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Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich
ISBN 978-3-96557-097-9

Sie finden uns im Internet unter
www.ziel-verlag.de

Die Publikation wird von den beiden deutschen Dach- und Fachverbänden Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e. V. (be) und Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e. V. (AIM) herausgegeben.

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Wichtiger Hinweis des Verlags: Der Verlag hat sich bemüht, die Copyright-Inhaber aller verwendeten Zitate, Texte, Bilder, Abbildungen und Illustrationen zu ermitteln. Sollten wir jemanden übergangen haben, so bitten wir die Copyright-Inhaber, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Inhalt und Form des vorliegenden Bandes liegen in der Verantwortung des Autors.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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Printed in Germany

ISBN 978-3-96557-098-6 (eBook)

Verlag:

ZIEL – Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbH

 

Zeuggasse 7– 9, 86150 Augsburg, www.ziel-verlag.de

 

1. Auflage 2022

Titelbild:

Ben Collins

Gesamtherstellung:

FRIENDS Menschen Marken Medien

 

www.friends.ag

© Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Heike Lorenz, Michael Brendt

Teil 1

„Das wahre Leben“ –
Praxis der Individualpädagogik

Einleitung

Sven Riegler

Vallbo in Schweden war meine Rettung

Theresa

„Nein, es war besser!“ – Erfahrungen eines jungen Menschen in Polen

Felix

Vanessa in Griechenland

Harda Dück

Erfahrungen einer Projektstelle in Frankreich

Laurence

Ein Vater erzählt

Norbert

Etwas so Großartiges ist einzigartig!

Manon

Individuell – pädagogisch – erfolgreich

Norbert Scheiwe

Grenzüberschreitende individuelle Hilfen aus der Sicht eines Jugendamtes

Reimund Jäckel

Durchführung von Auslandsmaßnahmen im Jugendamt Bremen

Rolf Diener

Italien war unsere Rettung

Ann-Kathrin Eckardt

Fragen an Christof Radewagen

Eva Felka

Teil 2

„Wie entsteht gute Qualität?“ –
Rahmenbedingungen für die Arbeit im Ausland

Einleitung

Monja Heinz

Das Potenzial internationaler Jugendarbeit: Mehr Chancengerechtigkeit und Anerkennung

Marie-Luise Dreber, Heike Lorenz

Individualpädagogische Auslandshilfen – Konzeptionelle und historische Reflexionen in Kontrastierung zu traditionellen Gruppenkonzepten

Holger Wendelin

Grenzen überschreitende Hilfen brauchen einen fachlichen Rahmen

Ulla Peters

Erfahrungen einer jugendpsychiatrischen Versorgungsklinik mit dem Übergang von Jugendlichen in individualpädagogische Auslandsprojekte

Christof Theis, Fabrice Mousel, Christopher Goepel

Überall in Europa – Individualpädagogische Hilfen zur Erziehung aus der Perspektive eines Landesjugendamtes

Rüdiger Mey

Der Abschluss der Schule als Gegenstand der individualpädagogischen Hilfen zur Erziehung im Ausland

Thomas Heckner

Warum ein Curriculum Individualpädagogik sinnvoll ist

Ulla Peters

Individualpädagogische Hilfen im Ausland – Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit

Joachim Klein, Michael Macsenaere

Teil 3

„Europäischer Brückenbau“ –
Über Diskrepanzen zwischen den nationalen
Rechtssystemen und Möglichkeiten ihrer Überwindung

Plädoyer für einen notwendigen Brückenbau

Eva Felka

Rechtsgutachten zum Konsultationsverfahren bei grenzüberschreitender Unterbringung nach der VERORDNUNG (EU) 2019/1111 DES RATES vom 25. Juni 2019

Reinhard Wiesner

Von Glashäusern und anderen Wachstumsorten – Resümee und Ausblick

Heike Lorenz

Die Redaktionsgruppe

Glossar

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

Sie halten ein Buch in den Händen, das Sie mitnehmen möchte in die Welt eines durchaus besonderen Angebots im Rahmen erzieherischer Hilfen innerhalb von Europa: Wir laden Sie ein, die Welt individualpädagogischer Arbeit mit jungen Menschen jenseits heimatlicher Landesgrenzen zu erkunden. Dazu haben wir in diesem Buch eine Fülle von Beiträgen zusammengestellt, die geeignet sind, sich dem Sinn, den Möglichkeiten und den Chancen solcher Angebote zu nähern.

Die Publikation ist in drei Teile gegliedert.

Über die herausfordernde Arbeit, die Betreuer:innen gemeinsam mit den jungen Menschen in den Projektstellen leisten, erzählen die teils sehr berührenden individuellen Passagen im ersten Teil dieses Bandes.

Sie erhellen den Mikrokosmos individualpädagogischer Hilfen und wollen näherbringen, was individualpädagogische Arbeit in der Praxis bedeutet und wie sie von den beteiligten Menschen erlebt wird.

Jede einzelne Hilfe können wir uns in diesem Kontext vorstellen wie ein Zimmer in einem „Design-Hotel“: Es gibt ein gemeinsames Dach, aber kein Raum gleicht einem anderen, weil jeder Raum auf den individuellen Hilfebedarf des betreuten jungen Menschen zugeschnitten und ausgestattet sein muss.

Gehen wir in diesem Haus auf Entdeckungsreise, können wir Geschichten lesen, die Mut machen und Zuversicht schenken. Wir können Zimmer aufsuchen, in denen wir Zeuge von Entwicklungen werden, die zuvor kaum vorstellbar waren.

All diese Räume und die damit verbundenen Geschichten gehören Menschen. Menschen, die ausgehalten, unterstützt und mitgewirkt haben, wenn Biografien junger Menschen (unwiderruflich) zu scheitern drohen. Unser besonderer Dank gilt all jenen, die den Mut hatten, uns die Beschreibung ihres persönlichen Raumes in diesem Buch zur Verfügung zu stellen.

Der zweite Teil informiert über Rahmenbedingungen und Aspekte, die – neben der direkten Arbeit mit den jungen Menschen in einer Projektstelle – als notwendiges Gerüst und gemeinsames Dach für gelingende Hilfeprozesse zu sehen sind.

Wir verstehen diesen Rahmen als eine Art Makrokosmos: Unsere Autor:innen informieren und sie positionieren sich. Sie nehmen Stellung zu politischen wie fachlichen Themen, etwa zu Beschulungsmöglichkeiten bei Auslandsaufenthalten, zur Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte, zur Wirksamkeit von Hilfen zur Erziehung fernab der Heimat oder zur europäischen Dimension pädagogischer Interventionen und Angebote.

