Das Buch
Stockholm, kurz vor Weihnachten. Schnee und eisige Kälte haben die Stadt fest im Griff. Kommissar Fabian Risk hat mit Eheproblemen zu kämpfen, seine Frau Sonja möchte sich scheiden lassen. Risk muss sich alleine um die beiden Kinder kümmern. Aber dann wird er zu einem brisanten Fall gerufen: Der Justizminister ist verschwunden. Er hat nach einer Debatte den Reichstag verlassen, kam aber nie bei dem auf ihn wartenden Auto an. Risk findet den Minister, doch zu spät: Er wurde brutal ermordet. Und es bleibt nicht bei dieser einen Entführung.
Gleichzeitig wird in Kopenhagen eine Frau umgebracht. Die junge Polizistin Dunja Hougaard ermittelt, muss sich dabei aber mit den unwillkommenen Avancen des Polizeichefs herumschlagen. Der sabotiert den Fall, wo er nur kann. So fällt keinem die Ähnlichkeit zu der Mordserie im Nachbarland Schweden auf. Bis es fast zu spät ist.
Zwei Länder. Zwei Ermittler. Ein Fall.
Der Autor
Stefan Ahnhem ist ein bekannter schwedischer Drehbuchautor, unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe. Er lebt mit seiner Familie in Stockholm.
Herzsammler ist der zweite Teil seiner erfolgreichen Krimiserie um den Kommissar Fabian Risk.
Stefan Ahnhem
Herzsammler
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen
von Katrin Frey
List
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Den nionde graven bei Forum, Stockholm
ISBN: 978-3-8437-1156-2
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der Ullstein Buchverlage GmbH
© 2015 by Stefan Ahnhem
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Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Nach einem Konzept der Zero Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Mike Dobel / Arcangel Images
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PROLOG
14. Juni–8. November 1999
Es war so dunkel, dass er fast nichts sah. Außerdem schwankte und schaukelte der Gefangenentransport auf dem Weg durch das unwegsame Gelände so heftig, dass man die Buchstaben, die er zu schreiben versuchte, kaum lesen konnte. Doch es nützte nichts. Dies war seine letzte Chance, alles niederzuschreiben, bevor die Blutlache unter ihm zu groß war. Die Geschichte seiner Verliebtheit, die ihn dazu getrieben hatte, alles Vertraute hinter sich zu lassen und sich ins Unbekannte zu stürzen, wo er angeschossen und von seinen eigenen Leuten gefangenen genommen worden war, nun unterwegs in den sicheren Tod.
Den Stift hatte er bei sich, seit er das israelische Militärlager an der Straßensperre verlassen und die Grenze nach Palästina überschritten hatte. Im Tagebuch in Tamirs Rucksack hatte er noch ein paar leere Seiten gefunden. Und einen benutzten Briefumschlag, der sich umstülpen ließ. Als der Brief fertig war, faltete er ihn mit seinen blutigen Händen zusammen, steckte ihn in das Kuvert und klebte es zu, so gut es ging.
Er hatte weder eine Briefmarke noch die Adresse des Empfängers. Nur den Namen wusste er. Trotzdem zwängte er ihn ohne Zögern durch den schmalen Spalt und ließ los. So Gott wollte, würde der Brief ankommen, dachte er und gab der Müdigkeit nach.
Der Umschlag hatte die Erde noch nicht berührt, als die kräftigen Winde ihn erfassten und immer höher hinauf in den sternlosen Nachthimmel trugen. Über die Berge von Nablus, Jarzim und Ebal rollte ein weiteres Unwetter, und der Abstand zwischen den hellen Blitzen und dem dumpfen Grollen wurde immer kürzer. Regen hing in der Luft, und es war nur eine Frage von Sekunden, wann die ersten Tropfen das Kuvert zu Boden hämmern und die trockene Erde in feuchten Lehm verwandeln würden. Doch es fiel kein einziger Tropfen, und der blutverschmierte Umschlag mit dem handgeschriebenen Brief setzte seinen Aufstieg über die Berge und die Grenze nach Jordanien fort.
