Das Buch

Endlich können Charley und Jake ihre Liebe leben. Trotz der Tragödie, die ihr Leben bisher überschattet hat, haben sie es geschafft, die Vergangenheit ruhen zu lassen und wieder zueinanderzufinden. Doch zusammenzukommen und zusammenzubleiben sind zwei verschiedene Dinge. Als Charley ein schwerer Schicksalsschlag trifft, stellt sie plötzlich alles in Frage. Sie glaubt, Jakes Liebe opfern zu müssen, um ihre Familie zu schützen.

Jake will Charley auf keinen Fall aufgeben. Er ist sich sicher, dass ihre gemeinsame Liebe auch das überstehen wird. Charley hat Zweifel. Die Ereignisse haben sie verändert. Sie ist sich nicht sicher, ob die Frau, die sie jetzt ist, Jake immer noch so sehr braucht wie das Mädchen, das sie einst war.

Die Autorin

Samantha Young wurde 1986 in Stirlingshire, Schottland, geboren. Seit ihrem Abschluss an der University of Edinburgh arbeitet sie als freie Autorin und hat bereits mehrere Jugendbuchserien veröffentlicht. Mit Dublin Street und London Road, ihren ersten beiden Romanen für Erwachsene, stürmt sie die internationalen Bestsellerlisten.

Homepage der Autorin: www.samanthayoungbooks.com

Von Samantha Young sind in unserem Hause bereits erschienen:

Into the Deep– Herzgeflüster

Out of the Shallows–Herzsplitter

Dublin Street– Gefährliche Sehnsucht

London Road– Geheime Leidenschaft

Jamaica Lane– Heimliche Liebe

Fountain Bridge– Verbotene Küsse (E-Book)

Castle Hill– Stürmische Überraschung (E-Book)

Samantha Young

Out of the Shallows

Herzsplitter

Roman

Aus dem Englischen von
Silvia Kinkel

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0997-2

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
© 2014 Samantha Young
Titel der Originalausgabe: Out of the Shallows
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Vitaly Valua

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,
Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder
strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Kapitel 1

Lanton, August 2013

Ein berauschender Blumenduft erfüllte den Raum und haftete an allem. Selbst nachdem ich meine Hände ein Dutzend Mal gewaschen hatte, rochen sie, als hätte ich sie in blumigem Parfüm gebadet.

»Das ist hübsch.«

»Ja, findest du?« Ich drehte mich von dem Arrangement aus roten Rosen und weißen Lilien weg und sah, wie Claudia darauf zeigte. »Ich glaube, ich habe endlich den Bogen raus.«

»Für wen sind die?«

»Für Hub, beziehungsweise für seine Frau. Die beiden haben fünfzehnten Hochzeitstag.«

Claudia nickte. »Ein Kerl wie ein Bär mit einem romantischen Herz, wie?«

Ich grinste.

Hub gehörte das Diner in meiner kleinen Heimatstadt Lanton, Indiana. Er war ein Riese mit struppigem Bart und einer ruppigen Art. Mir war klar, warum Auswärtige ihn einschüchternd fanden. Aber ich stimmte Claud zu. Hub hatte das Herz am rechten Fleck. »Hub hat die Bestellung vor über einem Monat aufgegeben. Er gehört nicht zu den Männern, die den Hochzeitstag vergessen.«

Meine Freundin lächelte und zeigte dann hinter sich ins Schaufenster. »Ich habe das Schaufenster neu dekoriert, so wie du es wolltest.«

Delia’s gehörte meiner Mutter und war das einzige Blumengeschäft in der Stadt. Und obwohl Lanton nicht gerade riesig war, hatte sie gut zu tun. Im Hinterzimmer und im Keller, wo ich die Blumensträuße band, hatte sich Schimmel gebildet. Meine Eltern hatten den Laden vorübergehend schließen und viel Geld ausgeben müssen, das sie gar nicht besaßen, um das Problem zu beseitigen. Aber jetzt war alles wieder in Ordnung.

Wenn ich doch nur auch hundertprozentig sicher hätte sein können, dass mit meiner Mom, der echten Delia, auch alles in Ordnung war.

»Danke. Ich bin so froh, dass du hier bist. Das kann ich dir gar nicht oft genug sagen.« Nachdem Claudias Auslandsjahr an der Universität von Edinburgh vorbei gewesen war, war sie mit Sack und Pack zurück in die Staaten gekommen und bei meinen Eltern und mir eingezogen. Sie war den ganzen Sommer über geblieben und half uns durch eine der schwersten Zeiten, die unsere Familie je durchstehen musste.

»Du solltest trotzdem damit aufhören. Sonst muss ich dich mit Gewalt zum Schweigen bringen.«

Ich grinste. »Okay.«

Claudia sah sich stirnrunzelnd im Laden um. »Wo steckt Delia Mom eigentlich?«

Mom war auf dem Friedhof, wie so oft in letzter Zeit. Ich beugte mich über den Blumenstrauß und murmelte: »Na, wo schon?«

»Verstehe.« Claudia seufzte. »Übrigens hat mich Lowe heute Morgen angerufen.«

Ich antwortete nicht.

