Nora Roberts

Dunkle Rosen

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Katrin Marburger

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch
Zum Autor
Widmung
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Epilog
Liebe Leserin,
Copyright

Zum Autor

Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 500 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 195 Titel waren auf der New-York-Times-Bestsellerliste, und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland. Mehr Informationen über die Autorin und ihr Werk finden sich am Ende des Romans. Besuchen Sie die Autorin auf www.noraroberts.com

Epilog

Sie saß ganz still, bis ihr Herzschlag wieder normal ging, bis sich in ihrem Bauch das Durcheinander aus Aufregung, Wut und ihrer Reaktion auf das Ganze ein wenig gelegt hatte.

Glasscherben blinkten im Sonnenlicht. Glas konnte ersetzt werden, rief sie sich ins Gedächtnis. Um ihre Blumen würde sie trauern, doch ein paar verletzte Exemplare hatte sie gerettet, und sie würde weitere großziehen.

Ein wahres Blumenmeer würde sie heranzüchten.

»Wie geht es deiner Hand?«, fragte sie Mitch.

»Gut. Prima.« Mitch spie die Worte geradezu hervor. »Der Kerl hat ein Kinn wie Marshmallows.«

»Und du bist so groß und stark.« Roz wandte sich ihm zu, um die Arme um ihn zu schlingen, und verlor kein Wort über seine wunden, aufgeschürften Fingerknöchel.

»Er muss verrückt geworden sein, wenn er gedacht hat, er könnte hier randalieren und ungeschoren davonkommen.«

»Ja, ein wenig schon. Ich nehme an, er wollte vor dem Ende von Stellas und Logans Empfang damit fertig sein. Er hat sich wohl gedacht, wir – oder die Polizei – würden annehmen, dass Jugendliche hinter der Sache stecken. Und ich hätte nichts als Scherereien am Hals. Ein Mann wie er hat keinerlei Respekt vor Frauen und kann gar nicht glauben, dass er gegenüber einer den Kürzeren zieht.«

»Aber eine war stärker als er.«

»Ehrlich gesagt waren es zwei. Eine lebendige und eine tote.«

Da ihr Schwächeanfall vorbei war, erhob sie sich wieder und streckte Mitch die Hand entgegen. »Sie war wie eine Furie, Mitch. Sie fegte hier herum, zwischen den Tischen hindurch, und so schnell. Teuflisch, teuflisch schnell«, stellte sie fest. »Bryce hat sie gesehen; er sah, wie sie auf ihn zustürzte, und er schrie. Dann hat sie ihn gewürgt. Oder jedenfalls hat sie ihm wohl das Gefühl gegeben, als erstickte er. Obwohl sie ihn nicht angerührt hat, hat sie ihn doch gewürgt.«

Roz rieb sich über die Arme, griff dann dankbar nach den Aufschlägen von Mitchs Jackett, das er ihr um die Schultern legte, und zog es fest um sich. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr je wieder richtig warm werden würde.

»Ich kann das nicht beschreiben. Ich kann selbst kaum glauben, dass es passiert ist. Alles ging so schnell und war so chaotisch.«

»Wir konnten dich rufen hören, Harper und ich«, erklärte Mitch. »Damit hast du uns beide um ein paar Jahre unseres Lebens gebracht. Das sage ich jetzt nur einmal.«

Er wandte sich ihr zu und griff selbst nach den Jackettaufschlägen, damit Roz ihm gegenüber stehen blieb. »Und du hörst mir zu. Ich respektiere und bewundere deinen eisernen Willen, Rosalind, und ich schätze dein Temperament und deine Fähigkeiten. Aber bevor du noch einmal auch nur daran denkst, allein auf einen Wahnsinnigen mit einem Baseballschläger loszugehen, lasse ich die Fetzen fliegen und trete jemandem in den Hintern. Und zwar wird dann auf deinem Hintern eine schöne Zielscheibe gemalt sein.«

Roz legte den Kopf schräg, schaute Mitch prüfend an und sah, dass er es völlig ernst meinte. »Weißt du was, wenn ich mich in der Sache, die ich dich fragen will, nicht schon entschieden hätte, dann hätte das hier den Ausschlag gegeben. Wie könnte ich einem Mann widerstehen, der mich meine Kämpfe allein austragen lässt, der aber dann genau im richtigen Moment hinzukommt und die Sache erledigt. Und wenn die Staubwolken sich verzogen haben, wäscht er mir gehörig den Kopf, weil ich mich wie ein Idiot benommen habe. Womit er zweifellos Recht hat, keine Frage.«

»Schön, dass wir uns darin einig sind.«

Roz trat noch einen letzten Schritt auf ihn zu und schlang ihm die Arme um den Hals. »Ehrlich, ich liebe dich.«

»Ehrlich, ich dich auch.«

»Dann dürftest du ja auch kein Problem damit haben, mich zu heiraten.«

Roz spürte, wie Mitch zusammenzuckte, nur ganz kurz, nur einmal. Dann schmiegte er sich an sie, warm und von Herzen. »Nein, darin sehe ich kein Problem. Bist du dir sicher?«