Im dritten Teil schließlich stellen wir ein juristisches Gutachten zur Verfügung, mit dem der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e. V. Prof. Dr. Dr. Reinhard Wiesner im Jahr 2019 beauftragt hat. Wiesner leitete bis 2010 das Referat 511 für Rechtsfragen der Jugendhilfe im deutschen Bundesfamilienministerium BMFSFJ. Als Referatsleiter war er dort in seiner aktiven Zeit im Jahr 1991 u. A. federführend für die Reform des deutschen Jugendhilferechts zuständig, in dessen Kontext erstmalig individuelle Einzelfallhilfen im In- und Ausland einen gesetzlichen Rahmen und damit auch Legitimation erhielten.

Das Gutachten beleuchtet vor allem das komplizierte Verhältnis zwischen den juristischen Grundlagen des deutschen Jugendhilfesystems und der europäischen Verordnung „Brüssel IIa“. Diese regelt den Zugang für Hilfen zur Erziehung im europäischen Rahmen durch einen Erlaubnisvorbehalt des Aufnahmelands.

Das Gutachten entstand als Teil einer umfassend angelegten Interventionsstrategie des Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik zum Reformprozess des SGB VIII, welcher unter der Bezeichnung „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz KJSG“ im Juni 2021 abgeschlossen wurde. Unter dem Titel „Masterplan – Damit Individualpädagogik bleibt“ hat sich der be zuvor über einen Zeitraum von zwei Jahren intensiv und gezielt in die fachlichen und politischen Debatten in Deutschland eingebracht und für den Erhalt der Hilfeform stark gemacht.

Die vorliegende Publikation will nun diese Debatten vor allem auf internationaler Ebene bereichern. Sie will ermuntern und einladen zum gegenseitigen Verstehen, zum Dialog und zu fruchtbarer Auseinandersetzung in einem vor allem politisch kontrovers diskutierten Feld:

Die Hilfeform war und ist trotz ihrer großen Erfolge immer wieder umstritten. Reißerische Geschichten, die Individualpädagogik mit „Urlaub unter Palmen“ vergleichen, begünstigen Neid und Unverständnis. Aber auch Skandale und dramatische Ereignisse schaffen immer wieder auf polemische Art und Weise den Weg in die Öffentlichkeit und sorgen für Aufsehen, Unverständnis, Empörung. Wäre es nicht hinlänglich wissenschaftlich belegt, wie hochwirksam und effektiv diese Hilfeform ist, wäre sie in Deutschland längst abgeschafft. So aber hat diese Betreuungsform schon eine ganze Reihe von Gesetzesnovellierungen „überstanden“ und wird nach wie vor wirkungsvoll und erfolgreich praktiziert.

Gleichwohl ist dieses Buch auch geschrieben für Menschen, für die der „individualpädagogische Kosmos“ grenzüberschreitender Hilfen zur Erziehung noch weitgehend unbekannt ist. Wir haben darauf geachtet, dass die Sprache in dieser Publikation auch Menschen erreicht, die nicht täglich mit diesem Arbeitsfeld in Berührung kommen. Sollte uns das an der einen oder anderen Stelle nicht gelungen sein, nehmen Sie bitte gern Kontakt zu den Autor:innen oder Herausgebern auf. Wir beantworten Ihre Fragen gern und stehen Ihnen persönlich, aber auch im größeren Kontext, z. B. im Rahmen einer Veranstaltung, zur Verfügung.

Wir wollen in dieser Publikation Fakten analysieren, aber auch die nächsten Schritte entdecken und entwickeln. Wir wollen dazu beitragen, dass die Interaktion und Kooperation in Europa noch agiler und effektiver von statten geht und alle Vorteile dieses wertvollen Lebensraums genutzt werden!

Wir wollen erzählen, wie großartig es trotz mancher Stolpersteine bislang gelungen ist, junge Menschen grenzüberschreitend in ihrer Entwicklung zu unterstützen.

Denn Europa – das sind wir. Das sind Viele. Wir haben Raum – und so viele verschiedene Orte, Bedingungen, Möglichkeiten … für Jede:n von uns.

Und die letzten Jahrzehnte haben es gezeigt: Wir können in unserem Europa Chancen ermöglichen. Selbst für die, die mit großen Belastungen kämpfen. Für die, denen es im Heimatland (noch) nicht gelingen konnte, den Hebel umzulegen. Wir können es gemeinsam. Wir können es möglich machen, für Jede:n ein gelingendes Leben in, mit und sogar für Europa zu führen.

Sprechen wir darüber!

Das vorliegende Buch entstand in einer verbandsübergreifenden Kooperation: Der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e. V. (be) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik e. V. (AIM) haben für dieses Projekt Kräfte und Ressourcen gebündelt. Die Autor:innen repräsentieren jeweils einen der Verbände, die Redaktionsgruppe ist paritätisch besetzt. Die Arbeit, die mit Erscheinen des Bandes beginnt, wird ebenfalls gemeinsam getragen und verantwortet.

Unser Dank gilt den beiden Dachverbänden für ihr Vertrauen und ihre uneingeschränkte Unterstützung.

Ein besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Redaktionsgruppe, die mit uns in vielen Sitzungen unermüdlich sämtliche Themen so lange durchdacht und diskutiert haben, bis wir sicher waren: Jetzt ist es rund! – Also, zumindest für den Moment … Eva Felka, Monja Heinz, Michael Karkuth und Sven Riegler: Ohne euch gäbe es dieses Buch nicht!

Ganz besonders hat die redaktionelle Arbeit dabei von dem akribischen Prä-Lektorat von Monja Heinz profitiert. Sie hat jeden Beitrag teilweise mehrfach in die Hand genommen und kommentiert. Ihre Expertise und Sprachgewandtheit hat die Entstehung dieses Buches enorm bereichert.

Froh und dankbar sind wir auch für die sehr professionelle und engagierte Begleitung durch unseren Lektor Peter Schuto (www.einfach-fehlerfrei.de).

Unser „heißester“ Dank geht jedoch zweifelsfrei an alle unsere Autor:innen, die mit ihren vielfältigen Beiträgen dieses Projekt überhaupt erst ermöglicht und zum Leuchten gebracht haben!