»Er hat versucht, dich zu erreichen.«

Ich zuckte gespielt gleichgültig mit den Schultern und antwortete: »Ich weiß. Aber … ich habe noch nicht mit Jake gesprochen, und dann finde ich es nicht richtig, mit Lowe zu reden.«

»Lowe ist dein Freund.«

»Nein, Lowe ist Jakes Freund. Und ich habe Jake schon genug wehgetan. Ich kann mich schlecht weigern, mit ihm zu reden, und mich stattdessen seinem besten Freund anvertrauen.«

Ich langte nach weiterem Bindegrün, aber Claudias Hand legte sich auf meine und hielt mich zurück. »Der Strauß ist fertig.«

Ich wandte mich ihr zu und sagte: »Kann es sein, dass du reden willst?«

»Charley, in einer Woche geht die Uni wieder los. Bist du bereit dafür?«

»Nein. Aber ich gebe mir Mühe.«

»Wir ziehen in unser altes Apartment, und da wir jetzt im Hauptstudium sind, haben wir künftig jede Menge Arbeit. Du wirst auch Alex wiedersehen. Das wird dir guttun.«

Ich schaute zur Seite und nagte an meiner Unterlippe. Nachdem ich einen Moment geschwiegen hatte, sagte ich leise: »Glaubst du wirklich, ich kann die beiden schon allein lassen? Mom geht immer noch jeden Tag zum Friedhof und Dad … ist nach wie vor sauer auf mich.«

Claudias Augen waren voller Mitgefühl, aber ich sah auch die Entschlossenheit darin. »Delia mag zwar jeden Tag auf den Friedhof gehen, aber das heißt nicht, dass sie nicht klarkommt. Es geht ihr schon sehr viel besser, Charley. Sie schafft es jetzt allein. Und Jim … Er liebt dich. Er wird einlenken, sobald du es auch tust.«

»Lass es«, warnte ich sie. Über dieses Thema wollte ich auf keinen Fall reden.

Kapitulierend hob sie die Hände. »Schön. Aber hast du vor, jemals wieder mit Jake zu reden?«

Ich blickte sie finster an. »Was soll das werden? Heute ärgern wir Charley?«

»Nein. Aber es wird Zeit, zur Normalität zurückzukehren und die Entscheidungen umzusetzen, die du während der vergangenen Monate getroffen hast. Zum Beispiel, was einen gewissen Jacob Caplin betrifft.«

Ein vertrauter Schmerz schnitt durch meine Brust, aber ich weigerte mich, ihn anzunehmen. Stattdessen schob ich mich an Claud vorbei, schnappte mir den Besen und begann, das Hinterzimmer zu kehren. »Nein, ich habe nicht vor, jemals wieder mit Jake zu reden. Es ist vorbei. Lassen wir es dabei bewenden.«

Claudia sog hörbar die Luft ein. »Du lässt ihn also einfach in der Luft hängen? Und er zerbricht sich den Kopf, was eigentlich schiefgelaufen ist.« Sie klang entsetzt.

Schuldgefühle stürmten auf mich ein. Ich stieß sie energisch zur Seite. »Wir haben einander zu sehr verletzt. Wie sollten wir das je überwinden?«

»Ihr könntet es versuchen.«

»So wie du es mit Beck versuchst?«

Sie zog die perfekt gezupften Brauen zusammen. »Das ist etwas völlig anderes.«

»Claudia…«

»Aber ich hör ja schon auf. Vorerst.«

Irgendwann in meinem Leben müssen die Leute einen falschen Eindruck von mir bekommen haben. Besser gesagt, muss ich einen falschen Eindruck von mir bekommen haben. Ich weiß nicht, ob es zu der Zeit war, als ich meine Schwester von der Straße stieß und davor bewahrte, überfahren zu werden. Stattdessen erwischte es mich und brachte mir den Spitznamen Supergirl ein. Vielleicht liegt es aber auch an meiner großspurigen Art.

Wie auch immer, jedenfalls halten mich die Leute für eine furchtlose, mutige, unabhängige junge Frau, der es scheißegal ist, was andere denken.

Was andere denken, geht mir tatsächlich am Arsch vorbei.

Nicht egal ist mir aber, was meine Eltern über mich denken. Und ich habe Angst davor, die beiden zu verlieren.

Also nicht furchtlos. Nicht mutig. Und vermutlich längst nicht so unabhängig, wie ich sein sollte.

Wenn du ein Kind bist, ist dein ganzes Glück an deine Eltern gekoppelt. Eine Umarmung von ihnen, ein Kuss auf die Stirn, ein Huckepackritt, ihr Lachen, ihre freundlichen Worte, ihre Zuneigung, ihre Liebe … das lindert ein aufgeschlagenes Knie oder die Beschimpfung durch einen Klassenkameraden oder den Tod des geliebten Haustiers. Solange ich wusste, dass meine Eltern mich liebten, ich sie stolz machte und ihren Respekt besaß, ging es mir gut. Erstaunlich, wie leicht es für Eltern ist, dir den Eindruck zu vermitteln, du seist immer noch ein kleines Kind.

Und genauso fühlte ich mich in meiner Familie jetzt schon seit Monaten … wie ein Kind, das sich nach der Liebe und dem Respekt der Eltern sehnt. In letzter Zeit – genauer gesagt während der vergangenen Monate– schienen sie jedoch nur noch von mir enttäuscht zu sein. Vor allem mein Dad.

Als Mom vom Friedhof zurückkehrte, half sie Claudia und mir, den Laden für heute dichtzumachen. Anschließend gingen wir nach Hause und bereiteten das Abendessen zu. Meinem Dad gehörte eine Autowerkstatt. Er kam kurze Zeit später, und schon bald saßen wir alle zusammen beim Abendessen.

Eine vertraute Stille legte sich über uns.

