Peter Berthold
Unsere
Vögel
Warum wir sie brauchen und
wie wir sie schützen können
Ullstein
Das Buch
Vögel faszinieren uns auf vielfältige Weise. Und sie sind uns ans Herz gewachsen. Doch Vögel sind auch unsere wichtigsten Bioindikatoren. Ihr zunehmendes Verschwinden zeigt uns, dass es um ihren und unseren Lebensraum in diesem Land (und weltweit) nicht gut bestellt ist. Denn das Artensterben hat inzwischen alle Gruppen von Tieren und Pflanzen erfasst und macht auch vor dem Menschen nicht Halt. Es wird höchste Zeit, daran etwas zu ändern. Peter Berthold, Deutschlands renommiertester Ornithologe, schlägt Alarm: Er zeigt uns, wie gefährdet die faszinierende Vielfalt unserer Vogelwelt ist und was wir alle konkret dafür tun können, um sie zu erhalten.
Der Autor
Peter Berthold geboren 1939, ist Ornithologe und Verhaltensforscher. Von 1981 bis 2005 war er Professor für Biologie an der Universität Konstanz, ab 1998 bis zu seiner Emeritierung Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie. Er hat das ornithologische Standardwerk Vogelzug verfasst sowie den Bestseller Vögel füttern, aber richtig. 2001 war er Berater für den legendären Kinofilm Nomaden der Lüfte. Berthold erhielt viele Auszeichnungen und beschäftigt sich unter anderem mit den Folgen des Klimawandels.
Peter Berthold
Unsere
Vögel
Warum wir sie brauchen und
wie wir sie schützen können
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1548-5
© 2017 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Carla Swiderski
Covergestaltung:ROTHFOS & GABLER, HAMBURG
Coverabbildung: XPIXEL / SHUTTERSTOCK
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet,
die sich nicht entmutigen lassen, von unserer
wunderbaren Natur so viel wie möglich in die Zeit nach
Homo horribilis hinüberzuretten.
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Widmung
VORWORT
TEIL 1
Vogelschwund: dokumentiert seit 1849
Anmerkungen zum Kapitel
Wie zählt man Vögel?
Anmerkungen zum Kapitel
80 Prozent weniger Vögel seit 1800
Anmerkungen zum Kapitel
Die einzelnen Arten: überwiegend Verlierer
Anmerkungen zum Kapitel
Deutschlands Vögel: von den Alpen bis zur Küste
Anmerkungen zum Kapitel
… und vom platten Land bis in die Großstadt
Anmerkungen zum Kapitel
Heute: Unsere gesamte Flora und Fauna ist heruntergewirtschaftet
Anmerkungen zum Kapitel
Artenschwund: Drama in Deutschland und in aller Welt
Anmerkungen zum Kapitel
Hauptursachen des Artensterbens
Anmerkungen zum Kapitel
Katzen
Anmerkungen zum Kapitel
Gegenmaßnahmen:
halbherzig und bislang erfolglos
Anmerkungen zum Kapitel
Brauchen wir überhaupt Artenvielfalt?
Anmerkungen zum Kapitel
Können wir Artenvielfalt erhalten?
Anmerkungen zum Kapitel
TEIL 2
Ein neues Naturschutzkonzept
Anmerkungen zum Kapitel
Biotopverbund Bodensee – ein Erfolgsmodell
Anmerkungen zum Kapitel
Ein weiterer Mutmacher:
Land des Friedens
Anmerkung zum Kapitel
»Jeder Gemeinde ihr Biotop« –
eine Kampagne für ganz Deutschland
Wie erschafft man ein neues Biotop? – Das »Rezept«
Anmerkungen zum Kapitel
Mittelbeschaffung
Anmerkung zum Kapitel
Ideale Biotopgestaltung
Anmerkungen zum Kapitel
Optimale Biotoperhaltung
Anmerkungen zum Kapitel
TEIL 3
Naturschutzgesinnung statt Umweltbewusstsein
Anmerkungen zum Kapitel
Gartengestaltung: so naturnah wie möglich
Anmerkungen zum Kapitel
Vögel füttern – rund ums Jahr
Anmerkungen zum Kapitel
Nisthilfen
Abwehr von Katzen
Anmerkungen zum Kapitel
Zusammenarbeit mit bestehenden Naturschutzeinrichtungen
Anmerkung zum Kapitel
Immer wieder eine gute Tat für die Natur
Anmerkungen zum Kapitel
TEIL 4
Ein Jahr und ein Tag am Heinz-Sielmann-Weiher
Der Braune Storchschnabel: lebenslange Freundschaft mit einer Pflanze
Anmerkung zum Kapitel
Ausblick
Danksagung
Literatur
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Vögel – unsere Lieblinge und Spiegel unserer Umwelt
Vögel! Sie sind nicht einfach irgendwelche Mitlebewesen von uns, vielmehr sind sie uns ganz besonders ans Herz gewachsen. Sie sind uns auf allen Kontinenten die liebsten freilebenden Geschöpfe, mit denen wir die Lebensräume auf unserem Planeten teilen.
Der Beweis dafür ist leicht zu erbringen: Keine andere Gruppe von Lebewesen – weder Orchideen noch Zierfische, Schmetterlinge oder sonst wer – zieht so viele Liebhaber in ihren Bann wie die Vögel. Die Zahl der Vogelfreunde – Ornithologen, Ornithomanen, bisweilen auch Ornithopathen – geht allein in Europa und in den USA in die Millionen. Es gibt weitaus mehr vogelkundliche Vereine als Verbände, die auf andere Gruppen von Tieren oder Pflanzen ausgerichtet sind, und mit den weltweit über 1000 ornithologischen Zeitschriften, die von ihnen herausgegeben werden, liegen sie in der gesamten organismischen Biologie einsam an der Spitze.