»Könnte mir nicht sicherer sein. Ich will abends mit dir zu Bett gehen, morgens mit dir zusammen aufwachen. Ich will mit dir zusammensitzen und Kaffee trinken, wann immer ich Lust habe. Wissen, dass du für mich da bist, und ich für dich. Ich will dich, Mitch, für den Rest meines Lebens.«

»Von mir aus können wir gleich anfangen.« Er küsste ihre lädierte Wange, ihre unverletzte, ihre Stirn, ihre Lippen. »Ich werde lernen, mich zumindest um eine Pflanze zu kümmern. Eine Rose. Meine schwarze Rose.«

Roz lehnte sich an ihn. Das konnte sie getrost tun – und sich darauf verlassen, dass er sich zurückzog, wenn sie allein sein musste.

Alles in ihr wurde ganz ruhig, selbst als sie ihr zerstörtes Eigentum betrachtete. Das würde sie reparieren, würde retten, was sie retten konnte, und akzeptieren, wenn etwas unwiederbringlich verloren war.

Sie würde ihr Leben leben, ihren Garten bepflanzen – und Hand in Hand mit dem Mann, den sie liebte, zuschauen, wie beides aufblühte.

Und im Garten von Harper House ging jemand um, voller Zorn und Gram, und richtete den irren Blick auf den strahlend blauen Himmel.

Liebe Leserin,

wenn der Frühling allmählich in den Sommer übergeht und das Farbenmeer meiner Azaleen verblasst ist, sind die schweren Köpfe meiner Pfingstrosen einem Tanz der Taglilien gewichen, und meine Blumenbeete streben ihrem Höhepunkt entgegen. Ich mag bunt gemischte Gärten, Cottagegärten, Schattengärten, Kräutergärten, sonnige Schnittblumengärten. In meinem Garten gibt es nichts Formelles – dafür bin ich ebenso wenig geeignet wie mein Grundstück. Ich wohne an einem felsigen Hang mit holprigem, unebenem Boden, doch die Liebe findet einen Weg. Und ich liebe Blumen.

Hinter meinem Haus habe ich eine lange, lange Reihe von Hochbeeten; weitere ziehen sich in meinem Vorgarten den Hügel hinab. Sie zu pflegen, bedeutet eine Menge Arbeit, doch ich habe viel Freude daran. Im Sommer habe ich eine violette Flut aus Flockenblumen, die fedrigen roten Blütenköpfe der Indianernessel, die fröhlich gelben Blütenblätter des Mädchenauges, hier und da einen Klecks Salbei und ein Meer Schwarzäugiger Susannen. Die Zeit von Akelei und Purpurglöckchen ist für dieses Jahr bereits vorbei, doch es knospt und blüht immer wieder etwas Neues. Ehrenpreis, Sonnenhut, Eisenkraut, Gartenphlox, Brunnenkresse. Als ich vor Kurzem zu einem Gartencenter fuhr, bemerkte mein Sohn, dass ich doch wahrscheinlich schon alles hätte, was es dort gibt. Da ich beim Anblick einer Pflanze nur selten widerstehen kann, prangt, schießt oder wuchert in meinem Garten ständig etwas.

Auch das Unkraut, das ich aufspüre und vernichte wie ein Soldat in endlosem Einsatz.

Im Schatten fächeln meine Prachtspiere mit ihren weichen Federn, und meine Funkien sind Inseln aus beruhigendem Grün. Die Rehe lieben die Funkien, und ich liebe die Rehe. Doch das hindert mich nicht daran, sie zu vertreiben. Ich streue säckeweise Blutmehl und versprühe jedes Jahr literweise übel riechende Wildabwehrmittel. Und ich bin bekannt dafür, dass ich manchmal wie eine Irre aus dem Haus stürze und mit den Armen wedele, wenn ich sehe, wie ein Reh sich an meinen Nelken oder Prunkwinden gütlich tut. Ich besitze Hunde, doch sie scheinen sich nicht besonders dafür zu interessieren, meine Blumen gegen Bambi zu verteidigen.

Machen Sie einen Rundgang durch den Garten. Zupfen Sie ein Unkraut aus, schnuppern Sie an einer Blume. Mal sehen, ob Ihnen das nicht ein Lächeln entlockt.

Nora Roberts

Die Übersetzung der Verse von Charles Baudelaire stammt von Friedhelm Kemp (Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Friedhelm Kemp. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004, S.45.)

Erstes Kapitel

Harper House
Dezember 2004

 

Die Morgendämmerung, voll erwachender Versprechen, war ihre liebste Zeit zum Joggen. Das Laufen selbst war einfach etwas, das es zu erledigen galt, dreimal in der Woche, wie jede andere Aufgabe oder Verpflichtung. Rosalind Harper tat, was getan werden musste.

Sie lief ihrer Gesundheit zuliebe. Eine Frau, die gerade ihren fünfundvierzigsten Geburtstag begangen – in diesem Alter konnte sie wohl kaum sagen gefeiert – hatte, musste auf ihre Gesundheit achten. Sie lief, um stark zu bleiben, denn stark wollte und musste sie sein. Und sie lief aus Gründen der Eitelkeit. Ihr Körper würde nie mehr so sein wie mit zwanzig oder wenigstens mit dreißig, aber, bei Gott, es würde der beste Körper sein, den eine Fünfundvierzigjährige haben konnte.