Das Klappern von Besteck auf den Tellern, Klirren von Gläsern, Rascheln der Servietten und Knuspern von Brot betonte diese Stille nur noch.

Ich war überrascht, als Dad fragte: »Hast du noch mal darüber nachgedacht, diese Prüfung zu machen, um an der juristischen Fakultät aufgenommen zu werden?«

Ich blickte zu Claudia, die mich erstaunt ansah, und schockte sie mit meiner Antwort. »Ich werde den Test im Herbst machen, Dad.«

Claudia fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Echt?«

Sie hatte die Prüfung bereits im Juni bestanden, nahm jedoch an, dass ich das Jurastudium abgehakt hätte.

Die Blicke meiner Eltern brannten mir auf den Wangen. Ich nickte. »Ja. Wenn ich den Test noch rechtzeitig mache, damit die Ergebnisse im Februar vorliegen, kann ich nächstes Jahr im Herbst mit dem Jurastudium anfangen.«

»Freut mich zu hören. Claudia wird dir sicher beim Lernen helfen«, sagte Dad.

Zum ersten Mal seit langem trafen sich unsere Blicke, und Dads Augen glänzten liebevoll. Er war hoch zufrieden. Für ihn traf ich die richtige Entscheidung.

Ich selbst wusste allerdings nicht, ob ein Jurastudium die richtige Entscheidung war. Lieber hätte ich mich an der Polizeiakademie beworben. Vermutlich hatte ich Claudia deshalb nichts von meinem Entschluss erzählt– ich wollte nicht, dass sie es mir ausredete. In Wahrheit hatte ich mich nämlich für Jura entschieden, weil ich glaubte, es sei für meine Familie das Beste.

»Ich bin auch froh.« Mom lächelte mich an, und in ihren Augen schimmerten Tränen.

Ja, in jedem Fall war es die beste Entscheidung für meine Familie.

Es verschaffte ihnen Seelenfrieden, und den brauchten sie dringender als ich ein Leben als Cop.

Claudia fragte heldenhaft: »Bist du sicher, dass es das ist, was du willst, Charley?«

»Natürlich.« Ich schenkte ihr ein knappes Lächeln.

Beim Rest des Abendessens war die Stimmung nicht mehr so unbehaglich wie normalerweise. Mom und Dad unterhielten sich sogar, und als ich Mom beim Aufräumen helfen wollte, scheuchte sie mich nicht wie sonst weg, sondern ließ mich machen.

Ich folgte ihr in die Küche und stapelte die Teller neben dem Mülleimer auf der Spüle. Während ich die Reste abkratzte, sagte sie: »Ich bin stolz auf deine Entscheidung, Charlotte.«

Ich sah zu ihr. »Ja?«

Sie lächelte, und ihr Blick trübte sich. Das tat er momentan oft. Mom hatte nie schnell geweint, bis … nun ja, bis … Jetzt kamen ihr bei jeder Kleinigkeit die Tränen. »Ich muss zugeben, dass mich dieser Gedanke während der letzten Monate sehr beschäftigt hat– dass du nach deinem Abschluss auf die Polizeiakademie gehst. Dass du bei der Polizei anfängst. Natürlich weiß ich, wie gut du selbst auf dich aufpassen kannst. Nachdem du Andie damals vor Finnegans SUV gerettet hast, habe ich mir natürlich Sorgen gemacht, aber nur, bis ich dich sah. Als wir im Krankenhaus in dein Zimmer kamen, steckte dein Bein in einem Gips, du warst mit Schrammen übersät und hast uns angegrinst. Übermütig wie immer. Andie wäre nicht so gelassen damit umgegangen. Sie war auch so schon ein Nervenbündel und ist dir wochenlang auf Schritt und Tritt gefolgt. Das hat dich verrückt gemacht.«

Plötzlich spürte ich einen Kloß im Hals und wandte mich ab, um ihn an den aufsteigenden Tränen vorbei hinunterzuschlucken. »Ich erinnere mich«, flüsterte ich.

»Ich wollte nicht, dass du Cop wirst. Aber bis zu diesem Sommer hatte ich ein schlechtes Gewissen, dich zu bedrängen, es nicht zu tun. Ich hasse jedoch die Vorstellung, den Rest meines Lebens auf einen Anruf mitten in der Nacht zu warten, bei dem mir gesagt wird, dass meine Tochter bei einem Einsatz ums Leben gekommen ist. Aber noch weniger wollte ich, dass mein Kind es mir übel nimmt, es von seinem Traum abgehalten zu haben. Es nicht unterstützt zu haben. Aber dann … Andie …« Sie drückte sich von der Arbeitsplatte ab und kam auf mich zu. Dicht vor mir blieb sie stehen und nahm meine Hand. »Natürlich ist es egoistisch von mir, dich zu bitten, nicht auf die Polizeiakademie zu gehen. Das ist mir klar. Ich weiß nicht, ob du wirklich Jura studieren möchtest oder es nur Dad und mir zuliebe tust. Wenn ich stärker wäre, würde ich sagen: ›Erfüll dir deinen Traum. Tu es.‹ Aber ich bin nicht stark. Ich bin froh, dass du dich nicht an der Akademie bewirbst. Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Bitte hasse mich nicht dafür.«

»Ich verstehe das. Und genau deshalb hasse ich dich nicht.«

»Aber möchtest du wirklich Anwältin werden? Du musst es nicht.«

Ich lächelte schief. »Ich kann Dad nicht das geben, was er sich wirklich wünscht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ihn enttäuscht…«

»Charley…«

»Nein, Mom, du weißt, dass ich recht habe. Ich wünschte auch, ich wäre stärker. Aber das bin ich nicht, deshalb gebe ich ihm das, wozu ich im Moment in der Lage bin. Er wollte immer, dass ich Anwältin werde, also mache ich die Aufnahmeprüfung für die juristische Fakultät.«

Mom packte meine Hand noch fester. »Eines Tages werden wir wieder wir selbst sein.«

Wie sehr ich das hoffte! Ich vermisste meinen Dad, und vor allem vermisste ich Andie.

