Über das Buch
Kommissar Fabian Risk kehrt nach Jahren in Stockholm zurück in seine beschauliche südschwedische Heimatstadt Helsingborg. Doch noch bevor er und seine Frau die Umzugskisten öffnen können, bitten ihn seine neuen Kollegen in einem Mordfall um Hilfe. Ein Mann wurde geradezu hingerichtet, seine Hände abgehackt. Risk kennt das Opfer. Und das ist erst der Beginn einer brutalen Mordserie. Bald taucht der nächste Tote auf. Auch diesmal grausam verstümmelt. Alle Opfer gingen in Risks Klasse. Ein alter Schulfreund nach dem anderen stirbt.
Fabian Risk wird von einem starken Team unterstützt. Aber er kann es nicht lassen, auf eigene Faust zu recherchieren, obwohl er damit nicht nur sich selbst in Gefahr bringt. Der Mörder ist ihm immer einen Schritt voraus, die Spur führt schließlich sogar quer über den Öresund. Unterstützt von der dänischen Polizistin Dunja Hougaard, kommen die Schweden der Identität des Mörders immer näher– doch dann ist plötzlich Fabian Risk verschwunden …
Über den Autor
Stefan Ahnhem, geboren 1966, ist ein bekannter schwedischer Drehbuchautor, unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe.
Er lebt mit seiner Familie in Stockholm. Und morgen du ist sein Romandebüt und der erste Teil einer Krimiserie um den Kommissar Fabian Risk
Stefan Ahnhem
Und morgen du
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen
von Katrin Frey
List
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel Offer utan ansikte
bei Forum, Stockholm
List ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-8437-0928-6
© 2014 by Stefan Ahnhem
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
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Teil 1
30. Juni – 7. Juli 2010
Im Herbst 2003 führte der Psychologe Kipling D. Williams ein Experiment zu sozialer Ächtung durch. Drei Versuchspersonen sollten miteinander Cyberball spielen, ein virtuelles Ballspiel. Nach einer gewissen Zeit warfen sich zwei der Spieler den Ball nur noch gegenseitig zu. Nicht ahnend, dass die beiden anderen Spieler computergeneriert waren, fühlte sich der dritte extrem ausgegrenzt. Im MRT ließ sich eine erhöhte Aktivität derselben Hirnregion wie bei rein körperlichem Schmerz nachweisen.
PROLOG
In drei Tagen.
Er wurde von einer Krähe geweckt, die auf seinem nackten Bauch landete und ihre scharfen Krallen in seine Haut hieb. Anfangs hatte sie jedes Mal, wenn er aufwachte, erschrocken das Weite gesucht. Jetzt nicht mehr. Sie trampelte immer ungeduldiger und gieriger auf ihm herum. Bald würde sie sich nicht mehr abschrecken lassen und ihn Stück für Stück zerhacken.
Er schrie laut auf, und sie ließ von ihm ab und flatterte krächzend davon.
Er wusste nicht mehr, seit wie vielen Tagen er hier lag. Anfangs dachte er noch, er befände sich in einem Alptraum und alles würde wieder gut, wenn er nur aufwachte. Aber als er die Augen aufschlug, sah er nichts als Dunkelheit.
Seine Augen waren verbunden. Nur an der milden Brise erkannte er, dass er sich unter freiem Himmel befand. Er lag nackt auf etwas Kaltem und Hartem. Mit ausgestreckten Gliedmaßen wie auf einer Zeichnung von Leonardo da Vinci. Mehr wusste er nicht. Der Rest waren unzählige Fragen. Wer hatte ihn hierhergebracht? Und warum?
Die Hoffnung, Antworten auf seine Fragen zu bekommen, hatte er aufgegeben.
Er versuchte erneut, sich loszureißen, doch je kräftiger er zog, desto tiefer bohrten sich die Dornen an den Riemen in seine Hand- und Fußgelenke. Der schneidende Schmerz erinnerte ihn an die Qualen, die er mit neun Jahren durchgemacht hatte, als der Zahnarzt ihm nicht glauben wollte, dass die Betäubungsspritze nicht wirkte.
Doch das war nichts im Vergleich mit dem unerträglichen Schmerz, der regelmäßig wiederkehrte. Ein Brennen, das wie ein Schweißgerät in ihn eindrang und sich langsam über seinen nackten Körper bewegte. Stundenlang. Gelegentlich hörte der Schmerz kurz auf, setzte aber genauso plötzlich wieder ein. Manchmal blieb er ganz aus. Er versuchte herauszufinden, was ihn verursachte, ob ihn jemand folterte, aber es gelang ihm nicht. Am Ende konzentrierte er sich nur noch darauf, die Qualen zu ertragen.
Als wieder eine Stunde vergangen sein musste, rief er so laut wie möglich um Hilfe. Er war verblüfft, wie kläglich sein Schrei klang, und bemühte sich um mehr Kraft und Tiefe in der Stimme. Nichts. Nur das Echo seiner eigenen Verzweiflung. Er gab es auf. Ihn hörte sowieso niemand. Außer den Vögeln.
Wie schon so oft ging er im Geiste durch, was passiert war. Hatte er vielleicht ein Detail übersehen?
Er hatte morgens um kurz nach sechs das Haus verlassen, eine gute Dreiviertelstunde vor Dienstbeginn. Wie immer bei gutem Wetter ließ er das Auto stehen. Der Spaziergang durch den Bibliothekspark dauerte höchstens zwölf Minuten, er hatte reichlich Zeit.
Kaum trat er zur Haustür hinaus, verspürte er eine gewisse Unruhe. So stark, dass er stehen blieb und seinen Blick durch die Umgebung streifen ließ. Doch alles schien zu sein wie immer.
