Marion von Schröder ist ein Verlag
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ISBN 978-3-8437-0431-1

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Übe das Nichtstun,
und es wird Ordnung einkehren.

Lao Tse

1Konstanze eilte im Laufschritt über die Station. Konstanze eilte immer im Laufschritt irgendwohin, weil sich all das, was sie an einem Tag zu bewältigen hatte, nur im Laufschritt bewältigen ließ. Wenn ihre Beine am OP-Tisch stillstanden, übernahmen ihre Hände das Tempo und hantierten virtuos und präzise mit dem Chirurgenbesteck. Innehalten konnte Kon­stanze nur, wenn sie schlief. Doch selbst dann flatterten ihre unruhigen Lider, während sie durch ihre Träume jagte. Der Laufschritt war ihre Art, sich durch die Welt zu bewegen. Und schneller als die Beine liefen Kon­stanzes Gedanken auf ihrer inneren, sich ständig erweiternden To-do-Liste immer schon ein paar Punkte vor­aus, stets bedacht, einen guten Vorsprung zu behalten. Man konnte nie wissen, wofür es gut war. Vorsprung konnte nie schaden. So überholten ihre Gedanken auch jetzt ihre Beine, schnell zum Stationszimmer zur Übergabe, an die zwei Akten denken, Kügler und Lehmann, oder hieß der doch Lohmann?, beide nach Hause mitnehmen, um abends noch die Arztbriefe zu diktieren, auf dem Heimweg Malte und seine zwei Freunde am Fußballplatz abholen, die zwei Freunde nach Hause bringen, unbedingt ans Tanken denken, unbedingt, dann Abendessen einkaufen – das Ende des Flurs war erreicht –, jetzt schnell die Treppe hoch, wenigstens war das gut für die Pomuskeln, ein Fitnessstudio hatte sie schon lange nicht mehr von innen gesehen, wann auch!? Die Rechenhefte für Lotte durfte sie nicht vergessen, und sie brauchte dringend neue Klingen für den Nassrasierer, sie konnte ja schon gar keine Röcke mehr – Hallo, Kollege Lammel! –, sie versuchte freundlich zu lächeln, obwohl der arrogante Fatzke ihr gerade vorhin bei der Visite in die Parade gefahren war, Blödmann, dieser Lammel, den hatte sie noch nie leiden können, ach ja, und die Zutaten für den Kuchen fürs Schulfest. Den Teig könnte sie nach dem Essen anrühren und den Kuchen in den Ofen schieben, bevor sie die Arztbriefe diktierte, und wenn sie sich richtig ranhielt, waren Kuchen und Briefe gleichzeitig fertig, und sie könnte mit Philipp noch ein Glas Wein trinken. Das musste auch mal wieder sein. Sie hatten nie Zeit füreinander. In einer Ehe, in der beide Vollzeit arbeiteten und eine Familie mit zwei Kindern zu managen war, war es wichtig, ab und an wenigstens ein bisschen Quality Time zusammen zu verbringen, den Begriff hatte sie letztens gelesen. Es musste nicht viel Zeit sein, hatte der Autor geschrieben, aber Qualität sollte sie haben. Das kam ihr total entgegen: Zeit hatten sie sowieso nie. Von viel Zeit mal ganz zu schweigen. Wenn man Beruf und Familie erfolgreich miteinander vereinbaren wollte, musste man eben Vollgas geben. Immer. Dann war alles möglich. Käsekuchen oder Muffins, überlegte sie, während ihre energischen Schritte den Gang entlanghallten. Muffins mochten die Kinder, Käsekuchen die Mütter, oder doch etwas mit Obst? Mist, wo war denn ihr Stethoskop? Wo hatte sie es zuletzt … ah, wie dumm, unten im Stationszimmer, ja, da hatte sie es liegen lassen, und der Patient hieß doch Lehmann, den hatte sie nämlich vorhin noch damit abgehört. Sie sah das Stethoskop förmlich vor sich, und dieser blöde Spruch ihrer Mutter sprang ihr in den Sinn, was man nicht im Kopf hat … Sie machte mit Schwung auf dem Absatz kehrt, das musste man eben in den Beinen haben, haha, hetzte die Treppe wieder hinunter, und dann …

… wusste sie eigentlich gar nicht, wieso sie auf dem Rücken lag, über sich ein helles Licht, so hell, dass sie gleich wieder die Augen schloss. »Frau Keller-Stein?«, sagte eine Stimme, und sie schlug die Augen probeweise wieder auf und sah genau in das Gesicht von diesem blöden Lammel. Ausgerechnet der schon wieder. Und was faselte der da?

»Sie ist wach!« Natürlich war sie wach, was denn sonst! »Frau Keller-Stein, Sie hatten einen Unfall mit einem komplizierten Beinbruch, Weber C, wir müssen gleich operieren.«

War das über ihr eine Behandlungslampe? Dieses Ding war ja völlig falsch eingestellt, eigentlich sollten die Lampen nicht blenden, sie musste gleich Bescheid sagen, damit sich jemand darum kümmerte. Weber C? Hatte Lammel eben Weber C gesagt? Sie wusste, was das war, aber Mist, sie kam grade nicht drauf, und bevor sie den Mund öffnen konnte, was ihr irgendwie sehr schwerfiel, schob sich Philipps Gesicht vor die Lampe, und sie hörte endlich auf zu blenden. Er beugte sich zu ihr und lächelte sie auf so eine bestimmte, besorgte Art an, die ihn viel jünger aussehen ließ als sonst, ein Lächeln wie damals, als sie Lotte mit einem Kaiserschnitt holen mussten. Dabei war sie doch gar nicht schwanger? Und dann fielen ihr die Augen wieder zu.

»Du hättest dir den Hals brechen können.« Philipp saß später, nachdem die Operation gut verlaufen und Konstanze wieder völlig wach war, an ihrem Bett, drückte ihre Hand und schüttelte besorgt den Kopf. »Ich möchte gar nicht darüber nachdenken. Nur zwei Schritte weiter, und es hätte nicht nur deine Beine erwischt. Du hattest wieder ein Tempo drauf …«

»Das Krankenhaus ist schließlich kein Ort zum Lustwandeln.«

»Die Treppe musst du dich aber auch nicht gleich runterstürzen.«

»Glaub mir, das war keine Absicht.« Konstanze sah Philipp ungnädig an. Mühsam versuchte sie, trotz des schmerzenden Beines ihre Position zu ändern. Irgendwie tat ihr alles weh, und gleichzeitig fühlte sich alles so fremd und wattig an. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, ihr Gewicht zu verlagern. Doch das half auch nicht wirklich.