Saladin Hazaymeh lag auf seiner ausgerollten Matte und sah in den Himmel, wo das Morgengrauen einen ersten zaghaften Versuch unternahm. Die kräftigen Winde im Zuge des nächtlichen Unwetters waren endlich abgeflaut, ein herrlicher Tag kündigte sich an. Die Sonne hatte offenbar beschlossen, den Himmel für seinen siebzigsten Geburtstag zu putzen. Doch nicht das Wetter beschäftigte Saladin Hazaymeh. Obwohl sein Geburtstag der Grund für die zehntägige Wanderung gewesen war, hatte er etwas anderes im Kopf.
Anfangs hatte er geglaubt, ein Flugzeug in mehreren Tausend Metern Höhe zu sehen, dann jedoch beschlossen, dass es sich um einen Vogel mit einem verletzten Flügel handeln musste. Mittlerweile hatte er nicht die geringste Ahnung mehr, was da vom Himmel herunterflatterte und dabei hin und wieder im Sonnenlicht aufblitzte.
Saladin Hazaymeh stand auf und nahm überrascht zur Kenntnis, dass die Rückenschmerzen, die er morgens immer spürte, wie weggeblasen waren. Eilig rollte er seine Matte zusammen und steckte sie in den Rucksack. Irgendetwas würde passieren. Etwas von großer Bedeutung. Er spürte, wie sich sein ganzes Ich mit neuer Energie füllte. Dies konnte nur ein Zeichen von oben sein. Eine Offenbarung von dem Gott, an den er glaubte, seit er denken konnte, und der ihm nun sagen wollte, dass er auf dem richtigen Weg war. Der Gott, dessen Sohn er, wie er an seinem siebzigsten Geburtstag beschlossen hatte, zu Fuß von Jerusalem bis an den See Genezareth folgte.
Gestern hatte er mit dem Ziel, die Nacht genau dort zu verbringen, wo Jesus mit seinen Jüngern und der Jungfrau Maria übernachtet hatte, die heilige Grotte in Anjara besucht, aber da die Wächter ihn entdeckten, musste er unter freiem Himmel schlafen. Doch offensichtlich hatte das alles einen Sinn, dachte Saladin und eilte leichtfüßig über das unebene Gelände zu dem Olivenbaum, in dessen Zweigen das Zeichen Gottes hängen geblieben war.
Als er vor dem Baum stand, erkannte er, dass es sich um einen Umschlag handelte.
Ein Briefumschlag?
Sosehr er sich auch bemühte, eine logische Erklärung für dessen Herkunft zu finden, musste er sich am Ende doch mit dem Himmel als Antwort begnügen. Und nachdem seine innere Stimme mantraartig wiederholte, wie wichtig es sei, dass er sich hierum kümmerte, war das vielleicht auch nicht ganz falsch. Vielleicht war genau das hier und nichts anderes der Grund seiner Wanderung.
Nach einigen Versuchen gelang es ihm, ihn mit einem Stein zu treffen und den Umschlag aufzufangen, bevor er auf dem Boden aufschlug. Er war schmutzig und beschädigt und schien allen Widrigkeiten zum Trotz den Weltuntergang überlebt zu haben. Außerdem war er schwerer als erwartet.
Alle Zweifel waren hinweggefegt.
Gott hatte ihn auserwählt.
Dies war nicht irgendein Briefumschlag.
Er studierte ihn von allen Seiten, fand aber keinen Hinweis, abgesehen von einem klein und krakelig geschriebenen Namen.
Aisha Shahin.
Saladin Hazaymeh setzte sich auf einen Stein und las sich den Namen mühsam laut vor, aber er sagte ihm nichts. Nach einigem Zögern zog er sein Messer aus der Tasche und schlitzte das Kuvert vorsichtig auf. Ohne zu merken, dass er den Atem anhielt, zog er den Brief aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander. Er war voller handgeschriebener Zeichen, die zusammen lange Wortreihen in hebräischer Sprache bildeten, so viel begriff er. Aber wie hätte er sie verstehen sollen, wo er doch kaum Arabisch lesen konnte?
War es das, was Gott ihm zu sagen versuchte? Bestrafte er ihn, weil er nie Lesen gelernt hatte? Oder war der Brief gar nicht für ihn bestimmt? War er in Wirklichkeit nur ein unbedeutendes Bindeglied, dessen Aufgabe darin bestand, ihn weiterzugeben? Erfolglos bemühte er sich, seine Enttäuschung zu unterdrücken, während er den Brief wieder zusammenfaltete, zurück in den Umschlag steckte und seine Wanderung nach Ajloun fortsetzte, wo er ihn widerwillig in einen Briefkasten steckte.
