Cover

Buch

Johan Andersson – seit seinen zahllosen Gefängnisaufenthalten nur noch »Mörder-Anders« genannt – ist frisch aus dem Knast entlassen, braucht eine Bleibe, neue Freunde und ein wenig Kleingeld, um sich das Leben schönzutrinken. Da kommt ihm die Begegnung mit der Pfarrerin Johanna Kjellander, die wegen ihrer atheistischen Gesinnung frisch entlassen wurde, gerade recht. Johanna ist ebenfalls auf der Suche nach dem schnellen Geld und hat eine geniale Geschäftsidee: Zusammen mit dem Hotel-Rezeptionisten Per Persson gründen sie eine »Körperverletzungsagentur« mit Mörder-Anders in der Rolle des Auftragsschlägers. Das Geschäft läuft blendend. Bis Mörder-Anders plötzlich beschließt, friedfertig zu werden und riskiert, dass seine eigene Firma überflüssig wird …

Augenzwinkernd, raffiniert und mit einem Feuerwerk an genialen Einfällen hält Jonas Jonasson der modernen Gesellschaft einen Spiegel vor und hat mit Mörder-Anders einen unvergesslichen Anti-Helden erschaffen.

Autor

Jonas Jonasson, geboren 1961 im schwedischen Växjö, arbeitete zunächst als Journalist und gründete später eine Medien-Consulting-Firma. Nach 20 Jahren in der Medienwelt verkaufte er seine Firma und schrieb den Roman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Das Buch wurde zum legendären Weltbestseller. Auch seine weiteren Romane Die Analphabetin, die rechnen konnte (carl’s books 2013) und Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind (carl’s books 2016), wurden riesige internationale Erfolge. Jonas Jonasson lebt auf der schwedischen Insel Gotland.

Jonas Jonassons

Mörder Anders
und seine Freunde
nebst dem einen
oder anderen Feind

Roman

Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Mördar-Anders och hans vänner (samt en och annan ovän) im Piratförlaget, Stockholm 2015.

Copyright © 2015 Jonas Jonasson
First published by Piratförlaget, Sweden
Published by agreement with Brandt New Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
bei carl’s books, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: semper smile

unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/DoubleBubble; shutterstock/waku

Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-18232-8
V004

www.carlsbooks.de

Das hätte Dir gefallen, Papa.
Deswegen widme ich es Dir.

1. TEIL




Ein Gewerbe der ganz anderen Art

1. KAPITEL

Er, dessen Leben schon bald voll sein sollte von Tod und Gewalttaten, von Dieben und Gangstern, stand an der Rezeption eines der traurigsten Hotels von ganz Schweden und träumte vor sich hin.

Pferdehändler Henrik Bergmans einziger Enkel führte die gesammelten Kränkungen seines Lebens wie immer auf seinen Großvater zurück. Der Kerl war in Südschweden der Beste seines Fachs gewesen und hatte nie unter siebentausend Tiere pro Jahr verkauft, und zwar nur erstklassige.

Doch ab Mitte der Fünfzigerjahre begannen die Bauern, diese Verräter, Großvaters Kalt- und Warmblüter gegen Traktoren auszutauschen, und das in einem Tempo, das dem alten Herrn einfach nicht in den Kopf gehen wollte. Aus siebentausend Verkäufen wurden erst siebenhundert, dann siebzig, dann sieben. Innerhalb von fünf Jahren war das Millionenvermögen der Familie in einer Dieselwolke verraucht. Der Vater des noch ungeborenen Enkels versuchte 1960 zu retten, was zu retten war, indem er die Bauern der Gegend abklapperte und ihnen predigte, dass die Technik ein Fluch ist. Es gingen ja so viele Gerüchte. Zum Beispiel, dass man vom Dieselbrennstoff Krebs bekam, wenn man damit in Berührung kam, was sich ja schlecht vermeiden ließ.