Was macht Vögel so überaus attraktiv für uns Menschen? Es sind vor allem fünf Eigenschaften, die ihre Spitzenstellung bewirken. Da ist zunächst ihre oft unglaubliche Farbenpracht und Gefiederzeichnung – etwa das aufblitzende Blau eines Eisvogels (nicht von ungefähr »fliegender Edelstein« genannt) oder das Karminrot eines Gimpels (besonders leuchtend vor einer verschneiten Winterlandschaft), das bestechende Gelb eines Pirols im Blätterdach eines Auwaldes oder das sprichwörtliche Weiß eines Schwans vor dunklem Schilf –, von tropischen Farbpaletten etwa von Papageien und Kolibris ganz zu schweigen. Aber auch das an Baumrinde erinnernde, bis ins Feinste in Grau- und Brauntönen abgestufte Gefieder etwa eines Rebhuhns, eines Wendehalses oder eines Ziegenmelkers macht uns einfach nur staunen.
Und selbst ohne sie zu sehen, können uns Vögel regelrecht verzücken – im Gegensatz etwa zu Orchideen oder Korallenfischen: durch die einzigartige Vielfalt ihrer Stimmen. Der Morgenchorus in unseren Wäldern im Frühjahr, das lärmende Spektakel in einem tropischen Regenwald, das melancholische Abendlied einer Amsel über den Dächern einer Stadt oder ein Sumpfrohrsänger an einem Riedgraben, der weit über 100 verschiedene, im afrikanischen Winterquartier von exotischen Arten erlernte Strophen zu singen vermag – viele Menschen sind davon einfach hingerissen!
Eisvogel
© birdimagency
Selbst für Farbenblinde und Taubstumme bleibt genug zu bewundern: die Anmut unglaublich vieler faszinierender Bewegungen von Vögeln, vor allem im Flug – eine Traumvorstellung von uns Erdgeborenen. Wie eindrucksvoll wirken etwa federleicht schwebende Möwen im Sturm hinter einem Schiff, im Aufwind sich hochschraubende Geier oder pfeilschnell jagende Falken. Geradezu ehrfürchtig machen uns Wanderbewegungen von Vögeln, die gegenwärtig die Forschung im Verbund mit moderner Technik ermittelt: Seeschwalben, die jährlich zwischen Brutgebiet und Winterquartier 80 000 Kilometer zurücklegen und Lebenswanderstrecken von einigen Millionen Kilometern erreichen, ebenso wie Albatrosse, die es auf Tagesstrecken von etwa 1000 Kilometer bringen, und das im dynamischen Segelflug fast ohne Flügelschlag. Und nahezu unvorstellbar sind für uns Nonstop-Flugleistungen etwa von Pfuhlschnepfen, die in gut acht Tagen fast 12 000 Kilometer weit von Alaska bis Neuseeland fliegen, oder auch von winzigen Kolibris, die immerhin rund 1000 Kilometer nonstop über den Golf von Mexiko schaffen. Auch die dabei erbrachten Orientierungsleistungen, die oft kontinentweit punktgenau sind – wie zum Beispiel bei Schwalben, die von einem Nest im Kuhstall irgendwo in Europa bis zu einem bestimmten Schlafplatz im Winterquartier im südlichen Afrika finden –, übersteigen unser Vorstellungsvermögen.
Aber auch die Körpersprache der Vögel im täglichen Leben begeistert, besonders bei der Jagd und der Balz. Stoßtauchende Pelikane oder Tölpel, im Formationstanz balzende Flamingoscharen, Tanzsprünge vollführende Kranichschwärme, liebestoll kämpfende Auer- und Birkhähne – all diese Ausdrucksbewegungen locken Heerscharen von Vogelfreunden an.
Von herausragender Bedeutung ist jedoch vor allem die Allgegenwart von Vögeln. Sie teilen als meist tagaktive Kumpane tagtäglich den Lebensraum mit uns, und das überall – in den üppigen Tropen und in Halbwüsten und Wüsten ebenso wie in polaren Eisfeldern, höchsten Bergregionen und selbst im Inneren unserer Steinhaufen, den Großstädten. So treffen Forscher wie Abenteurer selbst in den unwirtlichsten Regionen der Sahara im Schatten von Felsen oder Autowracks regelmäßig rastende Zugvögel, etwa den Fitis, die Turteltaube oder den Purpurreiher, Kletterer am Mount Everest beobachten umherstreifende Geier ebenso wie vorbeiziehende Kraniche und Streifengänse, und in der Arktis tummeln sich unter anderen Alke, Watvögel und Polarmöwen, wohingegen sich in der Antarktis vor allem Pinguine wohl fühlen. Der Artenreichtum in unseren Großstädten ist in aller Regel verblüffend hoch. In Berlin beispielsweise kann man im Laufe von ein paar Jahren an die 300 Vogelarten beobachten und tatsächlich auch sehen und hören, während selbst den meisten Naturfreunden die dort vorkommenden 50 Säugetier- und 25 Fischarten großenteils verborgen bleiben, sei es, weil sie nachtaktiv sind, sei es, weil sie recht versteckt und still leben.
Die für uns Menschen wichtigste Eigenschaft ist Vögeln erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts zuteilgeworden: Sie wurden unsere wichtigsten Bioindikatoren, also Anzeiger für die Qualität der Lebensräume der Erde in Bezug auf unser Wohlergehen. Der Grund dafür: Vögel teilen nicht nur überall auf der Erde den Lebensraum mit uns, sondern stellen auch ganz ähnliche Ansprüche wie wir an Boden, Wasser, Luft, Vegetation sowie pflanzliche und tierische Nahrung. Treten in den genannten Bereichen von uns ausgebrachte Umweltgifte auf, dann zeigt das besonders bei spezialisierten Vogelarten Wirkung. Auf diese Weise können sie uns frühzeitig Gefahren anzeigen.