Viele wären sicher der Meinung, dass Khaled Shawabkeh sich schändlich und höchst unmoralisch verhielt. Er selbst dagegen hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen, als er den Umschlag ohne Briefmarke, Absender und Adresse einsteckte. Briefe, deren Absender ihren Pflichten nicht nachgekommen waren, betrachtete er als sein Eigentum. So hatte er es in den dreiundvierzig Jahren in der Postsortierung ohne Ausnahme gehalten.
Zu Hause hatte er mehrere Kisten, eine für jedes Jahr, voller verirrter Briefe, und es gab nichts Schöneres für ihn, als zufällig einen herauszufischen und an Gedanken teilzuhaben, die eigentlich für jemand anderen bestimmt waren. Dieser Briefumschlag jedoch war etwas Besonderes. Seine Patina verriet, dass allein die zurückgelegte Reise ein Abenteuer gewesen sein musste. Außerdem war er bereits geöffnet worden, doch der gesamte Inhalt war noch da.
Für ihn und niemanden sonst.
Genau achtundneunzig Minuten später als üblich war Khaled Shawabkeh zu Hause und schloss die Tür von innen ab. Um Zeit zu gewinnen, hatte er den Nachmittagskaffee ausfallen lassen, obwohl Kuchenfreitag war, und den Weg vom Bus zur Haustür im Laufschritt zurückgelegt. Jetzt war er richtig außer Atem, und sein Schweiß gab sich die größte Mühe, durch das viel zu enge Polyesterhemd nach außen zu dringen.
Das Abendessen musste warten, dachte er und schenkte sich ein Glas von dem Wein ein, der hinter den Büchern im Regal verborgen war, ließ sich im Sessel nieder, schaltete die alte Stehlampe ein, zog das Kuvert aus der Tasche und faltete den Brief andächtig auseinander.
»Endlich«, sagte er leise zu sich selbst und streckte die Hand nach dem Weinglas aus, nicht ahnend, dass sich in diesem Moment der Pfropf aus geronnenem Blut, der sich über Jahre in seinem linken Bein gebildet hatte, löste und mit dem Blutstrom ganz nach oben schwamm.
Obwohl seit dem Tod von Marias Onkel mehr als ein Jahr vergangen war, hatte sie noch immer keinen Fuß in sein Haus gesetzt. Ihre beiden Brüder hatten das Testament angefochten und mit allen Mitteln versucht, sie zum Verzicht auf das Erbe zu treiben. Sogar ihr eigener Vater wollte sie davon überzeugen, dass Khaled Shawabkeh all die Jahre allein gelebt und am Ende den Verstand verloren hatte und Frauen für den Besitz und die Verwaltung von Eigentum einfach nicht geschaffen wären.
Maria hatte jedoch nicht nachgegeben und konnte nun endlich den Schlüssel ins Schloss stecken und die Tür öffnen. Dass sie in diesem Zusammenhang den Kontakt zu ihren Brüdern und Eltern verloren hatte, musste sie in Kauf nehmen. Das Haus würde ausgeräumt und verkauft werden, und mit dem Geld konnte sie es sich leisten, bei der Schneiderei zu kündigen, nach Amman zu ziehen und in der Jordanian National Commission for Women für die Rechte der Frau zu kämpfen.
Eigentlich war es unmöglich. Nichts sprach dafür, dass der Brief jemals seinen Empfänger erreichen würde. Die Hindernisse waren so zahlreich, dass sich die zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass er es doch tun würde, nicht mehr in Zahlen ausdrücken ließ.
Trotzdem passierte genau das.
Ein Jahr, vier Monate und sechzehn Tage nachdem der Brief durch den Spalt in der Wand des Gefangenentransports gesteckt und von den Winden in die schwarze Nacht getragen worden war, fand ihn Maria Shawabkeh, der einige Stunden später das Kunststück gelang, ihn wieder mit dem Briefumschlag zusammenzufügen, dem alles fehlte außer einem Namen.
Drei schlaflose Nächte, nachdem sie von der furchtbaren Geschichte erfahren hatte, recherchierte sie im Netz, frankierte den Umschlag, schrieb die vollständige Adresse darauf und gab ihn im nächsten Postamt ab. Ohne die geringste Ahnung von den Konsequenzen.
Aisha Shahin
Selmedalsvägen 40, 7. OG
12937 Hägersten
Schweden