Walter Moers
WILDE REISE
durch die
NACHT
Nach einundzwanzig Bildern
von Gustave Doré
KNAUS
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»Wilde Reise durch die Nacht« erschien erstmals 2001
beim Eichborn Verlag, Frankfurt am Main.
1. Auflage
Copyright © 2013 beim Albrecht Knaus Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Rainer Wieland
Cover: Walter Moers und Oliver Schmitt
Layout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz
ISBN: 978-3-641-13624-6
V002
www.knaus-verlag.de
www.zamonien.de
Doré, Gustave, französischer Maler und Illustrator, geb. 6. Jan. 1832 in Straßburg, gest. 23. Jan. 1883 in Paris, zeigte schon als Knabe ein bedeutendes Zeichentalent und lithographierte in seinem 10. Jahre Skizzen zur Sittengeschichte … Mit 13 Jahren kam er nach Paris und war mit 15 Jahren bereits als Illustrator am »Journal pour rire« thätig. 1854 gab er sein erstes Illustrationswerk, Zeichnungen zu Rabelais’ »Gargantua und Pantagruel« heraus, welchem eine lange Reihe von Zyklen folgte … Der unerschöpfliche Reichtum seiner Phantasie und die Leichtigkeit seines Schaffens verführten ihn zuletzt zu Maßlosigkeiten und Bizarrerien, welche namentlich seine letzte größere Arbeit, die Zeichnungen zu Ariosts »Rasendem Roland«, entstellen.
Meyers Konversationslexikon, 1897
ls es dunkel wurde, stach Gustave in See. Er zog es vor, während der Nacht zu reisen – da er sowieso nicht wusste, wohin die Fahrt gehen sollte, schienen die Sichtverhältnisse nebensächlich zu sein. Der Himmel war von tintigen Wolken überzogen, nur ab und zu lugte ein Stern oder das kraternarbige Gesicht des Mondes dazwischen hervor und spendete gerade genug Licht, um das Steuerrad in seinen Händen erkennen zu können. Gustave hatte gelesen, dass es möglich war, sich auf dem Meer am Stand der Sterne zu orientieren. Er wollte sich diese Kunst eines Tages gefügig machen, aber im Augenblick musste er sich auf seine Instinkte verlassen.
»Hart Backbord!« brüllte er über das Deck und riss das Steuerrad nach links. Befand sich Backbord rechts oder links? Fuhr das Schiff nach rechts, wenn man das Steuer nach links drehte oder war es umgekehrt? Gustave wischte die Fragen vorläufig zur Seite und kurbelte energisch an dem hölzernen Rad, um seinen Männern den Eindruck wilder Entschlossenheit zu geben.
»Wir werden ihm nicht entkommen, Käpt’n!« Dante, sein treuer und einäugiger Steuermann, war hinter ihn getreten. Die Stimme des erfahrenen Seemanns bebte vor Furcht. »Wir können ihm unmöglich entrinnen, nicht wahr?«
Obwohl er erst zwölf Jahre alt war, blickten die Männer der Aventure zu Gustave auf wie zu einem Giganten – auch wenn sie sich dabei hinabbeugen mussten. Dante knetete seine Mütze in den groben Fäusten und sah den jungen Kapitän mit seinem übriggebliebenen Auge hoffnungsvoll an. Gustave hielt die Nase in den Wind und schnupperte. Die Luft war feucht und warm, wie vor einem großen Gewitter.
»Entkommen?« gab er über die Schulter zurück. »Wem entkommen, mein treuer Dante?«
»Na, dem Sturm, Kapitän! Oder besser: den Stürmen, nicht wahr.«
»Sturm?« fragte Gustave. »Was für eine Art von Sturm meinst du denn?«
»Ich meine einen Siamesischen Zwillingstornado, Käpt’n! Und er ist uns schon dicht auf den Fersen.« Dante wies mit zitterndem Zeigefinger zum Heck des Schiffes, und Gustaves Blick folgte ihm. Was er dort sah, war in der Tat furchteinflößend: Zwei mächtige Wasserhosen hatten sich aus dem Meer erhoben, ihre wirbelnden Stämme ragten hinauf bis in die dunklen Wolken, saugten den Ozean und alles, was sich darin befand, in den Himmel. Sie brüllten wie tobsüchtige Riesen und kamen der Aventure buchstäblich in Windeseile näher.