Tränen liefen mir über die Wangen. Ich wandte mich ab, konzentrierte mich auf das Geschirr. Mom ließ mich in Ruhe.

Noch während ich sie aus der Küche gehen hörte, summte das Handy in meiner Hosentasche. Als ich den Namen auf dem Display sah, zog sich mein Magen zusammen.

Ein weiterer verpasster Anruf von Jake.

Einer pro Tag, seit ich aus Edinburgh zurück war.

Zuverlässig wie ein Uhrwerk kam die Nachricht.

Du weißt ja, was ich…

Obwohl ich nie auf seine Anrufe reagierte, versuchte Jake es weiter, hoffte, dass ich meine Meinung irgendwann ändern würde. Als ihm vor sechs Wochen klar wurde, dass ich seine Anrufe und Nachrichten nicht beantworten würde, bat er mich, ihn wenigstens wissen zu lassen, ob es mir gutging. Das habe ich getan. Und seither wollte er jeden Tag wenigstens das wissen.

Ich wischte mir die Tränen weg und schrieb:

Es geht mir gut.

Ich fragte ihn nie, wie sein Befinden war. Auf mir lastete so viel Schuld, dass ich Jake feige aus dem Weg ging. Ich hatte ihm wehgetan. Das wusste ich. Aber ich wollte es ihn nicht sagen hören.

Ich schob das Handy zurück in die Hosentasche und dachte darüber nach, was für eine Ironie das doch war. Erst wenige Monate zuvor ließ ich zu, dass er sich den Arsch aufriss, um wiedergutzumachen, auf welche Art er sich mit siebzehn von mir getrennt hatte. Mehr als vier Jahre danach tat ich ihm genauso weh. Dabei hatte ich mir geschworen, niemals jemanden so zu verletzen, wie Jake mich verletzt hatte.

Was wenige Monate doch ausmachen können.

Kapitel 2

Edinburgh, Februar 2013

»… du gegen mein brachliegendes Herz. Von mir bekommst du kein Mitleid, mein Freund. Ich habe dich im seichten Gewässer verloren…«

Zwanzig Minuten lang hatte ich erfolgreich an meinem Referat gearbeitet. Der Laptop stand aufgeklappt vor mir auf dem Tisch, das Bier daneben. Um mich herum saßen meine Freunde und lauschten der Indie-Rockband The Stolen.

Wir waren im Milk. Die Bar befand sich an der Cowgate, einer Straße in jenem Stadtteil von Edinburgh, wo meine amerikanischen Kommilitonen und ich während unseres Auslandsjahrs an der Universität von Edinburgh wohnten.

Glücklicherweise war ich die Art Mädchen, die eine Live-Rockband und ein lärmendes Publikum ausblenden konnte, um die am nächsten Tag fällige Hausarbeit fertigzumachen. Diese hier hatte ich ganz vergessen. Natürlich hätte ich auch in unserem Apartment bleiben können, wo mich allerdings eine höchst unangenehme Aufgabe erwartete, also verbrachte ich dort so wenig Zeit wie möglich.

Sich in der Bar zu konzentrieren war kein Problem, bis mein Lowe, der Leadsänger der Band, meinen Lieblingssong »Lonely Boy« anstimmte. Als ich dieses Lied vor einigen Monaten bei ihrem ersten Auftritt in Schottland hörte, schlug es sofort eine Saite in mir an.

Ich löste den Blick vom Laptop und schaute hoch zu der kleinen Bühne. Lowe, ein cooler Musiker mit Tattoos, Lippenring und zerzaustem dunklem Haar, sah meine Reaktion und lächelte mich über die randlosen Brillengläser hinweg an.

Ich lächelte matt zurück, nahm mein Bier und hörte mir den Song an.

Lowe hatte uns erzählt, dass er nie ehrlicher war als beim Schreiben von Songs. Daraufhin hatte mein Freund Jake gescherzt, ich solle doch mal einen Song für ihn schreiben. Das fand ich gar nicht lustig, denn ich war ihm gegenüber tatsächlich nicht ganz ehrlich. Ich verbarg einen Teil von mir vor ihm. Der heutige Abend musste für uns ein Schritt nach vorn werden– für mich ein Riesenschritt, aber einer, den ich für nötig hielt, wenn unsere Beziehung eine Chance haben sollte.

Ich war zwar nervös, riss mich aber zusammen. Bis Lowe mit diesem verdammten Song anfing.

Als könne er meine Gedanken lesen, stützte Jake das Kinn auf meine Schulter. Dann legte er den Arm um meine Taille und zog mich an seine Brust. »Wo bist du gerade?«, fragte er, und seine Lippen kitzelten mein Ohr.

Ich erschauerte und drehte leicht den Kopf, so dass seine Lippen meine Wange berührten. »Ich bin hier.«

»Warum gefällt dieser Song dir so?«

Ich zuckte zusammen und sah überrascht in sein wunderschönes Gesicht.

