Das Buch
Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Geschichte von hierarchischen Strukturen geprägt wurde. Aber was wir oft übersehen: Auch soziale Netzwerke haben ihren Beitrag zur Weltgeschichte geleistet und sind keineswegs nur ein Phänomen der Gegenwart. Netzwerke aller Art – die Aktivitäten auf den »Plätzen« – haben schon seit Jahrhunderten die hierarchischen »Türme« der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz gebracht. Spanische Forscher und Eroberer stießen ganze Imperien in den Abgrund. Buchdrucker untergruben das päpstliche Religionsmonopol. Spione, Banker, Wissenschaftler oder Freimaurer forderten die politischen Machthaber heraus. Niall Ferguson zeigt, dass solche Netzwerke – bis hin zu Facebook, Google, »IS« und »Trumpworld« – der lange Zeit übersehene Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sind.
»Aufgrund ihres Scharfsinns und ihrer Eleganz wird Fergusons Revision der Geschichte auf Jahre hin nachhallen.«
The Guardian
»Ferguson gelingt es, selbst lange zurückliegende Ereignisse so lebendig und anschaulich zu schildern wie die Abendnachrichten.«
The New York Times
Der Autor
Niall Ferguson, geboren 1964 in Glasgow, ist Senior Fellow der Hoover Institution in Stanford sowie Senior Fellow des Center of European Studies der Harvard University. Er gilt als einer der profiliertesten Historiker der angelsächsischen Welt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Der Aufstieg des Geldes (2009), Der Westen und der Rest der Welt (2011) und der erste Band seiner Kissinger-Biographie Der Idealist (2016).
Helmut Reuter, geboren 1946 in Pappenheim, übersetzte viele Sachbücher aus verschiedenen Wissensgebieten, darunter Bücher von Michael J. Sandel, David F. Wallace, Richard Feynman, Lawrence Krauss und Michel Onfray.
NIALL FERGUSON
TÜRME
UND
PLÄTZE
NETZWERKE, HIERARCHIEN UND DER
KAMPF UM DIE GLOBALE MACHT
Aus dem Englischen von Helmut Reuter
Propyläen
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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Square and The Tower bei Allen Lane, an imprint of Penguin Books, London
ISBN: 978-3-8437-1654-3
© 2017 Niall Ferguson
© für die deutschsprachige Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Lektorat: Christian Seeger
Covergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
Umschlagabbildung: Metropolitan Museum of Art
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
»Wenn ich [mein Schweigen] bräche, würde
die Kraft von mir weichen; doch während
ich meinen Frieden hielt, hielt ich meinen Feind
in einem unsichtbaren Netz.«
— GEORGE MACDONALD
VORWORT:
DER VERNETZTE HISTORIKER
Wir leben in einer vernetzten Welt, so wird uns ständig gesagt. Das Wort »Netzwerk«, vor dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum verwendet, wird inzwischen sowohl als Verb wie auch als Substantiv überstrapaziert. Für den ehrgeizigen jungen Insider lohnt es sich immer – egal, wie spät es ist –, zur nächsten Party zu gehen, um sein Netzwerk zu pflegen. Schlaf mag ja verlockend sein, doch die Angst, etwas zu verpassen, ist schrecklich. Für den mürrischen alten Außenseiter hat das Wort Netzwerk jedoch eine andere Konnotation. Es wächst der Verdacht, dass die Welt von mächtigen und exklusiven Netzwerken kontrolliert wird: den Bankern, dem Establishment, dem System, den Juden, den Freimaurern, den Illuminaten. Fast alles, was in dieser Hinsicht geschrieben wird, ist Blödsinn. Doch würden sich Verschwörungstheorien kaum so beständig halten, wenn es solche Netzwerke überhaupt nicht gäbe.
Das Problem mit den Verschwörungstheoretikern besteht darin, dass sie als beleidigte Außenseiter ausnahmslos falsch verstehen und wiedergeben, wie Netzwerke funktionieren. Insbesondere neigen sie zu der Annahme, dass Elitenetzwerke insgeheim und mühelos formale Machtstrukturen kontrollieren. Meine eigene Forschung – wie auch meine Erfahrung – legt nahe, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil: Informelle Netzwerke stehen für gewöhnlich in einer höchst ambivalenten Beziehung zu etablierten Institutionen – manchmal sogar in einer feindseligen. Demgegenüber neigten professionelle Historiker bis in die jüngste Zeit dazu, die Rolle von Netzwerken zu ignorieren oder zumindest herunterzuspielen. Selbst heute noch bevorzugen sie es, jene Art von Institutionen zu erforschen, die Archive anlegen und bewahren – als würden diejenigen, die keine ordentliche Papierspur hinterlassen, nicht zählen. Meine Forschung und Erfahrung haben mich gelehrt, mich vor der Tyrannei der Archive zu hüten. Die größten Veränderungen in der Geschichte gehen oft auf kaum dokumentierte, informell organisierte Gruppen von Menschen zurück.
Dieses Buch handelt vom ungleichmäßigen Auf und Ab der Geschichte. Es unterscheidet die langen Perioden, in denen das Leben der Menschen von hierarchischen Strukturen beherrscht wurde, von den selteneren, aber dynamischeren Zeiten, in denen Netzwerke im Vorteil waren – zum Teil dank technologischer Neuerungen. Kurz: Wenn Hierarchie auf der Tagesordnung steht, ist man immer nur so mächtig wie die Sprosse, die man auf der organisatorischen Leiter eines Staates, einer Firma oder einer ähnlich vertikal aufgebauten Institution erklommen hat. Sind Netzwerke in der Vorhand, ist man so mächtig wie die Position, die man in einer oder mehreren horizontal strukturierten sozialen Gruppen innehat. Wie wir sehen werden, stellt diese Dichotomie zwischen Hierarchie und Netzwerk eine übermäßige Vereinfachung dar. Dennoch sollen einige persönliche Mitteilungen illustrieren, dass sie als Ausgangspunkt nützlich sein kann.