»Soso, einer von diesen Siamesischen Zwillingstornados also«, sagte Gustave betont gelassen. »Nun, das ist unerfreulich, aber noch lange kein Grund, die Kontrolle über seine Kniegelenke zu verlieren.« Er blickte tadelnd auf Dantes zitternde Beine.
»Holt die Segel ein! Drei, äh, vier Strich Steuerbord!« kommandierte Gustave zackig. Der Steuermann riss sich zusammen, beschämt von der Todesverachtung dieses kaltblütigen Jungen. »Jawohl, mein Kapitän!« salutierte Dante. Er schlug die Hacken zusammen und entfernte sich steifbeinig.
Gustaves Knie wurden erst weich, nachdem Dante davongestelzt war. Seine Hände klammerten sich ans Steuerrad fest. Ein Siamesischer Zwillingstornado – na großartig, das war das gefährlichste Naturereignis, das einem auf allen sieben Meeren blühen konnte! Zwei verschwisterte Wirbelstürme, metereologische Zwillinge, die anscheinend auf telepathische Art miteinander kommunizierten und gemeinsam Jagd auf Schiffe machten. Wenn einen der eine nicht erledigte, besorgte es der andere.
Gustave warf einen Blick zurück auf die brüllenden Wirbel. Sie schienen beide ihren Umfang im Handumdrehen verdoppelt zu haben, Gustave sah riesige Kraken, Wale und Haie, die von ihnen aus dem Meer gerissen und durch die Luft geschleudert wurden. Blitze zuckten zwischen den torkelnden Sturmriesen hin und her, ein Geflecht aus weißem, blendendem Licht, das die Aventure aufleuchten ließ wie ein Geisterschiff.
»Aha – so kommunizieren sie also!« kombinierte Gustave. »Durch Elektrizität! Ich muss diese Erkenntnis umgehend der internationalen Tornadowissenschaft zukommen lassen – wenn ich das hier über leben sollte.«
Er blickte wieder nach vorn. »Es ist vollkommen gleichgültig, wohin ich steuere«, überlegte er. »Fahren wir nach links, erwischt uns der linke Tornado. Fahren wir nach rechts, der rechte.«
Kaum hatte er diesen trostlosen Gedanken zu Ende gedacht, da wurde die Aventure von einer gewaltigen Dünung in die Höhe gehoben. Für einen Moment stand das Schiff fast bewegungslos über der See, in einer Krone aus weißer Gischt. Der Ozean schien in seinem ewigen Rollen innezuhalten, als sei er zum Komplizen der Wirbelstürme geworden, der ihnen das fliehende Schiff auf einem schäumenden Tablett servierte.
»Wir stehen auf der Stelle!« dachte Gustave verzweifelt. »Wir sind verloren.«
In diesem Augenblick erwischte der linke Tornado die Aventure. Finsternis umhüllte das Schiff, ein furchterregendes Gurgeln aus den Eingeweiden des Ozeans übertönte alles andere Geräusch, auch das Geschrei der Männer. Gustave schnürte sich mit seinem Gürtel ans Steuerrad und schloss die Augen.
Er war bereit zu sterben, bereit, mit seinem Schiff auf den Grund des Ozeans versenkt zu werden, wenn es die Meeresgötter verlangten – das war seine Pflicht als Kapitän. Vor seinem inneren Auge sah er sich bereits als ein von den Fischen blankgenagtes Gerippe, gefesselt ans Steuerrad eines zerfetzten Wracks, das auf dem Meeresgrund lag und von Stachelrochen durchschwommen wurde.