Jake lächelte mit einem verstehenden Gesichtsausdruck. »Ich bin ein guter Beobachter.«

»Du bist ein Besserwisser.«

Seine weißen Zähne blitzten. »Nur, wenn es um dich geht. Wenn mich etwas wirklich interessiert, erhält es meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«

»Willst du etwa behaupten, du seist ein Experte, was mich betrifft?«

Er senkte den Blick, und sein Griff lockerte sich. »Ich werde es hoffentlich eines Tages sein.«

Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, blickte ich zur Bühne. In den letzten Tagen, seit wir miteinander schliefen, war diese Beklommenheit direkt unter der Oberfläche nur noch stärker geworden. Es lag nicht daran, dass wir einander nicht wollten. Ganz im Gegenteil. Aber ich versuchte, meine Gefühle nicht zu tief werden zu lassen, und Jake bemühte sich, geduldig zu sein, was nicht gerade seine Stärke war.

Dadurch entstand zwischen uns ein seltsames Gefühl von Zerbrechlichkeit.

Ich entspannte mich in seinem Arm, strich mit der Hand über seine Fingerknöchel.

»Beck, zeig uns deine Muckis!«, rief eine hübsche Brünette über die Musik hinweg. Ich grinste wegen des finsteren Blicks, den Claudia ihr zuwarf.

Beck war Jakes bester Freund. Und mittlerweile war er auch einer von Claudias besten Freunden. Als Leadgitarrist stand er mit Lowe vorn auf der Bühne. Er sah überirdisch gut aus, groß, blond, mit unwiderstehlichen grauen Augen und einem Lächeln, das einen umhaute. Beck hatte alles, was man von einem Rockmusiker erwartete, mit dem Tribal-Tattoo auf dem Arm und einer lässig coolen Art. Er verströmte mehr Sexappeal und Charisma als jeder andere, der mir in meinem Leben begegnet war. Aber ich wusste ganz genau, dass mehr in ihm steckte als nur dieses aufgesetzte Bad-Boy-Gehabe. Das wusste ich, weil er bei Claudia ganz anders war. Er schien sie echt zu lieben, was er aber leider nicht mal sich selbst eingestand. Vermutlich war das auch der Grund, warum er die Brünette am Nebentisch mit Blicken vögelte.

Als Claudia das sah, stürzte sie ihren Drink hinunter und wandte sich ab. Rowena, unsere schottische Freundin, die vermutlich mit dem Bassisten Denver schlief, strich sich das lilafarbene Haar aus dem Gesicht und wechselte einen besorgten Blick mit mir.

Claudias Stimmungen schwankten in Becks Anwesenheit stets beträchtlich.

Wie alle anderen in unserer Clique – außer Beck– vermutete auch ich, dass sie in ihn verliebt war. In der einen Sekunde behauptete sie, kein Problem damit zu haben, dass er die Frauen anbaggerte, und im nächsten Moment schien es, als würde sie sich am liebsten in einer Ecke verkriechen und heulen.

Ich knuffte aufmunternd ihren Arm, und sie sah mich mit traurigen Augen an. Erwähnte ich bereits, dass sie das hübscheste Mädchen ist, das ich kenne, und obendrein das coolste, humorvollste und netteste? Und habe ich schon erwähnt, dass Beck ein Idiot ist?

»Möchtest du gehen?«

Sie warf einen wütenden Blick zur Bühne– den ich ehrlich gesagt gegenüber dem traurigen Welpenblick bevorzugte. »Ja, wenn du mit deinem Referat fertig bist.«

»Du haust ab?« Jake beugte sich zu mir.

»Entweder das, oder ich haue deinem besten Freund ins Gesicht.«

Jake sah zu Beck und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er muss es endlich auf die Reihe kriegen.«

»Jep. Aber bis dahin gehe ich mit Claud zurück zum Apartment.«

»Soll ich mitkommen?«

Ich seufzte zitternd. Höchste Zeit, zuzugeben, was ich für heute Abend noch geplant hatte. »Ehrlich gesagt habe ich etwas vor. Ich will Mom und Dad von uns erzählen…«

Jake zog die Brauen hoch. »Habe ich das bei der lauten Musik gerade richtig verstanden?«

Ich umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. Seine Bartstoppeln kribbelten an meiner Haut. Grinsend rieb ich meine Nase an seiner. »Du solltest dich besser in Acht nehmen, was du sagst. Ich bin so schon nervös. Ich könnte kneifen.«

Als Antwort spürte ich seinen Mund auf meinem. Meine Wimpern senkten sich zitternd, und meine Lippen teilten sich für seinen zärtlichen, süßen Kuss. Als er sich von mir löste, bebten sie.

»Ich erzähle ihnen auch von der Polizeiakademie.«

Dafür bekam ich noch einen Kuss, aber statt mich danach loszulassen, zog Jake mich fest an sich. Ich schmolz an seiner starken Brust dahin, spürte seine kräftigen Rückenmuskeln unter meinen Händen. Er roch so gut, und in seinen Armen fühlte ich mich sicher.

Plötzlich lösten sich all meine Ängste in Luft auf. Ich spürte den verräterischen Drang, den Mund zu öffnen und jene drei kleinen Worte zu flüstern.

»Bist du so weit?« Claudias laute Frage hielt mich in letzter Sekunde zurück.