Als ich im Februar 2016 die erste Version dieses Vorwortes schrieb, nahm ich eines Abends an einer Buchparty teil. Gastgeber war der ehemalige Bürgermeister von New York. Der Autor, dessen Werk zu feiern wir uns versammelt hatten, war ein Kolumnist des Wall Street Journal und ehemaliger Redenschreiber eines Präsidenten. Ich kam auf Einladung des Chefredakteurs von Bloomberg News, den ich kenne, weil wir vor mehr als einem Vierteljahrhundert dasselbe Oxford-College besucht hatten. Auf der Party unterhielt ich mich mit ungefähr zehn Leuten, darunter der Vorsitzende des Council on Foreign Relations, der Vorstandsvorsitzende von Alcoa Inc., einem der größten Industriekonzerne der USA, der für die Kommentarseiten des Journal zuständige Redakteur, ein Moderator von Fox News, ein Mitglied des New Yorker Colony Club mit seiner Gattin und ein junger Redenschreiber, der sich mit den Worten vorstellte, er habe eines meiner Bücher gelesen (was unfehlbar der richtige Weg ist, ein Gespräch mit einem Professor aufzunehmen).
Auf einer Ebene ist offensichtlich, warum ich auf dieser Party war. Die Tatsache, dass ich an mehreren wohlbekannten Universitäten – Oxford, Cambridge, New York, Harvard und Stanford – gearbeitet habe, macht mich automatisch zum Mitglied der Netzwerke ehemaliger Collegemitglieder. Infolge meiner Tätigkeit als Autor und Professor nahm ich auch an einer Reihe von ökonomischen und politischen Netzwerken teil – etwa am Weltwirtschaftsforum und an den Bilderberg-Konferenzen. Ich bin Mitglied in drei Londoner Clubs und in einem New Yorker Club. Derzeit gehöre ich auch den Leitungsgremien von drei Körperschaften an: einer globalen Vermögensverwaltung, eines britischen Thinktanks und eines New Yorker Museums.
Dennoch habe ich, obwohl ich relativ gut vernetzt bin, fast keine Macht. Ein interessanter Aspekt der Party war, dass der ehemalige Bürgermeister in seiner kurzen Begrüßungsansprache die Gelegenheit nutzte und (nicht besonders enthusiastisch) erwähnte, dass er darüber nachdenke, sich als unabhängiger Kandidat für die nächste Präsidentschaft zu bewerben. Doch als britischer Staatsbürger konnte ich nicht einmal bei dieser Wahl abstimmen. Ebenso wenig hätte es die Chancen dieses oder eines anderen Kandidaten erhöht, wenn ich ihn unterstützt hätte. Denn als Akademiker habe ich nach Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner absolut keine Verbindung zum wirklichen Leben normaler Menschen. Anders als meine früheren Kollegen in Oxford überprüfe ich keine Erstzulassungen für Studenten. Als ich in Harvard lehrte, konnte ich meinen Studenten gute oder schlechte Noten geben, doch ich hatte letztlich nicht die Macht, selbst den schwächsten unter ihnen an einem Abschluss zu hindern. Und was die Zulassungen zu einem Doktoratsstudium betrifft, hatte ich unter den Fakultätsmitgliedern nur eine Stimme – auch hier keine Macht. Über die Leute, die für meine Beratungsfirma arbeiten, habe ich eine gewisse Macht, doch innerhalb von fünf Jahren habe ich insgesamt nur einen Angestellten gefeuert. Ich bin Vater von vier Kindern, doch mein Einfluss – ganz zu schweigen von Macht – auf drei von ihnen ist minimal. Selbst das jüngste lernt mit seinen fünf Jahren schon, wie es meine Autorität herausfordern kann.
Kurz, ich bin nicht gerade eine hierarchische Person. Ich bin eher der Typ Netzwerker. Als Student genoss ich, dass das Leben an der Uni frei von sozialen Abstufungen war, und insbesondere die Vielfalt von zufällig zusammengewürfelten Kreisen. Ich schloss mich vielen an und ließ mich bei wenigen blicken. Meine beiden schönsten Erfahrungen in Oxford waren meine Teilnahme als Kontrabassist in einem Jazz-Quintett – ein Ensemble, das bis heute stolz darauf ist, keinen Chef zu haben – und die Teilnahme an den Meetings eines kleinen konservativen Debattierclubs namens Canning. Ich entschied mich für die akademische Laufbahn, weil ich in meinen frühen Zwanzigern sehr viel mehr an Freiheit als an Geld interessiert war. Der Anblick meiner in traditionellen vertikalen Managementstrukturen beschäftigten Altersgenossen und ihrer Väter ließ mich schaudern. Angesichts der Oxford-Dozenten, die mich unterrichteten – Mitglieder einer mittelalterlichen Gemeinschaft, Bürger einer altertümlichen Republik der Gelehrsamkeit, souveräne Herrscher in ihrer Bücherwelt –, hatte ich den unwiderstehlichen Drang, ihren gemächlichen Schritten zu folgen. Als sich herausstellte, dass das akademische Leben weniger gut entlohnt wurde, als die Frauen in meinem Leben zu erwarten schienen, bemühte ich mich, Geld zu verdienen, ohne mich der Würdelosigkeit echter Anstellungen zu unterwerfen. Als Journalist zog ich es vor, als freier Mitarbeiter beschäftigt zu werden, meistens in Teilzeit, am liebsten als Kolumnenautor auf Vorschuss. Als ich mich dem Rundfunk zuwandte, schrieb und moderierte ich als unabhängiger Auftragnehmer und baute später meine eigene Produktionsfirma auf. Die Rolle als Unternehmer passte zu meiner Freiheitsliebe, und so habe ich Firmen eher deswegen gegründet, um frei zu bleiben, als um reich zu werden. Am meisten Freude macht es mir, Bücher über Themen zu schreiben, die mich interessieren. Die besten Projekte – die Geschichte der Rothschild-Banken, die Karriere von Siegmund Warburg, das Leben von Henry Kissinger – kamen über meine Netzwerke zu mir. Erst in jüngster Zeit wurde mir bewusst, dass es auch Bücher über Netzwerke waren.
