen wir uns regelmäßig.

„Svenja, du siehst bezaubernd aus. Schatz, das ist doch dein Brautkleid, oder?“, unterbrach meine Mutter meine Gedanken.

„Ja, Mama, das Kleid soll mein Brautkleid sein.“

Die Verkäuferin holte noch einen halblangen Schleier und einen Blütenkranz. Beides setzte ich auf. „So, nun ist es perfekt“, sprach sie.

Wir lagen uns alle in den Armen, lachten und freuten uns. In diesem Moment war es unser aller Brautkleid. Wir tranken noch einen kleinen Schluck Prosecco und verabschiedeten uns von der netten Verkäuferin aus dem Brautmodengeschäft.

„Svenja, fährst du gleich nach Hause?“

„Nein, Mama, ich hole für mich und Martin noch eine Flasche Sekt zum Anstoßen und Sushi.“

„Ok, mein Schatz, dann wünsche ich euch einen schönen Abend.“

„Dir auch, Mama, und liebe Grüße an Papa.“

„Mache ich.“

Schon war meine Mutter um die Ecke gebogen. Ich sah auf die Uhr. 16 Uhr 30 schon, nun musste ich mich aber beeilen. Nachdem ich den Sekt und Sushi besorgt hatte, rief ich Martin an, „Hallo Schatz, bist du noch in der City?“

„Ja, ich wollte gerade nach Hause fahren. Wo bist du?“

„Ich bin auch noch in der Innenstadt. Kannst du mich am Steintor vor dem Anzeiger Hochhaus abholen?“

„Na klar, da fahre ich ja praktisch vorbei.“

„Liebster, ich warte dort auf dich! Ich muss dir unbedingt mein Brautkleid beschreiben.“

„Ich dachte, das bringt Unglück?“

„Nein, nur wenn man es vorher sieht.“

Ich lief im Laufschritt zum Anzeiger Hochhaus. Da sah ich Martin schon auf der anderen Straßenseite stehen, lässig am Wagen angelehnt. Ich betrat die Fahrbahn zum Überqueren und dachte, wie verdammt gut Martin aussieht. Mist, wo kommt das Auto her? Reifen quietschten, ich spürte einen dumpfen Schlag.

 

2

Auf der anderen Seite des Lebens

 

Mir wurde heiß. Ich bekam keine Luft. In dem Moment, wo ich versuchte zu atmen, sah ich einen weißen Tunnel. In diesem Moment fühlte ich mich so leicht, als ob ich schwebte, träumte ich? Wo war ich denn? Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Auf einmal konnte ich wieder sehen. Das war ja ich, die dort auf der Straße lag. Ein Mann drückte wie verrückt auf meiner Brust herum. Martin rief immer wieder: „Svenja, bleib bei mir, Svenja, bitte geh nicht, Svenja, bitte, ich liebe dich!“

Warum sah ich denn alles von oben? Ich schaute an mir herunter. Es war alles heile, kein Blut war zu sehen. War ich tot? Wo wa der Tunnel? Wo musste ich lang? Hey …

Schnell liefen Menschen zusammen, um zu helfen. Martin rief als erstes den Rettungswagen. Ein fremder Mann kniete neben Svenja und überprüfte die Vitalfunktion plötzlich schrie er: „Herzstillstand.“ Er begann mit einer Herzdruckmassage im Takt von „Staying Alive“. Martin stand regungslos daneben und sah dem fremden Mann zu, wie er gefühlt 15 Minuten auf Svenjas Brust drückte.

„Okay, das Herz schlägt wieder!“, sagte der fremde Mann. In diesem Moment traf der Krankenwagen ein, ein Sanitäter lief zu Svenja und übernahm die Versorgung. Der fremde Mann erhob sich und wollte gerade die Unfallstelle verlassen, als Martin sich mit gequälter Stimme bei ihm bedankte. „Vielen Dank, dass Sie meiner zukünftigen Frau geholfen haben, wie heißen Sie?“

Der fremde Mann drückte Martin wortlos eine Visitenkarte in die Hand. Martin schaute kurz drauf und steckte sie in seine Jackentasche. Bevor er noch etwas sagen konnte, war der Fremde Lebensretter verschwunden.