Unglaublich, dass das ausgerechnet ihr passieren musste. Als Ärztin im eigenen Krankenhaus die Treppe runterstürzen und sich weiß Gott was brechen. Das waren die Geschichten, die bei jeder Weihnachtsfeier von neuem erzählt wurden und von Jahr zu Jahr lustiger wurden. Sie hegte weder die Absicht, hier die Patientin zu geben, noch stand sie gerne im komischen Zentrum solcher Geschichten, die mit ›Wisst ihr noch, als die Keller-Stein die Treppe runtergeflogen ist‹ anfingen. »Nicht Weber A, nicht Weber B, nein Weber C! Haha. Die macht’s nicht unter hochkompliziert …« Die Rolle als Opfer hatte in dem Rollenrepertoire von Konstanzes Leben nicht vorzukommen. Hilflosigkeit war etwas, das sie – wenn sie ehrlich war – verachtete. Sie war eine Frau der Tat. Immer gewesen.

»Lammel hat gesagt, dass alles gutgegangen ist.«

»Dass ausgerechnet der an meine Beine musste. Der freut sich doch, dass ich hier liege, dieser Kleingeist. Bestimmt hat er mich zum Krüppel gemacht.«

»Du weißt genau, dass Lammel der Beste ist. Sei froh, dass er dich operiert hat.«

»Hören Sie ruhig auf Ihren Mann.« Natürlich war es die Stimme von Lammel, der gerade das Krankenzimmer betrat. »Es wäre schädlich für meinen Ruf, wenn ich eine Kollegin zum Krüppel machen würde, gehen Sie davon aus, dass ich alles tun werde, um meinen Ruf zu wahren.«

Konstanze verdrehte die Augen. »Warum hast du mir kein Zeichen gegeben?«, raunzte sie Philipp an. »Ich entwickle mich noch zum Stationsliebling.«

Philipp seufzte. Seine Frau war eine großartige Ärztin, er vermutete, dass sie im OP besser war als er, besser sogar als die meisten hier, aber auf der Kandidatenliste für den Posten des Stationslieblings stand sie – wenn überhaupt – ohnehin ganz hinten an. Lammel würde sie mit oder ohne diese Bemerkung niemals zum Liebling küren, und alle anderen Kollegen auch nicht. Dafür sorgten schon Konstanzes regelmäßige Vorträge darüber, was man ihrer Meinung nach hätte besser machen können. Und das war meist eine Menge. »Effizienz« war eines ihrer Lieblingswörter. In Konstanzes Abteilung konnte es schon keiner mehr hören.

»Und wie ist Ihre Prognose? Wie lange liege ich hier? Wie lange darf ich das Bein nicht belasten? Wie geht es weiter?«

»Da wir auf Ihre begnadeten Hände in diesem Haus nicht verzichten wollen …«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass hier alles auf einen Beinbruch hindeutet und nicht auf einen Handbruch?«, unterbrach Konstanze ihn ungehalten.

»Das ist mir keineswegs entgangen.« Lammel nickte geduldig. »Aber da Sie weiterhin mehrstündige OPs durchstehen wollen, im wahrsten Sinne des Wortes, ist in Ihrem Fall besonders strenge Reha angesagt. Wir beobachten den Heilungsprozess und gehen erst einmal von ungefähr sechs Wochen ohne jegliche Belastung aus, dann sehen wir weiter.«

Konstanze begriff sofort den Ernst der Lage und sah Lammel direkt an: »Sechs Wochen? Null Belastung? Also Krücken. Und dann?«

Lammel nickte ernst. »Sehr langsame Wiederbelastung, sehr langsame Wiedereingliederung. Ohne konsequente Schonung wird Ihr Bein nie wieder so belastbar wie vorher.«

»Und mit konsequenter Schonung?« Konstanze sah ihn stirnrunzelnd an. »Ehrlich. Bitte«, setzte sie nach, als er für ihr Gefühl einen kleinen Moment zu lange mit der Antwort zögerte. Lammel legte den Kopf schief »Stehen die Chancen gar nicht so schlecht.«

Konstanze schloss die Augen. Gar nicht so schlecht. Das war eine richtig miese Nachricht in vier kleinen harmlosen Wörtern.

»Es wird leider langwierig. Und wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was Ihr Sprunggelenk letztlich abbekommen hat. Kann sein, dass das nicht die letzte OP war. Und Sie wissen um die Entzündungsgefahr.«

Das war unmöglich. Komplett unmöglich. Das ging einfach nicht. Das war ein Witz! Aber irgendwie war das alles nicht witzig. Ganz im Gegenteil. Sie spürte, wie ein Kloß dort wuchs, wo eigentlich ihre Luftröhre saß. Nein. Bitte nicht. Nur jetzt nicht schluchzen. Nicht hier. Nicht vor einem Kollegen in Tränen ausbrechen. Kein Mitleid. Um Gottes willen, alles nur das nicht. Sie atmete konzentriert flach weiter, und es gelang ihr, die Tränen zurückzudrängen.

»Und wie soll das funktionieren?«, fragte sie Philipp, als sie wieder allein waren und sich der Kloß in ihrem Hals zumindest für den Moment halbwegs aufgelöst hatte. »Hier. Und zu Hause. Die Kinder … was ist eigentlich mit den Kindern …? Oh je. Und der Kuchen, ach Gott, ich wollte heute noch so viel –«

»Konstanze …«, unterbrach Philipp sie und nahm ihre Hand in seine, um sie zu beruhigen. »Es wird schon irgendwie gehen.«

»Aber du musst ja noch einkaufen, Lotte braucht morgen Rechenhefte. Oh, und die Arztbriefe, wenn du mir die Unterlagen bringst, kann ich ja vielleicht gerade noch …«

»Die Kinder sind versorgt, alles okay. Und heute wird bestimmt nichts mehr eingekauft. Es ist fast Mitternacht. Wenn wir unbedingt einen Kuchen brauchen, dann wird er gekauft. Und Lotte hat morgen zwar kein Rechenheft, aber eine super Entschuldigung. Ein Notfall in der Familie …«

»Aber«, versuchte Konstanze zu protestieren, doch Philipp verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. »Der Notfall muss versuchen zu schlafen. Du hast eigentlich genug Traumsand bekommen, du solltest schlafen können. Mach dir keine Sorgen, Schatz. Wir kriegen das schon hin. Und ich gehe jetzt nach Hause und schau nach dem Rechten, okay? Morgen früh bin ich wieder da.«

Konstanze schloss seufzend die Augen. Das klang gut, nach dem Rechten sehen klang gut. Und sie war wirklich müde. Sie nickte. »Grüß die Kinder. Du musst aufpassen, dass sie sich keine Sorgen …«