Sie hatte keinen Ehemann, keinen Geliebten, doch sie hatte ein Image zu verteidigen. Sie war eine Harper, und die Harpers hatten ihren Stolz.

Aber, Himmel noch mal, dieses Training war eine Schinderei.

Wegen der kühlen Morgenluft mit einem Sportanzug bekleidet, schlüpfte sie durch die Balkontür aus ihrem Schlafzimmer. Im Haus schlief noch alles. Ihr Haus, das zu leer gewesen war, war nun wieder bewohnt und nur noch selten ganz still.

Da war David, ihr Ersatzsohn, der das Haus in Ordnung hielt, ihr Gesellschaft leistete, wenn sie Unterhaltung brauchte, und sich zurückzog, wenn sie allein sein wollte.

Niemand kannte ihre Stimmungen so gut wie David.

Und da war Stella mit ihren beiden prachtvollen Jungen. Es war ein guter Tag gewesen, dachte Roz, während sie auf dem Balkon ein paar Lockerungsübungen machte, ein guter Tag, an dem sie Stella Rothchild als Geschäftsführerin ihrer Gärtnerei eingestellt hatte.

Natürlich würde Stella in nicht allzu langer Zeit umziehen und die süßen Jungen mitnehmen. Doch auch wenn sie erst mit Logan verheiratet sein würde – und passten die beiden nicht wunderbar zusammen? –, würden sie nur ein paar Kilometer entfernt wohnen.

Hayley würde noch da sein und das Haus mit jugendlicher Energie erfüllen. Es war ein weiterer Glückstreffer gewesen, außerdem eine unbestimmte, entfernte Verbindung zu ihrer Familie, die Hayley, damals im sechsten Monat schwanger, auf ihre Türschwelle geführt hatte. In Hayley hatte Roz die Tochter, nach der sie sich insgeheim gesehnt hatte, und noch dazu eine Enkeltochter ehrenhalber in der reizenden kleinen Lily.

Ihr war nicht bewusst gewesen, wie einsam sie gewesen war, dachte Roz, bis diese Mädchen kamen und die Leere ausfüllten. Nachdem zwei ihrer drei eigenen Söhne ausgezogen waren, war das Haus zu groß, zu still geworden. Und einem Teil von ihr graute vor dem Tag, an dem Harper, ihr Erstgeborener, ihr Fels, das einen Steinwurf vom Haupthaus entfernte Gästehaus verlassen würde.

Aber so war das Leben. Niemand wusste besser als eine Gärtnerin, dass das Leben niemals stillstand. Zyklen waren notwendig, denn ohne sie gab es keine Blüte.

Roz trabte gemächlich die Treppe hinunter und freute sich daran, wie der Frühnebel ihren winterlichen Garten einhüllte. Sieh, wie hübsch ihr Wollziest mit seinen weichen, silbrigen Blättern war, die der Tau bedeckte. Und die Vögel mussten die roten Früchte an ihrer Apfelbeere erst noch für sich entdecken.

Im Gehen – um ihren Muskeln Zeit zu geben, warm zu werden, und um sich an ihrem Garten er erfreuen – umrundete sie das Haus.

Auf dem Weg die Einfahrt hinunter steigerte sie ihr Tempo zum Laufschritt. Sie war eine große, gertenschlanke Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar. Ihr Blick aus warmen, whiskeybraunen Augen wanderte über das Grundstück – die hochgewachsenen Magnolien, die grazilen Hartriegel, die Anordnung von Ziersträuchern, das Meer von Stiefmütterchen, die sie erst vor ein paar Wochen gepflanzt hatte, und die Beete, die noch ein wenig warten würden, bis sie zu blühen begannen.

Für Roz gab es im ganzen westlichen Tennessee keine Gartenanlage, die der von Harper House das Wasser reichen konnte. Ebenso wie es kein Haus gab, das sich mit der würdevollen Eleganz ihres Anwesens zu messen vermochte.

Aus reiner Gewohnheit wandte sie sich am Ende der Einfahrt um und lief auf der Stelle, um das Haus im weiß schimmernden Nebel eingehend zu betrachten.

Es sah vornehm aus, dachte sie, mit seinem Stilmix aus griechischem Klassizismus und Gotik und dem warmen gelben Stein, der die sauberen weißen Holzbalken sanft abmilderte. Seine Doppeltreppe führte zum Balkon empor, der um den ersten Stock herumlief, und diente dem überdachten Eingangsportal im Erdgeschoss als Krone.

Roz liebte die hohen Fenster, das durchbrochene Holzwerk am Geländer des zweiten Stocks, die schiere Größe des Hauses und das Erbe, für das es stand. Sie hatte es hoch geschätzt, es gepflegt und dafür gearbeitet, seit es nach dem Tod ihrer Eltern in ihre Hände übergegangen war. Hier hatte sie ihre Söhne großgezogen, und nach dem Verlust ihres Mannes hatte sie hier getrauert.