Zögernd befreite ich mich aus Jakes Umarmung. »Wünsch mir Glück.«

»Das hast du nicht nötig.« Er strich mit dem Daumen über meine Wange. »Danke, dass du das für mich tust. Es bedeutet mir sehr viel.«

Vor Rührung musste ich schlucken und kaschierte das schnell mit einem frechen Grinsen. »Ich tue es für uns.« Ich stand auf und schob den Laptop samt Notizen in meinen Rucksack.

Jakes Hand legte sich auf meine Hüfte. Er sah mich an, unfähig, die Unsicherheit in seinen Augen zu verbergen. »Rufst du mich hinterher an?«

»Wenn es nicht zu spät ist.« Ich beugte mich vor und hauchte einen Kuss auf seinen Mund. »Wir sehen uns morgen.«

Ich verabschiedete mich von Rowena, während sich Claudia bereits durch die Menge in Richtung Ausgang kämpfte. Als ich mich umdrehte, um den Jungs zuzuwinken, nickte Lowe kurz. Beck reagierte gar nicht, er war zu sehr damit beschäftigt, mit zusammengezogenen Brauen Claudia nachzusehen.

Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich von ihm zu verabschieden, und ich konnte es ihr nicht verübeln.

Draußen vor der Bar schlang Claudia die Arme um sich, ihr langes dunkles Haar wehte im Wind. Dieser abwesende Gesichtsausdruck gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht. Ich ignorierte meine angespannten Nerven wegen des bevorstehenden Telefonats mit meinen Eltern, eilte zu ihr und hakte mich bei ihr ein.

Sie lächelte schwach, und wir machten uns auf den Weg nach Hause.

»Also«, begann ich, »letztes Wochenende schien zwischen dir und Beck alles in Ordnung zu sein. Du bist mit dir ins Reine gekommen, was deine Beziehung zu ihm angeht, und hast dich darauf gefreut, ihn mit nach Barcelona zu nehmen, um deinen Vater kennenzulernen.«

Claudias Eltern waren reiche, genusssüchtige, gleichgültige Schickeriatypen aus Coronado, Kalifornien. Für ihre Tochter hatten sie keine Zeit. In den Weihnachtsferien hatte Claudia erfahren, warum sich ihr Dad so desinteressiert verhielt. Wie sich herausstellte, war er nämlich gar nicht ihr Erzeuger. Ihr richtiger Vater war ein britischer Künstler namens Dustin Tweedie. Als eine Art Wiedergutmachung hatte ihre Mom ihn aufgespürt. Er lebte in Barcelona, und Claudias Mom finanzierte für die Osterferien einen Trip nach Barcelona, nicht nur für ihre Tochter, sondern auch für Jake, Beck und mich– wir sollten als moralische Unterstützung mitkommen.

Claudia umklammerte meinen Arm. »War ich auch. Aber das war letztes Wochenende.«

»Und was ist seither passiert?«

»Vor zwei Tagen habe ich Dustin eine E-Mail geschickt.« Ich sah, wie ihre Kehle im Kampf gegen die aufsteigenden Tränen zitterte, und das Blut in meinen Adern begann zu kochen. »Bisher hat er nicht reagiert.«

Ich schwieg, da ich keine Ahnung hatte, wie es sich anfühlte, nicht nur ein oder zwei, sondern sogar drei gleichgültige Elternteile zu haben.

Aus einiger Entfernung riefen uns zwei unserer Mitbewohnerinnen, und wir winkten zurück. Sobald sie weg waren, zuckte Claudia mit den Schultern. »Spielt es eine Rolle? Ich muss es einfach akzeptieren. Er will nicht, dass ich zu ihm komme und sein Leben störe.« Ihr Lachen klang hohl. Wie ich das hasste. Sie hatte diese Verbitterung nicht verdient. »Lass uns den Tatsachen ins Gesicht sehen, Charley. Was auch immer man haben muss, um jemand anderem etwas zu bedeuten, mir fehlt diese Sache jedenfalls.«

Fassungslos blieb ich vor unserem Hoftor stehen. »Das ist nicht wahr.«

Sie entzog mir ihren Arm. »Betrachte doch zum Vergleich nur mal dich: Du würdest nie zulassen, dass andere dich so behandeln.«

»Äh, hallo?« Ich wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Hast du etwa nicht mitbekommen, wie ich mich während der vergangenen Monate wegen eines attraktiven jungen Mannes mit Nachnamen Caplin in Selbstmitleid gesuhlt habe?«

Sie schnaubte, wich meinem Blick aber aus.

»Claud, man darf auch mal schlechte Tage haben, okay? Und heute ist dein schlechter Tag. Mehr nicht. Dieser Mist mit deinen Eltern macht aus dir keinen anderen Menschen. Lass das nicht zu.«

»Und Beck?«

Ich mochte Beck, wirklich. Und ich wusste, dass er Claudia mochte. Aber das genügte nicht, und wir hatten dieses Gespräch jetzt schon zu oft geführt. »Vielleicht war deine Idee letzte Woche doch richtig.«

»Ihn zu ignorieren?« Sie zuckte mit den Schultern. »Er war total mies drauf, und ich habe klein beigegeben.«

»Dieses Mal wirst du nicht nachgeben.«

Sie warf mir einen seltsamen Blick zu und ging zum Haus. »Ach wirklich? So einfach ist das also.«

»Also schön, dann nicht. Vielleicht brauchst du nur ein bisschen Ablenkung.«

»Ablenkung?«

»Ja.« Ich dachte daran, was mich auf andere Gedanken gebracht hatte, als Jake noch mit Melissa zusammen war. »Du brauchst Lowe.«