In einer ganzen Reihe von Fällen hat uns das sehr geholfen. Als die Quecksilberbelastung durch Industrieabfälle und Fungizidanwendung in der Forst- und Landwirtschaft kritische Werte erreicht hatte und in Japan daraufhin ab Mitte der 1950er Jahre die Minamata-Krankheit ausbrach, haben uns Vögel durch Bestandsrückgänge auf die drohenden Gefahren aufmerksam gemacht. In Skandinavien lenkten vor allem Feldvögel wie Goldammer und Turmfalke die Aufmerksamkeit auf die verseuchten Süßwasserseen. Chlorierte Kohlenwasserstoffe, allen voran das Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), einst hochgelobt und gar mit einem Nobelpreis gewürdigt, wurden zumindest aus der nördlichen Hemisphäre weitgehend verbannt, nachdem durch viele Vogelarten klargeworden war, wie negativ diese Kohlenwasserstoffe auf Wirbeltiere einwirken. (Bei Vögeln führten die Schädigungen von Eiern und Jungvögeln ebenso wie die vermehrte Unfruchtbarkeit fast zum Aussterben einer Reihe von Greifvogelarten, darunter dem Weißkopfseeadler, der als Wappenvogel der USA bekannt ist.) Das führte 1972 bei uns zum DDT-Verbot und hat damit sicher vielen Millionen Menschen das Leben gerettet. Ähnlich erging es anderen Bioziden wie etwa dem Dieldrin, nachdem unter anderem damit verseuchte Singdrosseln während ihres Morgenliedes tot vom Baum vor die Füße andächtig lauschender Vogelfreunde gefallen waren. Jüngste Beispiele sind etwa das Massensterben von Präriebussarden durch Biozide in Argentinien oder von Geiern durch Diclofenac vor allem in Asien und Afrika, aber inzwischen auch in Europa.
Die jahrhundertelange Beschäftigung von sehr vielen Menschen mit Vögeln hat seit den Pionierarbeiten von Aristoteles im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Gefiederten weltweit so gut untersucht worden sind wie sonst keine andere Gruppe von Tieren und Pflanzen. Aufgrund der Publikationsfreudigkeit vieler Ornithologen ist dabei mit den erwähnten gut 1000 Zeitschriften und Tausenden von Vogelbüchern eine einzigartige Datenbank entstanden. Sie lässt uns heute durch Vergleiche selbst geringfügige Veränderungen in der Vogelwelt und damit auch von Umweltfaktoren erkennen – weit mehr als bei anderen Tieren und Pflanzen. So nimmt es nicht wunder, dass uns Ornithologen schon vor Jahrzehnten vor allem früher aus dem Winterquartier heimkehrende oder gar nicht mehr wegziehende und dann auch früher brütende Zugvögel auf eine sich anbahnende Klimaerwärmung aufmerksam machten, so dass wir sie bereits 1992, noch bevor sich die Meteorologen so recht zu ihr bekennen wollten, in einer ersten Übersichtsarbeit behandeln konnten.
Also können wir uns freuen, dass uns Vögel nicht nur mit ihrer Farbenpracht, ihrem Gesang und ihrem Verhalten begeistern, sondern nun auch noch Gradmesser unserer Umweltqualität geworden sind. Aber leider ist diese Freude nur kurz ungetrübt geblieben. Denn kaum, dass dieses neuartige »Messgerät« in Gang gekommen ist, wird es auch schon defekt. Seit langem schleichend und seit gut 50 Jahren deutlich und zunehmend, haben nämlich Bestandsrückgänge bei Vögeln in aller Welt und ganz besonders auch bei uns dermaßen um sich gegriffen, dass sie mittlerweile alarmierend sind und nichts Gutes für die nähere Zukunft der Vogelwelt verheißen. Mehr noch: Das Artensterben hat inzwischen alle Gruppen von Tieren und Pflanzen unserer Erde erfasst, also die gesamte Biosphäre – einschließlich des Menschen. Viele von uns leben dabei noch fern jeglicher Realität, als seien sie auf einer paradiesischen Urlaubsinsel – mit dunkler Sonnenbrille, so dass sie nicht erkennen können, wie auch ihre Umwelt langsam zerbröselt.
Es ist also höchste Zeit für Abhilfe. Die soll in diesem Buch behandelt werden. Hier werde ich zeigen: 1) wie groß inzwischen die Bedrohung für die Vogelwelt und für die gesamte lebende Umwelt geworden ist, 2) welche Ursachen dafür verantwortlich sind und was zur Rettung unserer Mitlebewesen bisher versäumt wurde, 3) ob wir für unser Überleben eine reichhaltige Artenvielfalt überhaupt brauchen und 4) ob sich eine solche bei den heute die Erde bevölkernden Menschenmassen überhaupt stabilisieren ließe.
Dies alles wird ohne Jammern und Wehklagen, aber durchaus kritisch in Bezug auf Verursacher und Hauptschuldige geschehen, um dann zu dem wichtigsten Teil unseres Buches zu führen: 5) bereits erprobte Wege aufzuzeigen, wie wir auch inzwischen stark angeschlagene Naturbereiche erhalten und sogar wieder aufbessern können, und zwar praktisch überall, sei es als Einzelkämpfer – von der Wohnung, dem Hausgarten über den Stadtpark –, sei es als Volksbewegung im ganzen Land.
Ganz kurz noch einige wenige Definitionen für das Verständnis des Buches. Artenvielfalt und Biodiversität werden hier synonym gebraucht, auch wenn streng genommen zur Biodiversität häufig über die bloßen Arten hinaus auch Lebensräume, Ökosysteme und lebenswichtige Umweltfaktoren mit einbezogen werden. Ebenso werden Artenrückgang, Artensterben und Bestandsabnahme synonym verwendet, unabhängig davon, wie weit der Verlust an Individuen bei einer Art oder Population bereits fortgeschritten ist. Und: Das Buch ist in erster Linie für Praktiker gedacht; für Macher, die gewillt sind, hinauszugehen in die von uns gebeutelte Natur und böse Wunden, die wir ihr zugefügt haben, wieder zu heilen, so gut es geht. Deshalb wird auf eine Überfrachtung mit Quellenangaben und Zitaten verzichtet. Gewichtige Fakten werden ausreichend belegt, Details sind danach leicht zu recherchieren. Im Übrigen ist in den letzten Jahrzehnten leider viel zu viel über das, was man »sollte« und »müsste« geschrieben und geschwafelt worden – leider auch von mir. Jetzt gilt es vor allem, anzupacken. Möge diese Anleitung dabei hilfreich sein.