Eines Tages würde sie es an Harper weitergeben, so wie es ihr selbst zugefallen war. Und sie dankte Gott für die Gewissheit, dass ihr Sohn sich ebenso darum kümmern und es lieben würde wie sie.

Was es sie gekostet hatte, war nichts, verglichen mit dem, was es ihr schenkte, selbst in diesem einen Moment, in dem sie am Ende der Einfahrt stand und durch den Morgennebel zurückschaute.

Doch davon, dass sie hier stand, wurden ihre fünf Kilometer nicht gelaufen. Sie wandte sich nach Westen und hielt sich ganz am Rand der Straße, obwohl zu so früher Stunde wenig bis gar kein Verkehr herrschen würde.

Um sich von der Mühsal des Trainings abzulenken, begann sie, die Liste der Dinge durchzugehen, die sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte.

Sie hatte einige gute Sämlinge für einjährige Pflanzen herangezogen, die nun so weit sein müssten, dass man ihre Keimblätter entfernen konnte. Sie musste alle Sämlinge auf Anzeichen der Umfallkrankheit untersuchen. Von den älteren Pflanzen würden einige fertig zum Pikieren sein.

Und, erinnerte sie sich, Stella hatte um mehr Amaryllis gebeten, um mehr Pflanztöpfe für vorgetriebene Blumenzwiebeln, mehr Kränze und Weihnachtssterne für den Verkauf in der Weihnachtszeit. Hayley konnte das Winden der Kränze übernehmen; sie war sehr geschickt mit ihren Händen.

Dann musste sich noch jemand um die im Freiland gewachsenen Weihnachtsbäume und Stechpalmen kümmern. Gott sei Dank konnte sie diese Aufgabe Logan überlassen.

Sie musste Harper fragen, ob noch mehr von den Weihnachtskakteen, die er veredelt hatte, verkaufsfertig waren. Sie wollte auch ein paar für sich selbst haben.

All diese Angelegenheiten der Gärtnerei gingen ihr durch den Kopf, gerade als sie an ihrem Betrieb vorbeilief. Es reizte sie – wie immer – von der Straße in die Kiesauffahrt abzubiegen, um einen ausgiebigen Alleingang durch das zu unternehmen, was sie aus dem Nichts aufgebaut hatte.

Stella hatte sich anlässlich der Weihnachtssaison mächtig ins Zeug gelegt, stellte Roz erfreut fest. Vor dem flachen Gebäude, das als Eingang zum Verkaufsbereich diente, hatte sie grüne, rosa, weiße und rote Weihnachtssterne zu einem weihnachtlichen Farbenmeer gruppiert. An die Tür hatte sie noch einen Kranz gehängt und mit kleinen weißen Lichtern dekoriert, und die kleine Weymouthskiefer, die sie aus dem Freiland ausgegraben hatte, stand geschmückt auf der vorderen Veranda.

Weiße Stiefmütterchen, glänzende Stechpalmen, winterharter Salbei machten das Ganze noch interessanter und würden das Weihnachtsgeschäft weiter in Schwung bringen.

Roz widerstand der Versuchung und lief weiter die Straße hinunter.

Sie musste etwas von ihrer Zeit abzwacken, um den Rest ihrer Weihnachtseinkäufe zu erledigen, wenn nicht heute, dann unbedingt später in dieser Woche. Wenigstens ein bisschen. Es galt, Weihnachtsfeiern zu besuchen; außerdem war da noch die Feier, die sie selbst geben wollte. Es war schon eine Weile her, seit sie im großen Stil zu sich nach Hause eingeladen hatte.

Die Scheidung, räumte sie ein, war zumindest teilweise Schuld daran. Ihr war kaum danach gewesen, Partys zu geben, als sie sich dumm und verletzt fühlte und ihre törichte, gnädigerweise kurze Verbindung mit einem Lügner und Betrüger ihr mehr als nur ein wenig peinlich war.

Doch nun war es an der Zeit, dies abzuhaken, hielt sie sich vor Augen, ebenso wie sie den Kerl abgehakt hatte. Bryce Clerk war zurück in Memphis – umso wichtiger war es, dass sie ihr Leben, öffentlich und privat, genau so lebte, wie sie es wollte.

An der Zweieinhalb-Kilometer-Markierung, die für sie ein alter, vom Blitz getroffener Hickorybaum darstellte, machte sie sich auf den Rückweg. Von dem leichten Nebel waren ihr Haar und ihr Sweatshirt feucht, doch ihre Muskeln fühlten sich warm und locker an. Es war eine Sauerei, sinnierte sie, dass alles, was über das Trainieren gesagt wurde, stimmte.

Sie erspähte ein Reh, das gemächlich die Straße überquerte, im dicken Winterfell und mit wachsamen Augen, die aufgrund der Störung durch einen Menschen Alarmbereitschaft signalisierten.