Dann wurde es still: kein Ton, kein Hauch, keine Bewegung mehr. Gustave schien im nichts zu schweben, schwerelos, nur das Steuer in seinen Händen erinnerte noch daran, dass er sich eine Sekunde zuvor in einem tosenden Unwetter befunden hatte.
»Ich bin tot«, dachte Gustave. »So ist das also: Man hört nichts mehr.«
Er wagte es, die Augen wieder zu öffnen, und sah nach oben. Wie durch einen gewaltigen Trichter konnte er direkt ins Weltall blicken, in einen schwarzen Kreis voll blitzender Sterne. Um ihn herum ein Strudel aus Meerwasser, gesplittertem Holz und wirbelnder Luft – alles wurde nach außen geschleudert. Gustave befand sich im vollkommen stillen Zentrum des Tornados.
Er musste mitansehen, wie seine Männer von der grauen Röhre in den Himmel gesogen wurden, aber er sah nur ihre geöffneten Münder und entsetzensgeweiteten Augen, hörte nicht ihr herzzerreißendes Geschrei.
Erneut wurde die Aventure hoch in die Luft gehoben, und Gustave dachte, es ginge nun direkt in den Weltraum. Aber da löste sich urplötzlich der Tornado vom Meeresspiegel, stieg in die Höhe, ließ das Schiff einfach los, wirbelte, immer schlanker werdend, himmelwärts und tauchte ein ins dunkle Wolkengebirge, eine Riesenschlange aus Wasser, Luft, Matrosen und Schiffstrümmern. Sein Zwillingsbruder folgte ihm auf dem Fuße. Ein letztes triumphales Brüllen der beiden Stürme aus den Wolken – dann waren sie verschwunden.
Die Aventure aber stürzte zurück aufs Wasser. Der Aufprall ließ die Nägel aus den Planken platzen und die Taue bersten, weißer Meerschaum erblühte rings um das gefallene Schiff, Holz splitterte, Segeltuch riss, Ankerketten klirrten. Dann wurde es still, absolut still. Das Meer hatte sich beruhigt, das Schiff schaukelte noch ein wenig hin und her, ein paar Fässer kollerten über das Deck – so plötzlich, wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei.
Gustave befreite sich aus seinen Fesseln. Noch völlig benommen, wankte er umher und inspizierte das Schiff. Von der Aventure war nur ein Wrack übriggeblieben, die Segel waren zerfetzt, der Rumpf durchlöchert. Überall standen Holzplanken heraus wie die Federn eines vom Sturmwind zerrupften Vogels. Das Schiff sank langsam und unaufhaltsam.
»Das ist das Ende«, flüsterte Gustave.
»Ja … Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht«, antwortete darauf eine Stimme vom Heck des Schiffes. Gustave drehte sich um.
Zwischen umgeknickten Masten und sinnlos verschlungenen Tauen saß eine schaurige Gestalt auf der Reling. Es war ein Gerippe, ein Mann ohne Haut und Fleisch, in schwarzes Leinentuch gewandet, er hielt eine Schatulle in den Knochenhänden und wandte Gustave seine leeren Augenhöhlen zu.
Zu seinen Füßen kniete eine junge Frau, die einmal sehr schön gewesen sein musste. Aber jetzt lag die entstellende Maske des Wahnsinns über ihren feinen Zügen, ihr Blick war so wirr wie ihre wehenden blonden Haare. Sie warf gerade zwei Würfel auf das Deck.
»Goethe!« sagte der Knöcherne.
»Du … du bist Goethe?« fragte Gustave irritiert.
»Nein, das Zitat war von Goethe. Ich bin der Tod. Und das ist Dementia, meine arme verrückte Schwester. Sag guten Tag, Dementia!«
»Ich bin nicht verrückt«, kreischte die junge Frau in unangenehmer Stimmlage, ohne ihr Würfelspiel zu unterbrechen.