Vogelschwund und Artensterben
Wenn mancher Politiker heute behauptet, auf die inzwischen gravierenden Bestandsrückgänge unserer Vogelwelt (und von Lebewesen allgemein) sei von Seiten der Wissenschaftler zu spät aufmerksam gemacht worden, um entsprechend Abhilfe schaffen zu können, so ist das sträfliche Lüge, Ignoranz oder Irreführung. In keinem Land der Erde ist so frühzeitig und so andauernd deutlich auf Artenrückgänge hingewiesen worden wie in Deutschland. Bereits 1849 hat der damalige Altmeister der Vogelkunde, Professor Johann Friedrich Naumann, Verfasser einer zwölfbändigen Monographie über Die Naturgeschichte der Vögel Deutschlands, über Rückgänge der Vogelwelt in unserem Land zusammenfassend berichtet. In Rhea. Zeitschrift für die gesammte Ornithologie schreibt er unter dem Titel »Beleuchtung der Klage: Über Verminderung der Vögel in der Mitte von Deutschland« Folgendes:
In der Mitte unseres Vaterlandes hat sich dem langjährigen Beobachter, dem Veteran der Wissenschaft, leider längst die Bemerkung aufgedrungen, seit einem halben Jahrhundert eine auffallende Abnahme der Zahl fast aller Vögel eintreten zu sehen, die besonders bei Strich- und Zugvögeln am auffallendsten wurde (…). Folgende Facta beruhen (…) auf eigenen Erfahrungen, die von meiner Kindheit anfangen und, da ich jetzt bereits das 66. Jahr zurückgelegt, mehr noch als 50 Jahre umfassen, eingedenk, daß ich meinen Vater, selbst schon als ich kaum das zehnte Jahr erreicht hatte, bei Jagd und Vogelfang zu begleiten pflegte. Sie gewähren sogar einen Rückblick auf einen noch größeren Zeitraum, weil sie auch das umfassen, was er mir (…) mittheilte, nämlich was er selbst erlebt, zum Theil auch von Vorgängern erfahren; denn wir stammen aus einer Familie, deren Urväter schon den Vogelfang liebten und ihn leidenschaftlich betrieben, sodaß (…) in dem zu meinem Landgut gehörigen kleinen Wäldchen (…) drei Vogelherde regelmäßig in Betrieb waren, in den nächsten Umgebungen (…) noch vier dergleichen (…) und (…) bei mehreren Dörfern noch ebenso viele (…). Sämtliche Vogelherde (…) meines (…) Wohnorts (…) trugen in jener Zeit so viel ein, daß die Besitzer für Auslagen und Zeitaufwand sich völlig entschädigt halten durften (…). Unsere Vogelsteller fingen (…) gute Lockvögel (…), verkauften sie (…) oft zu hohen Preisen, sowie sie die anderen in Mengen auf den Herden gefangenen Vögel getödtet, von Federn entblößt und an Spießen gereiht, zum Verspeisen auf die Märkte der Städte trugen und willige Käufer dazu fanden (…). Allein schon vor 50 Jahren war die Klage über Abnahme der Vögel unter diesen Leuten allgemein, und (…) fingen sie doch lange nicht mehr so viele Vögel, als ihre Vorfahren (…). Mit den Besitzern starb daher ein Vogelherd nach dem anderen ab (…). So blieb denn (etwa zur Zeit des Wechsels unseres und des vorigen Jahrhunderts) der Vogelherd meines Vaters der einzige (…) in meilenweitem Umkreise. (…) Auch der Fang in Dohnen (Dohnensteg, Schneuß [Fang mit Schlingen, P. B.]) (…) gab nicht mehr die Hälfte als vor 50 Jahren (…). Ich für meinen Theil setzte ihn zwar noch fort (…), doch nur bis etwa zum Jahre 1833, wo ich ihn ebenfalls aufgeben mußte, weil er die Mühe durchaus nicht mehr lohnen wollte (…). Mit Wehmut erinnere ich mich (…), wo manchmal nach einer stillen Octobernacht oft alle Hecken, worin Beeren wuchsen, vom Geflatter und den Locktönen der angekommenen Drosseln und Rotkehlchen belebt waren und sich Hunderte davon in den Dohnen fingen (…) kaum, daß man jetzt noch Dutzende bemerkt, wo sich sonst Hunderte zeigten (…). Ebenso sind (…) Hänflinge (…), Grünlinge so selten geworden, daß in meinem Garten kaum noch ein brütendes Paar vorkommt, während wir ehedem diese Vögel zum Verspeisen alljährlich in vielen Dutzenden fingen (…) jetzt (…) fehlen z. B. meinem Wäldchen seit Jahren mindestens zwei Drittel der Nachtigallen von sonst; dagegen lassen Mönch- und Gartengrasmücken, auch Pirole (…) sich jetzt kaum weniger häufig hier hören. (…) auch unser Raubvögelfang wurde von Jahr zu Jahr ärmlicher und nahm endlich so ab, daß er (…) ganz hat aufgegeben werden müssen (…). Bei keiner unserer Vogelgattungen wird die Abnahme (…) augenfälliger als bei den Meisen. Vor noch nicht 50 Jahren (…) verließ (…) mancher sachverständige Fänger (…) gegen Mittag seine Hütte nicht ohne vollgepfropfte Taschen, und noch vier bis fünf Schock Meisen an Einem Vormittage war noch keineswegs ein unerhört reicher Fang. September und October waren die Monate, in welchen, auf einem nicht gar großen Umkreise, jährlich Tausende dieser nützlichen Vögel gefangen und verspeist wurden. Allein ihre Menge war sichtlich schon im Abnehmen, als vor circa 20 Jahren ein landesherrlicher Befehl jedes methodische Fangen der Meisen strenge untersagte (…) trotz dem Aufhören aller großartigen Nachstellungen von Seiten der Menschen, die Zahl der Meisen (…) auffallend vermindert hat (…) und wie ich vernommen, werden auch im Rudolstädtischen (…) dieselben Klagen laut (…). Auf die nämliche Weise klagen auch (…) die Vogelfänger des Harzes und Thüringerwaldes über allgemeine Abnahme der Vögel, namentlich auch die Haloren [Salzsieder zu Halle an der Saale] (…) Blos der Lerchenfang macht (…) noch eine Ausnahme (…), unter dem Nachtnetze (…) klagen aber fortwährend über Abnahme an Zahl. (…) dennoch gehört die Feldlerche immer