»Ähm, ich mag den Typen ja, aber ich werde nicht mit ihm schlafen.«

»Ich rede nicht von Sex.« Ich sah sie ernst an. »Glaub mir oder nicht, Lowe ist ein unheimlich einfühlsamer, geduldiger Kerl. Ein wirklich guter Freund.«

»Weiß Jake, dass du ein bisschen in seinen Freund verknallt bist?«

»Ich bin nicht in Lowe verknallt. Er war einfach nur für mich da, als ich es dringend brauchte. Triff dich mit ihm. Im Ernst. Ach, und rede bloß nicht solchen Mist, wenn Jake dabei ist.«

Sie grinste verschmitzt, und mein Unbehagen verschwand. Jetzt ähnelte sie schon wieder mehr der alten Claudia. »Neigt Mr Caplin etwa zur Eifersucht?«

»Ja. Fast so sehr wie ich«, brummte ich.

»Und du bist sicher, dass es nicht deine Eifersucht anstachelt, wenn ich mit Lowe abhänge?«

Während ich ihr ins Apartment folgte, dachte ich darüber nach. Es war noch nicht lange her, dass ich ein bisschen für Lowe geschwärmt hatte, aber mehr hätte es nie werden können. Was ich für Jake empfand … das brannte ganz tief in meinem Innern. Niemand hatte je auch nur annähernd das ausgelöst, was er mich fühlen ließ.

Er war mein fehlendes Puzzlestück.

»Nö«, antwortete ich nach reiflichem Überlegen. »Er ist sexy wie die Sünde und ich mag ihn, aber er ist eben nicht Jacob.«

»Ahhh, Jacob«, neckte sie mich.

»Hör auf, ihn so zu nennen.«

»Du hast damit angefangen.«

»Na toll. Er wird mich umbringen.«

Claudia lachte und blieb vor ihrer Zimmertür stehen. »Danke. Jetzt fühle ich mich schon besser.«

»Du bist Teil meiner Familie. Ich leide, wenn du leidest.«

Tränen schimmerten in ihren Augen. »Verdammt!« Sie schüttelte den Kopf und schloss ihr Zimmer auf. »Diese Wimperntusche ist nicht wasserfest.«

Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen, und ich brach in schallendes Gelächter aus. »Na dann, gute Nacht!«

Kaum war ich in meinem Zimmer, spürte ich, wie das mulmige Gefühl in meinem Magen zurückkehrte. Ich kämpfte gegen die Angst an und beeilte mich, meinen Laptop anzuschließen und die Internetverbindung herzustellen. Meine Skype-Seite öffnete sich, und ich setzte mich auf das schmale Bett vor meinen Schreibtisch, um zu warten.

Acht Jahre zuvor hatte mir meine gesamte Heimatstadt den Spitznamen »Supergirl« verliehen. Wenn die Einwohner von Lanton, Indiana, heute den Namen Charlotte Redford hörten, war es immer noch das erste Wort, das ihnen einfiel. Allerdings war ich nie so mutig, wie die Leute glaubten. Und ich war ganz sicher nicht mutig, als ich auf die Konfrontation mit meinem Kryptonit wartete– meine Eltern.

Nichts hasste ich mehr, als Jim und Delia Redford zu enttäuschen. Meine Eltern hatten mich stets geliebt und unterstützt. Und meine Schwester Andie und ich glaubten, ihnen schuldig zu sein, dass wir gute, gehorsame Kinder waren. Aber meine Eltern fanden die Idee, dass ich Cop werden wollte, vom ersten Moment an schrecklich. Vielleicht wären sie damit klargekommen, wenn ich vorgehabt hätte, Hilfssheriff in Lanton zu werden. In meiner Heimatstadt passieren nicht viele Verbrechen– aber sie wussten, dass ich auf die Polizeiakademie von Chicago verduften wollte, in der Hoffnung, eines Tages in die glorreichen Reihen des Chicago Police Departments aufgenommen zu werden. Der Verlobte meiner Schwester, Rick, war zufällig Detective in Chicago. Und ich wollte mich spezialisieren, möglichst bei der Mordkommission arbeiten, deshalb konnte ich ihre Bedenken ebenso nachvollziehen wie ihren Wunsch, dass ich stattdessen Jura studieren sollte.

Aber Jake hatte mich dazu gebracht, endlich einzusehen, dass mich die Kompromisse, die ich meinen Eltern zuliebe eingehen wollte, fertigmachten…

Vier Tage zuvor

»Kann man beim Sex vor Erschöpfung sterben?«, keuchte ich und ließ mich ausgestreckt auf Jakes schweißfeuchte Brust sinken. Träge strich er über meine Wirbelsäule. »Ich denke schon.«

»Das war …« Ich stöhnte, weil ich ihn in mir spürte.