Und dann fügte Papa noch hinzu, dass Diesel wissenschaftlichen Studien zufolge Unfruchtbarkeit beim Mann hervorrufen könne, aber das hätte er besser bleiben lassen. Denn erstens stimmte es nicht, und zweitens klang das gar zu lieblich in den Ohren der geplagten, aber dennoch ralligen Bauern, die jeweils drei bis acht Kinder zu versorgen hatten. Der Kauf von Kondomen war ihnen peinlich, im Unterschied zum Erwerb eines Massey Ferguson oder John Deere.

Großvater starb völlig mittellos, obendrein von seinem besten Pferd zertrampelt. Sein trauernder pferdeloser Sohn sattelte um, besuchte irgendeinen Kurs und bekam danach eine Stelle bei Facit AB, einem der weltweit führenden Hersteller von Schreib- und Rechenmaschinen. So brachte er es fertig, innerhalb eines Menschenlebens nicht nur einmal, sondern gleich zweimal von der Zukunft überholt zu werden, denn plötzlich tauchten elektronische Rechner auf dem Markt auf. Wie um das ziegelsteinschwere Produkt von Facit zusätzlich zu verhöhnen, passte die japanische Variante auch noch in die Innentasche eines Jacketts.

Die Apparate des Facit-Konzerns schrumpften nicht (jedenfalls nicht schnell genug), doch der Konzern selbst schrumpfte sehr wohl, um zu guter Letzt zu einem Nichts zu verschrumpeln.

Der Pferdehändlerssohn nahm seinen Abschied. Um zu verdrängen, dass er gleich zweimal vom Schicksal hereingelegt worden war, griff er zur Flasche. Arbeitslos, verbittert, ewig ungeduscht und niemals nüchtern, verlor er binnen Kurzem alle Anziehungskraft auf seine zwanzig Jahre jüngere Frau, die es erst noch eine Weile bei ihm aushielt und dann noch eine Weile.

Bis sich die geduldige junge Frau schließlich dachte, dass sie den Fehler, den falschen Mann geheiratet zu haben, rückgängig machen konnte.

»Ich will die Scheidung«, sagte sie eines Vormittags zu ihrem Mann, während er in weißer Unterhose mit dunklen Flecken durch die Wohnung taperte und irgendetwas suchte.

»Hast du die Kognakflasche gesehen?«, sagte ihr Mann.

»Nein. Aber ich will die Scheidung.«

»Ich hab sie gestern Abend auf die Spüle gestellt, du musst sie weggeräumt haben.«

»Schon möglich, dass sie im Schnapsschrank gelandet ist, als ich die Küche aufgeräumt habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich versuche dir die ganze Zeit zu erklären, dass ich die Scheidung will.«

»Im Schnapsschrank? Natürlich, da hätte ich gleich suchen sollen. Wie dumm von mir. Ziehst du hier aus? Dann nimmst du den kleinen Hosenscheißer da auch mit, oder?«

Ja, sie nahm das Baby mit. Einen semmelblonden Jungen mit freundlichen blauen Augen. Der weit später Rezeptionist werden sollte.

Die Mutter hatte eine Laufbahn als Sprachlehrerin ins Auge gefasst, aber das Baby war damals eine Viertelstunde vor der Abschlussprüfung gekommen. Jetzt fuhr sie mit dem Kleinen und ihrem ganzen Sack und Pack nach Stockholm und unterschrieb die Scheidungspapiere. Dann nahm sie wieder ihren Mädchennamen an, Persson, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was das für den Jungen bedeutete, der bereits den Vornamen Per bekommen hatte (nicht, dass es unmöglich wäre, Per Persson zu heißen oder von mir aus auch Jonas Jonasson, aber es kann ein bisschen eintönig wirken).