Heike Lorenz
Michael Brendt

Oktober 2021

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Heike Lorenz

Jahrgang 1959, studierte nach einer Erzieherinnen-Ausbildung Sozialpädagogik und Sozialmanagement. Sie war 25 Jahre im Bereich der Hilfen zur Erziehung tätig, zuletzt mehrere Jahre als Koordinatorin individualpädagogischer Hilfen im In- und Ausland. Von 2000 bis 2008 sowie von 2017 bis 2021 engagierte sie sich ehrenamtlich im Vorstand des Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e. V. Zu ihren Kernkompetenzen zählt die Arbeit in den Themenfeldern Qualitätsentwicklung, Partizipation, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2008 arbeitet sie als selbstständige Personal- und Organisationsentwicklerin in eigener Praxis.

info@heike-lorenz.com | www.heike-lorenz.com

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Michael Brendt

Jahrgang 1959, hat als Diplom-Sozialpädagoge Berufserfahrung in der Suchtkrankenhilfe und Jugendhilfe sowie im Allgemeinen Sozialdienst und in der Leitung von stationären Jugendhilfeeinrichtungen gesammelt. Seit 1996 arbeitet er als Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Organisationsberater in freier Praxis. Er ist Gründer und Inhaber eines Trägers für Individualpädagogische Projekte; dort ist er seit 2002 als Geschäftsführer tätig.

m.brendt@tacheles-jugendhilfe.de | www.tacheles-jugendhilfe.de

Teil 1

„Das wahre Leben“ –
Praxis der Individualpädagogik

Einleitung

Sven Riegler

Vallbo in Schweden war meine Rettung

Theresa

„Nein, es war besser!“ – Erfahrungen eines jungen Menschen in Polen

Felix

Vanessa in Griechenland

Harda Dück

Erfahrungen einer Projektstelle in Frankreich

Laurence

Ein Vater erzählt

Norbert

Etwas so Großartiges ist einzigartig!

Manon

Individuell – pädagogisch – erfolgreich

Norbert Scheiwe

Grenzüberschreitende individuelle Hilfen aus der Sicht eines Jugendamtes

Reimund Jäckel

Durchführung von Auslandsmaßnahmen im Jugendamt Bremen

Rolf Diener

Italien war unsere Rettung

Ann-Kathrin Eckardt

Fragen an Christof Radewagen

Eva Felka

Einleitung: „Das wahre Leben“ – Praxis der Individualpädagogik

Sven Riegler

Im ersten Teil dieses Buches geht es um den Blick in die Praxis der europäischen Individualpädagogik. Die Erfahrungsberichte der Menschen, die in unterschiedlichen Rollen an konkreten Hilfen beteiligt waren oder sind, nehmen uns in ihren lebendigen Alltag mit.

Jugendliche und Betreuende beschreiben aus ihrer sehr persönlichen Sicht, wie mit viel Mut und dem Verlassen der eigenen Komfortzone die Voraussetzungen für Veränderung entstehen und was ein solcher Perspektivwechsel bei allen am Hilfeprozess Beteiligten bewegen kann. Der Blick in den Mikrokosmos der Projektstellenarbeit eröffnet uns Einsichten in das alltägliche Leben und die individuellen Erfolge, die sich junge Menschen in diesen Settings erarbeiten.

Eltern lassen uns eindrucksvoll an ihren Erfahrungen teilnehmen, wie sie die Veränderungen ihrer Kinder erleben. Gleichzeitig berichten sie in diesem Kontext aber auch über ihre eigenen Sorgen und Nöte. Danke an dieser Stelle für die Offenheit!

Jugendamtsmitarbeiter:innen nehmen aus ihrer fachlichen Sicht als Vertreter:in einer zuweisenden Behörde Stellung zu Auslandsbetreuungen. Aus ihrer Perspektive geht es darum, wie die Rahmenbedingungen zu gestalten sind, damit die Hilfe erfolgreich verläuft, sowie insbesondere um die Frage, für welche Jugendlichen sie wirkungsvoll sein kann. Als Behördenvertreter:innen sprechen sie aus jahrzehntelanger Erfahrung und mit der Kenntnis sehr unterschiedlicher Hilfeverläufe. Sie beschreiben dialektisch die Vorteile dieser Maßnahmen und werfen gleichzeitig einen kritischen Blick auf die Schwierigkeiten, die entstehen können.

Ein pensionierter Einrichtungsleiter gewährt uns einen Einblick in seine langjährigen Erfahrungen mit individualpädagogischen Maßnahmen im Kontext der gesamten Jugendhilfe. Er beschreibt sehr berührend und eindrücklich, wie es zu der Initialzündung individualpädagogischer Hilfen in seiner Organisation kam und warum sich diese Hilfeform im Laufe der Zeit als festes Angebot etabliert hat.

Menschen jeden Alters können unabhängig von ihrer Erziehung und Sozialisation im Laufe ihres Lebens in Situationen kommen, in denen sie die Chance auf ein „weißes Blatt Papier“ im Sinne eines Neuanfangs nutzen wollen. Diese Chance stellen Aufenthalte im Ausland für Jugendliche, aber auch für Familien dar, wie der Artikel „Italien war unsere Rettung“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 15./16.05.2021 beschreibt.

Alle Beiträge in diesem ersten Teil des Buchs lassen eine wesentliche Erkenntnis zu: Zum Schutz der Kinder und Jugendlichen darf es keine gedanklichen, fachlichen oder territorialen Grenzen geben.

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Sven Riegler

Jahrgang 1975, arbeitet als Erzieher und Outdoortrainer. Seine Schwerpunkte in der Jugendhilfepraxis legt er seit 1998 auf die Arbeitsfelder Soziale Gruppenarbeit, Flexible Erziehungshilfen, Jugendwohngruppen, Individualpädagogische Maßnahmen in In- und Ausland, Reiseprojekte, Erlebnispädagogische Gruppen- und Einzelmaßnahmen sowie die Koordination von Individualpädagogischen Hilfen im In- und Ausland.

svenriegler@wipev.de

Vallbo in Schweden war meine Rettung

Theresa

Ich war zwölf, schwanger und perspektivlos.

Wie das überhaupt passieren konnte, frage ich mich nicht mehr.

Ich bin einfach unfassbar dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, meine Jugend in Schweden verbringen zu dürfen. Das Wichtigste für mich war, in einer intakten Familie zu leben, bei der ich keine Angst vor Gewalt hatte. Bei der ich zum ersten Mal das Gefühl von Sicherheit und einer stetigen Geborgenheit erfahren durfte. In der mir gezeigt wurde, dass ich Erwachsenen vertrauen kann.

Mein Leben vor Schweden war einfach Chaos, welches ich nicht handeln konnte. Es fühlte sich an wie ein permanenter Versuch, einfach nur zu überleben.