Einige meiner Altersgenossen strebten nach Reichtum; wenige schafften es ohne eine zumindest kurze Zeit der vertraglichen Knechtschaft, gewöhnlich als Angestellter einer Bank. Andere strebten nach Macht; auch sie stiegen über die Rangleiter der Parteien auf und wundern sich heute über die Entwürdigung, die sie einst erduldeten. Zweifellos gibt es in den frühen Jahren eines akademischen Lebens Demütigungen, doch sie sind nichts im Vergleich dazu, bei Goldman Sachs als Praktikant oder als freiwilliger Wahlhelfer im Fußvolk des unterlegenen Kandidaten einer Oppositionspartei tätig zu sein. In die Hierarchie einzutreten heißt, sich zu erniedrigen, zumindest am Anfang. Doch heute sitzen einige meiner Studienkameraden aus Oxford als Minister oder Vorstandsmitglieder an der Spitze mächtiger Institutionen. Ihre Entscheidungen können die Vergabe von Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar und manchmal sogar das Schicksal ganzer Länder direkt beeinflussen. Die Ehefrau eines Altersgenossen aus Oxford, der in die Politik gegangen ist, beschwerte sich einmal bei ihm über seine langen Arbeitszeiten, fehlendes Privatleben, geringe Entlohnung und seltene Ferien – und auch über die einer Demokratie innewohnende Unsicherheit des Jobs. »Aber die Tatsache, dass ich das alles immer hingenommen habe«, erwiderte er, »beweist doch, wie wunderbar Macht ist.«
Ist sie das wirklich? Ist es heute besser, in einem Netzwerk zu sein, das Einfluss verschafft, als in einer Hierarchie, die Macht verleiht? Was beschreibt Ihre eigene Position besser? Wir alle sind zwangsläufig Mitglieder in mehr als einer hierarchischen Struktur. Wir sind fast alle Bürger von zumindest einem Staat. Sehr viele von uns sind Angestellte von wenigstens einer Firma (und eine überraschend große Zahl der weltweiten Firmen wird immer noch direkt oder indirekt staatlich kontrolliert). In der entwickelten Welt befinden sich die meisten Menschen unter zwanzig Jahren wahrscheinlich in der einen oder anderen Ausbildungseinrichtung; was immer diese Institutionen behaupten mögen – ihre Struktur ist grundlegend hierarchisch. Ein erheblicher Anteil junger Männer und Frauen weltweit – wenn auch ein sehr viel kleinerer als zumeist in den vergangenen vierzig Jahrhunderten – leistet Militärdienst, traditionell die am stärksten hierarchisierte aller Tätigkeiten. Wer jemandem »berichtet«, und sei es nur dem Firmenvorstand, befindet sich in einer Hierarchie. Je mehr Menschen einem berichten, desto weniger Bodenhaftung hat man.
Doch für die meisten von uns ist die Zahl der Netzwerke, denen sie angehören, größer als die Zahl der Hierarchien. Damit meine ich nicht nur, dass wir auf Facebook, Twitter oder in einem der anderen Online-Netzwerke präsent sind, die im letzten Jahrzehnt im Internet aufgetaucht sind. Wir haben Netzwerke von Verwandten (in der westlichen Welt sind heute nur wenige Familien hierarchisch), von Freunden, von Nachbarn, von Gleichgesinnten. Wir sind Ehemalige von Lehrinstituten, wir sind Fans von Fußballvereinen. Wir sind Mitglieder von Clubs und Gesellschaften oder unterstützen Hilfsorganisationen. Selbst unser Engagement in hierarchisch strukturierten Einrichtungen wie Kirchen oder Parteien hat mehr mit Netzwerken zu tun als mit Arbeit, weil es auf freiwilliger Basis geschieht und wir nicht erwarten, finanziell entlohnt zu werden.
Die Welten von Hierarchien und Netzwerken treffen aufeinander und interagieren. In jeder großen Organisation gibt es Netzwerke, die sich erheblich vom offiziellen »Organigramm« unterscheiden. Wird ein Chef von einigen Angestellten der Günstlingswirtschaft bezichtigt, impliziert das, dass informelle Beziehungen Vorrang vor dem formellen Beförderungsgang gewinnen, den die Personalabteilung im 5. Stock steuert. Wenn Angestellte verschiedener Firmen sich nach der Arbeit zu alkoholischen Erfrischungen treffen, begeben sie sich aus dem vertikalen Turm des Unternehmens auf den horizontalen Platz des sozialen Netzwerks. Entscheidend ist: Wenn eine Gruppe von Leuten zusammenkommt, von denen jeder Einzelne Macht in einer jeweils anderen hierarchischen Struktur hat, so kann ihr Networking tiefreichende Folgen haben. In seinen Palliser-Romanen hielt Anthony Trollope den Unterschied zwischen formeller Macht und informellem Einfluss in bemerkenswerter Weise fest, als er viktorianische Politiker porträtierte, die einander im Parlament anprangerten, um dann im Netzwerk der Londoner Clubs, denen sie alle angehörten, privat Vertraulichkeiten auszutauschen. In diesem Buch möchte ich zeigen, dass sich solche Netzwerke fast in der gesamten Menschheitsgeschichte finden lassen und dass sie weit bedeutender sind, als die meisten Geschichtsbücher ihre Leser glauben machen.