In der Hauptstadt wartete eine Arbeit als Politesse auf sie. Da lief Per Perssons Mutter die Straßen auf und ab und musste sich mehr oder weniger täglich von männlichen Falschparkern pampig kommen lassen, vor allem von solchen, die sich das auferlegte Bußgeld problemlos leisten konnten. Der Lehrerinnentraum löste sich in Luft auf, der Traum, das Wissen zu verbreiten, nach welchen deutschen Präpositionen der Akkusativ steht und nach welchen der Dativ, und das Ganze an Schüler, denen das im Allgemeinen sicher herzlich egal war.

Aber als seine Mutter eine halbe Ewigkeit mit dem Job zugebracht hatte, der eigentlich nur vorübergehend sein sollte, ergab es sich, dass einer dieser ganzen pampigen Falschparker auf einmal in der Politessenuniform die Frau entdeckte. Eins kam zum anderen, und so saßen sie zum Essen in einem feinen Restaurant, in dem man den Strafzettel bei einem Kaffee mit Schuss fein säuberlich in der Mitte durchriss. Und als es dann wieder zum nächsten kam, hatte der Falschparker der Mutter von Per Persson auch schon einen Heiratsantrag gemacht.

Der Bräutigam war ein isländischer Banker auf dem Heimweg nach Reykjavik. Er versprach seiner zukünftigen Gattin das Blaue vom Himmel, wenn sie mit ihm mitkam. Den Sohn hätte er auch in Kauf genommen. Doch mittlerweile war schon so viel Zeit vergangen, dass der semmelblonde kleine Junge volljährig war und über sich selbst bestimmen konnte. Er rechnete sich in Schweden eine hellere Zukunft aus, und da niemand die folgenden Ereignisse mit dem vergleichen kann, was stattdessen hätte geschehen können, kann man nicht sagen, wie recht oder unrecht der Sohn mit dieser Rechnung hatte.

Per Persson hatte sich schon als Sechzehnjähriger neben dem Gymnasium, in das er sich nicht besonders reinkniete, einen Job besorgt. Er erzählte seiner Mutter nie detailliert, worin seine Arbeit bestand. Und er hatte seine Gründe.

»Wohin gehst du, mein Junge?«, konnte seine Mutter fragen.

»In die Arbeit, Mama.«

»So spät?«

»Ja, die haben fast immer offen.«

»Was machst du da denn eigentlich?«

»Das hab ich dir doch schon tausendmal erklärt. Ich bin Assistent in der … Unterhaltungsbranche. Zwischenmenschliche Begegnungen und all so was.«

»Wie – Assistent? Und was bedeutet …«

»Ich muss jetzt wirklich los, Mama. Wir können ja später weiterreden.«

Und wieder einmal hatte sich Per Persson erfolgreich herausgeredet. Natürlich erzählte er ungern Details, wie zum Beispiel, dass sein Arbeitgeber in einem großen, heruntergekommenen gelben Holzhaus in Huddinge, südlich von Stockholm, flüchtige Liebe portionierte und verkaufte. Oder dass sich dieses Etablissement Club Amore nannte. Oder dass seine Arbeit darin bestand, sich um die Logistik zu kümmern sowie den Anreißer und Kontrolleur zu geben. Jeder Besucher musste für den richtigen Zeitraum und die richtige Liebe das richtige Zimmer finden. Der Junge erstellte den Zeitplan, behielt die Zeit im Auge, horchte an den Türen (und ließ seiner Fantasie freien Lauf). Wenn er das Gefühl hatte, dass da was aus dem Ruder lief, schlug er Alarm.