»Ich mach das schon«, versicherte Philipp. »Du schläfst jetzt, hörst auf, dir Sorgen zu machen, und ich übernehme. Okay?«

Nachdem die Tür hinter Philipp ins Schloss gefallen war, fühlte sich das Zimmer plötzlich sehr leer an, und sie merkte, wie elend ihr zumute war. An ihrer Hand war ein Zugang gelegt worden, durch den eine Infusion aus durchsichtigem Schmerzmittel tröpfchenweise in ihren Kreislauf gelangte. Diese Nadel tat weh. Sie erzählte ihren Patienten immer, dass es nicht weh tat. Aber offensichtlich hatte man bei ihr einen Stümper ans Werk gelassen, der es nicht konnte. Neben ihr piepste ein Gerät, und sie schloss die Augen. Sie wollte nichts mehr mitbekommen. Einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Ganze vorbei war. In Konstanzes Ohren klang alles furchtbar, was sie eben gehört hatte. Gar nicht so schlechte Chancen. Diese Formulierung benutzte sie auch immer dann, wenn sie einem Patienten und seinen Angehörigen Mut machen wollte, ohne sich genauer festzulegen. Oder dann, wenn es von vorneherein wenig Sinn machte, allzu zuversichtlich zu erscheinen. Falls es eben doch nicht so auskam, wie erwünscht. Und was hieße das wohl in ihrem Fall? Ein steifes Bein? Humpeln? Gesundheitsschuhe? Dauerschmerz? Nicht mehr lange im OP stehen können? Wie fürchterlich. Ihre Gedanken fuhren in ihrem brummenden Kopf Achterbahn und schlingerten dabei haltlos hin und her. Die Klinik, das Geschnatter der Kollegen, ihre Station, die Arztbriefe, die sie noch diktieren wollte. Sie hatte doch so viel zu tun. Und wenn sie von nun an immer ein Bein nachzog? Wenn Lammel es nicht hinbekam? Und selbst wenn er es hinbekam. Sie fiel auf jeden Fall erst einmal aus. Und es gab so vieles, um was nur sie sich kümmern konnte. Dieses blöde Stethoskop, warum hatte sie es nur liegen lassen. Man sollte es immer bei sich haben. In Zukunft würde sie es immer um den Hals tragen, auch wenn sie es eigentlich bescheuert fand, so herumzulaufen. Herumlaufen, ha, wenn sie das nur erst wieder könnte. Nun hatte sie Schrauben im Bein, und Laufen lag in wochenweiter Ferne. Und die Kinder zu Hause, und der große Wäschekorb im Keller. Sie musste morgen die Putzfrau umbestellen, damit sie öfter kam. Hoffentlich hatte sie Zeit. Ob man sie auch dazu bekommen könnte, Unkraut zu jäten? Bestimmt nicht. Auch die Kinder sahen sich immer an, als wäre sie verrückt, wenn sie sie bat, beim Jäten mitzuhelfen, und Philipp griff sich regelmäßig mit dramatischer Geste in den Rücken und schüttelte mit schlecht gespieltem Bedauern den Kopf. Den Kampf über ihre mühsam gesäuberten Beete würde dieses Jahr also der Giersch gewinnen. Ob die Kinder die Hausaufgaben gemacht hatten? Alleine bestimmt nicht. Hoffentlich dachte Philipp auch daran, das zu kontrollieren. Aber wenn es jetzt schon nach Mitternacht war, hatte das alles sowieso keinen Sinn mehr.

Ihr Mund war trocken, und sie drehte den Kopf zu dem Nachttisch, der neben ihrem Bett stand. Allein davon wurde ihr schon schwindelig. Hoffentlich hatte sie nicht auch noch eine Gehirnerschütterung. Mit ihrem brummenden Kopf und einem entsetzlich trockenen Mund sah sie, dass die Schnabeltasse mit dem kalten Krankenhaus-Hagebuttentee außerhalb ihrer Reichweite stand. Als sie den Tisch – mit dem festen Vorsatz, nicht nach einer Schwester zu klingeln – trotz großer Anstrengung nicht erreichen konnte, um ihn näher zu sich zu ziehen und die blöde Schnabeltasse zu ergreifen, ging ihre gesamte bis dahin an den Tag gelegte Selbstbeherrschung flöten. Der Kloß in ihrem Hals, den sie so diszipliniert weggeatmet hatte, schwoll wieder an, und eine Woge von Selbstmitleid erfasste sie. Die Tränen, die ihr nun hemmungslos über die Wangen strömten, wollten überhaupt nicht mehr versiegen.

2»Jetzt hau endlich ab!! Abgang, ja?! Ich will dich hier nicht mehr sehen!« Jacqueline stand an ihrer geöffneten Wohnungstür und schleuderte wutentbrannt Mikes Jeansjacke ins Treppenhaus. Und alles andere, was Mike gehörte und ihr gerade in die Hände fiel, flog direkt hinterher. Sein Feuerzeug, ein Turnschuh, die Autozeitung, die im Flur lag, die Sonnenbrille, sein Schlüsselbund. Ein Ding nach dem anderen schmetterte sie auf die Stufen, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie die Scherben sowieso selbst würde wegmachen müssen, dann hätte sie seine angebrochene Bierflasche am liebsten auch noch hinterhergeworfen, das wäre ja mal ein richtig tolles Geräusch gewesen. Und sie hätte es ihm gegönnt, wenn das Bier in sein Handy gelaufen wäre, dann hätte diese blöde Laila mit ihren blöden blauen Haaren ihn wenigstens nicht mehr anrufen können, blaue Haare, na, wenn er jetzt auf so was stand, sollte er doch. Aber dann tschüs. Für immer. Die würde schon sehen, was sie davon hatte.