Bislang verstanden sich Historiker, wie schon gesagt, nicht besonders gut darauf, Netzwerke der Vergangenheit zu rekonstruieren. Dass sie Netzwerke außer Acht ließen, lag zum Teil daran, dass die herkömmliche historische Forschung sich bei ihrem Quellenmaterial vorwiegend auf Dokumente stützte, die von hierarchischen Strukturen, zum Beispiel Staaten, stammten. Auch Netzwerke hinterlassen Spuren, doch die sind nicht so einfach zu finden. Ich erinnere mich, wie ich als unbedarfter Student im Hamburger Staatsarchiv ankam und zu einem einschüchternden Raum voller Findbücher geleitet wurde – gewaltige ledergebundene, in kaum leserlicher altdeutscher Handschrift geführte Bände, die den Katalog des Archivs bildeten. Diese wiederum führten zu den unzähligen Berichten, Protokollen und Korrespondenzen, die von all den verschiedenen »Deputationen« der ein wenig antiquierten Bürokratie der Hansestadt stammten. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich die Bücher durchblätterte, die sich auf den Zeitraum bezogen, der mich interessierte, und zu meinem Schrecken keine einzige Seite fand, die etwas irgendwie Interessantes enthielt. Man stelle sich meine tiefe Erleichterung vor, als mir nach einigen Wochen erbärmlichen Elends der Weg in den kleinen, eichenholzgetäfelten Raum gewiesen wurde, der die privaten Papiere des Bankiers Max Warburg beherbergte, dessen Sohn Eric ich durch pures Glück bei einer Teegesellschaft im britischen Konsulat getroffen hatte. Binnen weniger Stunden wurde mir klar, dass Warburgs Korrespondenz mit Mitgliedern seines eigenen Netzwerks mehr Einblick in die Geschichte der deutschen Hyperinflation der frühen 1920er-Jahre (dem von mir gewählten Thema) bot als alle Dokumente im Staatsarchiv zusammen.
Aber wie die meisten Historiker dachte und schrieb ich viele Jahre lang nur beiläufig über Netzwerke. Vor meinem inneren Auge gab es ein verschwommenes Diagramm, das Warburg mit anderen Mitgliedern der deutsch-jüdischen Geschäftselite verknüpfte – aufgrund von Verwandtschaft, Geschäften und »Wahlverwandtschaft«. Doch ich kam nicht auf die Idee, mich eingehend mit diesem Netzwerk zu befassen. Ich gab mich damit zufrieden, mir seine sozialen »Kreise« vorzustellen – ein sehr unzulänglicher Fachbegriff. Und ich fürchte, ich ging nicht viel systematischer vor, als ich ein paar Jahre später anfing, die Geschichte der mit Warburg verquickten Rothschild-Banken zu schreiben. Ich konzentrierte mich zu sehr auf die komplexe Genealogie der Familie mit ihrem äußerst ungewöhnlichen System von Verwandtenehen und zu wenig auf das weiter gespannte Netzwerk von Agenten und Tochterbanken, das ebenso entscheidend dazu beitrug, die Familie zur reichsten in der Welt des 19. Jahrhunderts zu machen. Rückblickend hätte ich jenen Historikern in der Mitte des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit schenken sollen – etwa Lewis Namier oder Ronald Syme –, die als Erste die Prosopografie (kollektive Biografie) entwickelten, nicht zuletzt, um die Rolle der Ideologie als eigenständigem historischen Akteur herunterzuspielen. Ihren Bemühungen fehlte jedoch die formale Netzwerkanalyse. Zudem trat eine Generation von sozial(istisch)en Historikern an ihre Stelle, die bestrebt waren, auf- und absteigende Klassen als Protagonisten historischen Wandels herauszustellen. Ich hatte gelernt, dass Vilfredo Paretos Eliten – von den »Notabeln« des revolutionären Frankreich bis zu den Honoratioren des wilhelminischen Deutschland – im historischen Prozess generell wichtiger waren als die Klassen von Karl Marx, aber ich hatte nie gelernt, wie man Elitestrukturen analysiert.
Dieses Buch ist ein Versuch, für diese Unterlassungssünden Buße zu tun. Es erzählt die Geschichte des Zusammenspiels von Netzwerken und Hierarchien von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit. Es verknüpft theoretische Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Disziplinen – von der Ökonomie bis zur Soziologie, von der Neurowissenschaft bis zum Organisationsverhalten. Die zentrale These besagt, dass soziale Netzwerke in der Geschichte stets viel bedeutender waren, als die meisten Historiker ihnen zugebilligt haben – und das vor allem in zwei Zeitabschnitten. Die erste »Netzwerkära« folgte auf die Einführung der Druckerpresse in Europa am Ende des 15. Jahrhunderts und dauerte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die zweite – unsere Gegenwart – fängt mit den 1970ern an, wobei ich meine, dass die technologische Revolution, die wir mit dem Silicon Valley verbinden, eher die Folge als die Ursache der Krise hierarchischer Institutionen war. Die Zeit dazwischen, vom Ende der 1790er- bis Ende der 1960er-Jahre, erlebte den gegenläufigen Trend: Hierarchische Institutionen gewannen die Kontrolle zurück und zerstörten oder vereinnahmten die Netzwerke. Der Zenith hierarchisch organisierter Macht wurde tatsächlich in der Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht – dem Zeitalter totalitärer Regime und des totalen Krieges.