Der Nachbar versuchte geduldig, seinen rostigen Fiat in Gang zu bekommen, und eine Frau mit schönen blonden Haaren fuhr auf einem Hollandrad vorbei. Ihr Rock flatterte im Fahrtwind, und den Fahrradkorb hatte sie mit Plastikmargeriten geschmückt, als wollte sie ein bisschen Freude in der Welt verbreiten.
Er selbst war dafür nicht empfänglich. Die Nervosität ließ ihn nicht los, er ging schneller und schneller und überquerte die Straße bei Rot. Das machte er sonst nie. Doch heute Morgen war alles anders, sein gesamter Körper stand unter Anspannung. Im Park war er hundertprozentig überzeugt. Er wurde verfolgt. Die Schritte im Kies klangen nach Turnschuhen. Seine eigenen Absätze machten viel lautere Geräusche.
Als ihm bewusst wurde, dass er schneller geworden war, drosselte er sein Tempo wieder. Die Schritte hinter ihm kamen näher, er unterdrückte den Impuls, einen Blick über seine Schulter zu werfen.
Sein Puls stieg, kalter Schweiß brach ihm aus. Er glaubte, ohnmächtig zu werden, und drehte sich schließlich doch um.
Der Mann, der auf ihn zukam, trug tatsächlich Turnschuhe. Schwarze von Reebok. Seine dunkle Kleidung hatte viele Taschen. Sein Rucksack war vollgepackt, und in der Hand hielt er einen Lappen. Erst als der Mann aufblickte und ihm in die Augen sah, sah er sein Gesicht.
Dann ging alles ganz schnell. Der Faustschlag traf ihn mitten auf den Solarplexus, und der Schmerz schoss in alle Nervenfasern seines Körpers. Nach Luft ringend, ging er zu Boden und spürte, wie ihm der Lappen aufs Gesicht gedrückt wurde.
Er erwachte erst wieder von den Klauen, die sich in seinen Bauch bohrten.
Hoch über ihm verdeckte eine einsame Schäfchenwolke die Sonne und bot ihm so viel Schutz wie eine Burg aus Sand. Als sie weiterzog und sich schließlich ganz auflöste, war der Himmel von einem so perfekten Blau, wie es nur der schwedische Hochsommer hervorbringt. Die Sonne schien jetzt mit voller Kraft auf die genau platzierte Linse, die ihrerseits alle Strahlen auf einen einzigen Brennpunkt neben dem Mann mit den ausgestreckten Gliedmaßen richtete. Den Rest erledigte die Erdrotation.
Als Letztes hörte er das bösartige Knistern seines brennenden Haars.
Kapitel 1
Fabian Risk war die Strecke schon unendlich oft gefahren. Heute kam sie ihm zum ersten Mal leicht und erhebend vor. Sie hatten sich, wie geplant, früh am Morgen auf den Weg gemacht und konnten sich in Gränna eine ausgedehnte Mittagspause erlauben.
Bereits dort traten die Sorgen, die er sich wegen des Umzugs machte, in den Hintergrund. Sonja war so gut gelaunt, geradezu aufgekratzt, dass sie anbot, das letzte Stück durch Småland zu fahren, damit er zu seinem Strömling ein großes Bier trinken konnte. Die Stimmung war fast ein bisschen zu ausgelassen, beinahe fürchtete er, es wäre alles nur gespielt. Wenn er ganz ehrlich war, bezweifelte er, dass sie einfach vor den Problemen davonlaufen und von vorne anfangen konnten.
Die Kinder hatten reagiert wie erwartet. Matilda betrachtete es als ein spannendes Abenteuer, obwohl sie an einer neuen Schule in eine vollkommen neue vierte Klasse kommen würde. Theodor drohte damit, in Stockholm zu bleiben. Nach dem Mittagessen in Gränna beschloss jedoch sogar er, der Sache eine Chance zu geben, und nahm zum allgemeinen Erstaunen mehrfach die Kopfhörerstöpsel aus den Ohren und unterhielt sich mit ihnen.
Aber das Beste war, dass die Schreie verstummt waren. Die Rufe und Schreie, die ums Überleben flehten und ihn im letzten halben Jahr nicht nur in seinen Träumen, sondern auch tagsüber verfolgt hatten. Endlich hatten sie aufgegeben.
Als es ihm auf der Höhe von Södertälje zum ersten Mal auffiel, hielt er es für Einbildung. Erst als sie an Norrköping vorbeifuhren, war er sich ganz sicher, und mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, wurden die Stimmen kraftloser. 556 Kilometer später, am Zielort angelangt, waren sie vollständig verstummt.
Als ließen sich die Zeit in Stockholm und die Ereignisse im Herbst in ein Vorher und ein Nachher aufteilen. Endlich, endlich waren sie im Nachher angekommen, dachte Fabian und steckte den Schlüssel ins Schloss ihres neuen Zuhauses – eines der englischen Reihenhäuser aus rotem Backstein in der Pålsjögata. Bis jetzt hatte er als Einziger in der Familie das Haus von innen gesehen, aber er hatte keinerlei Befürchtungen, dass es den anderen nicht gefallen würde. Als er das Verkaufsinserat gesehen hatte, wusste er sofort, dass sie genau hier ein neues Leben anfangen würden.
In der Pålsjögata 17 in Tågaborg. In die Stadt war es nur ein Katzensprung, und der Pålsjöwald lag gleich um die Ecke. Dort würde er morgens joggen, und auf den Sandplätzen würde er wieder Tennis spielen. Wenn man ans Meer wollte, brauchte man nur den Halalidbacke hinunterzurollen, schon war man am Fria Bad, wo er in seiner Jugend immer gebadet hatte. Damals hatte er sich gern vorgestellt, sie würden in diesem Viertel und nicht in den gelben Mietskasernen oben in Dalhem wohnen. Dreißig Jahre später war der Traum in Erfüllung gegangen.