Du bist schön, dachte Roz, die während dieses letzten Kilometers ein wenig keuchte. Aber halt dich bloß fern von meinen Gärten. Im Geiste machte sie sich eine weitere Notiz, dass die Gärten nochmals mit Wildabwehrmittel behandelt werden mussten, bevor das Reh und seine Gefährten beschlossen, auf einen Imbiss vorbeizukommen.

Roz bog gerade wieder in die Einfahrt ein, als sie gedämpfte Schritte vernahm; dann sah sie, wie ihr jemand entgegenkam. Selbst im Nebel hatte sie keine Schwierigkeiten, den anderen Frühaufsteher zu erkennen.

Beide blieben stehen und liefen auf der Stelle, und sie grinste ihren Sohn an. »Heute mit den Hühnern aufgestanden.«

»Ich dachte, ich mache mich mal früh genug auf, um dich zu erwischen.« Harper fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Die ganzen Thanksgivingfeiern, dann dein Geburtstag – ich habe mir überlegt, dass ich die überschüssigen Pfunde besser wieder abtrainiere, bevor Weihnachten zuschlägt.«

»Du nimmst doch nie ein Gramm zu. Es ist zum Verzweifeln.«

»Ich fühle mich schlaff.« Er ließ die Schultern kreisen, rollte dann mit den Augen, die whiskeybraun wie die ihren waren, und lachte. »Außerdem muss ich doch mit meiner Mama mithalten.«

Er sah aus wie sie. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie ihm ihre Gesichtszüge vermacht hatte. Doch wenn er lächelte, sah sie seinen Vater. »Den Tag möchte ich erleben, Junge. Wie weit läufst du?«

»Wie weit warst du?«

»Fünf Kilometer.«

Ein Grinsen huschte über Harpers Gesicht. »Dann mache ich sechs.« Im Weiterlaufen tätschelte er ihr leicht die Wange.

Ich hätte sieben sagen sollen, um ihn zu ärgern, dachte Roz kichernd und ging zum Abkühlen im Schritttempo die Einfahrt hinauf.

Das Haus erhob sich schimmernd aus dem Nebel. Roz dachte: Gott sei Dank, das hätten wir noch einmal geschafft. Damit umrundete sie das Haus, um dort hineinzugehen, wo sie es verlassen hatte.

Im Haus war immer noch alles still – und wundervoll. Und es spukte.

Roz hatte geduscht, ihre Arbeitskleidung angezogen und ging gerade die Haupttreppe in der Mitte der beiden Flügel des Hauses hinunter, als sie hörte, wie sich zum ersten Mal an diesem Tag etwas regte.

Stellas Jungen, die sich für die Schule fertig machten, Lily, die nach ihrem Frühstück verlangte. Angenehme Geräusche, dachte Roz. Geschäftige Familiengeräusche, die sie vermisst hatte.

Natürlich hatte sie erst vor ein paar Wochen das Haus voll gehabt, als alle ihre Söhne zu Thanksgiving und zu ihrem Geburtstag nach Hause gekommen waren. Austin und Mason würden zu Weihnachten wiederkommen. Mehr konnte sich eine Mutter von erwachsenen Söhnen nicht wünschen.

Während sie heranwuchsen, hatte es, weiß Gott, häufig Zeiten gegeben, in denen sie sich nach ein wenig Ruhe gesehnt hatte. Nur eine Stunde völligen Friedens, während der sie nichts Aufregenderes zu tun hatte, als in einem heißen Bad zu versinken.

Danach hatte sie dagegen zu viel Zeit gehabt. Zu viel Ruhe, zu viel leeren Raum. Das hatte schließlich dazu geführt, dass sie einen aalglatten Mistkerl heiratete, der sich an ihrem Geld bediente, damit er die Betthäschen beeindrucken konnte, mit denen er sie betrog.

Geschehen ist geschehen, rief Roz sich ins Gedächtnis. Und es führte zu nichts, länger darüber nachzudenken.

Sie ging in die Küche, wo David bereits irgendetwas in einer Schüssel verquirlte und der verführerische Duft von Kaffee in der Luft lag.

»Morgen, meine Schöne. Wie geht’s?«

»Zu allen Schandtaten bereit.« Roz ging zu einem Schrank, um sich einen Becher zu nehmen. »Wie war die Verabredung gestern Abend?«

»Viel versprechend. Er mag Grey-Goose-Martinis und John-Waters-Filme. Dieses Wochenende versuchen wir eine zweite Runde. Setz dich. Ich mache Arme Ritter.«

»Arme Ritter?« Dafür hatte Roz eine Schwäche. »Verdammt, David, ich bin gerade fünf Kilometer gerannt, damit mir der Arsch nicht bis zu den Kniekehlen hängt, und dann erschlägst du mich mit Armen Rittern.«

»Du hast einen prima Arsch, und er ist weit entfernt von deinen Kniekehlen.«

»Noch«, brummelte Roz, setzte sich aber. »Am Ende der Einfahrt habe ich Harper getroffen. Er wird merken, was auf dem Speiseplan steht, er schnüffelt garantiert an der Hintertür.«

»Ich mache reichlich.«

Roz schlürfte ihren Kaffee, während David die Bratpfanne erhitzte.