»Raus!« Sie hielt ihm mit einer dramatischen Geste die Tür auf. »Raus. Und zwar jetzt.«

»Ach Mäuschen, das war doch nur …«

»Schluss mit Mäuschen.« Jacqueline blieb knallhart und nickte noch mal Richtung Treppenhaus. »Da lang.«

Mike schaute sie ungläubig an, aber heute schien sie sich wirklich nicht zu beruhigen. Also bewegte er sich zögernd Richtung Wohnungstür, nickte den Kindern, die erschrocken in der Kinderzimmertür standen, noch einmal zwinkernd zu und ging dann betont langsam an der vor Wut bebenden Jacqueline vorbei, die es kaum erwarten konnte, die Tür hinter ihm mit einem lauten Krach zuzuschlagen. Ah, das war das Geräusch, das ihr noch gefehlt hatte. So ein richtig schöner Knall. Kaum war der richtig schöne Knall verhallt, klopfte es von nebenan. »Ruhe!«, tönte es durch die dünne Wand. »Beruhig dich selber!«, rief Jacqueline aufgebracht zurück, atmete einmal tief durch, versuchte, das wilde Zittern zu ignorieren, das von ihrem Körper Besitz ergriff, und ein kleines, zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Dann wandte sie sich zu den Kindern, die sie skeptisch musterten. Sie seufzte. Dann eben nicht. Besser bekam sie es heute nicht mehr hin. »Ihr müsst jetzt schlafen, meine Süßen, ja? Wir vergessen einfach den ganzen Ärger und versuchen alle mal zu schlafen.«

Aufgereiht wie die Orgelpfeifen schauten ihre drei Kinder sie abwartend an. »Warum hast du Mike weggeschickt?«, fragte Nicki sie mit großen Augen. »Und ­warum bist du so böse?« Jacqueline ließ sich neben ihren Kindern auf den Boden sinken, und die zwei kleineren Mädchen krochen sofort zu ihr auf den Schoß und kuschelten sich an sie. Timmi blieb vor ihnen stehen und versuchte, den großen Bruder zu spielen. »Mama ist nicht böse«, erklärte er. »Oder?« Hilfesuchend schaute er seine Mutter an. Jacqueline schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin gar nicht böse. Vor allem nicht auf euch.« Sie drückte der kleinen Mandy einen Kuss aufs Haar und der kleinen Nicki ebenfalls. »Mike hat sich nicht gut benommen. Deshalb will ich ihn nicht mehr sehen.«

»Nie mehr?« Die kleine Mandy schaute Jacqueline entsetzt an. Jacqueline zuckte die Achseln. Timmi zuckte ebenfalls die Achseln. »Schaffst du eh nicht.«

Jacqueline sah ihren Ältesten einen Moment verwundert an, dann sah sie zu Boden. Timmi wusste, dass sie Mike immer wieder reingelassen hatte, egal wie oft sie ihn schon vor die Tür gesetzt hatte. Aber jetzt war Schluss, sie konnte nicht mehr. Was zu viel war, war zu viel. »Ihr geht ins Bett, alles andere besprechen wir morgen. Ich muss hier noch aufräumen. Ab marsch.«

Keines der Kinder widersprach, sie trollten sich ins Kinderzimmer, und Jacqueline beugte sich liebevoll zu jedem Kind für einen Gutenachtkuss, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.

Sobald die Tür zu war, fiel sie in sich zusammen. Verdammt, Mike, dachte sie. Verdammt. Sie wusste genau, dass sie anfällig war für Typen wie ihn. Wenn so ein großer Kerl sie ansah, dann fühlte sie sich gut. So sicher irgendwie. Sie wusste, dass sie sich da immer wieder reinsteigerte, aber sie konnte nicht anders. Es wäre so schön, wenn sie sich mal sicher fühlen könnte. Aufgehoben. Es war ein Gefühl, das sie eigentlich überhaupt nicht kannte. Aber sie träumte davon, mein Gott, wie sie davon träumte, mal keine Sorgen zu haben. Mal nicht alles alleine wuppen zu müssen. Mal jemanden zu haben, auf den Verlass ist. Sie lachte bitter. Da hat die blöde Jacki mal gedacht, sie hätte einen guten Mann gefunden, auf den Verlass ist. Endlich! Nein. Ihr Leben würde sich nie ändern. Niemals. Schmink’s dir ab, Jacki, dachte sie. Sie war müde und leer. Jemand wie sie würde nie einen Guten finden, sie bekam immer nur die halbgaren Typen. Die ihr süßes Zeugs ins Ohr flüsterten, solange sie verknallt waren. Die einem was von Liebe erzählten. Und verdammt, sie hatte ihm geglaubt. Heiße Tränen der Wut schossen ihr in die Augen, und sie wusste nicht, auf wen sie wütender war. Auf Mike, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als mit dieser Laila rumzumachen, während sie vormittags im Discounter an der Kasse gesessen hatte? Oder auf sich selbst? Dass sie so naiv war. Ausgerechnet Laila, mit der sie in der Kneipe manchmal die Schicht tauschte. Laila blieb gern länger, damit Jacki nachts früher nach Hause gehen konnte zu den Kindern und nicht noch den Laden dichtmachen musste nach dem letzten Gast. Jetzt wusste sie ja, warum sie ihr das immer so scheißfreundlich angeboten hatte. Wenn Jacki bei den Kindern war, konnte sie nicht zugucken, wie Laila Mike anmachte. Falsche Schlange. Und sie hatte ihr als Dankeschön letztens sogar noch die Nägel gemacht. Blau. Wie ihre Haare.

Sie kickte einen von Mikes Pullis, der heruntergefallen war, aus dem Weg. Jetzt würde sie nicht mehr aufräumen. Dazu war morgen auch noch Zeit. Sie war zu müde. Streiten machte so furchtbar müde. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie ein Pudding, der gerade aus seiner Form gestürzt war und nun wackelig vor sich hin zitterte und vielleicht doch kurz davor war, auseinanderzufallen. Aber alles, was Mike berührt hatte, musste raus, raus und weg, auf Nimmerwiedersehen. Sie warf alles, was im Bad von ihm herumstand, in eine Mülltüte, stopfte sein Handtuch dazu, und das Bettzeug würde auch gleich in dem Müllsack landen. Raus mit Mike, raus, weg, Abgang, für immer. Sie bückte sich, um mit einer schnellen Bewegung die Bettwäsche abzuziehen, und erstarrte. Ein gellender Schmerz schoss in ihren unteren Rücken. Ihr wurde fast schwarz vor Augen. So einen Schmerz hatte sie noch nie erlebt, verdammt, was war das denn jetzt? Vorsichtig versuchte sie, sich mit der Hand auf dem Bett abzustützen. Es ging weder vor noch zurück. Keinen Zentimeter. Ihr reichte es so was von. War das immer noch nicht genug für heute? Was für ein absoluter Scheißtag. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwie abzustützen, doch jede kleinste Gewichtsverlagerung tat höllisch weh. Und was nun? Panik ergriff sie. Musste sie jetzt die Nacht vornübergebeugt im Stehen verbringen, oder was? Dabei wollte sie nur noch ins Kissen fallen, um sich in den Schlaf zu heulen. Hoffen, dass morgen alles wieder gut war. Der Rest ein böser Traum. Noch nicht mal Mike konnte sie nun um Hilfe bitten. Der stand in der Kneipe bei der blauhaarigen Laila und suchte ein Bett für die Nacht. Passte ja alles super. Und sie hier ganz allein und konnte sich nicht rühren. Vorsichtig drehte sie den Kopf, ob sie ihr Handy irgendwo entdeckte. Das steckte wahrscheinlich noch in ihrer Jacke im Flur. Weit weg. Da kam sie niemals dran. Ob ihre Nachbarn sie hören könnten? Die Wände waren ja dünn genug.