Meine Familie und ich sind nach Deutschland gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Ich weiß noch, dass ich damals sehr erleichtert war. Ich dachte, egal was jetzt kommen mag, es kann nur besser werden. Doch mein Vater trank auch in Deutschland weiter, und die Gewalt in seinem Rausch nahm auch nicht ab. Manchmal kam er erst nachts nach Hause und fing Streit mit meiner Mutter an, das war besonders schlimm.

Nach nur einigen Monaten in Deutschland mussten wir Geschwister mit unserer Mutter zu unserem Großvater ziehen, der auch in derselben Stadt wohnte. Meine Mutter hatte sich mit seiner Unterstützung Hilfe bei der Polizei geholt. Alles ging so schnell. Auf einmal packten wir die Koffer ein und bei unserem Großvater wieder aus. Dort blieben wir auf unbestimmte Zeit.

Meine Mutter hat getan, was sie konnte. Nachdem mein Vater, der nur sechs Monate in Deutschland lebte, wieder zurück in sein Herkunftsland gezogen ist, sind wir dann in eine andere Wohnung gezogen.

Dort sollte es endlich besser werden. Doch irgendwie hat mich das alles sehr mitgenommen. Ich weiß heute, dass es meinen Geschwistern ähnlich ging.

Meine Mutter war immer sehr fleißig und hatte mehrere Putzstellen, damit Sie kein Geld vom Staat beziehen musste. Sie arbeitete sehr hart. Dadurch war sie leider kaum zuhause. Eigentlich hätte sie sich auch erst einmal von allem, was sie erlebt hatte, erholen müssen. Doch sie machte immer weiter. Sie hat auch immer dafür gesorgt, dass der Kühlschrank voll war. Wir hatten genug zu essen. Sie war aber dafür einfach überarbeitet und müde.

„Du warst schon immer auffällig“, wurde mir gesagt. Ich weiß, dass ich immer eine sehr große Anspannung spürte, aber nicht wusste, wohin damit. Je älter ich wurde, desto größer und unaushaltbarer wurde sie. Es gab sehr viel Streit bei uns in der Familie.

Irgendwann fing ich an mich zu ritzen, ich glaube, ich war etwa 11 Jahre. Ich hatte das bei einer Freundin gesehen, die das machte, weil sie traurig war. Ich wollte damit zeigen, dass es mir nicht gut ging. Und ich hoffte, dass sich etwas ändert. Dass meine Mama einfach zuhause bleibt und sagt: „Ich hab dich lieb!“, oder auch glücklich ist. Zusätzlich zu meiner Anspannung spürte ich ihre Traurigkeit und auch ihre Erschöpfung.

Irgendwann verlor ich mich komplett. Ich machte Dinge, die einfach extrem waren, insbesondere für mein Alter. Ich wurde in der Schule frech, meine Noten wurden schlechter, und ich fing an mich mit Leuten anzufreunden, die älter waren. Mit denen begann ich Alkohol zu trinken. Ich wollte eine Reaktion von meiner Mutter und wollte mich gegen die Gewalt von meinem großen Bruder wehren, und gleichzeitig tat mir alles sehr leid. Ich wusste, dass mein Bruder nur so war, weil er selbst verprügelt worden war.

Alle in der Familie waren überfordert. Wir wussten nicht, wie wir mit dem Erlebten umgehen konnten. Niemand sprach über die Gewalt und den sexuellen Missbrauch. Ich fragte mich: „Ist das alles so normal?“, aber ich traute mich nicht zu fragen. Ich hatte keine Worte, um meine Gefühle und Verzweiflung auszudrücken. Vor der Zeit in Schweden trank ich viel Alkohol, und irgendwann vertraute ich mich total betrunken meiner Schwester an.

Mit 12 Jahren kam ich das erste Mal ins Heim, ein Mädchenwohnheim, etwa 10 km von zu Hause entfernt. Ich wollte mich bessern und brav werden, damit ich wieder nach Hause konnte, doch ich war einfach überfordert. Ich hatte Angst vor allem. Ich fühlte mich im Heim sehr einsam. Damit etwas Normalität bleibt, war vereinbart worden, dass ich dieselbe Schule weiter besuche. Ich war überfordert mit der Busfahrt, ich hatte einfach die ganze Zeit Angst. Angst, doch im falschen Bus zu sitzen und zu spät zu kommen und es wieder einmal nicht geschafft zu haben. Und dann dachte ich die ganze Zeit an zu Hause.

Irgendwann freundete ich mich mit ein paar Mädels im Heim an, die schon älter waren und Alkohol tranken. Wenn ich dann mitgegangen bin, auf Partys oder auch während der Woche zu Verabredungen, die bis spät in die Nacht gingen, dann vergaß ich schnell, was mich eigentlich bedrückte, insbesondere wenn der Alkohol floss. Heute weiß ich, dass es den Mädels auch so ging wie mir. Beide hatten häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt. Und so begann eine fürchterliche Zeit, die geprägt war von etlichen Schulwechseln, Heimwechseln und Unterbringungen in Psychiatrien. Es fing immer gleich an. Ich war anfangs bemüht, mich zu verbessern, doch es war leichter, vor dem Problem wegzulaufen. Jetzt fragt man sich vielleicht, was man als 12-Jährige für Probleme haben kann, die so schwer zu ertragen sind? Meine Gedanken kreisten immer um die Familie. In der Zeit erfuhr ich, dass mein älterer Bruder heroinabhängig war, und ich hatte Angst um meinen jüngeren Bruder, der mit mir und meiner Mutter als einziger noch zuhause lebte. Die eine Schwester, die mir immer sehr nah stand und die ich manchmal besuchen durfte, lebte auch im Heim. Und meine andere Schwester hatte auch eine Heimkarriere hinter sich und lebte mittlerweile mit einem Mann zusammen, der ihr nicht gut tat. Mit jedem Wechsel wurde ich instabiler und lernte so auch Kinder und Jugendliche kennen, denen es ähnlich ging wie mir. Irgendwann hatte ich das sichere Gefühl, dass doch alles egal ist, was mit mir passiert.

Nachdem die Situation sich mehr und mehr zugespitzt hatte, wurde vom Gericht eine Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie angeordnet. Mir war nicht klar, was das bedeuten würde.

Doch diesmal hatte ich Glück.

Der Verfahrensbeistand bei Gericht, der mich gut kannte, setzte sich für mich ein. Diese Frau glaubte nicht, dass eine geschlossene Psychiatrie für mich das Richtige wäre. Sie kannte das Projekt „Husky“ und den Sozialarbeiter vom Jugendamt. Und es kam zu einem Kontakt. Der Jugendamts-Mitarbeiter verstand vermutlich meine aussichtslos verfahrene Lebenssituation, aus der ich selber keinen Ausweg mehr fand.