»Worauf wartest du, Papa? Willst du nicht rangehen?«, fragte Theodor.
Fabian erwachte aus seiner Glückseligkeit und bemerkte, dass seine Familie auf dem Bürgersteig stand und darauf wartete, dass er sein klingelndes Handy aus der Tasche zog. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass es Astrid Tuvesson war, seine neue oder besser gesagt zukünftige Chefin beim Kriminaldezernat Helsingborg.
Formal war er noch für sechs Wochen bei der Polizei Stockholm angestellt. Offiziell hatte er aus eigenem Entschluss gekündigt, aber die meisten seiner alten Kollegen wussten mit Sicherheit, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhielten. Er konnte dort nie wieder einen Fuß hinsetzen.
Sechs Wochen unfreiwilliger Urlaub, die ihm im Nachhinein immer freiwilliger erschienen. Seit Ende der Schulzeit hatte er nicht mehr so lange am Stück freigehabt. Ob es lange genug war, würde sich zeigen. Der Plan war, sich zunächst in aller Ruhe einzurichten. Anschließend wollten sie ihre neue Heimatstadt erkunden und je nach Wetter, Lust und Laune vielleicht in den Süden fahren. Auf keinen Fall wollten sie sich Stress machen. Und Astrid Tuvesson wusste das mit Sicherheit ganz genau.
Trotzdem rief sie an.
Irgendetwas war passiert, und er war kurz davor, den Anruf entgegenzunehmen. Aber er und Sonja hatten sich ein Versprechen gegeben. In diesem Sommer wollten sie wieder eine Familie sein und sich die Verantwortung teilen. Vielleicht würde Sonjas Energie sogar reichen, um die letzten Bilder für die Ausstellung im Herbst fertigzustellen? Außerdem gab es bestimmt noch andere Kollegen, die nicht im Urlaub waren.
»Nein, das kann warten.« Er steckte das Handy wieder ein, schloss die Tür auf und ließ Theodor und Matilda vorbei, die beide zuerst durch die Tür wollten. »An eurer Stelle würde ich mit dem Garten anfangen!« Er drehte sich zu Sonja um, die mit einem iPod-Lautsprecher zu ihm auf den Treppenabsatz kam.
»Wer war das?«
»Nichts Wichtiges. Komm, ich zeig dir das Haus.«
»Das war doch wohl nicht …?«
»Nein, war es nicht«, antwortete Fabian. Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte, und hielt ihr sein Handy hin. »Es war meine zukünftige Chefin. Sie wollte uns sicher nur willkommen heißen. Jetzt komm.« Er nahm Sonja den Lautsprecher ab, hielt ihr die Augen zu und führte sie ins Haus. »Ta-taa!« Er nahm die Hand weg, und sie sah sich in dem unmöblierten Wohnzimmer mit dem Kamin und der offenen Küche um, die auf einen kleinen Garten hinausging. Theodor und Matilda hüpften bereits auf einem großen Trampolin herum.
»Ui … das ist ja wirklich … großartig!«
»Das Haus ist also in Ordnung? Es gefällt dir?«
Sonja nickte. »Hat die Umzugsfirma gesagt, wann die Sachen kommen?«
»Irgendwann am Nachmittag oder Abend. Wenn wir Glück haben, kommen sie erst morgen.«
»Wieso das, wenn ich fragen darf?« Sonja legte ihm die Arme um den Hals.
»Wir haben doch alles, was wir brauchen. Einen sauberen Fußboden, Kerzen, Wein und Musik.« Fabian stellte den Lautsprecher auf die Kücheninsel und ließ For Emma, forever ago von Bon Iver laufen – seit ein paar Wochen sein Lieblingsalbum. Auf den Bon-Iver-Zug war er ziemlich spät aufgesprungen. Beim ersten Hören fand er die Platte langweilig, aber als er ihr eine zweite Chance gab, wurde ihm klar, was für ein Meisterwerk sie war.
Er packte Sonja und fing an zu tanzen. Sie lachte und gab ihr Bestes, um mit ihm Schritt zu halten. Er sah in ihre grünbraunen Augen, und sie zog die Haarspange aus ihren langen braunen Haaren. Das verordnete Training zeigte Wirkung. Sowohl psychisch als auch physisch. Sie hatte bestimmt fünf, sechs Kilo abgenommen. Dick war sie nie gewesen, im Gegenteil, aber nun wirkten ihre Gesichtszüge markanter, und das stand ihr gut. Er wirbelte sie herum und ließ sie in seinen Arm fallen. Ihr Lachen machte ihm bewusst, wie sehr er es vermisst hatte.
Sie hatten verschiedene Lösungen diskutiert. Vom Umzug aus der Wohnung an der Södra Station in ein Haus in einem der Vororte Stockholms bis zum Kauf einer kleinen Zweitwohnung und einer Trennung auf Probe, während der sie sich abwechselnd um die Kinder kümmern wollten. Doch keine der Alternativen fühlte sich gut an. Ob das daran lag, dass sie zu viel Angst vor einer Scheidung hatten, oder ob sie sich im Grunde noch liebten, blieb abzuwarten.
Erst als er das Haus in der Pålsjögata fand, ergab sich alles andere. Die Stelle als Kriminalinspektor bei der Polizei Helsingborg, die freien Plätze an der Tågabergschule und der große Dachboden, der sich mit seinen Dachfenstern wunderbar als Atelier für Sonja eignete. Es war, als hätte sich jemand ihrer erbarmt und ihnen eine letzte Chance gegeben.