»Und wie ist dein Name?« fragte der Tod.
»Gustave«, antwortete der Junge tapfer. »Gustave Doré.«
»Fein«, sagte der Tod. »Dann bin ich hier ja richtig. Ich bin gekommen, um deine Seele zu holen.« Er deutete auf die Schatulle in seiner Hand, die, wie Gustave jetzt erkennen konnte, die Form eines sehr kleinen Sarges hatte. »Weißt du, was das ist?«
Gustave schüttelte den Kopf.
»Das ist ein Seelensarg«, rief das Skelett, nicht ohne Stolz in der düsteren Stimme. »Jawohl! Meine eigene Erfindung. Weißt du, ich interessiere mich nicht für deinen Körper. Den kriegen die Haie, oder er verteilt sich in einem natürlichen Verwesungsprozess im Ozean – na ja, was man so Natur nennt auf diesem erbarmungslosen Planeten. Ich will nur deine Seele, damit ich sie verbrennen kann.«
»Er gehört mir!« kreischte das verrückte Weib und deutete auf die Würfel, die zum zweitenmal eine doppelte Sechs zeigten. Dementia ergriff sie und warf erneut.
»Hm … stimmt«, sagte der Tod missmutig, »das müssen wir noch ausknobeln.« Die Würfel rollten aus. Eine Fünf und eine Sechs.
»Fünfmal die Sechs und einmal die Fünf, das ist schwer zu toppen«, seufzte der Knochenmann.
»Er gehört mir!« triumphierte Dementia und lachte hysterisch. Ihre glühenden Pupillen zitterten nervös, als sie Gustave fixierte.
»Weißt du«, erläuterte der Tod, »es ist so: Ich kriege dich sowieso, früher oder später, aber wenn du echtes Pech hast, kriegt meine geschätzte Schwester hier auch ein Stück vom Kuchen. Dann wirst du eben auch noch wahnsinnig, bevor du stirbst. In diesem Falle sähe das Szenario wohl so aus: Du treibst noch ein paar Wochen auf einem Floß auf dem Ozean herum, die gnadenlose Sonne verdörrt dir das Gehirn, du halluzinierst ein paar Wassergeister und vielleicht auch noch deine tote Großmutter, die mit der Stimme deines Geigenlehrers spricht – oder so was in der Art. Und dann fängst du an, dich selber aufzuessen.«
Der Tod zuckte mit den Schultern und schleuderte die Würfel aufs Deck. »Tut mir leid, das sind nicht meine Ideen, so ist das halt mit dem … äh, Wahnsinn.«
Er ließ seinen beinernen Zeigefinger in Schläfenhöhe kreisen, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass Dementia sich auf die Würfel konzentrierte, die gerade ausrollten. Zwei Sechsen.
»Wie du siehst – ich tue mein Bestes.« Der Tod würfelte erneut. Wieder zwei Sechsen.
»Ihr spielt – um mich?« wagte Gustave jetzt endlich zu fragen.
»Na, was dachtest du denn? Meinst du, wir steigen während eines Siamesischen Zwillingstornados auf ein sinkendes Wrack mitten im Meer hinab, nur um ein bisschen zu knobeln? Hier geht es um endgültige Dinge, mein Junge.« Der Tod warf zum drittenmal. Erneut zwei Sechsen. Der Knochenmann klatschte in die Hände, es hörte sich an wie Bleistifte, die auf einen Sarg fielen. Dementia stieß einen klirrenden Schrei aus, der Gustaves Nackenhaare aufrichtete.