Zu dieser Erkenntnis wäre ich wohl nicht gelangt, hätte ich mich nicht darangemacht, die Biografie eines der begnadetsten Netzwerker der Neuzeit zu schreiben: Henry Kissinger. Als ich das Projekt zur Hälfte geschafft hatte, kam mir eine interessante Hypothese in den Sinn. Verdankte Kissinger Erfolg, Ruhm und Bekanntheit vielleicht nicht nur seinem starken Intellekt und enormen Willen, sondern auch seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, ein vielschichtiges Netzwerk von Beziehungen aufzubauen – nicht nur zu Kollegen in den Regierungen von Nixon und Ford, sondern auch zu Personen außerhalb der Regierung: Journalisten, Zeitungseignern, ausländischen Botschaftern und Staatschefs, ja sogar zu Hollywood-Produzenten? In diesem Buch trage ich (hoffentlich ohne übertriebene Vereinfachungen) die Forschungsergebnisse anderer Gelehrter zusammen, allesamt hinreichend anerkannt, doch was Kissingers Netzwerk betrifft, biete ich einen, wie ich glaube, originären Ansatz, diese Frage abzuhandeln.
Ein Buch ist selbst Produkt eines Netzwerks. Vor allem möchte ich dem Direktor und den Kollegen der Hoover Institution danken, wo dieses Buch geschrieben wurde, ebenso den Aufsichtsinstanzen und Sponsoren dieser Einrichtung. In einer Zeit, in der geistige Vielfalt die an Universitäten anscheinend am wenigsten geschätzte Vielfalt ist, stellt Hoover eine seltene, wenn nicht einzigartige Bastion der freien Forschung und des unabhängigen Denkens dar. Ich danke auch meinen ehemaligen Kollegen in Harvard, die bei meinen Besuchen am Belfer Center der Kennedy School und am Center for European Studies weiterhin mein Denken bereichern, ebenso meinen neuen Kollegen am Kissinger Center an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University, sowie am Schwarzman College der Tsinghua University in Peking.
Sarah Wallington und Alice Han boten mir bei meinen Recherchen ebenso unschätzbare Hilfe wie Ravi Jacques und Olivia Ward-Jackson. Manny Rincon-Cruz und Keoni Correa halfen sehr dabei, die Qualität der Netzwerkgrafiken und -erläuterungen zu verbessern. Überaus hilfreiche Kommentare zu einschlägigen Aufsätzen und Darstellungen erhielt ich von (um nur diejenigen zu nennen, die ihre Gedanken zu Papier brachten) Graham Allison, Pierpaolo Barbieri, Joe Barillari, Tyler Goodspeed, Micki Kaufman, Paul Schmelzing und Emile Simpson. Erste Entwürfe wurden von Freunden, Kollegen und Experten gelesen, deren Rat ich suchte. Diejenigen, die sich die Zeit nahmen, mir Kommentare zu schicken, waren Ruth Ahnert, Teresita Alvarez-Bjelland, Marc Andreessen, Yaneer Bar-Yam, Joe Barillari, Alastair Buchan, Melanie Conroy, Dan Edelstein, Chloe Edmondson, Alan Fournier, Auren Hoffman, Emmanuel Roman, Suzanne Sutherland, Elaine Treharne, Calder Walton und Caroline Winterer. Für den abschließenden Teil des Buches erhielt ich unschätzbare Kommentare von William Burns, Henri de Castries, Mathias Döpfner, John Elkann, Evan Greenberg, John Micklethwait und Robert Rubin. Dafür, dass sie mich an ihren Erkenntnissen teilhaben ließen oder mir erlaubten, aus ihren unveröffentlichten Arbeiten zu zitieren, danke ich außerdem Glenn Carroll, Peter Dolton, Paula Findlen, Francis Fukuyama, Jason Heppler, Matthew Jackson und Franziska Keller. Für ihre Unterstützung bei der Geschichte der Illuminaten schulde ich Lorenza Castella, Reinhard Markner, Olaf Simons und Joe Wäges Dank.
Wie üblich haben Andrew Wylie und seine Kollegen, insbesondere James Pullen, mich und meine Arbeit sehr professionell präsentiert. Und einmal mehr genoss ich das Privileg, dass Simon Winder und Scott Moyers das Lektorat besorgten – sie gehören zu den klügsten Lektoren, die heute in der englischsprachigen Welt arbeiten. Auch meinen Schlussredakteur Mark Handsley, meinen Korrekturleser und Freund aus Virginia, Jim Dickson, sowie meinen Bildrechercheur Fred Courtright sollte ich nicht vergessen.
Schließlich gilt mein Dank meinen Kindern Felix, Freya, Lachlan und Thomas, die sich nie beklagt haben, wenn die Schreibarbeit Vorrang vor der Zeit mit ihnen bekam, und die eine Quelle der Inspiration wie auch des Stolzes und der Freude bleiben. Meine Frau Ayaan hat meinen in jüngster Zeit übertriebenen Gebrauch der Wörter »Netzwerk« und »Hierarchie« in unseren Gesprächen geduldig hingenommen. Sie hat mich mehr über beide Organisationsformen gelehrt, als ihr bewusst ist. Auch ihr danke ich in Liebe.