Als seine Mutter auswanderte und Per Persson auch offiziell mit seiner Ausbildung fertig war, beschloss sein Arbeitgeber, die Branche zu wechseln. Aus Club Amore wurde Pension Sjöudden. Die lag zwar nicht an einem See, und auf einer Landzunge oder Udde auch nicht. Aber wie der Hotelbesitzer so schön sagte: »Irgendwie muss der Scheiß ja heißen.«

Vierzehn Zimmer. Zweihundertfünfundzwanzig Kronen pro Nacht. Gemeinschaftstoiletten und -duschen. Einmal die Woche neue Laken und Handtücher, aber auch nur dann, wenn die benutzten wirklich hinreichend benutzt aussahen. Der Besitzer hatte sich eigentlich nicht gewünscht, seinen Betrieb von Liebesnest auf drittklassiges Hotel umzustellen. Er hatte ordentlich Geld verdient, solange seine Gäste Gesellschaft im Bett hatten. Und wenn sich eine Lücke im Stundenplan der Mädchen auftat, konnte er selbst zu einer von ihnen unter die Decke schlüpfen.

Der einzige Vorteil an der Pension Sjöudden war der, dass sie nicht so illegal war. Der ehemalige Sexclubinhaber hatte acht Monate sitzen müssen, und seiner Meinung nach war das mehr als genug.

Per Persson, der sein logistisches Talent unter Beweis gestellt hatte, wurde die Stelle als Rezeptionist angeboten, und das war nicht das Schlechteste (von der miesen Bezahlung einmal abgesehen). Er musste das Ein- und Auschecken übernehmen, dafür sorgen, dass die Gäste bezahlten, die Reservierungen und Absagen im Auge behalten. Dabei durfte er es sich durchaus auch ein wenig gemütlich machen, solange es sich nicht negativ auf die Bilanz auswirkte.

Es war ein neues Unternehmen unter neuem Namen, und Per Perssons Auftrag war ein anderer und verantwortungsvollerer als zuvor. Das veranlasste ihn, seinen Chef aufzusuchen und ihm mit allem Respekt eine Gehaltsanpassung vorzuschlagen.

»Nach oben oder nach unten?«, fragte der Chef.

Per Persson antwortete, er würde eine Anpassung nach oben vorziehen. Das Gespräch hatte eine andere Wendung genommen als erhofft. Jetzt stand er da und hoffte, zumindest den Lohn zu behalten, den er schon hatte.

Genau so ging es auch aus. Sein Chef war jedoch so großzügig, ihm einen Vorschlag zu machen: »Zieh doch ins Zimmer hinter der Rezeption, verdammt, dann sparst du dir die Miete für die Wohnung, die du von deiner Mutter übernommen hast.«

Tja. Per Persson musste ihm zustimmen, auf die Art ließ sich ein wenig Geld einsparen. Da ihm sein Lohn ohnehin schwarz ausgezahlt wurde, konnte er ja versuchen, nebenher noch Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung zu bekommen.

So kam es, dass der junge Rezeptionist völlig in seiner Arbeit aufging. Er lebte in seiner Rezeption. Es verging ein Jahr, es vergingen zwei, es vergingen fünf, und im Wesentlichen wurde die Lage für den Jungen nicht besser, als sie für seinen Vater und seinen Großvater gewesen war. Und daran bekam der verstorbene Großvater die Schuld. Der Mann war Multimillionär gewesen. Jetzt stand sein eigen Fleisch und Blut in dritter Generation hinter einem Tresen und empfing übel riechende Hotelgäste, die sich Mörder-Anders nannten oder auf ähnlich schreckliche Namen hörten.

Mörder-Anders war zufällig einer der Langzeitbewohner in der Pension Sjöudden. Eigentlich hieß er Johan Andersson und hatte sein ganzes Erwachsenenleben im Gefängnis gesessen. Mit Worten und Formulierungen hatte er sich noch nie leichtgetan, aber er kam schon früh dahinter, dass man trotzdem zu seinem Recht kam, wenn man Leute, die einem widersprachen – oder so aussahen, als wollten sie widersprechen –, einfach verdrosch. Und bei Bedarf auch gerne noch mal verdrosch.