»Schwein gehabt!« sagte das Skelett. »Nun, mein Sohn, würdest du jetzt bitte deine Seele frei machen?«
Gustave schauderte. »Meine Seele frei machen? Was meinst du damit? Wie soll das gehen?«
»Na ja, ist mir doch egal!« Der Tod machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du kannst ins Wasser springen und ertrinken. Du kannst dir eins von den Tauen nehmen und dich daran aufhängen. Da vorne liegt ein hübsches, scharfes Entermesser. Hast du schon mal von dem schönen japanischen Brauch namens Seppuku gehört?«
»Ihr meint, ich soll mich selbst umbringen?«
»Ja klar – wer denn sonst? Meinst du, ich mache das? Ich bin der Tod, aber ich bin kein Meuchelmörder.« Dementia lachte übertrieben schrill über den Witz ihres Bruders.
»Was willst du mit meiner Seele denn machen?« fragte Gustave. Er war nicht wirklich an einer Antwort interessiert, er wollte nur ein bisschen Zeit herausschinden.
»Och, ich fliege damit ins All und werfe sie in die Sonne, wie ich das mit all den anderen Seelen mache«, erläuterte der Tod beiläufig. Ein Anflug von Mitleid mischte sich in seine herablassende Stimme. »Was meinst du denn, warum das Ding da oben immer noch so hell brennt, Dummerchen? Ohne Sonne kein Leben, ohne Leben keine Seelen, ohne Seelen keine Sonne – das ist nun mal der ewige Kreislauf des Uni… Aua!« Das Skelett blickte so empört, wie man ohne Augen blicken kann. Dementia hatte mit dem Fuß nach seinem Schienbein getreten.
Der Tod fächerte seine Knochenfinger über sein bloßes Gebiss. »Ach du meine Güte, jetzt habe ich eines der großen Geheimnisse des Universums verraten! Na, macht nichts – du wirst ja wohl kein Buch mehr darüber schreiben, wie?« Die schrecklichen Geschwister lachten mechanisch, als gehöre dieser Scherz zu ihrem festen Repertoire.
»Und ich kann keinen Einspruch einlegen oder so?« Gustaves Stimme hatte jetzt alle Festigkeit verloren. Er versuchte mit seiner Frage nur weiteren Aufschub zu erlangen. Was könnte er unternehmen? Ins Wasser springen? Das käme dem Wunsch des Todes, selber Hand an sich zu legen, ziemlich nahe.
Der Sensenmann schüttelte den Kopf, wobei seine Nackenwirbel knirschten wie Sandpapier. »Nein, tut mir leid, da kann man nichts machen …« bedauerte er.
»Doch! Kann man wohl!« kreischte Dementia.
»Hältst du wohl die Klappe!« zischte der Tod seiner Schwester zu.
»Wenn du mir die Tour vermasselst, dann tu ich es auch!« fauchte Dementia zurück.
»Bekloppte Schnepfe!«
»Sack voll Knochen!«
Der Tod blickte schmollend aufs Meer.
Dementia wandte ihre funkelnden Augen Gustave zu. Ihm war, als würden ihre Pupillen langsam und stetig kreisen, wie zwei Kaleidoskope, die ständig Form und Farbe wechselten.
»Klar kannst du was machen, Kleiner. Frag meinen Bruder nach den Aufgaben!« Ihr Lachen klang wie splitterndes Glas.
»Dementia!« Der Tod raffte wütend seinen Umhang zusammen. Dann ließ er resignierend die Schultern hängen und senkte seinen kahlen Schädel.
»Na schön.« Er seufzte. »Es gibt einen Weg. Den bisher keiner beschritten hat. Weil nie einer danach gefragt hat. Jedenfalls bis jetzt.« Seine Stimme fing an, vor unterdrücktem Zorn leicht zu zittern. »Bis meine bezaubernde, aber leider etwas beschränkte Schwester hier …«
»Pass auf, was du sagst!« fauchte Dementia und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihren Bruder. Ihre andere Hand hielt die Würfel fest umklammert, bereit, sie dem Tod an den Kopf zu schleudern.
Der Knochenmann knirschte grässlich mit den Zähnen.