noch zu den häufigsten Vögeln (…). Rebhühner (…) wird auch diese Vogelart schwerlich wieder so häufig bei uns werden können, als sie es vor 70–80 Jahren gewesen. Damit jedoch der damalige Fang nicht zu einem wahren Vertilgungskriege wurde, war allgemein üblich oder zum Gesetz geworden (…), nur die Jungen zu behalten. (…) Vor noch nicht 50 Jahren [suchte man] die Eier der (…) zu vielen Hunderten beisammen nistenden Lachmöwen, weil man diese Vögel für Fischräuber hielt, körbeweis ab, um die Schweine damit zu füttern. (…) Solche Erfahrungen (…) müssen uns endlich auch auf (…) Ursachen leiten, welche am mehrsten die Abnahme der Vögelzahl bewirkt (…). Nur zu gewiß ist sie, als Folge der Vermehrung der Menschen und ihrer Bedürfnisse, in der gesteigerten Industrie und einer einträglichen Benutzung des Bodens zu suchen. Den Ackerbau zu fördern und seine Erzeugnisse zu vermehren, suchte man allerlei Mittel und Wege hervor (…), nicht selten mit Vernachlässigung aller Sorge für die Existenz kommender Geschlechter, sowie zum Schaden der Vögel durchgeführt (…). Striche, unterbrochen durch Wäldchen und Gebüsche, mancherlei Art, die sonst unseren Fluren die lieblichste Abwechslung gewährten, sind in jüngster Zeit in eintönige Ackerflächen umgewandelt (…). Besonders haben unsere kleinen Singvögel durch rastloses, fast zur Mode gewordenes Ausroden wilder Gehölze, Feldhecken und abgesonderter Waldtheile, um für den Ackerbau Land zu gewinnen (…), Aufenthaltsorte verloren. Nicht besser geht es unseren Sumpf- und Wasservögeln, durch Ablassen und Trockenlegen der Seen, Teiche und Sümpfe, um diese als Ackerland, Wiesen oder zur Torfgräberei zu benutzen, und es ist dieses wie jenes so allgemein, daß es in hiesigen Landen keine Gegend mehr gibt, in welcher nicht seit einem Vierteljahrhundert dergleichen geschehen wäre oder noch geschieht (…). Der großartigste, vom Geflügel belebteste dieser Teiche wurde zuerst zu Gunsten einer nahen, höchst ergiebig gewordenen Braunkohlengrube abgezapft; die anderen folgten ihm theilweise nach, und wo man vor 50 Jahren jene von zahlreichem Geflügel belebten großen Wasserbecken bewundern mußte, haben jetzt furchtbare Äcker und Wiesen Platz genommen (…). Gewiß gibt es in Deutschland noch viele solcher Striche, auf welchen sich die Vögelzahl im Abnehmen befindet, doch noch gewisser keinen, von dem man behaupten könnte, sie hätten in neuerer Zeit zugenommen.1
So weit Zitate aus der für uns höchst interessanten und aufschlussreichen Arbeit von Naumann über den Zustand unserer Vogelwelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für viele sicher neu und auch sehr irritierend: Deutschland war seinerzeit ein »Vogelfresserland«, wie es viele nur etwa von Italien, Malta oder Zypern kennen. Für Kenner älterer vogelkundlicher Literatur ist das nichts Neues. Viele Bücher, wie das von Johann Conrad Aitinger 1653 verfasste Werk Vom Vogelstellen oder das von Ferdinand Johann Adam von Pernau 1702 publizierte Buch Unterricht, was mit dem lieblichen Geschöpff, denen Vögeln, auch ausser den Fang, nur durch die Ergründung deren Eigenschafften und Zahmmachung, oder anderer Abrichtung man sich vor Lust und Zeit-Vertreib machen könne, beschreiben Fangmethoden der verschiedensten Art. Ein »ordentliches« Vogelbuch behandelte früher selbstverständlich Fang und Zubereitung der meisten Groß- wie Kleinvögel. Darunter fielen auch Nachtigallen, Rotkehlchen und andere unserer heutigen Lieblinge. Es gab einige wenige Tabu-Arten wie den Weißstorch als Kinderbringer oder den Höckerschwan, der zum Besitz der Adelshäuser gehörte. (Die Redewendung »Da brat’ mir einer einen Storch« weist noch heute auf das Unding hin, einen Storch zu verzehren.) Ansonsten wurde nahezu nichts verschont. Waldarbeiter zum Beispiel fingen während ihrer Holzhauerei mit »Kloben« (Fußklemmfallen) nebenher Kreuzschnäbel, die sie zu Mittag wie »Grillwürstchen« über dem Lagerfeuer brieten. Und der von uns heute als Vogelschutzgerät hochgeschätzte Nistkasten kam bereits vor Jahrhunderten zunächst zur Nahrungsbeschaffung in Betrieb: als Starenmäste (von »mästen« = fett machen) in Schlesien oder in Nachahmung der in Holland schon um 1500 üblichen Starentöpfe.2 Man hing Nistkästen für Stare im Hausbereich auf, um die Vögel zum Brüten dorthin zu locken, und verengte später bisweilen sogar die Einfluglöcher in der Hoffnung, dass die Jungen, die durchs Flugloch über die normale Nestlingszeit hinaus gefüttert wurden, bis zum Verspeisen ordentlich zulegen würden. Für den Vogelschutz wurden Nistkästen erst ab den 1820er Jahren eingesetzt.
Gut in Erinnerung geblieben ist auch die einst ausgeprägte »Lerchenfresserei« im Raum Leipzig. Nachdem dort 1873 die Lerchenjagd aus Bestandsschutzgründen verboten werden musste, kreierten findige Bäcker »Leipziger Lerchen« in Form von Mürbeteiggebäck. Sie sind bis heute eine Delikatesse. Das letzte Gericht, das in Deutschland legal aus Kleinvögeln zubereitet werden durfte, war die Helgoländer Vogelsuppe. Den Insulanern, früher bei rauer See oft längere Zeit von der Versorgung vom Festland und vom Fischfang abgeschnitten, war sie eine willkommene Frischfleischquelle, für die unter anderem kleine Singvögel ebenso wie Drosseln, Watvögel oder auch Sperber verwendet wurden. Erst 1967 bereitete ein schleswig-holsteinischer Erlass dem ein Ende.