»Hilfe«, rief sie einmal testweise. »Hilfe!!« Sie warf ihre Uhr an die Wand und wartete. Stille. Idioten. Wenn sie eine Tür zuschlug, war das Geschrei groß. Aber wenn sie mal Hilfe brauchte, waren die natürlich taub. Verdammt. Vielleicht ging das ja auch ganz schnell vorbei? Bestimmt hörte das gleich wieder auf. Manchmal verrenkte man sich doch plötzlich, und dann renkte sich alles wieder ein. Zack. Aber hier gab es kein Zack. Überhaupt gar keins. Im Gegenteil, der Schmerz zog immer weiter, bis ins Bein sogar. Irgendwann wusste sie gar nicht mehr genau, wo der Schmerz eigentlich anfing und wo er aufhörte.

Als sie viel später einen Schlüssel hörte, der sich vorsichtig im Schloss drehte, und Mike dann plötzlich erschrocken vor ihr stand, dieser Typ hatte doch echt den Schlüssel mitgenommen, so ein Idiot, da war sie so froh, ihn zu sehen, dass sie ihn vielleicht sogar angelächelt hätte, wenn es ihr irgendwie möglich gewesen wäre zu lächeln.

3»Das ist nicht Ihr Ernst!?« Konstanze schaute die Dame, die ihr gegenüberstand, fassungslos an. Frau Unterkofer, Empfang, stand auf einem Schildchen, das an einer pinken Bluse steckte. Sehr unvorteilhafte Farbe, dachte Konstanze, während sie beobachtete, wie sich auf Frau Unterkofers Hals hektische rote Flecken ausbreiteten. Sie wuchsen aus ihrem Kragen heraus und wucherten allmählich Richtung Kinn und Ohrläppchen. Konstanze verspürte nicht ein Quäntchen Mitleid. Im Gegenteil, am Empfang sollte man schon aushalten können, dass eine Kundin verlangte, was ihr zustand. Das und nichts anderes war hier der Fall.

»Mir wurde ein Einzelzimmer zugesichert, sonst wäre ich überhaupt nicht hier. Ich bin Privatpatientin.« Konstanze machte eine kleine dramaturgische Pause, doch Frau Unterkofer reagierte überhaupt nicht darauf. Sie blickte starr in den Computer, während die Flecken auf ihrem Hals sich zu einem immer tieferen Dunkelrot verfärbten.

»Und ich bezahle seit Jahren monatlich viel Geld dafür, dass ich ein Einzelzimmer bekomme, falls einmal der Tag eintreten sollte, an dem ich ein Einzelzimmer brauche«, fuhr Konstanze fort. »Und dieser Tag ist heute. Ich bestehe auf einem Einzelzimmer.«

»Aber ich habe hier keins mehr …«

»Dann sorgen Sie eben dafür, dass Sie gleich eins für mich haben. Ich warte gerne.«

»Aber es muss einen Fehler gegeben …«

»Fehler sind dazu da, dass man sie beseitigt. Sie schaffen das schon, wir alle wachsen mit unseren Aufgaben.«

Oh Gott, Frau Unterkofer fing auch noch an, mit der linken Hand an ihrem Hals herumzukratzen, während sie mit der rechten hektisch an ihrem Computer auf- und abscrollte und dabei immer schwerer atmete.

»Die Belegungszentrale macht das eigentlich alles, und ich kann da gar nichts …«

»Dann haben Sie doch bitte die Güte und rufen Sie die Belegungszentrale an. Und hören Sie auf zu kratzen. Das macht es nur noch schlimmer.« Das war ja nicht zum Aushalten. Wie konnte man denn nur eine derart hilflose Person an den Empfang setzen? Von Stressresistenz keine Spur.

Frau Unterkofer schaute Konstanze betreten an und ließ die Hand sinken.

»Das ist die Frau Rother, und die hat Urlaub.«

»Und wer vertritt Frau Rother, wenn sie in Urlaub ist?« Musste man dieser Frau denn alles aus der Nase ziehen?

»Eigentlich die Frau Sämann.«

»Eigentlich …?«

»Aber die ist die ganze Woche schon krank.«

»Und ich vermute, es gibt keine Vertretung für Frau Sämann?«

»Richtig.« Frau Unterkofer nickte bekräftigend, und Konstanze seufzte. Wo war sie bloß hingeraten? Hier mussten anscheinend erst einmal klare Fakten geschaffen werden.

»Dann möchte ich sofort mit der Klinikleitung sprechen.«

»Nach vier ist die Leitung eigentlich nicht mehr im Haus.«

»Und uneigentlich?«

Frau Unterkofer sah Konstanze verständnislos an. »Der Chef ist ja auch schon morgens früh da. Sehr früh.«

Konstanze fiel es schwer, ruhig zu bleiben. Es war inzwischen fünf vor vier. Als sie ankam, war es noch nicht einmal halb vier gewesen. Da hätte man den Chef noch erwischt.

»Und wenn es einen Notfall gibt, wo rufen Sie dann an?«

»Wir haben hier keine Notfälle«, antwortete Frau Unterkofer seelenruhig. »Und irgendwann muss mal Feierabend sein. Auch für den Chef.«

»Und wenn die Klinik abbrennt?«

»Da kann der Chef dann auch nix dran ändern. Da rufen wir eher die Feuerwehr. Die weiß auch ohne den Chef, was zu tun ist.« Allmählich bekam Frau Unterkofer wieder Oberwasser und trat die Flucht nach vorn an. »Und Sie müssen sich jetzt einfach bis morgen gedulden. Da müsste die Frau Sämann wieder im Haus sein. Wenn sie sich nicht erneut krankmeldet. Hier sind Ihre Papiere, ich rufe eine Schwester, die zeigt Ihnen Ihr Zimmer. Und solange können Sie gerne da vorne Platz nehmen.« Frau Unterkofer deutete auf eine Sitzgruppe in der Mitte des Foyers. »Da können Sie auch Ihr Bein etwas hochlegen«, fügte sie gönnerhaft hinzu. »Tut bestimmt weh nach der Fahrt. Da ist man dann schon mal etwas gereizt. Sie werden sehen, der Aufenthalt hier wird Ihnen guttun.«