Ich widme dieses Buch Campbell Ferguson, meinem sehr vermissten Vater.
I
EINFÜHRUNG:
NETZWERKE UND HIERARCHIEN
1
DAS GEHEIMNIS DER ILLUMINATEN
Es war einmal vor beinahe zweieinhalb Jahrhunderten, da gab es ein geheimes Netzwerk, das versuchte, die Welt zu verändern. Die Organisation, die zwei Monate vor der Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien in Amerika in Deutschland gegründet wurde, sollte als Illuminatenorden bekannt werden. Ihre Ziele waren erhaben. Tatsächlich war sie von ihrem Gründer ursprünglich Bund der Perfektibilisten genannt worden. Wie ein Ordensmitglied sich an dessen Worte erinnerte, war sie
eine Verbindung, die durch die feinsten und sichersten Mittel den Zweck erlangt, der Tugend und Weisheit in der Welt über Dummheit und Bosheit den Sieg zu verschaffen; eine Vereinigung, die wichtigsten Entdeckungen in allen Fächern der Wissenschaft zu machen, ihre Mitglieder zu edlen, großen Menschen zu bilden, und diesen dann den gewissen Preis ihrer Vervollkommnung auch in dieser Welt zuzusichern, sie gegen Verfolgung, Schicksale und Unterdrückung zu schützen, und dem Despotismus aller Art die Hände zu binden.1
Letztlich zielte der Orden darauf ab, »den Verstand durch die Sonne der Vernunft zu erhellen, welche die Wolken des Aberglaubens und des Vorurteils vertreiben wird«. »Mein Ziel ist es, der Vernunft zum Sieg zu verhelfen«, erklärte der Ordensgründer.2 Die Methoden waren, in einer Hinsicht, erzieherisch. »Alleinige Absicht des Bundes« war seinen Generalstatuten zufolge »Bildung, nicht durch das Mittel der Deklaration, sondern durch Begünstigung und Belohnung der Tugend«.3 Doch die Illuminaten sollten als strikte Geheimgesellschaft operieren. Mitglieder nahmen Decknamen an, die oft griechischen oder römischen Ursprungs waren: Der Gründer war »Bruder Spartacus«. Es gab drei Ränge der Mitgliedschaft – Novize, Minerval* und Illuminatus minor –, doch die niedrigen Ränge erhielten nur einen sehr vagen Einblick in die Ziele und Methoden des Ordens. Man ersann ausgeklügelte Initiationsriten – darunter ein Schwur auf Geheimhaltung, dessen Bruch mit dem grausamsten Tod zu bestrafen war. Jede isolierte Zelle von Initiierten berichtete einem Höhergestellten, dessen wahre Identität sie nicht kannte.
Anfangs war die Zahl der Illuminaten sehr klein. Es gab nur eine Handvoll von Gründungsmitgliedern, die meisten davon Studenten.4 Zwei Jahre nach Gründung des Ordens hatte er gerade mal 25 Mitglieder. Noch im Dezember 1779 waren es nur sechzig. Doch innerhalb weniger Jahre stieg die Mitgliederzahl auf mehr als 1300 an.5 Zu Beginn war der Orden auf Ingolstadt, Eichstätt und Freising beschränkt gewesen; ein paar Mitglieder gab es in München.6 Aber schon Anfang der 1780er-Jahre erstreckte sich das Netzwerk der Illuminaten über einen großen Teil Deutschlands. Zudem hatte sich dem Orden eine eindrucksvolle Liste deutscher Fürsten angeschlossen: Ferdinand, Prinz von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel; Karl, Prinz von Hessen-Kassel; Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Altenburg; Karl-August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach;7 dazu Dutzende Adelige wie Franz Dietrich von Ditfurth und der aufsteigende Stern des rheinischen Klerus, Karl Theodor von Dalberg.8 Andere Mitglieder des Ordens dienten vielen der herausragendsten Illuminaten als Berater.9 Auch Intellektuelle wurden Illuminaten, so das Universalgenie Johann Wolfgang Goethe, die Philosophen Johann Gottfried Herder und Friedrich Heinrich Jacobi, der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode und der Schweizer Erzieher Johann Heinrich Pestalozzi.10 Obwohl Friedrich Schiller dem Orden nicht beitrat, nahm er ein führendes Mitglied der Illuminaten zum Vorbild für die republikanische Revolutionsfigur Posa in seinem Stück Don Carlos.11 Einflüsse der Illuminaten-Lehre erkannte man auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte (1791).12
Doch im Juni 1784 erließ die bayerische Regierung das erste von drei Edikten, welche die Illuminaten verboten und als »verräterisch und religionsfeindlich« verurteilten.13 Ein Untersuchungsausschuss machte sich daran, die Hochschulen und die staatliche Bürokratie von Mitgliedern zu säubern. Einige flohen aus Bayern. Andere verloren ihre Anstellungen oder wurden ausgewiesen. Mindestens zwei wurden ins Gefängnis gesteckt. Der Gründer selbst fand Zuflucht in Gotha. Faktisch hörten die Illuminaten Ende 1787 auf zu existieren. Doch ihr schlechter Ruf überlebte sie lange. König Friedrich Wilhelm II. von Preußen wurde gewarnt, dass sie in ganz Deutschland weiterhin eine gefährlich subversive Kraft darstellten.