Ich erhielt durch ihn als Alternative zur geschlossenen Unterbringung die Chance einer Auslandsbetreuung in Schweden. Ich war skeptisch, aber ich wollte diese Chance nutzen.

Meine Mutter tat sich schwer mit so einer Entscheidung. Aber meine Mutter wollte mich auch nicht verlieren. Es musste einfach etwas passieren!

Inzwischen war ich schwanger geworden und klammerte mich an die Idee, Mutter zu werden. Zum Glück war das für den Jugendhilfeträger kein Ablehnungsgrund. Auch in Schweden gibt es ein gutes Krankensystem und eine Begleitung von Schwangeren.

Meine Betreuerin hatte ich schon vorab in Deutschland kennengelernt, sie kam extra wegen mir sehr kurzfristig nach Deutschland, um mich vorab kennenzulernen und dann mit mir zusammen nach Schweden zu fliegen. Ich nahm sie als eine fröhliche, warmherzige Person wahr.

Nach Erledigung aller Formalitäten war ich erleichtert, als ich in Schweden angekommen war, auch wenn ich meine Mutter und meine Geschwister vermisste. Dort erfuhr ich viel über mich und wurde klarer im Kopf. Mir wurde bewusst, welche Bedeutung es für mich hat, wenn ich das Kind austrage. Meine Betreuer sagten mir, dass ich mir das gut überlegen kann aber auch muss, ob ich das gleichzeitig hinbekomme mit der Schule, ein Kind zu versorgen und groß zu ziehen. Je länger ich nüchtern und alleine darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich so eine große Herausforderung noch nicht schaffen kann.

Dass ich in Ruhe und eng begleitet meine Entscheidung überdenken konnte und zu einer für mich richtigen Entscheidung kommen konnte, war ein einschneidender Punkt in meinem Leben. Ich konnte mich erst einmal für mich selber entscheiden. Ich wurde nicht Mutter.

Diese Ruhe war ganz neu für mich. Ich musste erstmal lernen damit umzugehen. Meine Gastfamilie nahm mich so herzlich auf. Sie lebten mit ihren eigenen zwei Kindern und einem weiteren Jugendlichen zusammen in einem großen Haus.

Ich hatte mich schnell eingelebt, weil ich es gewohnt war, meine Koffer zu packen und sie an anderen Orten auszupacken. Ich merkte schnell, dass hier ein anderer Wind weht – und der tat mir gut.

Mit der Flex-Fernschule sollte ich meinen Hauptschulabschluss in Schweden machen. Leider dauerte es ein paar Monate, bis ich letztendlich meine gesamten Schulunterlagen erhielt, doch rückblickend gesehen war es Gold wert. Ich konnte erst einmal in Ruhe ankommen. Es war September, kalt und nass.

Nach einigen Wochen kamen die ersten schwierigen Situationen. Nachts blieb ich oft lange wach und morgens kam ich nicht aus dem Bett. Nach dem vergangenen turbulenten Jahr hatte ich noch viel zu verdauen. Und besonders abends dachte ich dann über vieles nach, was mich vom Schlafen abhielt. Doch ich musste mich trotzdem an gewisse Regeln halten. Es gab nur sehr wenige Regeln, und die konnte ich gut verstehen. Eine davon war, pünktlich aufzustehen und gemeinsam zu essen. Dort wurde dann lustig miteinander geredet und besprochen, welche Aufgaben erledigt werden sollen und wer bei was Unterstützung braucht. So lief es unter der Woche ab.

Am Anfang hatte ich telefonischen Kontakt zu einem 16-jährigen Jungen. Ich hatte mit ihm eine Beziehung. Er fand es nicht gut, dass ich jetzt in Schweden lebte und auch, dass ich das Kind nicht bekommen habe. Dies ließ er mich deutlich spüren. Mit der Zeit merkte ich, wie ungesund diese Beziehung für mich war. Ich konnte diese Beziehung beenden.

Mit meinen Betreuern unternahm ich viel draußen. Es gab Tiere auf dem Hof und im Wohnhaus gab es Zimmer, die als ein Pensionat genutzt wurden. Oftmals war die gesamte Familie zusammen und wir lachten viel. Ich erlebte zum ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutet, in einer intakten Familie zu leben. Ich hatte sehr guten Kontakt zu den Kindern meiner Betreuer. Sie ersetzten zwar nicht meine richtigen Geschwister, doch wenn ich meine Familie schrecklich vermisste, dann schätzte ich die Zeit mit ihnen besonders.

Hier wurde der Grundstein gelegt, dass ich lernte, wie gut mir Bewegung tut. Mein Schlafverhalten änderte sich auch schnell. Ich konnte abends besser einschlafen und morgens fühlte ich mich schon viel ausgeschlafener. Und so lernte ich, die erste Krisensituation zu überstehen.

Heute noch höre ich den Satz von meinem Betreuer: „Manchmal muss man die Dinge aushalten.“. Ich hatte das Gefühl, dass mich endlich jemand versteht.

Meine Betreuer legten viel Wert auf Bewegung und gute Ernährung. Sie lebten es mir vor, ohne Verbote auszusprechen. Sie diskutierten viel mit mir, aber ließen die Entscheidung bei mir. Diese Werte sind bei mir bis heute hängen geblieben. Die vielfältigen Bewegungsangebote in der Natur oder in Sporthallen und die bewusste Ernährung haben mich in meiner Entwicklung positiv beeinflusst. In all den Heimen zuvor war das alles kein Thema. Dort galt es zu funktionieren, es musste nur irgendwie klappen.

Das Verhältnis zu meiner Mutter war sehr ambivalent – ich liebe sie und gleichzeitig erzeugte sie in mir so große Schuldgefühle. Ihr Satz: „… das hätte doch alles nicht sein müssen …“, belastete mich sehr. Meine Mutter besuchte mich in Schweden, worüber ich mich gefreut habe. Und gleichzeitig war ich froh, dass sie nur ein Woche blieb. So wichtig der Kontakt war, an dem ich ja auch gewachsen bin, so sehr brauchte ich die Distanz. Ich musste lernen, mich abzugrenzen. Dabei half mir die große räumliche Entfernung zu meinem deutschen Zuhause.

Mit der Zeit verbesserten sich meine schwedischen Sprachkenntnisse und ich bekam das Angebot, in die schwedische Schule zu gehen. Diese Schule unterscheidet sich sehr von der Schule, die ich kannte. Ich erlebte hier die Lehrer auf Augenhöhe, es gab kleinere Klassen und im Unterricht fand viel Bewegung statt. Wir gingen zusammen Skifahren, Schwimmen oder unternahmen Wanderungen. Das tat der Klassengemeinschaft und mir sehr gut.