Konstanze humpelte entnervt zu der Sitzgruppe aus schwarzem Leder, die zwischen den unvermeidlichen riesigen Übertöpfen mit Yuccapalmen und Ficus benjamini in Hydrokultur stand und vergeblich versuchte, repräsentativ und einladend zugleich zu wirken. Was sollte ihr hier schon guttun? Eine Rehaklinik war wirklich das Letzte, was sie von innen sehen wollte. Der Sturz, die OP und der anschließende Krankenhausaufenthalt mit Liegegips waren schon schlimm genug gewesen. Dann hatte sie es wenigstens zu einem Liegegips zu Hause gebracht, es dafür jedoch aushalten müssen, dass ihre Mutter Gisela um sie herumsprang und alles für sie zu regeln versuchte. Natürlich war es nett von ihrer Mutter gewesen, gleich zu kommen. Aber elf Tage Gisela und kein Fluchtweg, weil selbst ein Ausflug ins Badezimmer schon minutiös geplant und nicht alleine bewältigt werden konnte: Nein, das war wahrhaftig kein Zuckerschlecken gewesen. Kon­stanze hatte sogar schon begonnen, sich auf die Reha zu freuen. Ihrer Mutter gelang es offensichtlich nicht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihre Tochter mittlerweile selbst eine erwachsene Frau war, und zwar eine, die all ihre wohlgemeinten Ratschläge weder benötigte noch wünschte. Es hatte Konstanze fast in den Wahnsinn getrieben, als ihre Mutter ihr täglich berichtet hatte, was sie alles verbessert hatte, in ihrem Haushalt. Das hatte bei den Küchenschubladen angefangen und vor ihrem Kleiderschrank nicht haltgemacht. »Mama! Ich hab alles im Griff! Lass. Es. Sein. Bitte.«

Dieser Aufforderung war ihre Mutter nicht nachgekommen, sie hatte sie im Gegenteil mit harmonisierendem Tee und Frauenzeitschriften versorgt und freudig geflötet, sie solle sich doch mal verwöhnen lassen und ein wenig entspannen.

Entspannen! Sie wollte sich nicht entspannen! Sie wollte, dass alles wieder so war wie vorher! Sie wollte funktionieren! Und jetzt noch das. Ein Doppelzimmer.

›Der Aufenthalt wird Ihnen guttun.‹ Das war das gleiche Geflöte, das sie nun fast zwei Wochen lang von ihrer Mutter gehört hatte. Das stand ihr schon Unterkante Oberlippe. Was Konstanze wollte, war, möglichst schnell wieder möglichst fit zu werden. Sie hoffte sogar, durch besonders gewissenhaftes Training vielleicht schon nach nur zwei Wochen nach Hause fahren zu können. Lammels Prognosen hin oder her. Lammel war auch nicht allwissend. Selbst wenn er immer so tat als ob. Philipp hatte fünfzigmal gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, er würde das alles prima schaffen. »Drei Wochen kriegen wir das auch ohne dich hin!« Sein zuversichtliches Lächeln in Ehren: Sie kannte ihren Mann! Und deshalb war sie nicht ganz so zuversichtlich wie er. Er hatte bestimmt von der Hälfte der Sachen, die sie tagtäglich bewältigte, nicht den blassesten Schimmer, und sie wollte gar nicht wissen, wie er es morgens schaffen wollte, dass alle pünktlich, satt und in halbwegs sauberem Zustand das Haus verließen.

Am liebsten würde sie sich ein Taxi rufen lassen und nach Hause fahren. Sich um alles kümmern. Und erst wieder herkommen, wenn ihr Einzelzimmer bezugsfertig war. Oder überhaupt nicht wiederkommen. Einen richtig vertrauenerweckenden Eindruck machte diese Klinik nicht. Wenn es schon am Empfang scheiterte. Hoffentlich waren die Ärzte und die Physiotherapeuten kompetenter als die Belegungsabteilung. Als sie seufzend ihr schmerzendes Bein auf das Sofa zog und den Oberschenkel des anderen, momentan sehr beanspruchten Beins mit beiden Händen leicht massierte, dachte sie, dass dieser Lammel vielleicht doch recht hatte. Auch wenn sie es ungern zugab: Sie musste aufpassen. Heute hatte sie das Bein durch die Reise mehr beansprucht als die Tage zuvor. Philipp hatte sich freinehmen wollen, um sie durch halb Hessen hierher zu fahren, aber das hatte sie abgelehnt. Er hatte schließlich genug anderes zu tun, und sie musste sich daran gewöhnen, alleine zurechtzukommen. Sie hatten den Koffer mit der Bahn vorgeschickt, Philipp hatte sie in Frankfurt zum Zug gebracht, von wo aus sie mit Regionalzügen durch halb Hessen gegondelt war. Kon­stanze wäre nun durchaus in der Lage, einen kleinen Vortrag über die Unterschiede der behindertengerechten Zugänge mittelhessischer Regionalbahnhöfe zu halten. Falls dies irgendjemanden interessieren würde. Aber es interessierte ja noch nicht einmal sie selbst. Was sie interessierte, war nur eines: Ihr Bein musste möglichst schnell heil werden, damit sie wieder die Treppen hochsprinten könnte. Wenn sie also auch noch so gerne zurück zum Empfang gehumpelt wäre, um diese rosarote Frau Unterkofer zu bitten, ihr ein Taxi zu bestellen, blieb sie sitzen. Sei vernünftig, redete sich Konstanze zu, und bleib hier. Es war der effizienteste Weg, in kürzester Zeit größtmögliche Fortschritte zu machen. Sie würde das hier durchziehen. Doppelzimmer oder nicht. Vernunft war – gleich neben Effizienz und Disziplin – eine von Konstanzes großen Lebensüberzeugungen. Sie hielt nicht viel davon, sich das Leben durch emotionale Aufs und Abs zu verkomplizieren. Mit Vernunft, Disziplin und Effizienzdenken war sie immer am weitesten gekommen.

4Als Jacqueline ihr Zimmer betrat, blieb ihr der Mund offen stehen. »Das ist ja wie im Hotel!«, entfuhr es ihr. Strahlend drehte sie sich zu der Schwester, die sie zu ihrem Zimmer geführt hatte. Am liebsten hätte sie einen Luftsprung gemacht. Oder sich aufs Bett geworfen. Oder einen Freudentanz aufgeführt. Aber solche Bewegungen waren überhaupt nicht erlaubt. Und das würde noch eine ganze Weile so bleiben, so viel hatte sie schon kapiert.