1797 veröffentlichte der berühmte schottische Physiker John Robison die Schrift Proofs of a Conspiracy against All the Religions and Governments of Europe, carried on in the Secret Meetings of the Free Masons, Illuminati, and Reading Societies. Darin behauptete er, »im Verlauf von 50 Jahren [sei] unter dem fadenscheinigen Vorwand, die Welt durch die Fackel der Philosophie aufzuklären und die Wolken zivilen und religiösen Aberglaubens zu zerstreuen«, eine »Vereinigung eifernd und systematisch, bis sie fast unwiderstehlich geworden ist, bestrebt« gewesen, »ALLE RELIGIÖSEN EINRICHTUNGEN AUSZUROTTEN UND ALLE EXISTIERENDEN REGIERUNGEN EUROPAS ZU STÜRZEN«. Höhepunkt der Bemühungen dieser Vereinigung sei, so Robinson, nichts Geringeres als die Französische Revolution gewesen. In seinen Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus, ebenfalls 1797 erschienen, stellte der französische Jesuit Augustin de Barruel die gleiche Behauptung auf. »In der Französischen Revolution ist alles, bis auf die entsetzlichsten Verbrechen, vorgesehen, überlegt, kombiniert, beschlossen, vorgeschrieben worden; alles war die Wirkung der tiefsten Verruchtheit.« Die Jakobiner selbst, so Barruel, seien die Erben der Illuminaten. Diese Behauptungen – von Edmund Burke gepriesen14 – fanden rasch ihren Weg in die Vereinigten Staaten, wo sie unter anderem von Timothy Dwight, dem Präsidenten von Yale, aufgegriffen wurden.15 Über große Teile des 19. und 20. Jahrhunderts hinweg spielten die Illuminaten eine unbeabsichtigte Rolle als Urverschwörer bei dem, was Richard Hofstadter einprägsam als »paranoiden Stil« in der amerikanischen Politik bezeichnet hat, dessen Vertreter beständig behaupteten, die Besitzlosen vor einem »heimtückischen, außergewöhnlich effektiven internationalen Verschwörungsnetzwerk« zu bewahren, »das darauf angelegt ist, Akte teuflischster Art zu begehen«.16 Um nur zwei Beispiele zu geben: Die Illuminaten waren Gegenstand in den Schriften der antikommunistischen John Birch Society und im Buch des christlich-konservativen Predigers Pat Robertson New World Order (1991).17
Der Mythos der Illuminaten hat sich bis heute gehalten. Einige der durch den Orden inspirierten Publikationen waren zwar erklärtermaßen Fiktion, insbesondere die in den 1970ern von Robert Shea und Robert Anton Wilson veröffentlichte Illuminatus-Trilogie, Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (1989), der Film Lara Croft: Tomb Raider (2001) und Dan Browns Thriller Illuminati (2003).18 Schwerer zu erklären ist die verbreitete Überzeugung, die Illuminaten gebe es wirklich und sie seien heute so mächtig, wie ihr Gründer sie gerne gehabt hätte. Es gibt zwar einige Websites, die vorgeben, die Illuminaten zu repräsentieren, doch keine wirkt besonders professionell.19 Nichtsdestoweniger wurde behauptet, mehrere US-Präsidenten seien Mitglieder der Illuminaten gewesen, darunter nicht nur John Adams und Thomas Jefferson,20 sondern auch Barack Obama.21 Eine ziemlich repräsentative Tirade (das Genre ist enorm verbreitet) schildert die Illuminaten als »superreiche Machtelite mit dem Bestreben, eine Sklavengesellschaft zu schaffen«:
Den Illuminaten gehören alle internationalen Banken, die Ölkonzerne, die mächtigsten Industrie- und Handelsunternehmen; sie unterwandern Politik und Erziehungswesen und stellen die meisten Regierungen – oder kontrollieren sie zumindest. Ihnen gehören sogar Hollywood und die Musikbranche (…). Auch das Drogengeschäft wird von den Illuminaten beherrscht (…). Die führenden Präsidentschaftskandidaten werden aus der verborgenen Blutsverwandtschaft der 13 Illuminaten-Familien sorgfältig ausgewählt (…). Hauptziel ist die Schaffung einer Weltregierung mit ihnen an der Spitze, um die Welt in Sklaverei und Diktatur zu steuern (…). Sie wollen eine »äußere Gefahr« schaffen, eine vorgetäuschte Invasion von Außerirdischen, damit die Länder dieser Welt bereit sind, sich zu EINEM zu vereinigen.