»Und die Kinder? Wo sollen die deiner Ansicht nach schlafen?«, flüsterte Sonja in sein Ohr.
»Die können wir ja in den Keller sperren.«
Sonja wollte etwas erwidern, aber er brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen und tanzte weiter, als es plötzlich klingelte.
»Sind sie schon da?« Sonja sah ihn an. »Vielleicht dürfen wir ja doch in unseren Betten schlafen.«
»Dabei habe ich mich so auf den Fußboden gefreut.«
»Der läuft uns ja nicht davon. Außerdem sagte ich schlafen. Sonst nichts.« Sie küsste ihn wieder, strich ihm über den Bauch und schob ihre Hand unter seinen Hosenbund.
Es wird alles wieder gut, und wir werden für den Rest unseres Lebens glücklich sein, dachte Fabian, bevor sie die Hand aus seiner Hose zog und zur Tür ging.
»Hallo. Astrid Tuvesson. Ich bin eine neue Kollegin von Ihrem Mann.« Die Frau gab Sonja die Hand. Gleichzeitig schob sie sich ihre Sonnenbrille in die blonden Locken, die sie in Kombination mit dem farbenfrohen Kleid, den schlanken braunen Beinen und den Sandalen jünger als zweiundfünfzig wirken ließen.
»Aha. Hallo.« Sonja drehte sich zu Fabian um, der Astrid Tuvesson die Hand schüttelte.
»Du meinst zukünftige Kollegin. Ich fange ja erst am sechzehnten August an.« Fabian fiel auf, dass ihr das linke Ohrläppchen fehlte.
»Zukünftige Chefin, wenn wir schon so penibel sein wollen.« Lachend strich sie sich die Haare über das Ohr. Er fragte sich, ob es sich um eine Verletzung oder um einen angeborenen Defekt handelte. »Es tut mir leid … ich platze ungern hier rein und störe mitten in den Ferien, und Sie sind bestimmt kaputt von der Fahrt, aber …«
»Kein Problem«, fiel Sonja ihr ins Wort. »Kommen Sie rein. Allerdings haben wir leider nichts anzubieten, weil wir auf den Umzugswagen warten.«
»Macht nichts. Ich brauche nur ein paar Minuten mit Ihrem Mann.«
Sonja nickte stumm. Fabian ging mit Tuvesson auf die Terrasse hinter dem Haus und schloss die Tür hinter ihnen.
»Ich habe mich auch irgendwann breitschlagen lassen, ein Trampolin zu kaufen. Die Kinder haben mir jahrelang in den Ohren gelegen, und am Ende waren sie zu alt dafür.«
»Entschuldige, worum geht es?« Fabian hatte keine Lust, im Urlaub Konversation mit seiner zukünftigen Chefin zu betreiben.
»Es ist ein Mord passiert.«
»Ach. So etwas kommt vor. Leider. Solltest du das nicht besser mit den Kollegen besprechen, die nicht im Urlaub sind?«
»Jörgen Pålsson. Klingelt da was?«
»Ist er das Opfer?«
Tuvesson nickte.
Fabian kam der Name bekannt vor, aber er hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Letzte, was er im Moment wollte, war arbeiten. Er fühlte sich wie ein vollbeladener Öltanker, der soeben von Piraten gekapert und gezwungen worden war, von seinem Kurs auf die Trauminsel abzuweichen.
»Vielleicht hilft dir das auf die Sprünge?« Tuvesson hielt ihm ein Foto in einer Klarsichthülle hin. »Das lag auf der Leiche.«
Fabian nahm ihr die Hülle aus der Hand, warf einen Blick auf das Bild und wusste sofort, dass er die Trauminsel vergessen konnte. Er wusste zwar nicht, wann er das Foto zuletzt angeguckt hatte, aber er kannte es. Es war ein Klassenfoto aus der Neunten. Das letzte Bild, auf dem sie alle versammelt waren. Er selbst stand in der zweiten Reihe, schräg hinter ihm Jörgen Pålsson.
Durchgestrichen mit einem Kreuz aus schwarzer Tusche.
Kapitel 2
Eine einzige Stunde. Dann hatte es geklingelt. Ihm war natürlich klar, warum Tuvesson ihn brauchte. Vielleicht fiel ihm etwas ein, das die Ermittlungen voranbrachte und am Ende sogar Menschenleben rettete? Fabian hatte jedoch so gut wie keine Erinnerungen an die Mittelstufe und verspürte, wenn er ehrlich war, nicht die geringste Lust, sich diese Zeit ins Gedächtnis zu rufen.
»Es ist der weiße Corolla da drüben«, sagte Tuvesson. Fabian folgte ihr auf die andere Straßenseite. Sie hatte angeboten, ihn hin- und wieder zurückzubringen, damit Sonja in aller Ruhe das Auto ausräumen konnte. »Und übrigens, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dir mitten im Urlaub die Zeit nimmst.«
»Mein Urlaub hat gerade erst angefangen.«
»Es dauert höchstens eine Stunde, versprochen.« Tuvesson steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. »Der Wagen hat zwar eine Zentralverriegelung, aber die Tür klemmt ein bisschen.«
Fabian öffnete fast gewaltsam die Beifahrertür und stand vor einem Haufen alter Kaffeebecher, offener Marlboro-Packungen, Schlüssel, Essensreste, benutzten Küchenpapiers und einer Schachtel Tampons.