Diese Art von Gesprächen führte mit der Zeit dazu, dass der junge Johan in schlechte Gesellschaft geriet. Seine neuen Bekannten überzeugten ihn davon, seine bereits gewalttätige Argumentationstaktik mit Schnaps und Tabletten zu unterfüttern, und da war es auch schon aus. Schnaps und Tabletten brachten ihm zwölf Jahre ein, als er zwanzig war, weil er dem Gericht nicht erklären konnte, wie seine Axt in den Rücken des größten Amphetamindealers in seinem Viertel geraten war.

Nach acht Jahren war Mörder-Anders wieder draußen und feierte seine Entlassung mit solchem Schwung, dass er kaum nüchtern war, als er schon vierzehn neue Jahre aufgebrummt bekam. Diesmal war eine Schrotflinte im Spiel gewesen. Aus nächster Nähe. Direkt ins Gesicht der Person, die die Nachfolge des Mannes mit der Axt im Rücken angetreten hatte. Kein schöner Anblick für denjenigen, den man zur Tatortreinigung gerufen hatte.

Mörder-Anders behauptete vor Gericht, es sei keine Absicht gewesen. Glaubte er zumindest. Vom Ablauf der Ereignisse wusste er nicht mehr allzu viel. Ungefähr so wie beim nächsten Mal, als er einem dritten Tablettengroßhändler die Kehle durchschnitt, weil der ihm unterstellt hatte, schlechte Laune zu haben. Der Mann mit wenig später durchschnittener Kehle hatte zwar in der Sache recht gehabt, aber das hatte ihm nicht viel genützt.

Mit sechsundfünfzig Jahren war Mörder-Anders wieder in Freiheit. Im Unterschied zu den Malen davor ging es nicht um einen vorübergehenden Besuch, sondern um einen permanenten Aufenthalt. So hatte er es zumindest geplant. Er musste nur dem Schnaps aus dem Weg gehen. Und den Tabletten. Und allem und jedem, der oder das mit Schnaps und Tabletten zu tun hatte.

Mit Bier war es nicht so schlimm, davon wurde er vor allem fröhlich. Oder halbwegs fröhlich. Oder zumindest nicht wahnsinnig.

Er hatte die Pension Sjöudden in dem Glauben aufgesucht, dass das Etablissement immer noch Erlebnisse der Art bot, die einem schwer abgehen können, wenn man ein Jahrzehnt hinter Gittern sitzt, oder auch drei. Nachdem er seine Enttäuschung über die veränderten Umstände überwunden hatte, beschloss er, stattdessen einfach einzuchecken. Er brauchte ja irgendeine Unterkunft, und über gut zweihundert Kronen pro Nacht konnte man sich im Grunde nicht aufregen, vor allem nicht, wenn man sich vor Augen hielt, wohin das Aufregen immer so führte.

Noch bevor er sich das erste Mal den Zimmerschlüssel geben ließ, hatte Mörder-Anders dem jungen Rezeptionisten, der ihm über den Weg lief, seine ganze Lebensgeschichte erzählt. Zu dieser Geschichte gehörte seine Kindheit, auch wenn der Mörder fand, dass sie für die folgenden Geschehnisse nicht relevant war. Seine frühen Jahre hatten in erster Linie so ausgesehen, dass sich sein Vater nach der Arbeit volllaufen ließ, um die Arbeit weiter zu ertragen, und dass seine Mutter es ebenso machte, um seinen Vater weiter zu ertragen. Das führte dazu, dass sein Vater seine Mutter nicht mehr ertragen konnte und ihr das zeigte, indem er sie regelmäßig verprügelte, meistens, während sein Sohn dabei zusah.

Der Rezeptionist traute sich nach der ganzen Erzählung nichts anderes mehr, als Mörder-Anders mit einem Händedruck willkommen zu heißen und sich vorzustellen:

»Per Persson«, sagte er.

»Johan Andersson«, sagte der Mörder und versprach zu versuchen, in Zukunft so wenig Morde wie möglich zu begehen.