»Fünf Aufgaben«, presste er hervor.
»Fünf Aufgaben?« wiederholte Gustave zaghaft.
»Jetzt sind’s sechs!«
Gustave schwieg eingeschüchtert.
»Die erste Aufgabe: Du befreist eine schöne Jungfrau aus den Klauen eines Drachen.«
Gustave nickte, als hätte er mit etwas Ähnlichem schon gerechnet.
»Aufgabe Nummer zwei: Du durchquerst einen Wald voller bösartiger Gespenster.«
»Einen Wald voller bösartiger Gespenster durchqueren«, versuchte Gustave sich flüsternd einzuprägen.
»… wobei du dich möglichst auffällig benimmst!« fügte der Tod hinzu.
Gustave stöhnte.
»Die dritte Aufgabe …« Der Tod dachte angestrengt nach. »Die, äh, dritte Aufgabe …« murmelte er vor sich hin und klopfte dabei mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. Gustave horchte gespannt.
Das Skelett ruckte hoch, vom Geistesblitz getroffen. »Die dritte Aufgabe: Du errätst die Namen von drei Riesen.«
»Drei Riesen!« protestierte Gustave. »Ist das nicht ein bisschen …«
»Jetzt fünf Riesen!« fauchte das Skelett.
»Aber ich …«
»Sechs Riesen!« Der Tod ließ seine Faust auf die Reling krachen.
Gustave biss sich auf die Unterlippe und nahm sich vor, fortan eisern zu schweigen.
»Aufgabe Nummer vier … Nummer vier … äh …« Das Ausdenken von Aufgaben schien dem Tod zunehmend Schwierigkeiten zu bereiten.
»Phantasie war noch nie seine Stärke!« höhnte Dementia. »Seelen verbrennen, das kann er, aber wenn er mal einen einzigen originellen Gedanken …«
»Du bringst mir einen Zahn vom Schrecklichsten Aller Ungeheuer!« unterbrach sie der Tod mit donnernder Stimme. »Aufgabe Nummer vier.«
»Ja, mach ich!« sagte der Junge mit gesenktem Kopf und dachte trotzig: »Sonst noch was?«
»Ja, sonst noch was!« schnauzte der Tod so heftig, dass Gustave zusammenfuhr. Konnte der Sensenmann Gedanken lesen?
»Die fünfte Aufgabe …«
»Ungeheuer, Drachen, Riesen, bösartige Gespenster«, dachte Gustave, »schwieriger kann’s nicht mehr kommen.«
Der Tod senkte die ohnehin schon beeindruckend tiefe Bassstimme: »Jetzt pass gut auf, mein Junge, denn das ist die schwierigste Aufgabe von allen. Die fünfte Aufgabe: Du begegnest dir selbst!«
»Das ist nicht nur schwierig, das ist völlig unmöglich!« dachte Gustave, aber er wagte nicht, Einspruch zu erheben.
Der Tod stand auf und raffte seinen Umhang zusammen.
»Anschließend«, befahl er, hörbar erleichtert, dass ihm so viele schöne Aufgaben eingefallen waren, »begibst du dich zu meinem Haus auf dem Mond. Wo ich dich mit meiner, äh, bezaubernden Schwester erwarte, um dir die sechste und letzte Aufgabe zu stellen. Gesetzt den Fall, du schaffst es dorthin.«
»Du wohnst auf dem Mond?« fragte Gustave beeindruckt.