Die Ausführungen Naumanns über die »Ausräumung« der Landschaft im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft klingen so, als seien sie erst kürzlich geschrieben worden. Könnten wir heute die seinerzeit von Naumann beklagte »bereinigte« Landschaft sehen, würden wir sicher sagen: wie ursprünglich, paradiesisch! Das zeigt, wie relativ unsere Landschaftsbeurteilung ist und wie sehr zur objektiven Einschätzung ihrer Qualität die darin festgestellte Vogeldichte taugt.
Johann Friedrich Naumann
© ullstein bild
Erstaunlich ist, dass Naumann bei der Aufzählung der Ursachen des von ihm geschilderten allgemeinen Rückgangs von Vogelbeständen die Ausräumung der Landschaft, das Trockenlegen von Feuchtgebieten, die Intensivierung der Landwirtschaft und die um sich greifende Industrialisierung (Braunkohlegruben, Torfabbau) benennt, nicht aber den zum Teil sehr intensiv betriebenen Vogelfang. Da die Naumanns keine maßlosen Jäger waren, denen man Vertuschungsabsichten unterstellen könnte, andererseits aber hervorragende Kenner der Gesamtsituation der Vogelwelt, scheidet aus, dass sie Zusammenhänge zwischen Vogelfang und Bestandsabnahme einfach übersehen haben könnten. So bleibt nur der Schluss: Dem Fang, also dem Jagddruck, war offenbar keine überragende Bedeutung zuzumessen. Die durch ihn bedingten Verluste wären bei intakt gebliebenen Lebensräumen sicher wieder ausgeglichen worden, wie in weiter zurückliegenden Zeiten, als Rückgänge trotz Fang und Jagd wohl nicht zu beklagen waren.
Interessant ist, dass sich von Pernau entsprechend dazu äußert. In Bezug auf ein Fangverbot für Nachtigallen schreibt er: »Wer um eine Stadt die Nachtigallen vermehrt sehen will, hat nicht nöthig (…), den Nachtigall-Fang zu verbieten, sondern nur zu gebieten, daß man die Hecken groß und dick werden lasse.«3 Erst über hundert Jahre später wurde klar, dass bei intakten Lebensräumen auch beträchtlicher Jagddruck auf Vögel durch verstärkte (kompensatorische) Reproduktion ausgeglichen werden kann.4 Festzuhalten ist auch, dass Naumann in Verbindung mit dem Fang von Meisen und Rebhühnern bereits auf erste Schutzmaßnahmen für Vögel hinweist, die von der Obrigkeit erlassen wurden.
Recht genau 150 Jahre später, nachdem Naumann hauptsächlich über die Vogelwelt im Bereich seines Landgutes Ziebigk bei Köthen in Sachsen-Anhalt berichtet hatte, erschien von mir eine ganz entsprechende »Beleuchtung einer Klage« mit der Überschrift »Die Veränderung der Brutvogelfauna in zwei süddeutschen Dorfgemeindebereichen in den letzten fünf bzw. drei Jahrzehnten oder: verlorene Paradiese?«5. Sie fasst zusammen, was Mitarbeiter der Vogelwarte Radolfzell seit 1946, dem Neuanfang der ehemaligen Vogelwarte Rossitten, vor allem im Bereich von Schloss und Dorf Möggingen in Süddeutschland am Bodensee zusammengetragen haben (das damit zu der in Deutschland zumindest in jüngerer Zeit ornithologisch am besten untersuchten Gemeinde wurde). Die Ergebnisse lauten zusammengefasst für Möggingen im Zeitraum von 1947 bis 2002: Von ehemals 110 Brutvogelarten sind 35 Prozent ganz verschwunden oder nisten nur noch sporadisch in dieser Gegend, 20 Prozent schrumpfen im Bestand, 10 Prozent nehmen zu oder sind neu hinzugekommen, 35 Prozent sind mehr oder weniger stabil. Damit ging auch die Anzahl der Individuen stark zurück: von ursprünglich rund 3300 auf 2100; ebenso nahm die Vogel-Biomasse ab, von anfänglich ca. 240 auf 150 Kilogramm. Inzwischen verschwinden weitere Arten als Brutvögel aus dem Gebiet wie die Rauchschwalbe, der Gartenrotschwanz und der Grauschnäpper; bei anderen nehmen die Bestände weiter ab.
Der Vergleich Ziebigk–Möggingen zeigt: Obwohl 150 Jahre zwischen beiden Berichten liegen, sind sie in einem Punkt fast identisch, nämlich in der Feststellung starker Bestandsrückgänge. Deutlich wird zugleich ein gravierender Unterschied: Während die Angaben Naumanns noch recht pauschal waren, wurde für Möggingen detailliert quantitativ formuliert, und in der Originalarbeit erfährt man sogar die (recht genauen) Anzahlen von Brutpaaren der einzelnen Arten.
Nach dem Vergleich der einstigen und jetzigen Vogelwelt Mittel- und Süddeutschlands drängen sich vor allem fünf Fragen auf:
1) Wie stark haben die Vögel in Deutschland seit Naumanns Bericht, also seit etwa 1800, bis heute insgesamt abgenommen?
2) Wird sich der Rückgang, wie aus der Studie in Möggingen zu schließen, weiter fortsetzen?
3) Welche Arten sind davon besonders oder überhaupt betroffen und welche weniger oder auch gar nicht?
4) Kennt man inzwischen die genauen Ursachen für die Rückgänge? Wenn ja, was wurde unternommen, um die Abnahmen zu stoppen?
5) Werden unsere Vögel schlimmstenfalls weitgehend aussterben? Droht also doch noch ein »Stummer Frühling«, wie von Rachel Carson 1962 als Zukunftsvision dargestellt?6 Oder können wir wenigstens die heute noch existierende Rest-Vogelwelt retten, wenn wir entsprechende Anstrengungen unternehmen?
Genau diese Fragen werde ich im Folgenden der Reihe nach behandeln und beantworten.