Daraufhin fragte er den Rezeptionisten, ob er wohl ein Pils entbehren könne. Nach siebzehn Jahren ohne konnte man schon eine leicht trockene Kehle bekommen.

Per Persson hatte nicht vor, seine Beziehung zu Mörder-Anders damit zu beginnen, dass er ihm ein Bier verweigerte. Aber während er ihm einschenkte, fragte er, ob der Herr Andersson sich vorstellen könne, Schnaps und Tabletten außen vor zu lassen.

»Ja, dann hat man mehr Ruhe«, sagte Johan Andersson. »Aber sag ruhig Mörder-Anders zu mir. So wie alle anderen.«

2. KAPITEL

Man musste sich über die kleinen Dinge freuen. Zum Beispiel darüber, dass die Monate vergingen, ohne dass Mörder-Anders den Rezeptionisten oder sonst wen in unmittelbarer Nähe des Hotels ermordet hätte. Und dass der Chef Per Persson gestattete, seine Rezeption jeden Sonntag für ein paar Stunden zu schließen. Wenn bei so einer Gelegenheit auch noch das Wetter auf der Seite des Rezeptionisten war – im Gegensatz zu den meisten anderen Dingen in seinem Leben –, dann nutzte er die Gelegenheit, um das Hotel zu verlassen. Nicht, um so richtig einen draufzumachen, dafür reichte das Geld nie. Doch still auf einer Parkbank zu sitzen und nachzudenken, das war immer noch kostenlos.

So saß er auch da, mit vier eingepackten Schinkenbroten und einer Flasche Himbeersaft, als ihn auf einmal unvermutet jemand ansprach.

»Wie geht’s, wie steht’s, mein Sohn?«

Vor ihm stand eine Frau, nicht viel älter als er. Sie sah schmutzig und heruntergekommen aus, und an ihrem Hals leuchtete ein weißes Beffchen, wenn auch mit einem Rußfleck darauf.

Per Persson hatte sich nie mit der Religion befasst, aber eine Pfarrerin war eben doch eine Pfarrerin, und er fand, sie verdiente ebenso viel Respekt wie die Mörder, Junkies und der ganze Abschaum, mit dem er in der Arbeit zu tun hatte. Vielleicht sogar ein bisschen mehr.

»Danke der Nachfrage«, sagte er. »Es war schon mal besser. Obwohl – war es eigentlich noch nie, wenn ich genau drüber nachdenke. Mein Leben besteht eigentlich nur aus Qualen, könnte man sagen.«

Verdammt, das war jetzt aber ganz schön persönlich ausgefallen, dachte er. Am besten, er stellte die Dinge gleich noch mal richtig.

»Aber wie es mit meiner Gesundheit und meiner Gemütslage steht, ist nichts, womit ich die Frau Pastorin belästigen will. Wenn ich nur immer was zu beißen habe, lösen sich die meisten Probleme von allein«, sagte er und gab zu verstehen, dass das Gespräch beendet war, indem er seine Aufmerksamkeit auf den Verschluss seiner Brotbox wandte.

Dieses Signal wurde von der Pfarrerin jedoch nicht registriert. Stattdessen verkündete sie, dass sie es wahrhaftig nicht als belastend empfinden würde, ihm auf die eine oder andere Art zu Diensten zu sein, wenn sie ihm das Dasein dadurch etwas erleichtern könnte. Eine persönliche Fürbitte wäre da doch wohl das Mindeste?

Eine Fürbitte? Per Persson fragte sich im Stillen, was die schmutzige Pfarrerin sich davon versprach. Glaubte sie, dass es dann plötzlich Geld vom Himmel regnen würde? Oder Brot und Kartoffeln? Obwohl … was soll’s. Es widerstrebte ihm, jemand abzuweisen, der ihm nur Gutes tun wollte.