Er sah so blendend aus wie ein Filmstar, war nur ein Jahr älter als ihr Harper und eine der großen Freuden in ihrem Leben. Als Junge war er ihr quasi zugelaufen, und jetzt schmiss er den ganzen Haushalt.

»David … heute Morgen habe ich mich zweimal dabei ertappt, wie ich an Bryce gedacht habe. Was meinst du, was das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass du diese Armen Ritter brauchst«, erwiderte David, während er dicke Brotscheiben in seiner Spezialmischung tränkte. »Und wahrscheinlich hat dich eine Art Weihnachtskoller erwischt.«

»Ich habe ihn kurz vor Weihnachten rausgeworfen. Ich schätze, das ist es.«

»Und fröhliche Weihnachten waren das, an denen dieser Mistkerl draußen in der Kälte saß. Ich wünschte, es wäre kalt gewesen«, fügte David hinzu. »Es hätte Eis und Frösche und die Pest regnen müssen.«

»Ich will dich mal was fragen, was ich nie getan habe, während die Sache noch lief. Warum hast du mir nie gesagt, wie schrecklich du ihn fandest?«

»Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, weshalb du mir nicht gesagt hast, wie grauenhaft du den arbeitslosen Schauspieler mit dem falschen britischen Akzent fandest, auf den ich vor ein paar Jahren abgefahren bin. Weil ich dich gern habe.«

»Das ist ein guter Grund.«

Roz drehte sich zum Küchenherd, in dem David Feuer gemacht hatte, schlürfte Kaffee, fühlte sich ausgeglichen und durch nichts zu erschüttern.

»Weißt du, wenn es möglich wäre, dass du auf der Stelle zwanzig Jahre älter und hetero würdest, dann könnten wir zusammen in wilder Ehe leben. Ich glaube, das wäre nicht das Schlechteste.«

»Süße, du bist die Einzige, die mich je in Versuchung führen könnte.« David ließ das Brot in die Pfanne gleiten.

Roz lächelte, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust. »Die Sonne kommt durch«, stellte sie fest. »Heute wird ein schöner Tag.«

 

Ein schöner Tag Anfang Dezember bedeutete einen arbeitsreichen Tag für ein Gartencenter. Roz hatte so viel zu tun, dass sie froh war, das üppige Frühstück, das David ihr zubereitet hatte, nicht abgelehnt zu haben. Ihr Mittagessen fiel aus.

In ihrem Anzuchthaus stand ein Tisch voller Saatkästen. Die Exemplare, die noch zu jung zum Pikieren waren, hatte sie bereits aussortiert. Und nun begann das erste Umpflanzen der Sämlinge, die sie für groß genug hielt.

Sie reihte ihre Behälter auf, die Pflanzschälchen, die einzelnen Töpfe oder Torfwürfel. Es gehörte – mehr noch als das Aussäen – zu ihren Lieblingsaufgaben, dieses Einsetzen eines starken Sämlings in ein Häuschen, das er bis zur Pflanzzeit bewohnen würde.

Bis zur Pflanzzeit gehörten sie alle ihr.

Und in diesem Jahr experimentierte sie mit ihrer eigenen Pflanzerde. Schon seit über zwei Jahren hatte sie verschiedene Rezepturen ausprobiert und glaubte nun, die richtigen Mischungen gefunden zu haben, eine für Zimmerpflanzen und eine, die man draußen im Garten verwenden konnte. Die Gartenerde müsste sich sehr gut für ihre Arbeiten im Gewächshaus eignen.

Aus dem Sack, den sie sorgfältig gemischt hatte, füllte sie ihre Töpfe, prüfte die Feuchtigkeit und war zufrieden. Vorsichtig hob sie die Jungpflanzen aus der Erde, hielt sie an ihren Keimblättern fest. Beim Umpflanzen vergewisserte sie sich, dass die neue Erde am Stiel auf gleicher Höhe wie im Saatkasten war; dann klopfte sie mit geübten Fingern die Erde um die Wurzeln fest.

Sie füllte Topf um Topf, etikettierte im gleichen Arbeitsgang und summte geistesabwesend zur Musik von Enya, die sanft aus dem tragbaren CD-Spieler erklang, der für sie zur Grundausstattung eines Gewächshauses gehörte.

Mit einer schwachen Düngerlösung wässerte sie die Pflänzchen.

Zufrieden mit ihrem Fortschritt ging sie durch den hinteren Durchgang zum Bereich der mehrjährigen Pflanzen. Sie überprüfte deren Zustand – den der Pflanzen, die sie vor kurzem aus Stecklingen herangezogen hatte, und den jener, die sie vor über einem Jahr eingepflanzt hatte und die in ein paar Monaten verkaufsfertig sein würden. Sie goss und pflegte; dann ging sie zum festen Pflanzenbestand der Gärtnerei, um weitere Stecklinge abzuschneiden. Sie hatte gerade mit einem Saatkasten von Anemonen begonnen, als Stella hereinkam.