»Wahnsinn?«, schlug er mit einem verdächtigen Maß an Selbstgefälligkeit vor. »Habe ich dir schon vorher gesagt.«

Zärtlich biss ich ihm in die Schulter. »Kleiner Angeber.«

»Du traust dich ja doch nicht, Bissspuren zu hinterlassen.« Jake umfasste mit beiden Händen meinen Hintern. »Ich würde sie den Leuten zu gern erklären.«

»Welchen Leuten?«, murmelte ich. »Du steckst gerade in dem einzigen Menschen, der dich ohne Hemd sehen sollte, Mister.«

Er lachte leise, und ich schloss bei diesem kehligen Ton verzückt die Augen. »Die Jungs und ich haben kein Problem damit, ohne Hemd durch die Wohnung zu laufen.«

Trotz meiner Erschöpfung brachte ich die Energie auf, mich mit den Händen auf seiner Brust hochzudrücken und ihn finster anzusehen. »Mit anderen Worten, du würdest Lowe zu gern diese Male erklären.«

An meine finsteren Blicke gewöhnt, strich mir Jake mein langes Haar hinters Ohr und folgte dann einer platinblonden Strähne bis zur Brust hinunter. »Das wäre eine klare Ansage.«

»Eine überflüssige Ansage. Schließlich hat mich der Verräter letzte Nacht in deine Arme getrieben.«

Jake grinste ohne eine Spur von Reue. »Das stimmt.«

Bevor ich antworten konnte, schlang er seine Arme um mich und setzte sich auf. Unsere Lippen berührten sich fast, als wir Brust an Brust saßen. Mir wurde klar, dass ich so schnell nirgendwohin gehen würde. Ich verlagerte das Gewicht von den Knien auf den Po und schlang Jake meine Beine um die Hüften. Bei der Bewegung verdunkelten sich seine Augen.

»Auf keinen Fall«, sagte ich. »Du kannst unmöglich…«

»Nein, noch nicht.« Er drückte mich an sich, flüsterte die Worte auf meinen Mund. »Außerdem müssen wir reden.«

Instinktiv wollte ich flüchten, aber Jake umfasste meinen Nacken und zwang mich, ihn anzusehen. Ich zerrte an seiner Hand.

»Gut, dann fangen wir damit an«, murmelte er mit düsterer Miene. »Warum weichst du ständig vor mir zurück?«

»Ich habe dir gesagt, ich mag es nicht, wenn du mich am Nacken packst. Das ist doch nichts Weltbewegendes.« Und ob es das war. Und Jake wusste das. Er kannte nur nicht den Grund.

Genauso hielt er mich nämlich, wenn er meine ganze Aufmerksamkeit haben wollte. Es war intensiv und mehr als nur irgendwie sexuell. Und ich hatte gedacht, er würde das nur bei mir tun. Dann hatte ich jedoch beobachtet, dass er seine Exfreundin Melissa auf die gleiche Weise hielt, und blöd, wie ich nun mal bin, machte es mir etwas aus. Viel sogar.

»Das glaube ich dir nicht.«

»Nächste Frage.« Ich seufzte und zog seine Hand von meinem Nacken weg.

Jake wirkte darüber nicht glücklich, gab jedoch nach. »Wirst du deinen Eltern von uns erzählen?«

»Nun ja …« Ich grinste frech, wand mich jedoch. »Ich dachte, dass wir vorher erst die Machenschaften eines teuflischen Superhirns aufdecken und du die Welt rettest. Danach müssen sie sich einfach für uns freuen. Sonst wären sie kleinlich.«

Jake massierte mit seinen Fingern meinen Rücken und sagte: »Ich bemühe mich, ernst zu sein, aber das funktioniert nicht, wenn du nackt auf mir sitzt und die Naive spielst.«

»Dann gehe ich mal davon aus, dass mein Job hier beendet ist.« Ich küsste ihn intensiv. Jakes Arme wurden hart wie Stahl. Er zog mich erneut an sich und vertiefte den Kuss mit einem Stöhnen, das köstlich in mir widerhallte…

Ich schlang die Arme um ihn. Jake löste seine Lippen von meinen, packte meine Oberarme und schob mich fort.

Dann sah er mich böse an. »Spiel fair.«

Ich ließ den Kopf hängen. »Warum sollte ich? Du tust es ja auch nicht.«

»Was ist daran unfair, dass ich versuche, mit meiner Freundin zu reden?« Er kniff die Augen zusammen. »Wieso spiele ich in dieser Szene plötzlich die Frauenrolle?«

Lachend fuhr ich ihm mit den Fingern durchs Haar. Ich liebte es, wie er bei meiner Berührung genießerisch die Wimpern senkte. »Das hast du ganz allein geschafft.«

»Ich meine es ernst.« Er drehte den Kopf und küsste mein Handgelenk. »Ich verlange nicht von dir, es deinen Eltern sofort zu sagen. Ich will lediglich wissen, ob du vorhast, irgendwann mit ihnen darüber zu reden. Wir können keine …« Er atmete kraftvoll aus und sah mir in die Augen. »Wir können keine Beziehung aufbauen, bevor du es ihnen gesagt hast.«

»Ich weiß. Und ich werde es ihnen sagen. Es ist nur … so schwierig. Lass mir Zeit.«

»Und wenn du einmal dabei bist, dann erzähle ihnen auch von der Polizeiakademie.« Wieder zog er mich an sich, sein heißer Atem strich über meine Lippen. »Bitte. Es ist dein Leben, Charley. Leb es so, wie du willst. Als wir uns kennenlernten, warst du fest entschlossen, Cop zu werden. Ich weiß nicht, ob ich diese Selbstzweifel verursacht habe. Ob ich schuld bin, dass du plötzlich nicht mehr glaubst, die richtige Entscheidung für dich treffen zu können …« Er neigte den Kopf zurück, sah mich so voller Vertrauen und Liebe an, dass ich hätte dahinschmelzen können. »Hör auf, dir mit Kompromissen Gewalt anzutun. Sie werden es verstehen. Sie lieben dich.«

Als die Sprechblase auf dem Bildschirm meines Laptops erschien, holte ich tief Luft, dachte an Jakes Worte und drückte die Antworttaste.