Jacqueline, die sich schon immer viel zumutete, zu viel, und der festen Überzeugung war, dass sie aus einer Sorte Holz geschnitzt war, die alles aushielt, war in den letzten Wochen eines Besseren belehrt worden. Sie hielt viel aus. Aber nicht alles. Und vor allem ihre Bandscheiben nicht. Sowohl die Bandscheibe, die zwischen dem Lendenwirbel Nummer 2 und 3 ihrer Wirbelsäule saß, als auch die Bandscheibe, die zwischen Lendenwirbel Nummer 3 und Lendenwirbel Nummer 4 saß, hatten genau in dem Moment, in dem sie nach dem Streit mit Mike das Bett abzog, ziemlich gleichzeitig beschlossen, ihren gemütlichen Platz zwischen den Wirbeln zu verlassen und stattdessen einen Ausflug zur Seite zu machen. Deshalb war es für Jacqueline dann so ungemütlich geworden. Der Arzt hatte ihr das noch am gleichen Abend in der Notaufnahme anhand des Röntgenbildes ihrer Wirbelsäule erklärt. Und weil es im Rücken eigentlich wenig Platz für solche seitlichen Ausflüge gab, waren die Bandscheiben dann dummerweise gegen Nerven gedrückt worden. Das hätte die Schmerzen verursacht. Und die hatte sie deutlich gespürt. Trotz der Spritzen, die sie gleich bekommen hatte. Weil die Bandscheiben keine Anstalten machten zurückzuwandern, hatte sie dann unters Messer gemusst. Das hatten sie davon, die Ausreißer. Und sie hatte nun zwei Bandscheiben weniger. Das fand Jacqueline nicht wirklich schlimm, auch die Operation, die Schmerzen, die Unbeweglichkeit: Das alles war lange nicht so schlimm wie die Tatsache, dass sie ihre Kinder so lange alleine lassen musste. In der Nacht, in der Mike sie ins Krankenhaus gebracht hatte, war er in ihre Wohnung zurückgefahren, um da zu sein, falls eines der Kinder aufwachte. Da hatte sie es gerade geschafft, ihn rauszuschmeißen und ihren Stolz zu wahren, da musste sie ihn schon wieder bitten, ob er nicht doch bei den Kindern bleiben würde. Ganz gönnerhaft hatte er gegrinst und genickt. »Mach ich, Süße, ist doch klar.« Die Kinder waren es zwar gewöhnt, dass sie nicht immer zu Hause war, bei ihren vielen Minijobs ging das ja gar nicht anders, aber dass sie nachts nicht da war, dass sie morgens nicht da war und auch nicht kam, um ihnen Frühstück zu machen, das war noch nie vorgekommen. Und das sollte eigentlich auch nicht vorkommen. Das war nicht geplant. Diese ganze Bandscheibensache war nicht geplant, und dass Mike sich nun als Retter in der Not aufspielen konnte, war noch weniger geplant. Während sie im Krankenhaus operiert wurde, war er bei den Kindern geblieben. Die beiden Mädchen hatte er in null Komma nichts links und rechts um den kleinen Finger gewickelt, die tönten nur noch von ihrem lieben Mikie, der sie Gummibärchen frühstücken ließ, und sie konnte nichts anderes machen, als freundlich zu lächeln. Timmi blieb skeptisch. Da wickelte sich gar nichts. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Wenn die Kinder sie zusammen im Krankenhaus besuchen kamen, stand Timmi immer an ihrem Bett und schaute sie an. Der Blick aus seinen großen Augen erschreckte sie manchmal richtig, er konnte schon so erwachsen gucken. Und sie sah, was er dachte: »Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du das nicht schaffst, Mike rauszuwerfen.« Ja, und!, hätte sie ihm am liebsten laut auf seinen stummen Vorwurf entgegnet. Was hätte sie denn tun sollen? Die Kinder auf drei Pflegefamilien verteilen? Wäre das besser gewesen? Was war denn schließlich wichtiger, ihr Stolz oder dass es den kleinen Mäusen gutging? Blöde Frage. Natürlich konnte Timmi so weit noch gar nicht denken. Trotzdem hatte sie immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn er sie so ansah.

Dieses Zimmer war jedenfalls voll in Ordnung. Hatte sogar einen Balkon. Sie wünschte, sie könnte es Timmi zeigen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zweites Bett. Wäre das schön, wenn sie die Kinder mit hierher nehmen könnte. Das wäre doch wie Urlaub für die Kleinen. Sie würden sich schon zusammen in die zwei Betten knäueln können.

Die Schwester schaute sie kurz an. »Bandscheibe, oder?« Als Jacqueline nickte, hievte sie deren Tasche auf den Tisch, damit Jacqueline sich beim Auspacken nicht bücken musste, und legte ihr einen ganzen Stapel Zettel aufs Bett.

»Ach du liebe Zeit«, stöhnte Jacqueline. »Da brauch ich ja schon drei Wochen, bis ich diese ganzen Romane durchhab!« Die Schwester sah sie fragend an. Als ­Jacqueline auf die Zettel deutete, lachte sie. »Das sind einmal die Speisepläne für diese Woche mit den Essenszeiten und die Liste der Termine, die Sie morgen bei verschiedenen Ärzten und Mitarbeitern haben für die ersten Gespräche, hier ist das Infoblatt mit den Öffnungszeiten des Schwimmbades, des Fitnessraums und der Bibliothek, des Kiosks, der Cafeteria und des Computerraums, und dann – und die Liste gibt es jede Woche neu – die Termine mit all unseren Freizeitangeboten und den Veranstaltungen. Die Ärzte sagen Ihnen, woran Sie teilnehmen können und womit Sie besser noch warten. Und ganz wichtig«, sie deutete auf ein hellblaues Blatt: »Ein Wegweiser! Damit Sie im Haus nicht verlorengehen. Später bekommen Sie auch noch Gesellschaft. Es gab einen Buchungsfehler, und deshalb wird später eine nette Dame hier bei Ihnen einziehen.«