»Sorry. Einen Moment, ich …« Sie fegte alles außer den Schlüsseln und den Zigaretten auf den Boden. Fabian setzte sich, Tuvesson ließ den Motor an und fuhr aus der Parklücke. »Ist es okay, wenn ich eine rauche?« Ohne Fabians Antwort abzuwarten, zündete sie sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster hinunter. »Eigentlich will ich aufhören. Ich weiß, das sagen alle. Anstatt dauernd darüber zu reden, sollte man es einfach tun. Und das werde ich auch. Nur nicht jetzt.« Sie nahm einen tiefen Zug und bog links ab in die Tågagata.
»Kein Problem.« Fabian betrachtete das Klassenfoto und Jörgens durchgestrichenes Gesicht. Warum war ihm nicht gleich eingefallen, wer Jörgen Pålsson war? Gerade Jörgen hätte ihm in Erinnerung bleiben sollen. Er hatte ihn nie gemocht. Vielleicht war das der Grund? Er hatte ihn einfach verdrängt. »Wo wurde er gefunden?«
»Fredriksdalschule. Soweit ich weiß, arbeitete er dort als Werklehrer.«
»Außerdem ist er dort bis zur neunten Klasse zur Schule gegangen.«
»Nicht alle schaffen es bis nach Stockholm … Was weißt du über ihn?«
»Eigentlich nichts. Wir waren nicht befreundet.« Fabian hatte plötzlich die Lambswool-Pullover von Lyle & Scott und Lacoste und den Fernseher vor Augen, der ins Klassenzimmer gerollt wurde, sobald Stenmark sich die Skier anschnallte. »Ehrlich gesagt, mochte ich ihn nicht.«
»Nein? Wieso nicht?«
»Er war ein Chaot. Sehr anstrengend. Hat gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam.«
»So einen gab es bei uns auch. Er hat immer den Unterricht gestört und anderen die Essenstabletts weggenommen. Keiner hat sich getraut, etwas dagegen zu unternehmen. Nicht einmal die Lehrer.« Tuvesson sog das letzte bisschen Nikotin aus ihrer Zigarette und warf die Kippe aus dem Fenster. »Diese ganzen Buchstabenkombinationen gab es damals noch nicht.«
»Außerdem hat er nur Kiss und Sweet gehört.«
»Was ist so schlimm daran?«
»Nichts. Im Gegenteil. Aber das habe ich erst vor ein paar Jahren begriffen.«
Fabian stieg aus und betrachtete die zweistöckige Fredriksdalschule, die sich mit ihren roten Backsteinmauern auf dem verlassenen Schulhof breitmachte. Zwei Basketballkörbe mit kaputten Netzen ließen erkennen, dass sich hier normalerweise Kinder aufhielten. Er ließ den Blick über die schmalen knastartigen Fenster schweifen und fragte sich, wie er es hier drei Jahre ausgehalten hatte, ohne einen Schaden davonzutragen. Allein das war eine Leistung. »Wer hat ihn gefunden?«
»Zuerst rief seine Frau an und meldete ihn vermisst, aber da konnten wir nicht viel machen.«
»Wann war das?«
»Mittwoch vor einer Woche. Er ist am Tag zuvor nach Deutschland gefahren, um Bier für Mittsommer zu kaufen, und wollte am Abend zurück sein.«
»Bier in Deutschland kaufen? Lohnt sich das noch?«
»Wenn man genug kauft. Eine Palette kostet vierzig Kronen, und wenn man nicht länger als drei Stunden bleibt, bekommt man sogar noch einen Wertgutschein.«
Bis nach Deutschland heizen, nur um das Auto bis obenhin mit Bier vollzupacken. Je länger Fabian darüber nachdachte, desto besser passte das zu dem Jörgen, der in seiner Erinnerung allmählich zum Leben erwachte. Jörgen und vielleicht Glenn. »Aber er ist nie in Deutschland angekommen, oder was?«
»Doch, er war drüben. Wir haben uns bei der Brücke erkundigt, er ist wie geplant am Dienstagabend zurückgekehrt. Aber danach verliert sich seine Spur. Wir sind erst gestern einen Schritt weitergekommen. Eine Glasfirma wollte, dass wir ein Auto abschleppen, weil es ihrer Hebebühne im Weg stand.«
»Sein Auto?«
Tuvesson nickte, während sie um das Schulgebäude herumgingen. Etwa zwanzig Meter dahinter parkte ein Chevrolet Pick-up neben einem Skylift. Das Gebiet rund um den Wagen war großzügig abgesperrt und wurde von zwei uniformierten Polizisten bewacht.
Ein dünnhaariger Mann mittleren Alters, der seine Brille auf der Nasenspitze trug, kam in einem blauen Einmaloverall auf sie zu.
»Das ist Ingvar Molander, unser Kriminaltechniker, und das Fabian Risk, der eigentlich noch im Urlaub ist und erst im August anfängt«, sagte Tuvesson.
»Pah … Ein Urlaub mehr oder weniger. Was spielt das schon für eine Rolle, wenn man so einen Fall zu knacken hat. Oder was meinst du?« Molander zog sich die Brille noch weiter auf die Nasenspitze und musterte Fabian, während er ihm die Hand schüttelte.
»Langsam werde ich neugierig«, log Fabian.
»Richtig so. Du wirst nicht enttäuscht sein, versprochen.«
»Er will es sich nur kurz angucken, Ingvar.«
Molander warf ihr einen Blick zu, und Fabian nahm widerwillig zur Kenntnis, dass seine Neugier tatsächlich erwachte. Molander führte sie ins Schulgebäude und reichte ihnen zwei Overalls. »Bitte sehr.«
Fabian hatte die Schule seit fast dreißig Jahren nicht betreten. Sie sah genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die Flure mit den roten Ziegelwänden und die schalldämpfenden Platten an der Decke, die wirkten, als wären sie aus Müll gepresst. Hier, ganz hinten im Gebäude, lag der Werkraum. Das Fach hatte ihn kein bisschen interessiert, bis er darauf kam, dass man Skateboards selbst bauen konnte. Nach einem Halbjahr hatte er so viele Sperrholzplatten erwärmt, gebogen und zugesägt, dass er sie weiterverkaufen und sich von dem Geld richtige Tracker-Achsen kaufen konnte.