Meine Betreuer sagten immer: „Du musst die Grundschule fertig machen! Danach kannst du was anderes machen, aber dann musst du besonders fleißig sein, um die fehlenden schulischen Abschlüsse auszugleichen.“ Sie klärten mich auf, aber ließen auch hier die Entscheidung bei mir.

Die Gestaltung der Hilfeplangespräche in Schweden hat mich gestärkt und mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit gegeben. Ich wurde angehört und konnte meine Meinung sagen. Außer mit Herrn B. vom Jugendamt hatte ich regelmäßigen Kontakt mit der Koordination aus Deutschland. Sie war immer direkt und ohne Umwege ansprechbar.

Ich fand in Schweden Freunde, die anders drauf waren. Sie teilten meine Interessen wie Tanzen gehen, Spielen, Shoppen oder Chillen.

Schweden war meine dritte Kultur, mit der ich konfrontiert wurde. Ich war in meinem Heimatland durch die Natur geprägt worden, nur leider in Verbindung mit Alkohol und Gewalterfahrungen. In Schweden fand ich zu meinen Wurzeln zurück, der Natur. Das Leben in Schweden erinnerte mich an die schöne Seite meines Heimatlandes, und die hässliche Seite fehlte einfach. Ich konnte meine Bedürfnisse ausleben und habe zu mir gefunden.

Ich bin gleichzeitig viel mehr zu einem „internationalen Menschen“ geworden. Nach dem Aufenthalt in Schweden habe ich z. B. eine Zeit lang als Au-pair in Ägypten gearbeitet. Ich habe vieles in Schweden kennengelernt, das ich gut finde.

Ich habe keine Angst mehr vor der Begegnung mit Menschen, die ich nicht sofort verstehen kann oder die mir sehr fremd sind. Heute lebe ich ländlich am Rande von Berlin, einer Multikulti-Großstadt, und fühle mich wohl. Ich führe mein eigenes Leben in einer guten Partnerschaft.

In Schweden habe ich meinen Schulabschuss geschafft und darauf aufbauend absolviere ich jetzt die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin.

Auch wenn der Aufenthalt in Schweden jetzt viele Jahre zurückliegt, so pflege ich noch gute Kontakte zu der Betreuerfamilie und zu meinen schwedischen Freunden. Und wenn ich zu Besuch komme, ist es wieder ein Stück wie damals, als ich noch hier gelebt habe.

Ich habe viel Selbstvertrauen aus Schweden mitgenommen für meinen weiteren Weg, ich habe so richtig vollgetankt.

Vallbo war meine Rettung – Vallbo hat mein Leben in eine gute Bahn gelenkt. Ich habe durch Vallbo gute Entscheidungen treffen können. Und Probleme gibt es in meinem Leben immer noch, aber ich verzweifele nicht mehr daran, sondern kann ihnen auf Augenhöhe begegnen und die Verantwortung dafür übernehmen.

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Theresa

„Nein, es war besser!“

Erfahrungen eines jungen Menschen in Polen

Felix

Zusammenfassung eines Interviews mit Felix und seinen Großeltern über seine Erfahrungen in Polen

Felix ist im Laufe seines Lebens von einer Hilfemaßnahme in die nächste gewechselt. Nirgends hat es richtig geklappt. Das erzeugte bei ihm große Traurigkeit und das permanente Gefühl von „Ich bin schuld!“.

Als das Jugendamt ihm eine Betreuung in Polen angeboten hat, hat er darauf zuerst keinen Bock: „Da kenn ich doch keinen und wie soll ich mit den anderen reden? Ja und dann ist das so weit weg von meiner Familie!“

In Deutschland fehlte Felix eine Perspektive, wo und wie es besser werden kann. Wieder in einer neuen Wohngruppe zu scheitern, das wollte er auch nicht.

Entscheidend für seine Zustimmung zu der Betreuung in Polen war die Tatsache, dass es SEINE Entscheidung war. Sicherlich kann man nicht wirklich von Freiwilligkeit reden, wenn man keine Wahl hat, aber Felix hatte in der Vorbereitungsphase die Zeit, die Entscheidung zu seiner eigenen zu machen.

Für Felix war wichtig: „Der Mitarbeiter vom Jugendhilfe-Träger hat mich zu Hause besucht und auch mit meiner Familie geredet. Ich habe erstmal viele Informationen bekommen über das Leben in Polen, und ich konnte meinen zukünftigen Betreuer bereits hier in Deutschland kennenlernen, bevor ich mit ihm nach Polen gereist bin. Ich hatte das Gefühl, das ich auch jederzeit nein sagen kann.“

Der polnische Betreuer und Felix waren sich sympathisch. Das war der ausschlaggebende Punkt für Felix, der Betreuung in Polen zuzustimmen.

In den ersten Monaten in Polen versuchte Felix anzukommen, was nicht auf Anhieb klappte. Alles war irgendwie anders. Da waren schon oft die Gedanken, doch abzubrechen und zurück nach Deutschland zu gehen. Ja und dann? Wie weiter?

Auf die Frage, wer ihm bei seinen eigenen Fragen geholfen hat, sagt er: „Das habe ich mit mir selbst ausgemacht. Es war ja meine Entscheidung, die Maßnahme zu machen, daher konnte kein anderer für mich die Entscheidung treffen.“

Felix hatte während der Maßnahme die Möglichkeit, mit für ihn wichtigen Menschen zu telefonieren und sich auszutauschen. Seine Großeltern sind ihm besonders wichtig. Sie merken immer, wenn was mit Felix los ist.

Der Großvater beschreibt eine Krisensituation: „Ich habe dann mit Felix gesprochen und ihm gesagt, dass er sich das gut überlegen soll, ob er die Maßnahme abbrechen möchte, denn das macht gar keinen Sinn. Er hatte sich mittlerweile eingelebt und der Betreuer ist ihm ein guter Freund geworden.“ Felix hat dann eingelenkt: „Ja, ok, ich versuche es weiter.“

Besonders schlimm war es nach den Besuchen zu Hause bei den Großeltern und während der darauffolgenden Rückreise. Während der zwei Jahre Betreuung in Polen war Felix im ersten Jahr zweimal zu Hause, danach monatlich. Zusätzlich bekam er Besuch von seinen Großeltern in Polen. Rückblickend waren diese Besuche für den Erfolg der Betreuung wichtig.