Nein, lass mich los, wollte ich schreien, aber es kam kein Laut aus meinem Mund. Was sollte das alles? Hilf mir doch, damit ich aufstehen kann. Ich fing an zu frieren. Die Leichtigkeit war fort.

„Wo bringen Sie meine Frau hin?“, fragte Martin den Sanitäter.

„In die Medizinische Hochschule.“

Erst jetzt registrierte Martin, dass die Polizei auch am Unfallort war und Zeugen befragte, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Nachdem auch Martin seine Aussage bei der Polizei abgegeben hatte, fuhr er in die MHH. Dort angekommen informierte er seine zukünftigen Schwiegereltern. Er versprach, sich sofort zu melden, sobald er mehr über den Gesundheitszustand von Svenja wusste.

Ein Sanitäter drückte mir eine Sauerstoffmaske auf mein Gesicht. Ich versuchte meine Augen zu öffnen. Es ging nicht. Ich wurde so müde, ich musste schlafen.

 

Martin traf ca. 15 Minuten nach dem Krankenwagen in der Notaufnahme der Medizinischen Hochschule ein. „Bitte ich möchte zu meiner zukünftigen Frau, die gerade hier eingeliefert wurde.“

„Wie lautet denn der Name Ihrer Frau?“

„Wir sind noch nicht verheiratet. Wir wollen in acht Wochen heiraten!“

Svenja Albrecht, geboren am 15 Mai 1983, wohnhaft in Hannover, Schulenburger Landstr.108 A. Ihr Name?“

„Martin Schreiber.“

„Herr Schreiber, bitte lassen Sie eine Telefonnummer hier, damit wir Sie anrufen können.“

„Ich warte, ich kann nicht nach Hause fahren.“

„Sie können hier vorne gerne warten, aber es wird noch dauern.“

„Danke.“

Martin setzte sich vor dem Raum, an dessen Tür groß „Untersuchungsraum – Bitte nicht eintreten“ geschrieben stand. Wie konnte das alles passieren? Eben noch war alles schön gewesen. Er sah immer noch Svenja auf der anderen Straßenseite stehen. Sie strahlte und winkte ihm zu. Er wollte ihr noch zurufen: „Pass auf, da kommt ein Auto.“ Da flog Svenja schon durch die Luft und schlug mit dem Kopf auf den Asphalt auf.

Nach Stunden des Wartens kam ein Arzt auf Martin zu. „Sind Sie der Ehemann?“

„Ja, der zukünftige“

„Wir mussten Frau Albrecht ins künstliche Koma legen, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Die Knochenbrüche werden gut verheilen, es waren glatte Brüche. Nun braucht sie Ruhe und Zeit!“

„Oh Gott sei Dank, ich hatte schon Angst, dass sie querschnittsgelähmt ist oder gar …“ Martin mochte seinen Gedanken nicht aussprechen.

„Nein, wie gesagt, Sorgen macht uns die Gehirnschwellung. Wir wissen aber noch nicht, ob Frau Albrecht das Baby behalten wird. Sie müssen damit rechnen, dass es das nicht überlebt.“

„Welches Baby?“, fragte Martin.

„Ihre Verlobte ist im vierten Monat schwanger. Haben Sie das nicht gewusst?“

„Nein, sie hat mir nichts gesagt.“

Der Arzt schaute Martin an und sagte nochmal: „Wie gesagt, erst einmal muss sich Ihre Frau erholen, dann sehen wir weiter. Wir verlegen Ihre Frau nun auf die Intensivstation in die Innere Abteilung. Bitte gönnen Sie Ihrer Frau die Ruhe, warten Sie mit dem ersten Besuch bitte bis morgen. Wenn Sie möchten, können Sie aber jetzt Ihre Frau für einen kurzen Moment sehen.“

Martin folgte dem Arzt und erschrak über Svenjas Anblick. Der Kopf war dick bandagiert, ein Bein und ein Arm waren eingegipst und Svenja war so blass.