Die Standardversion der Verschwörungstheorie verbindet die Illuminaten mit der Rothschild-Familie, dem Round Table, der Bilderberg-Gruppe und der Trilateralen Kommission – nicht zu vergessen den Hedgefonds-Manager, politischen Sponsor und Philanthropen George Soros.22
Solche Theorien werden von bemerkenswert vielen Menschen geglaubt.23 Knapp über die Hälfte (51 Prozent) von 1000 im Jahre 2011 befragten Amerikanern stimmten der Aussage zu: »Vieles, was in der heutigen Welt geschieht, wird von einer kleinen und verschworenen Personengruppe beschlossen.«24 Ein gutes Viertel einer größeren Stichprobe von 1935 Amerikanern stimmte der Aussage zu: »Die derzeitige Finanzkrise wurde insgeheim von einer kleinen Gruppe von Bankern der Wall Street gesteuert, um die Macht der Federal Reserve und ihre Kontrolle über die Weltwirtschaft zu erweitern.«25 Und fast ein Fünftel (19 Prozent) stimmte zu, dass »der Milliardär George Soros hinter einem verborgenen Plan steht, die amerikanische Regierung zu destabilisieren, die Medien zu kontrollieren und die Welt unter seine Kontrolle zu bringen«.26 Soros selbst wird von populären Verschwörungstheoretikern wie Alex Jones regelmäßig mit den Illuminaten in Verbindung gebracht.27 Das mag verrückt sein, doch diese Verrücktheit zieht mehr als eine Randgruppe an. Die Autoren einer neueren Studie über die Verbreitung von Verschwörungstheorien kamen zu dem Schluss:
Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung stimmt zumindest einer Verschwörungs[theorie] zu (…). Eine verschwörungstheoretische Sicht auf die Politik ist alles andere als der verirrte Ausdruck von politischem Extremismus oder das Ergebnis grober Fehlinformation, sondern eine verbreitete Tendenz quer durch das gesamte ideologische Spektrum (…). Viele vorherrschende Glaubenssysteme in den USA, seien es die christlichen Narrative über Gott und Satan (…) oder die Narrative der Linken über den Neoliberalismus (…), beziehen sich stark auf die Idee unsichtbarer, absichtsvoller Mächte, die das Zeitgeschehen gestalten.28
Außerdem ist dieses Phänomen nicht auf die USA beschränkt. Zur Zeit des Irakkrieges war ein erheblicher Teil der deutschen Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, die Verantwortung für die Anschläge vom 11. September liege bei »hochgradig miteinander verbundenen, aber auch dezentralen und nicht an ein Territorium gebundenen Netzwerken von Kapitalinteressen, die nicht zwangsläufig das Ergebnis individueller oder kollektiver Absicht sind …«29 Auch in Großbritannien und Österreich scheinen sehr viele Wähler an Verschwörungstheorien zu glauben – selbst an solche, die Forscher sich ausgedacht haben.30 Russische Autoren fühlen sich besonders zu Theorien einer von Amerika angeführten Verschwörung hingezogen,31 doch nichts kommt der muslimischen Welt nahe, wo der »Konspirationismus« seit dem 11. September wuchert.32 Solche Überzeugungen können tragische Folgen haben. Der amerikanische Verschwörungstheoretiker Milton William Cooper wurde erschossen, als er sich seiner Verhaftung wegen Steuerflucht und Schusswaffen-Delikten entziehen wollte. Sein Widerstand gegen die Behörden gründete in der Überzeugung, die Bundesregierung stehe unter der Kontrolle der Illuminaten.33 Globale Statistiken über Terrorismus und seine Motivationen lassen den Schluss zu, dass Muslime, die an eine amerikanisch-zionistische Verschwörung gegen ihre Religion glauben, deutlich eher zur Gewalt greifen als »Truther« – Anhänger der amerikanischen »Wahrheitsbewegung«.
Abb. 1: Die Verschwörung zur Weltbeherrschung.
Die Geschichte der Illuminaten illustriert das zentrale Problem beim Schreiben über soziale Netzwerke, speziell über diejenigen, die bestrebt sind, geheim zu bleiben. Weil das Thema Spinner anzieht, ist es für Berufshistoriker schwer, es ernst zu nehmen. Selbst wer es tut, muss sich mit dem Problem herumschlagen, dass Netzwerke selten leicht zugängliche Archive pflegen. Bayerische Archivare bewahrten Berichte von der Kampagne gegen die Illuminaten auf, darunter authentische Dokumente, die bei Mitgliedern des Ordens beschlagnahmt wurden, doch erst in jüngster Zeit haben Forscher systematisch – und sehr mühsam – die noch erhaltenen Schriftwechsel und Regularien der Illuminaten herausgegeben, die an vielen verschiedenen Orten gefunden wurden, darunter auch die Archive von Freimaurer-Logen.34 Diese Zugangserschwernis erklärt, warum ein bedeutender Oxford-Historiker behauptete, er könne nur über das schreiben, »was über Geheimgesellschaften geglaubt und über sie geschrieben wurde, nicht über Geheimgesellschaften selbst«.35 Doch kein Fall illustriert die historische Bedeutung von Netzwerken besser als der der Illuminaten. An sich waren sie keine bedeutsame Bewegung. Die Französische Revolution haben sie gewiss nicht verursacht – und auch keine wirklichen Unruhen in Bayern. Doch sie gewannen Bedeutung, weil ihr Ruf zu einer Zeit viral verbreitet wurde, als die von der Aufklärung – Ergebnis eines äußerst einflussreichen Netzwerks von Intellektuellen – beschleunigte politische Erschütterung beiderseits des Atlantiks ihren revolutionären Höhepunkt erreichte.
In diesem Buch versuche ich, einen Mittelweg zwischen der Hauptströmung der Historiografie, welche die Rolle von Netzwerken tendenziell unterschätzt hat, und den Verschwörungstheoretikern zu finden, die ihre Rolle gewöhnlich überschätzen. Ich schlage ein neues historisches Narrativ vor, in dem größere Veränderungen – die bis zur Ära der Entdeckungen und zur Reformation, wenn nicht weiter zurückreichen – im Wesentlichen als destabilisierende Herausforderungen verstanden werden können, die Netzwerke für die etablierten Hierarchien darstellten. Damit werden auch die selbstgewissen Behauptungen mancher heutiger Kommentatoren infrage gestellt, die durch Netzwerke ausgelöste Störung hierarchischer Ordnung sei per se gutartig. Und es werden die Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts einbezogen, um herauszufinden, wie die von Netzwerken vermittelten revolutionären Energien im Zaum gehalten werden können.
* Der Name bezieht sich auf Minerva, die römische Bezeichnung für die Göttin der Weisheit, Pallas Athene. Das Wahrzeichen der Illuminaten war eine Eule, die auf den Seiten eines aufgeschlagenen Buches sitzende Vertraute der Göttin.