»Ja«, seufzte der Tod, »das ist der einzige Ort, wo man heutzutage noch seine Ruhe vor den Menschen hat. Früher wohnte ich in einem Schloss aus Eis am Nordpol, aber da hält der Tourismus ja mittlerweile auch schon Einzug. Polarforscher. Entdeckertypen. Glücksritter – wobei ich mich frage, welche Art von Glück sie bei minus fünfzig Grad wohl suchen. Jetzt wohne ich auf dem Mond. Am Rande des Mare Tranquillitatis. Es ist das einzige Haus am Mare Tranquillitatis. Es ist das einzige Haus auf dem ganzen Mond, um genau zu sein. Du kannst es nicht verfehlen.«
Dementia seufzte, offensichtlich eingedenk ihrer desolaten Wohnsituation. »Ich wäre schon gerne mehr unter Leuten«, vertraute sie Gustave flüsternd an. »Ich fand diese Polarforscher gar nicht so übel. Aber Bruder Lustig hier …«
Der Tod verbat sich weitere Bemerkungen mit einer energischen Geste.
»Auf dem Mond also – am Ende dieser Nacht!« kommandierte er.
»Das sind aber ganz schön schwierige Aufgaben«, ächzte Gustave und kratzte sich am Kopf.
»So ist das Leben«, nickte der Tod, jetzt mit deutlich milderer Stimme. »Zermürbend und sinnlos, so als würde man mit einem weichen Bimsstein ganz langsam zu Staub geschmirgelt. Auf die Gefahr hin, dass sich das jetzt eigennützig anhört – ich zumindest würde einen flotten Selbstmord vorziehen.«
»Was weißt du denn schon vom Leben?« zischte Dementia gehässig.
Der Knöcherne ignorierte ihren Seitenhieb und fuhr fort: »Nun, Gustave, nimmst du die Herausforderung an? Oder ziehst du es vor, dich am Fockmast aufzuknüpfen? Das wäre eine bequeme und für uns alle mächtig zeitsparende Alternative.«
Er hielt Gustave ein Stück Tau hin und versuchte – soweit das ohne Gesichtsmuskulatur ging – aufmunternd zu lächeln.
»Nein danke!« wehrte Gustave mit beiden Händen ab. »Ich nehme lieber die Aufgaben.«
»Schön«, seufzte der Tod, »du ziehst die harte, langwierige und aussichtslose Tour vor.« Er warf das Tau hinter sich über die Reling. »Wie du willst. Dann musst du dich jetzt umgehend zur Insel der gepeinigten Jungfrauen begeben. Nur dort findet man heutzutage noch schöne Mädchen in den Klauen von feuerspeienden Lindwürmern.«
Gustave konnte sich nicht erinnern, dass von feuerspeienden Drachen die Rede gewesen war.
»Die Insel der gepeinigten Jungfrauen, na schön. Aber wie soll ich dahin kommen?« fragte er zaghaft. »Mein Schiff sinkt, und ich weiß nicht einmal, wo sich diese Insel befindet.«
»Na, einfach so!« sagte der Tod und schnippte lässig mit den Fingern.
ustave bemerkte zunächst drei einschneidende Veränderungen. Erstens: Er befand sich nicht mehr in Gesellschaft des Knochenmannes und der Wahnsinnigen auf dem sinkenden Schiff, sondern hoch in den Lüften. Zweitens: Er trug eine silberne Rüstung, einen Helm auf dem Kopf und eine Lanze in der Hand. Drittens: Er ritt auf einem Geschöpf, welches zum Teil ein Löwe, zum Teil ein Pferd und zum Teil ein Adler zu sein schien.
»Um deiner Frage zuvorzukommen«, sagte das Geschöpf, »ich bin ein Greif. Ich habe die Aufgabe, dich zur Insel der gepeinigten Jungfrauen zu bringen. Genaugenommen sind wir schon da.«
Unter ihnen erstreckte sich eine liebreizende Frühlingslandschaft, Gustave sah wilde saftige Wiesen voller Blumen, schattenspendende Baumgruppen und einen glasklaren Bach. Junge Elstern und andere Kleinvögel kreisten aufgeregt über dem Ufersaum und schnäbelten nach fliegenden Insekten.
»Bist du ein Diener des Todes?« fragte Gustave.
»Sind wir das nicht alle?« gab der Greif düster zurück.
Sie flogen eine Weile schweigend dahin.