Die Großmutter schildert ihren Eindruck von der Maßnahme in Polen so: „Am Anfang ist Felix von uns aus nach Polen gegangen, da er vorher schon acht Wochen bei uns gelebt hatte. Das war für uns ganz furchtbar. Mein Mann ist dann einmal dort gewesen zum Hilfeplangespräch und hat mir anschließend gesagt, dass alles gut ist und es dem Felix dort gut gehe. Im Oktober sind wir dann zusammen das erste Mal nach Polen geflogen. Als wir wieder zurückflogen, war es schwer, ihn dort zurückzulassen, aber ich habe gemerkt, dass er dort gut aufgehoben ist. Es fühlte sich positiv an. Es stimmte alles. Wir haben uns bemüht, dann einfach mehr an IHN zu denken und unsere eigenen Interessen zurück zu stellen. Für mich war es sehr schwer, als er weggegangen ist, klar logisch.“

Während der Betreuung absolvierte Felix eine Fernschule und erreichte sein Ziel, den Hauptschulabschluss. Die meist positiven Rückmeldungen der Schule und das persönliche Kennenlernen der Lehrer sowie die besondere Struktur der Schule hatten ihn motiviert, weiter dran zu bleiben – und so hat es geklappt!

Neben dem Betreuer, der Familie von Felix, dem Träger und dem Jugendamt hatte Felix auch in der Ombudsstelle in Deutschland einen Ansprechpartner bei Konflikten oder Beschwerden. Felix berichtet jedoch nur von normalen Alltagskonflikten, die mit seinem Betreuer lösbar waren.

Die Perspektive, in den Haushalt der Großeltern zurückkehren zu können, bestand für Felix während der zwei Jahre in Polen durchgehend, und so geschah es dann auch.

Im Rückblick meint Felix zu der Frage, ob es so war, wie er es sich vorgestellt hat: „Nein, es war besser! Die typischen Horrorvorstellungen, dass man da in einer Hütte im Wald lebt ohne Strom und fließendes Wasser, mit einem Plumpsklo … so Horrorvorstellungen halt wie im Fernsehen, wo man das in übertriebenen Serien sieht, das gab es nicht!“

Am Anfang bestanden Sprachschwierigkeiten und zum Glück konnte sich Felix mit dem Betreuer auf Deutsch unterhalten. Schnell begann er aber, die polnische Sprache zu verstehen und konnte dadurch Gespräche anderer erfassen. Nur mit dem Selbersprechen war es schwieriger.

„Felix, würdest du anderen Jugendlichen so eine Auslandsbetreuung empfehlen?“ – „Ich würde ihnen empfehlen, das auch zu machen, aber nur, wenn sie es selbst wirklich wollen. Wenn man es nicht selbst will, bringt das alles nichts. Die Maßnahmen sind schon anders als die Maßnahmen in Deutschland. Man kennt dort niemanden. Jemanden kennenzulernen ist durch die sprachliche Barriere auch schwierig. Im Endeffekt hat man nicht so viele Kontaktpersonen wie in Deutschland.“

„Bewertest du das eher gut oder eher schlecht?“ – „Das kann man so oder so sehen. Wenn man z. B. hier viel Scheiße mit einer Person gebaut hat, ist es vielleicht gut, wenn man diese Person nicht mehr sieht. Es ist aber auch schwierig, wenn man nur wenige Leute kennt. Es wird alles reduziert.“

Felix brach den Kontakt zu alten ‚schlechten‘ Freunden ab, obwohl er sein Handy zur Verfügung hatte – es war SEINE Entscheidung.

„Was ist der gravierendste Unterschied zu der Situation vor drei Jahren?“ – Großeltern: „Er ist viel umgänglicher. Kann auch mal ein bisschen Kritik vertragen, ohne dass man ihn gleich auf die Palme bringt. Er hat sich jetzt bei uns eingelebt und soweit ist alles gut. Er hat sich schon sehr verändert in der Zeit. Als er am Anfang der Maßnahme nach Hause kam, war er noch sehr explosiv, so dass ich gesagt habe: ‚Oh ha!‘, aber jetzt ist er total umgänglich. Jetzt ist alles ok.“

„Sie haben an Felix geglaubt und dass es bei dem Betreuer in Polen klappt?“ – „Ja, das haben wir beide.“

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Felix

Vanessa in Griechenland

Harda Dück

„Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen, in Berg und Tal und Strom und Feld“

Das schrieb Eichendorff Anfang des 19. Jahrhunderts. Mir wurde diese Gunst erwiesen, denn ich reiste durch die Welt und lebte zuerst im Osten, dann im Westen und jetzt im Süden Europas. Meine Eltern gaben mir den eigenartigen Namen Harda und mein Nachname Dück ist nur im deutschsprachigen Raum wirklich einfach auszusprechen. Ich hatte erstaunlicherweise schon als Kind Lust auf Schule, darauf, Bücher zu lesen und Fremdsprachen zu lernen. Meine Eltern rieten mir zwar, mich mit naturwissenschaftlichen Fächern zu beschäftigen, sahen jedoch ein, dass mein Interesse der Literatur und der Pädagogik galt, und so konnte ich Deutsch- und Englischlehrerin werden. Als Lehrerin kommt man natürlich oft in Kontakt mit Schülerer:innen, deren Verhalten nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht, und man versucht diesen zu helfen.

Die Idee, mich mit individual- und erlebnispädagogischen Projekten zu beschäftigen, kam im Jahr 2014 durch den Aufruf eines individualpädagogischen Trägers, welcher Projektkinder auf Kreta betreute und weitere Projektstellen suchte. Ich lebe seit 1998 mit meinem griechischen Mann auf dieser Insel und habe zwei eigene Kinder, die inzwischen erwachsen sind und in Deutschland und der Schweiz wohnen. So viele Jahre unterrichtete ich nun schon Fremdsprachen und merkte, dass sich meine Schüler:innen gerne auch in der Freizeit zu anderen Aktivitäten mit mir trafen, zum Basteln, Plätzchenbacken, Wandern, Schwimmen oder Sehenswürdigkeiten besichtigen. Die Idee, einem benachteiligten Jugendlichen ein Zuhause zu geben und einen neuen Start zu ermöglichen, gefiel meinem Mann und mir. Eine Mitarbeiterin des Trägers besuchte uns nun öfter und wir machten uns theoretisch vertraut mit der Idee der Individualpädagogik. Es war keine überstürzte Entscheidung, denn der Träger schickte die erste Jugendliche nach fast zwei Jahren, in denen uns die Mitarbeiterin durch zahlreiche Besuche sehr gut kennenlernte, uns mit individualpädagogischen Maßnahmen vertraut machte und uns auf Herz und Nieren prüfte, ob wir uns für verantwortungsvolle Projekte eignen. Mein Mann arbeitet im medizinischen Bereich und hat dadurch eine gute Menschenkenntnis, viel Einfühlungsvermögen und die für die Kinderbetreuung sehr hilfreichen medizinischen Kenntnisse.