 

Martin verließ für heute die MHH und fuhr von da aus direkt zu seinen zukünftigen Schwiegereltern und berichtete von Svenjas Verletzungen.

„Hiltrud, hast du gewusst, dass Svenja schwanger ist?“, flüsterte Martin.

„Was? Nein, Svenja hat nichts gesagt! Ich wusste das nicht. Im wie vielten Monat ist sie denn? Mein Gott mein armes Kind. Sie hat auch heute Mittag bei der Anprobe vom Brautkleid kein Wort darüber verloren.“

Hiltrud konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Nach einer ganzen Weile fragte Hiltrud, wo denn das Brautkleid wäre.

„Ich habe bei Ihren Sachen kein Brautkleid gesehen, nur eine Einkaufstasche mit Sekt und Sushi für uns heute Abend, nehme ich an. Ich kann aber morgen gerne nachfragen, wo das Brautkleid geblieben ist“, antwortete Martin.

Er verabschiedete sich bald darauf von seinen Schwiegereltern. Er wollte jetzt lieber alleine sein. Wann wollte Svenja mir erzählen, dass sie ein Kind von mir erwartet? Diese Frage ging ihm immer wieder durch den Kopf.

 

Nach einer schlaflosen Nacht machte Martin sich schon sehr früh auf dem Weg ins Krankenhaus. Er hatte noch schnell ein Nachthemd, Pflegeprodukte, Taschentücher usw. für Svenja eingepackt. Eine nette Schwester nahm Martin in Empfang. Sie tätschelte Martin am Arm. „Sie werden sehen, es wird alles wieder gut. Ihre Frau ist stabil. Sie hatte eine ruhige Nacht.“

„Ist sie aus dem Koma erwacht?“, fragte Martin.

„Nein das wird wohl noch etwas dauern.“

Auf der Intensivstation angekommen sah Martin, dass Svenja überall an Schläuche angeschlossen war. Die Ergebnisse wurden auf einen Monitor übertragen. Die Monitore gaben einen gleichmäßigen Ton ab. „Hallo, Schatz, wie geht es dir?“ Er erhielt keine Antwort. „Svenja, kannst du mich hören?“ Martin streichelte ganz vorsichtig Svenjas Handrücken. Da, war da nicht ein kleines Zucken? Er hatte sich wohl getäuscht.

 

Ich hörte eine Stimme, die mit mir sprach, aber ich verstand den Sinn nicht. Aua, was war das auf meiner Hand? Ich wollte die Augen öffnen, aber es ging nicht. Schlaf, Svenja, schlaf dich gesund. Es wird alles gut. Ich merkte wie ich wieder müde wurde, aber eigentlich wollte ich sehen, wer mit mir sprach. Oh, da war der Tunnel und es wurde wieder warm und friedlich.

Martin schrie: „Schnell, Schwester! Hallo, ist hier keiner?“

Die Monitore piepsten extrem laut einen langanhaltenden Ton.

„Weg, raus hier, sofort!“, schrie ihn ein Arzt an. „Herzstillstand! Spritze aufziehen, wir müssen reanimieren, weg vom Bett!“ Svenjas Brustkorb hob leicht ab. „Zurück treten, nochmal!“

Svenjas Körper ging noch mal nach oben. Dann endlich piepsten die Monitore wieder gleichmäßig.

„Da ist sie ja wieder!“, verkündete der Arzt und zu Martin, der vor der Tür stand, sagte er: „Bitte gehen Sie nach Hause, Sie können im Moment nichts tun.“

Martin zitterten vom Erlebten die Knie.

Nein, Svenja, du bist noch nicht dran, durch den Tunnel zu gehen. Geh zurück in deinen Körper, schnell.

Aber hier ist doch Licht und es ist warm, ich fühle mich so wohl.