»Willkommen an einem Tatort, der es problemlos unter die Top Ten der schlimmsten Tatorte schafft, die ich je gesehen habe.« Molander hielt ihnen die Tür auf. »Zum Glück hat der Täter die Klimaanlage voll aufgedreht. Ansonsten wäre er nach der Woche hier unter den Top Five.«
Im Werkraum war es tatsächlich eisig. Obwohl das Thermometer zwölf bis dreizehn Grad Celsius anzeigte, kam Fabian sich vor, als würde er einen Kühlschrank betreten. Im hinteren Teil des Raums waren drei weitere Personen in Overalls damit beschäftigt, Bilder zu machen und Spuren zu sichern. Der vertraute Geruch von Holz und Sägespänen war durchsetzt von einem abgestandenen und süßlichen Gestank. Fabian ging zur Leiche von Jörgen Pålsson, die in einer großen Lache aus getrocknetem Blut reglos hinter einer Tür lag, deren Klinke und Drehknopf mit Blut beschmiert waren. Der große und durchtrainierte Tote trug eine verwaschene Jeans und ein blutgetränktes weißes Tanktop.
Fabian hatte Jörgen kleiner in Erinnerung. Er war stark und hatte eine große Klappe, aber groß war er nicht. Jetzt musste er bärenstark sein. Trotzdem hatte der Täter es geschafft, seine Hände an den Handgelenken von den tätowierten Armen abzutrennen. Die Stümpfe waren blutig und zerfetzt, er musste unvorstellbare Schmerzen gelitten haben. Und wieso ausgerechnet die Hände?
»Wie ihr seht, kann man an den Blutspuren auf dem Boden erkennen, wie er von der Tischlerbank zu der Tür dort drüben gelangt ist, durch die wir hereingekommen sind«, sagte Molander. »Sie hat zwar kein Schloss, war aber von der anderen Seite mit Bänken, Tischen und Stühlen versperrt. Das konnte er natürlich nicht wissen. Anschließend hat er versucht, durch diese Tür hier hinauszukommen. Aber wie soll man den Drehknopf betätigen, wenn man keine Hände hat?«
Fabian nahm die blutige Klinke in Augenschein.
»Habt ihr den Drehgriff schon untersucht?«, fragte Tuvesson.
»Mit Sekundenkleber verleimt. Was auch das hier erklärt.« Molander nahm eine medizinische Zange zur Hand und hob Jörgens Oberlippe an, um ihnen die zermalmten Vorderzähne zu zeigen.
»Er hat also versucht, den Knopf mit dem Mund umzudrehen?«, fragte Tuvesson.
Molander nickte. »Ein beachtlicher Überlebenswille. Ich dagegen wäre sicherlich mit intakten Zähnen gestorben.«
»Aber …? Ich verstehe nicht ganz. Hat er keinen Widerstand geleistet?« Tuvesson schüttelte den Kopf.
»Gute Frage. Vielleicht hat er das ja. Vielleicht stand er unter Drogen? Ich weiß nicht. Wir werden sehen, welche Schlüsse Flätan zieht.«
»Und wie lange hat das hier gedauert?«
»Drei, vier Stunden.« Molander führte sie zu einer Tischlerbank auf der anderen Seite des Werkraums, auch diese mit Blut beschmiert. »In diese Schraubzwinge hat der Täter die Arme gespannt, und mit diesem Fuchsschwanz hat er die Amputation durchgeführt.« Er zeigte mit der Zange auf die blutige Säge, die auf dem Fußboden lag.
»Habt ihr eigentlich schon die Glasfirma angerufen, die sich wegen des Autos gemeldet hat?«, fragte Fabian. Tuvesson drehte sich zu ihm um.
»Wieso? Meinst du, die haben was damit zu tun?«
»Wenn ihr mich fragt, ist dies das Werk eines Menschen, der nichts dem Zufall überlässt.«
Tuvesson und Molander wechselten einen Blick und nickten.
»Ich habe die Nummer hier.« Tuvesson zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit eingeschaltetem Lautsprecher. Fabians Vermutung bestätigte sich: kein Anschluss unter dieser Nummer. »Anscheinend hast du recht. Wir werden uns erkundigen, wer die Hebebühne gemietet hat, und du, Ingvar, sorgst dafür, dass sie sofort auf Spuren untersucht wird.«
Molander nickte.
»Und die Hände?«, fuhr Tuvesson fort.
»Die suchen wir noch.«
Tuvesson nickte und wandte sich an Fabian. »Na? Was sagst du? Klingelt da was?«
Fabian ließ seinen Blick über die Tischlerbank und den blutigen Fuchsschwanz, die Blutspuren auf dem Fußboden und die Leiche mit den abgesägten Händen schweifen. Dann sah er Tuvesson und Molander an und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
»Was, gar nichts? Nicht einmal eine klitzekleine Vermutung, dass es jemand aus eurer Klasse gewesen sein könnte, oder warum jemand ausgerechnet Jörgen Pålsson so etwas antut?«
Fabian schüttelte den Kopf.
»Na ja, einen Versuch war es wert.« Tuvesson ging zum Ausgang. »Aber versprich mir, dass du mich anrufst oder in der Dienststelle vorbeikommst, wenn dir irgendetwas einfällt, ganz egal, was. Okay?«
Fabian nickte und verließ hinter Tuvesson den Werkraum. Eine Frage würde ihm keine Ruhe lassen.