Unser etwa zwei Kilometer von einer Stadt im Nordosten Kretas entferntes Haus liegt in einem großen Olivenhain und bietet reichlich Platz für uns Menschen und selbstverständlich auch für unsere Haustiere.

Wenn unsere Projektbeschreibung an die öffentliche Jugendhilfe gegeben wird, hören wir oft, dass dieses Setting Kindern und Jugendlichen mit Schwierigkeiten nicht zugetraut wird. Darüber hinaus erwartete man strenge Regeln und konsequente Erzieher mit einem festen Programm. Wir leben weder als Selbstversorger in Armut, noch sind wir die strengsten Eltern dieser Welt. Für welche Kinder oder Jugendliche eignet sich unsere Projektstelle? Meiner Meinung nach würde sie sich für fast alle von Jugendämtern betreuten Kinder und Jugendlichen eignen. Wir schließen Gewalttäter und Drogenabhängige aus, da sich in unserem Haushalt meine betagte Mutter befindet und wir manchmal Besuch mit Kleinkindern haben. Wir möchten eigentlich nicht nur die letzte Lösung für ein Kind oder eine:n Jugendliche:n sein, am Ende einer Reihe von fehlgeschlagenen Maßnahmen als einzige Lösung da stehen. Ähnlich wie ein „Auslandssemester“ sollten die Projektstellen im Ausland betrachtet werden. Eine notwendige Erfahrung für viele Kinder und Jugendliche, die schon lange berühmten „Wanderjahre, die man zum Erlernen eines Handwerks benötigt und welche oftmals ausschlaggebend für das restliche Leben sind.

Wir begannen unsere neue Arbeit im individual- und erlebnispädagogischen Bereich Anfang März 2016. Die fast 16-jährige Vanessa befand sich seit ihrer Geburt in der Obhut des Jugendamts. Als drittes Kind einer alleinerziehenden polytoxen Zwanzigjährigen kam sie mit vielen Geburtsfehlern zur Welt, wie fehlende Niere, fehlende Speiseröhre, Lungen- und Herzprobleme.

In der ersten Pflegefamilie trennten sich die Pflegeeltern und hatten dann genug mit den eigenen Kindern zu tun. Die zweite Pflegefamilie hatte schon erwachsene eigene Kinder und zwei vietnamesische Adoptivkinder. Die damals Siebenjährige verstand sich nie mit diesen Kindern und erzählte aus dieser Zeit von harten Bestrafungen, viel Einsamkeit und dem Gefühl der Minderwertigkeit, welches sie begleitete. Sie versuchte den Lehrer:innen in der Schule die ungerechte Behandlung zu beschreiben. Niemand schenkte ihr Glauben, da sie retardiert war, in der Schule nicht gut mitkam, Mathematik nicht begriff und sich in den Pausen aggressiv gegen das Gespött ihrer Mitschüler:innen wehrte. Aggressiv reagierte sie auch auf die ihr körperlich unterlegenen Adoptivkinder und strafte die Pflegeeltern durch Bettnässen, Geschrei und Ungehorsam.

So wurde sie immer weiter vermittelt, in Heime und Familien, die nach kurzer Zeit die Geduld verloren. Ende 2013 wurden sie nach Westkreta in eine Projektstelle mit viel Erfahrung gebracht. Es war die siebte Stelle in ihrem Leben. Sie lernte viele praktische Dinge des alltäglichen Lebens. Der Hausunterricht war jedoch eine tägliche Überforderung, und so griff sie zu ihrem bewährten Bewältigungsmuster und lief weg. Oft musste sie von der Polizei gesucht werden und sie brachte sich sogar in der Wildnis in den Bergen in Gefahr.

Der Träger und das Jugendamt entschieden sich für einen Projektwechsel innerhalb Kretas, da die Koordinatorin schon länger unsere Familie als eine gute Lösung für diese Jugendliche ansah. So begann unser neuer Alltag. Die ersten beiden Monate waren hart, man musste sich kennenlernen, Vanessa einschätzen lernen, testen, wo Grenzen gezogen werden müssen. Obwohl nicht offiziell diagnostiziert, hatte sie eindeutig FAS 1 im Vollbild.

Der Alltag begann oft sechs Uhr früh. Es gab kein im Voraus festgelegtes Programm, da zunächst eingeschätzt werden musste, was an diesem Tag überhaupt möglich war. Von besonderer Relevanz waren die physischen Aktivitäten. Der lange Sommer und der sonnige Frühling und Herbst auf Kreta erlauben Outdoor-Aktivitäten. Das Meer gehörte zu den wichtigsten Aufenthaltsorten. Sie konnte zwar schwimmen, hielt sich aber zunächst nur dort auf, wo sie noch stehen konnte. Sie lernte zu schnorcheln und zu tauchen und so konnten wir den Aufenthalt im Wasser bis zu drei Stunden ohne Pause verlängern. Wir gaben ihr jederzeit die Sicherheit, sich beim Langstreckenschwimmen an uns festhalten zu können. Sie lernte Ausdauer und Konzentration und das Einschätzen von Gefahren, war körperlich aktiv und hatte extremen Spaß am Erkunden der Unterwasserwelt. Es gab an den Schwimmtagen keine Ausraster, keinen Streit, keine depressive Phase, keine Einschlafschwierigkeiten, keinen Protest beschult zu werden. In der Mathematik allerdings machten wir Wiederholungen und kamen nicht über das Niveau der 5. Klasse hinaus. Akalkulie gehört neben vielen anderen Einschränkungen in den klassischen FAS-Katalog. Thalassotherapie, das Genesen im Meer, ist eine Therapie, von der ich wirklich überzeugt bin. Den ganzen Körper und den Kopf in die Fluten einzutauchen und danach im Wasser zu schweben bewirkt Wunder. Es ist in keiner Weise mit Schwimmbadbesuchen im gechlorten Wasser, der Lautstärke und dem eingegrenzten Raum eines Gebäudes oder umzäunten Areals vergleichbar.

Als Vanessa erfuhr, dass sie bei ihrer Volljährigkeit zurück nach Deutschland sollte, war sie sehr enttäuscht. Wir mussten mit ihr sofort zum Meer fahren, da es ihr das ideale Medium zum Ausgleich gab. Zitat: „Ich muss jetzt ins Wasser!“