»Super! Langweilig wird es anscheinend nicht!«

Als die Schwester lächelnd die Tür hinter sich zugezogen hatte, wollte Jacqueline sich am liebsten erst mal aufs Bett setzen, um sich auszuruhen – nein, halt, nicht hinsetzen, hinlegen –, aber sie beschloss, erst auszupacken. Was man hat, das hat man. Sie war noch nie dafür gewesen, etwas aufzuschieben, was man auch gleich erledigen konnte. Timmis Blick fiel ihr wieder ein, während sie den Reißverschluss ihrer Leopardentasche mit den Glitzerbeschlägen öffnete und begann, Stück für Stück in den Schrank zu räumen. Die Mike-Sache war echt eine Ausnahme, die musste ja nun einfach aufgeschoben werden. Im Moment konnte sie mit ihm gar nichts klären. Wie sollte das denn sonst alles gehen? Sie hier in Kur für den Rücken und niemand bei den Kindern? Er musste erst mal bleiben. So einfach war das. Sie legte ihre T-Shirts ordentlich übereinander in das leere Fach und fand, dass die bunten Farben den leeren Schrank richtig heimelig machten. Das pinke Hemdchen mit den Strassblumen musste neu gefaltet werden, sie wollte nämlich gerne, dass der Strass sie anfunkelte, wenn sie die Schranktür öffnete. Sie strich alles schön glatt und machte sich daran, die Hosen aufzuhängen. Sie hatte noch ihre gute Jeans und ansonsten zwei Paar Leggings mit. Der Arzt hatte gesagt, Sportsachen würden völlig ausreichen, in der Klinik liefen sicher alle den ganzen Tag in Sportsachen herum, man würde ja sowieso ständig irgendwo turnen. Haha, Sportsachen, als ob sie so etwas besäße. Wusste der Typ eigentlich, was die kosten? Ihre Leggings müssten es schon tun. Mehr war nicht drin. Der Verdienstausfall war schon hart genug. Sie wurde schließlich nur bezahlt, wenn sie auch arbeitete. Kein Zeitungsaustragen, kein Stundenlohn. Keine Stunden beim Discounter an der Kasse, kein Stundenlohn. Keine Kunden zum Nägelmachen, keine Einkünfte. Keinen Abend in der Kneipe, kein Stundenlohn, und auch kein Trinkgeld. Sie war so gut wie bankrott. Die letzten zwei Wochen hatten sie schon komplett aus dem Sparschwein bestreiten müssen, das eigentlich für Notfälle bestimmt war. Notfälle wie eine kaputte Waschmaschine oder eine Klassenfahrt von Timmi. Und nicht Notfälle wie sie selbst. Und dann noch das blöde Tagegeld, das man im Krankenhaus zahlen musste. Das wäre genau Timmis Klassenfahrt gewesen. Sie legte die Leggings ebenfalls auf einen Stapel neben die bunten T-Shirts und wandte sich wieder zur Tasche. Da blinkte sie etwas Türkises an, das sie nicht kannte. Als sie es herauszog, entpuppte es sich als eine nagelneue Jogginghose. Ein Zettel fiel aus der Hose und flatterte zu Boden. Sie musste sich bücken, halt, nein, nicht so wie sonst, einfach die Arme runter zum Boden strecken. Erst denken, dann bücken. In die Knie gehen, Rücken gerade lassen, Bauch einziehen, leicht nach vorne beugen. Sie angelte sich den Zettel und las ihn auf dem Boden hockend.

Libe Mama, die ist führ dich, damitt du in der Glinik Spoht­sachen zum Anzien hast. Dein Timmi

In Jacquelines Augen brannte es. Dieser Junge. Was für ein Spinner. So ein Unfug. Sie schüttelte den Kopf. Also, das war ja wirklich einer, der Timmi. Und so eine schöne Farbe, er wusste ganz genau, wie gerne sie Türkis mochte. Sie lehnte sich in der Hocke gegen die Schranktür. Der Gedanke an ihre Kinder und an Timmi ganz besonders schnitt ihr ins Herz. Der Junge wusste, wie es war, wenn man nicht dazugehörte, weil man nicht die richtigen Sachen hatte. Sie sah sein Gesicht genau vor sich, wie er geschaut hatte, als er sie im Krankenhaus besucht und sie ihm erklärt hatte, dass sie noch einmal für länger wegmusste. Er war so tapfer gewesen. Sie hatte es genau gesehen, wie er kämpfen musste, weil sie nicht merken sollte, wie enttäuscht er war, dass sie nicht gleich nach Hause kommen würde. Dann hatte sie ihm erzählt, was der Arzt gesagt hatte, dass sie in der Reha viel Sport machen musste, und dass sie kein Geld hatten für extra Sportsachen. Sie betrachtete die Hose, die sie in der Hand hielt. Hoffentlich hatte er sie nicht geklaut. Wo er das Geld bloß herhatte? Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Herrje, jetzt aber Schluss mit dem Geflenne. Sie versuchte sich aufzurichten, aber sie kam gar nicht mehr hoch. Es war echt schwer, wenn man nicht mehr das Gefühl hatte, sich richtig auf seinen Rücken verlassen zu können. Sie ließ sich nach vorne fallen und zog sich an der Tischkante hoch. Sobald sie stand, öffnete sie ihre Jeans, um gleich die neue Jogginghose anzuziehen, und die Tränen liefen ihr noch immer über die Wangen. Ach, sie vermisste die Kinder so sehr. Was hätte sie dafür gegeben, sie jetzt alle an sich drücken zu können. Als sie es geschafft hatte, aus der Jeans zu steigen, schlüpfte sie in die türkise Hose und blieb auf halber Strecke stecken. Die war echt klein, die Hose. Viel zu klein! Vorsichtig dehnte sie den Stoff etwas und zog sie so hoch es ging, ohne dass etwas einriss, der Stoff war weich, der würde sich bestimmt noch mehr dehnen. Aber Mannomann, die Hose schnürte ihr ganz schön den Bauch ab, und im Spiegel sahen ihre Oberschenkel aus wie die eines Elefanten. Jogginghosen sollten ja eigentlich locker sitzen. Die hier war jedenfalls enger als ihre Tigerleggings, und das wollte was heißen. Und darüber legte sich ihr orangefarbenes T-Shirt eng über jeden einschnürenden Gummizug. Das sah ja echt witzig aus. Zum Glück sah sie keiner. Hatte sie denn so zugenommen? Sie schielte auf das Schild, auf dem die Größe stand. Es war eine Mädchenhose. Größe 164. Kein Wunder, dass die Hose knapp war!

Und genau in diesem Moment klopfte es an der Zimmertür, und die Schwester steckte den Kopf herein, während sie einen Rollkoffer ins Zimmer schubste. »Können wir grad stören? Hier ist ihre neue Mitbewohnerin! Darf ich vorstellen, das ist Frau Holter und hier haben wir Frau Keller-Stein. So, die Damen, viel Spaß beim Kennenlernen. Um fünf kommen Sie bitte ins Foyer für die allgemeine Begrüßung der Neu­zugänge und der Hausführung, danach werden Sie direkt zum Speisesaal gebracht, da gibt’s dann Abendessen!« Die Tür fiel hinter der Schwester ins Schloss, und Konstanze und Jacqueline standen sprachlos voreinander.