Warum ausgerechnet die Hände?
*
18. August
Dies ist das erste Mal, dass ich etwas in dich hineinschreibe, obwohl ich dich schon vor zwei Jahren von Mama zu Weihnachten bekommen habe. Sie hat gesagt, dass es gut ist, wenn man etwas aufschreibt, damit man es nicht vergisst. Also mache ich das. Gestern habe ich mein Zimmer aufgeräumt und einen großen schwarzen Sack mit Müll vollgepackt. Mama hat sich sehr gefreut, und dann habe ich ganz hinten unterm Bett noch die C-3PO-Puppe gefunden, die mir Papa geschenkt hat und die seit über einem Jahr verschwunden war.
Heute waren alle wieder in der Schule. Alle außer Hampus. Die anderen haben sich über den neuen Klassenraum und die neuen Bücher gefreut. Ich nicht, denn jetzt bin ich an der Reihe. Es fing schon in Mathe an. Sie haben mich angesehen, obwohl ich gar nichts gemacht habe. Ich habe versucht, so zu sein wie immer und mir nichts anmerken zu lassen, aber sie haben einfach weitergemacht mit dem Anstarren. Ich weiß, was das bedeutet. Alle wissen das.
Ich wusste es vorher. Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Als Hampus erzählt hat, dass sie wegziehen, habe ich es gleich gewusst. Ich habe natürlich trotzdem gehofft, dass ich mich irre. Den ganzen Sommer habe ich an nichts anderes gedacht.
In Englisch habe ich mich ganz nach vorne gesetzt, damit ich nicht sehe, wie sie mich anstarren. Ich weiß trotzdem, dass sie das die ganze Zeit gemacht haben. Und sie haben mit Zetteln nach mir geworfen. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Ich habe mich nicht umgedreht. Kein einziges Mal.
Jesper hat einen der Zettel gelesen, und darauf stand, dass ich hässlich bin und stinke. Ich wasche mich immer sehr gründlich und benutze seit einem Jahr ein Deo, weil mein Schweiß jetzt stärker riecht, aber Mama hat gesagt, das ist bei allen so.
Ich habe versucht, zu riechen, ob ich stinke. Ich glaube nicht.
Aber hässlich bin ich auf jeden Fall. Potthässlich.
PS: Morgen hat Laban Geburtstag, und deswegen gehe ich heute so ein Laufrad, eine neue Trinkflasche und frische Sägespäne kaufen.
Kapitel 3
Als Fabian Risk nach Hause kam, war die Umzugsfirma schon dabei, ihren Hausstand auszuräumen. Er warf einen Blick in den Lastwagen und sah, dass sie bereits mehr als die Hälfte geschafft hatten. Übrig waren nur noch eine Wand aus Umzugskartons, alte Stehlampen, Hockeyschläger, die fleckigen Klippan-Sofas, der Designertisch mit den Arne-Jacobsen-Imitaten, der große alte Fernseher, den Theodor für sein Zimmer bekommen hatte, aber nie benutzte, Langlaufskier, Fahrräder, die Vitrine, die eine Glasscheibe eingebüßt hatte, und jede Menge proppenvolle schwarze Müllsäcke.
War das wirklich alles, was er in seinen dreiundvierzig Lebensjahren gesammelt hatte? Ein paar durchgesessene Sofas und staubige Lampenschirme? Am liebsten hätte Fabian die Männer gebeten, den ganzen Krempel nicht ins Haus zu schleppen, sondern direkt auf die Müllkippe zu bringen. Es war, als hätte er sich gerade einen neuen, sehr edlen Computer gekauft und als Erstes die alten Dateien mit den Viren draufgeladen. Er wollte komplett von vorne anfangen. Ausnahmsweise nicht aufs Geld gucken und sich was Neues leisten. Plastikfolie aufreißen und den Duft von etwas Unbenutztem einatmen.
Er grüßte die Umzugshelfer, die einen der avocadogrünen Rollcontainer ausluden, die er zum zwölften Geburtstag bekommen hatte. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre auf dem Dachboden verbracht. Das Ding sah schwer aus und nahm zwei Männer in Anspruch. Wieso war es so schwer? Er überlegte, was sich in den Schubladen befand, konnte sich aber nicht erinnern, wann er sie zuletzt geöffnet hatte.
Eine Stunde später, nachdem er mit Sonja ein paar Umzugskisten voller Küchenutensilien ausgeräumt hatte, fiel ihm wieder ein, was die Aktenschränke enthielten, und er konnte keine Sekunde warten. Sonja hatte die Helfer damit in den Keller geschickt. Auf dem Weg dorthin wurde Fabian bewusst, dass er bis jetzt noch keinen Fuß ins Untergeschoss des Hauses gesetzt hatte, obwohl jeder andere ernsthafte Hausinteressent das sicher als Erstes getan hätte.
Er hatte dem Makler blind vertraut, der beteuerte, das Haus sei in einem prima Zustand. Prima. Wie ein Patient, der von einer schweren Krankheit genesen war. Sorgen machte er sich trotzdem nicht. Dies war schließlich ein altes Haus mit dicken Backsteinmauern und guter Belüftung und kein Neubau mit billig isolierter Fassade in Mariastad oder vielmehr Schimmelstadt, wie der Volksmund das Viertel mittlerweile nannte.
Den Vorbesitzer hatte er auch nicht kennengelernt. Otto Paldynski, offenbar ein richtiger Pedant, hatte das Haus in den dreißig Jahren, in denen er mit seiner Familie darin wohnte, gepflegt wie ein Baby. Aus privaten Gründen wollte er den Verkauf rasch über die Bühne bringen und war dafür bereit, mit dem Preis etwas runterzugehen. Der Makler meinte, das käme einem Sechser im Lotto gleich. So eine Chance würde Fabian nie wieder bekommen.