1. Naumann 1849
2. Stresemann 1948
3. von Pernau 1702
4. Siehe z. B. Kalchreuter 1977.
5. Berthold 2003
6. Rachel Carson 1962
Bevor wir uns den Bestandsveränderungen in unserer Vogelwelt zuwenden, kurz zu den zumindest für Amateur-Ornithologen und Laien, für Naturfreunde ebenso wie Skeptiker spannenden Fragen: Wie zählt man überhaupt Vögel? Und wie kann man gar Bestände einzelner Arten so genau ermitteln, dass sich daraus lang- oder selbst kurzfristige Veränderungen sicher erkennen lassen? Sogar bei uns Menschen, die wir als Bürger normalerweise unseren Wohnort bei den Einwohnermeldeämtern registriert haben, birgt die Fortschreibung der Bevölkerungsentwicklung gewisse Unsicherheiten. Wie mag es da erst bei den völlig »vogelfrei« lebenden Vögeln aussehen?
In der Tat, Erhebungen zur Verbreitung von Vögeln und erst recht zur Siedlungsdichte und zu Trends der Bestandsentwicklung sind im wahrsten Sinne des Wortes eine Wissenschaft für sich. Über die Eignung verschiedenster Erfassungsmetholden sind Hunderte von Arbeiten geschrieben worden.1 Uns braucht, wie wir sehen werden, für das vorliegende Buch zum Glück nur wenig von der komplizierten und zum Teil recht umstrittenen Methodik zu interessieren.
Zunächst ein paar Beispiele. Es mag jedermann einleuchten, dass es relativ einfach ist, die Anzahl brütender Weißstorchpaare zu erfassen, da Weißstörche fast ausschließlich in auffallend großen Nestern im Bereich menschlicher Siedlungen nisten. Sie werden daher seit 1934 beim »Internationalen Weißstorchzensus«, der alle zehn Jahre durchgeführt wird, von Storchenobleuten fast vollständig ermittelt. Beim 6. Zensus 2013/2014, der fast überall im Verbreitungsgebiet der Art in Europa, Asien und Nordafrika durchgeführt wurde, ergab die Zählung insgesamt rund 230 000 Paare. Ähnlich genau lassen sich die Bestände anderer Großvogelarten erfassen, auch wenn sie recht verborgen in Wäldern nisten, solange ihre Anzahl gut überschaubar ist, wie zum Beispiel beim Schwarzstorch und beim Seeadler.
Die Anzahl brütender Weißstorchpaare wird alle zehn Jahre fast vollständig ermittelt.
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Von diesen ornithologischen Highlights sind Liebhabern und Vogelschützern nahezu alle besetzten Horste bekannt, sie können für Bestandsübersichten durch zuständige Organisationen abgefragt werden. Das gilt auch für kleinere Arten, sofern sie in geringer Dichte vorkommen und auffällig oder attraktiv sind, wie bei uns etwa Bienenfresser, Wiedehopf oder Raubwürger. Auch von diesen Arten ist bei Liebhabern und Spezialisten praktisch jedes Brutpaar im Land bekannt.
Richtig schwierig wird es mit der Bestandserfassung beim großen Rest. Das gilt für sehr seltene und noch dazu recht versteckt lebende, zudem nicht leicht zu erkennende Arten wie zum Beispiel Dreizehenspecht, Orpheusspötter oder Schlagschwirl, die in der Regel nur von erfahrenen Feldornithologen erkannt und sonst leicht übersehen werden. Es gilt aber auch für die meisten häufigen Arten. Leicht war es (selbst als sie bei uns noch in Massen vorkamen), Schwalben zu erfassen, da sich alle drei häufigen Arten auf arttypische, leicht einsehbare Brutplätze konzentrieren: Brütende Uferschwalben findet man in Kies- und Sandgruben sowie an Flussufersteilwänden, Rauchschwalben fast ausschließlich in Viehställen und Mehlschwalben (auch: Hausschwalben) unter Dachvorsprüngen an Außenwänden von Gebäuden. Diese spezifische Nistplatzwahl erlaubte es früher, Schwalbenzählungen selbst in größeren Ortschaften verlässlich von Schulklassen durchführen zu lassen. Aber wie zählt man die – zumindest einstmals – überall vorkommenden Arten wie Amseln, Meisen, Sperlinge, Finken, Grasmücken, Laubsänger, Rohrsänger und viele andere, die man in ihren verschiedensten Lebensräumen wie Wäldern, Gebüsch, Röhricht oft gar nicht oder kaum zu Gesicht bekommt, sondern vielfach nur singen oder rufen hört?
Genau in Letzterem liegt der Schlüssel zum Erfolg: im Gesang. Bei vielen »schwierigen«, versteckt lebenden Arten versucht man, über die Kartierung singender Männchen, also ihre Eintragung in topographische Karten, Reviere zu ermitteln, die dann bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen als Brutreviere gewertet werden können. Wird das sehr sorgfältig gemacht – am besten durch Nachweis von Nestern mit Eiern oder Jungvögeln –, dann sind die Ergebnisse bei vielen Arten zufriedenstellend und aussagekräftig. Das gilt beispielsweise für die im letzten Abschnitt behandelte Studie in Möggingen, bei der die Beobachter der Vogelwarte nahezu täglich im Untersuchungsgebiet unterwegs waren und viele Brutpaare persönlich kannten (durch Fang und Beringung). So wurde bei der 1950 festgestellten maximalen Anzahl von 62 Brutpaaren des Neuntöters für jedes Paar ein Brutnachweis durch Nestfund erbracht.
Leider sieht die Praxis häufig ganz anders aus: Oft wird nur wenige Male oder nur über kurze Zeit beobachtet oder lediglich der Gesang registriert, so dass auch von durchziehenden, umherstreifenden oder unverpaart gebliebenen Männchen irrtümlich auf Brutpaare geschlossen wird. Bei manchen stark abnehmenden Arten, bei denen die Männchen oftmals keine Partnerin mehr finden, kann das enorme Auswirkungen haben. So können etwa auf Partnersuche singende Grauspechte, Wiedehopfe oder Klappergrasmücken Strecken von mindestens 10 Kilometern und Flächen von 30 Quadratkilometern befliegen und damit gleich mehrere Brutpaare vortäuschen, wenn man nicht sorgfältig Brutnachweise erbringt.