»Du warst fleißig.« Stella, die ihre roten Locken zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, ließ ihren Blick über die Tische schweifen. »Sehr fleißig.«

»Und optimistisch. Wir hatten eine Bilderbuchsaison, und ich vermute, die kommende wird ähnlich. Wenn die Natur uns keinen Strich durch die Rechnung macht.«

»Ich dachte, du magst vielleicht den neuen Bestand an Kränzen begutachten. Hayley hat den ganzen Vormittag daran gearbeitet. Ich finde, sie hat sich selbst übertroffen.«

»Ich schaue sie mir an, bevor ich gehe.«

»Ich habe sie früher heimgehen lassen; ich hoffe, das ist okay. Sie muss sich immer noch daran gewöhnen, dass Lily bei einem Babysitter ist, auch wenn dieser eine Kundin ist und nur einen knappen Kilometer entfernt wohnt.«

»In Ordnung.« Roz ging weiter zu den Rasselblumen. »Du weißt, dass du nicht jede Kleinigkeit mit mir abklären musst, Stella. Du steuerst dieses Schiff jetzt schon fast ein Jahr.«

»Das war nur ein Vorwand, um zu dir nach hinten zu kommen.«

Roz hielt inne; ihr Messer schwebte in der Luft über den Pflanzenwurzeln, bereit, sie abzuschneiden. »Gibt es ein Problem?«

»Nein. Ich wollte dich nur bitten, und ich weiß, das ist dein Bereich – aber ich habe mich gefragt, ob ich nicht, wenn es nach der Weihnachtszeit wieder etwas ruhiger zugeht, ein wenig in der Anzucht arbeiten könnte. Das fehlt mir.«

»In Ordnung.«

Stellas hellblaue Augen blitzten, wenn sie lachte. »Ich sehe schon, du hast Angst, ich könnte versuchen, deine Gewohnheiten zu verändern und alles nach meinem Geschmack zu organisieren. Ich verspreche dir, das tue ich nicht. Und ich werde dir auch nicht in die Quere kommen.«

»Kannst es ja versuchen – dann schmeiße ich dich hochkant raus.«

»Verstanden.«

»Übrigens wollte ich auch mit dir sprechen. Du musst für mich einen Lieferanten von guten, billigen Säcken für Gartenerde finden. Ein Pfund, fünf Pfund, zehn und fünfundzwanzig; das genügt für den Anfang.«

»Wozu?«, fragte Stella, während sie ein Notizbuch aus der Gesäßtasche zog.

»Ich habe vor, meine eigene Blumenerde herzustellen und zu verkaufen. Ich habe Mischungen für drinnen und draußen, die mir gefallen, und ich möchte sie unter meinem Namen verkaufen.«

»Eine tolle Idee. Das bringt guten Profit. Und den Kunden wird es gefallen, Rosalind Harpers Gartengeheimnisse zu bekommen. Es gibt allerdings noch einiges zu bedenken.«

»Das habe ich schon. Ich werde nicht Hals über Kopf losstürmen. Wir fangen ganz klein an.« Mit Erde an den Händen nahm Roz eine Flasche Wasser von einem Regal, wischte sich geistesabwesend die Hand an ihrer Bluse ab und drehte den Verschluss auf. »Ich möchte, dass das Personal lernt, die Erde in die Säcke zu verpacken, aber die Mischung bleibt mein Geheimnis. Dir und Harper werde ich die Zutaten und Mengenangaben mitteilen, aber das wird nicht an die normalen Angestellten weitergegeben. Vorerst füllen wir die Erde im großen Lagerschuppen ab. Wenn die Sache gut läuft, bauen wir einen eigenen dafür.«

»Die Vorschriften der Behörden …«

»Darüber habe ich mich schon informiert. Wir benutzen keinerlei Pestizide, und der Nährstoffgehalt bleibt unter den Grenzwerten.« Als sie sah, dass Stella eifrig mitschrieb, nahm Roz noch einen großen Schluck. »Ich habe eine Genehmigung für Herstellung und Verkauf beantragt.«

»Davon hast du gar nichts erzählt.«

»Bitte sei nicht gekränkt.« Roz stellte die Flasche beiseite und tauchte einen Steckling in ein Bewurzelungspräparat. »Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich weitermachen möchte; ich wollte nur den Amtsschimmel aus dem Weg haben. Das Ganze ist eine Art Steckenpferd von mir; ich spiele schon seit einer Weile mit dem Gedanken. Aber jetzt habe ich einige Pflanzen in diesen Mischungen herangezogen, und bisher gefällt mir, was ich sehe. Ich starte nun noch weitere Versuche, und wenn ich mit den Ergebnissen immer noch zufrieden bin, legen wir los. Deshalb hätte ich gern eine Vorstellung davon, wie viel uns die Säcke kosten werden und der Druck. Es soll exklusiv aussehen. Ich dachte, du könntest dich vielleicht an ein paar Logos und so was versuchen. Das liegt dir. Der Name des Gartencenters muss hervorstechen.«

»Keine Frage.«

»Und weißt du, was mir wirklich gefallen würde?« Roz hielt einen Augenblick inne und sah im Geiste fertige Säcke vor sich. »Braune Säcke. Irgendetwas, das aussieht wie Sackleinen. Aus der guten alten Zeit, verstehst du? Wir sagen also, das hier ist gute, althergebrachte Erde, Südstaatenboden, und ich glaube, ich möchte Bauerngartenblumen auf den Säcken. Schlichte Blumen.«