In Wahrheit brauchte Fabian nicht lange überredet zu werden. Trotzdem fragte er sich, was das wohl für private Gründe waren. Er sprach den Makler sogar darauf an, aber der meinte nur, es sei nicht seine Art, sich in das Privatleben seiner Klienten einzumischen, und leitete elegant zu den Vorteilen des Hauses über. Fabian akzeptierte die Antwort mit einem Lächeln und beschloss, nicht weiter nachzubohren.
Er ging zu dem avocadofarbenen Rollcontainer, zog die oberste Schublade heraus und fand schnell das Gesuchte: das Jahrbuch aus der Neunten. Er setzte sich auf die Kommode und suchte seine Klasse heraus. Das gleiche Bild hatte der Täter am Tatort hinterlassen, aber hier waren keine Köpfe durchgestrichen.
An den Frisuren ließ sich die Zeit am deutlichsten ablesen. 1982. Damals kämmten sich alle. Seth Kårheden mit dem Oberlippenflaum und Stefan Munthe und Nicklas Bäckström, die in seiner Nachbarschaft wohnten und genau wie er dem Skateboardfieber verfallen waren. Ganz zu schweigen von Lina mit ihren Locken. Sogar Jörgen mit seinem Mittelscheitel sah aus wie frisch gestriegelt. Ein Haufen Nerds. Vor allem er selbst mit seinem Hemd, das in die viel zu hoch sitzende Hose gesteckt war, und den widerspenstigen Haaren. Den Schnitt hatte ihm seine Mutter verpasst.
Seit seinem Umzug nach Stockholm hatte er mit niemandem Kontakt gehabt. Nicht einmal mit Lina. Es war, als hätte er seine Jugend in einen Umzugskarton gepackt und in Helsingborg vergessen. Nun war alles voller Spinnweben.
Bis jetzt.
»Hier versteckst du dich also.«
Plötzlich stand Sonja vor ihm. Fabian zuckte zusammen.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Er schlug das Jahrbuch zu, als wäre er auf frischer Tat ertappt worden. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
»Was hältst du davon, wenn wir eine Pause machen und vielleicht eine Pizza essen gehen? Die Kinder sterben vor Hunger.«
Fabian legte das Jahrbuch beiseite und stand auf. »Gute Idee. Ein paar Straßen weiter gibt es eine unheimlich gute Pizzeria. Falls sie noch existiert.« Er wollte Richtung Treppe gehen, aber Sonja hielt ihn am Arm fest.
»Alles in Ordnung, Liebling?«
Fabian drehte sich zu ihr um und nickte, sah aber an ihren Augen, dass sie ihm nicht glaubte.
Mit je einem Pizzakarton in der Hand gingen sie zur Strandpromenade hinunter, setzten sich auf die sonnenwarme Mauer und blickten auf den Öresund und nach Dänemark hinüber. Die Aussicht war wirklich schön. Viel schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Die Strandpromenade war verbreitert worden, und nun genossen hier viele Spaziergänger die erfrischende Abendbrise. Beim Fria Bad, das ganz in der Nähe lag, hatte man die Umkleiden zu Restaurants umgebaut, und statt der alten Gleise gab es nun große Rasenflächen mit einer Boulebahn und Grillplätzen. Ein Stück weiter sah man die Palmen, die erstmalig anlässlich der Wohnmesse 1999 dort aufgestellt worden waren. Inzwischen hatte sich das zu einer Tradition entwickelt, und der einst unscheinbare kleine Strand war nun einer der beliebtesten von Helsingborg und nannte sich Tropical Beach. Er hatte das Gefühl, in einer vollkommen neuen Stadt zu sein.
»Das ist die leckerste Pizza meines Lebens«, sagte Matilda. Fabian gab ihr recht. Noch nie hatte ihm eine Pizza so gut geschmeckt.
Sie blieben noch eine Weile sitzen und beobachteten den Schiffsverkehr zwischen Helsingborg und Helsingör, wo das Schloss Kronburg der eindeutige Beweis dafür war, dass sie dem Rest von Europa näher gekommen waren. Fabian gelobte sich, nie wieder auch nur einen Meter weiter nach Norden zu ziehen, und drehte sich zu Theodor um, der mit leerem Blick auf den Sund blickte. »Wie hat denn deine Pizza geschmeckt? War es auch die leckerste deines Lebens?«
»Nein, aber sie war ganz okay.«
»Eine Zwei oder eine Drei?«
»Eine Vier plus.«
»Probier mal meine. Das ist mindestens eine Eins.« Matilda gab ihm ein Stück. Theodor biss ab und nickte. »Na gut, eine Drei, aber mehr nicht.«
»Mann, bist du geizig. Findest du nicht auch, Mama?«
Sonja nickte und sah Fabian an. Er hatte sich wirklich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, und bis jetzt hatte sie ihn nicht gefragt, was Tuvesson gewollt hatte. Aber ihr war klar, dass etwas nicht stimmte. Wie immer durchschaute sie seine armseligen Versuche, davon abzulenken, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. Auch wenn sie mitspielte und ebenfalls so tat, als würden sie einen schönen Abend auf einem warmen Mäuerchen an der Strandpromenade verbringen und den roten Sonnenuntergang und das Plätschern der Wellen genießen.
In dieser Nacht liebten sie sich so, wie er es sich auf der langen Fahrt hierher vorgestellt hatte.
Auf dem Fußboden.
Mit Wein und Kerzenschein.
For Emma, forever ago …