Solchen Irrtümern sitzen durchaus auch erfahrene Berufsornithologen auf. Als in den Jahresberichten über das Naturschutzgebiet Mindelsee vom BUND bis über das Jahr 2000 hinaus mehrere Brutpaare vom Grauspecht aufgeführt wurden, habe ich für die Mitarbeiter der Vogelwarte eine Prämie von 500 Euro pro Brutnachweis ausgesetzt. Obwohl sich seinerzeit mindestens drei erfahrene Ornithologen ans Werk machten, musste ich das Geld nie auszahlen. Es wurden nur umherstreifende rufende Grauspecht-Männchen gesichtet.2 Aus diesen und anderen Feststellungen lässt sich schließen, dass man bei Bestandserhebungen mittels Kartierung singender Männchen Brutbestände häufig überschätzt.
Es gibt jedoch auch das Gegenteil: Bei manchen Arten lassen sich bei Erfassung mit Hilfe des Gesangs auch bei aller Sorgfalt längst nicht alle Brutpaare ermitteln, weil die Männchen (zum Beispiel, weil sie in großer Dichte leben) individuell beim besten Willen nicht zu unterscheiden sind. Zum Teil liegt es auch daran, dass sie nur sehr kurze Zeit oder unauffällig singen und daher leicht überhört werden (wie etwa bei Grasmücken, Rohrsängern oder beim Grauschnäpper). Bei diesen besonders schwierigen Arten bringen Stichproben, Hochrechnungen sowie Zeitreihenvergleiche gute Ergebnisse, und bei ihnen spielt vor allem der Fang von Vögeln eine wichtige Rolle. Dafür werden gebietsweise große Reusen aufgestellt, die ganze Waldteile oder Gebüsche einbeziehen können, wie auf Helgoland oder auf der Kurischen Nehrung, und in die vor allem Zugvögel während der Rast hineinwandern. Die meisten Fänge für Zählungen werden jedoch mit Netzen durchgeführt. Zumeist sind es feinmaschige Fabrikate aus dünnen Nylonfäden, die als Netzwände aufgestellt werden und in die die Vögel hineinfliegen, weil sie sie kaum wahrnehmen.
Mit solchen Netzen haben wir von der Vogelwarte Radolfzell aus in Deutschland und Österreich seit 1968 mehr als 20 Jahre die bisher größte »Volkszählung« an Kleinvögeln durchgeführt (siehe nächster Abschnitt). In einem anderen Programm, dem »Integrierten Monitoring von Singvogelpopulationen« (IMS), ermitteln ehrenamtliche Mitarbeiter (»Beringer«) der drei deutschen Vogelwarten (Radolfzell, Wilhelmshaven-»Helgoland« und Hiddensee) die Anzahl von Brutvögeln durch Fang an festgelegten Plätzen in bestimmten Bruthabitaten sowie auch den jährlichen Bruterfolg. Letzterer ergibt sich durch den Vergleich des Anteils gefangener Jungvögel in Relation zu den Altvögeln.
Es wird also klar: Vor allem die Verhör- und Kartierungsmethoden, die die entscheidende Rolle bei der Erstellung von Verbreitungsatlanten spielen (wie etwa beim 2014 erschienenen Atlas Deutscher Brutvogelarten) wie auch bei Zeitreihen für die Ermittlung von Trends der Bestandsentwicklung (vor allem für die »Roten Listen«), bringen erhebliche Ungenauigkeiten mit sich. Diese können in vielen Fällen hohe Prozentwerte ausmachen.3 Deshalb sind »genaue« Anzahlen mit großer Vorsicht zu betrachten, und vielfach werden in Übersichten stattdessen vorsichtshalber Häufigkeitsbereiche angegeben, in denen sich Bestände einzelner Arten derzeit bei uns bewegen. Ein Beispiel: Für die Amsel geben Hans-Günther Bauer und ich in dem Buch über die Brutvögel Mitteleuropas 31 bis 70 Millionen Brutpaare für Europa an,4 davon 14 bis 20 Millionen für Mitteleuropa; die Zusammenstellung Birds in the European Union (2004) von BirdLife International, einem Zusammenschluss von über 100 weltweiten Naturschutzorganisationen, führt 31 bis 62 Millionen Brutpaare an, und die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands (2002) 8 bis 16 Millionen Paare.5
Aus den bisherigen Ausführungen geht natürlich auch klar hervor, dass Vogelerfassungen, wie sie seit einiger Zeit etwa unter dem Motto »Stunde der Gartenvögel« vom Naturschutzbund (NABU) durchgeführt werden, mehr Spielerei als Wissenschaft darstellen. Bei derartigen Erhebungen kommen viele Unsicherheiten ins Spiel, etwa Fehlbestimmungen durch Verwechslung von Arten, Erfassungsfehler, wechselnde Einflüsse verschiedenster lokaler Faktoren usw., so dass sie nur ganz grobe Hinweise darauf geben können, in welchen Größenordnungen Vögel an gewählten Beobachtungsplätzen zugegen waren.6
Auch wenn diese kurze Übersicht über die Erfassung von Vögeln zeigt, dass Zählungen vielfach eher Bestandsschätzungen als exakte Bestandszahlen ergeben, braucht uns das für die kommenden Seiten nicht Bange machen. Wie wir sehen werden, sind die Rückgänge in unserer Vogelwelt inzwischen so gravierend, dass gewisse Ungenauigkeiten in der Bezifferung grundsätzlich belanglos sind. Weiterhin sind viele Arten so selten geworden, dass man die geringe Anzahl verbliebener Individuen heutzutage relativ leicht genau erfassen kann. Und für die allermeisten Arten liegen uns Datenreihen vor, die mit ganz verschiedenen Methoden parallel und unabhängig voneinander ermittelt werden, nämlich einerseits vor allem durch die Kartierung singender Männchen, andererseits etwa per Fang, Beringung, Ermittlung erfolgreicher Bruten und aus Jagdstrecken. Diese multiple Erfassung sowie der Vergleich der unterschiedlich erzielten Ergebnisse gibt uns ausreichend Sicherheit für das, was wir im Folgenden feststellen werden.
1. Übersicht: Berthold 1976
2. Berthold 2003
3. Siehe hierzu Bezzel 2015a
4. Bauer u. Berthold 1997
5. Rote Liste der Brutvögel Deutschlands 2002, Berichte Vogelschutz
6. z. B. Bezzel 2015 b