»Die besagen, die Verwendung dieser Erde ist einfach, und sie erleichtert Ihnen die Gartenarbeit. Ich beginne zu verstehen.«

»Ich kann mich auf dich verlassen, oder? Du rechnest die Kosten aus, den Profit, planst die Marketingstrategie.«

»Ich stehe zu Diensten.«

»Das weiß ich. Ich mache noch diese Stecklinge fertig, und wenn dann nichts mehr ansteht, gehe ich auch früher nach Hause. Ich möchte noch ein paar Einkäufe erledigen.«

»Roz, es ist schon fast fünf.«

»Fünf? Das kann doch nicht sein.« Roz streckte einen Arm aus, drehte das Handgelenk und schaute stirnrunzelnd auf ihre Armbanduhr. »So ein Mist. Die Zeit ist mir wieder einmal davongelaufen. Ich sage dir was, morgen gehe ich schon mittags. Wenn nicht, läufst du mir nach und scheuchst mich raus.«

»Kein Problem. Jetzt gehe ich besser wieder. Wir sehen uns drüben im Haus.«

 

Als Roz nach Hause kam, funkelte ihr von den Dachvorsprüngen die Weihnachtsbeleuchtung entgegen; an allen Türen erstrahlten Kränze, und alle Fenster wurden von Kerzenschein erhellt. Den Eingang flankierten zwei Zwergkiefern, die mit winzigen weißen Lichtern übersät waren.

Auch als sie eintrat, war um sie herum alles weihnachtlich geschmückt.

In der Eingangshalle wanden sich rotes Band und Lichterketten das doppelte Treppengeländer hinauf, und unter den Geländerpfosten standen weiße Weihnachtssterne in weihnachtlich roten Töpfen.

In der auf Hochglanz polierten Silberschale ihrer Urgroßmutter glänzten rote Äpfel.

Im Salon beherrschte eine drei Meter hohe Fichte – aus Roz’ eigenem Freiland – die Fenster der Vorderfront. Den Kaminsims zierten die Holznikoläuse, die sie gesammelt hatte, seit sie mit Harper schwanger gewesen war, und von den Enden hing frisches Tannengrün herab.

Stellas beide Söhne hockten im Schneidersitz auf dem Boden unter dem Baum und starrten mit großen Augen zu ihm empor.

»Ist er nicht eine Wucht?« Hayley ließ die dunkelhaarige Lily auf ihrer Hüfte hopsen. »Bleibt einem da nicht die Spucke weg?«

»David muss ja wie ein Pferd geschuftet haben.«

»Wir haben mitgeholfen!« Die Jungen sprangen auf.

»Nach der Schule durften wir bei den Lichterketten helfen«, erzählte Luke, der Jüngere. »Und ganz bald dürfen wir beim Plätzchenbacken helfen und sie verzieren und so.«

»Wir haben sogar oben einen Baum.« Gavin schaute noch einmal die Fichte an. »Er ist nicht so groß wie dieser, weil er für oben ist. Wir haben David geholfen, ihn hochzubringen, und wir dürfen ihn selbst schmücken.«

Wohl wissend, wer die Herrin im Haus war, warf Gavin Roz einen Bestätigung heischenden Blick zu. »Hat David gesagt.«

»Dann muss es ja stimmen.«

»David kocht gerade so etwas wie ein Schmückt-den-Baum-Menü in der Küche.« Stella kam herüber, um den Baum aus Roz’ Blickwinkel zu betrachten. »Sieht so aus, als würden wir ein Fest feiern. Er hat Logan und Harper schon Bescheid gesagt, dass sie um sieben hier sein sollen.«

»Dann sollte ich mich wohl besser entsprechend fein anziehen. Aber gib mir erst mal das Baby.« Sie streckte die Arme aus, nahm Hayley die kleine Lily ab und drückte sie an sich. »So ein großer Baum; beim Schmücken werden wir alle helfen müssen. Wie findest du deinen ersten Weihnachtsbaum, Kleines?«

»Sie hat schon versucht, auf dem Bauch zu ihm hinzurobben, als ich sie auf den Boden gelegt habe. Ich kann kaum erwarten, was sie macht, wenn sie ihn fertig geschmückt sieht.«

»Also, dann komme ich besser mal in die Gänge.« Roz gab Lily einen Kuss und reichte sie wieder ihrer Mutter. »Es ist zwar noch ein bisschen warm, aber ich finde, wir sollten ein Feuer anmachen. Und wenn einer von euch David sagen würde, er soll Champagner auf Eis legen. Ich bin gleich wieder unten.«

Es war zu lange her, dass zu Weihnachten Kinder im Haus gewesen waren, dachte Roz, als sie nach oben eilte. Und der Teufel sollte sie holen, wenn die Anwesenheit der Kleinen sie nicht dazu brachte, sich selbst wieder wie ein Kind zu fühlen.