»Danke, Frau Pastor. Wenn Sie glauben, dass ein Gebet zum Himmel mein Leben erleichtern kann, werde ich mich bestimmt nicht dagegen wehren.«

Die Pfarrerin nahm lächelnd auf der Parkbank neben dem Rezeptionisten Platz. Und machte sich an ihre Arbeit.

»Gott, sieh auf dein Kind … wie heißt du eigentlich?«

»Ich heiße Per«, sagte Per Persson und fragte sich, was Gott wohl mit dieser Information anfangen sollte.

»Gott, sieh auf dein Kind Per, sieh, wie er leidet …«

»Na ja, also … leiden tue ich jetzt nicht so wirklich.«

Die Pfarrerin kam aus dem Konzept, meinte dann, sie fange wohl am besten noch mal von vorne an, und im Übrigen würde das Gebet seine Wirkung am besten entfalten, wenn sie nicht allzu oft unterbrochen wurde.

Per Persson entschuldigte sich und versprach, sie in Ruhe fertig fürbitten zu lassen.

»Danke«, sagte die Pfarrerin und setzte noch einmal neu an. »Gott, sieh auf dein Kind, sieh, wie er das Gefühl hat, dass es besser sein könnte, auch wenn er nicht so wirklich leidet. Herr, gib ihm Sicherheit, lehre ihn, die Welt zu lieben. Und die Welt soll ihn lieben. O Jesus, trag dein Kreuz an seiner Seite, dein Reich komme und so weiter.«

Und so weiter?, dachte Per Persson, wagte aber nichts zu sagen.

»Gott segne dich, mein Sohn, mit Kraft und Stärke und … Kraft. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Per Persson wusste nicht, wie sich eine persönliche Fürbitte anhören musste, aber was er da gerade gehört hatte, klang eher flüchtig zusammengeschustert. Und er war nahe daran, etwas in dieser Richtung zu sagen, als die Pfarrerin ihm zuvorkam: »Das macht zwanzig Kronen bitte.«

Zwanzig Kronen? Dafür?

»Sie wollen Bezahlung für Ihre Fürbitte?«, fragte Per Persson.

Die Pfarrerin nickte. Fürbitten könne man nicht einfach so runterleiern. Die erforderten Konzentration und Hingabe, sie verlangten einem Kraft ab – und auch eine Pfarrerin müsse ja auf Erden leben und nicht im Himmel.

Was Per Persson da soeben gehört hatte, hatte in seinen Ohren weder hingebungsvoll noch konzentriert geklungen, und er war beileibe nicht sicher, ob es wirklich der Himmel war und nicht etwas ganz anderes, was die Pfarrerin erwartete, wenn es eines Tages so weit war.

»Wie wär’s mit zehn Kronen?«, versuchte es die Pfarrerin.

Sie senkte den Preis, von wenig auf fast gar nichts? Per Persson musterte sie genauer und sah etwas … anderes? Etwas … Elendes?

Und da beschloss er, dass sie eher eine Schwester im Unglück war als eine Betrügerin.

»Möchten Sie ein belegtes Brot?«, bot er ihr an.

Die Miene der Pfarrerin hellte sich auf.

»Oh, danke, das wäre lecker. Der Herr segne dich!«

Per Persson meinte, aus historischer Perspektive deute eigentlich alles darauf hin, dass der Herr mit anderen Dingen beschäftigt sei, als ausgerechnet ihn, Per Persson, zu segnen. Und das Gebet, das der da oben gerade empfangen habe, würde daran auch nichts ändern.

Die Pfarrerin sah aus, als wollte sie etwas darauf erwidern, aber der Rezeptionist reichte ihr rasch seine Brotbox.

»Hier, bitte«, sagte er. »Essen Sie lieber etwas, statt weiter zu reden.«

»Er leitet die Elenden recht und lehrt die Elenden seinen Weg. Psalm 25«, sagte die Pfarrerin, die mit vollen Backen sein Schinkenbrot kaute.

»Ja, wie gesagt«, meinte Per Persson.

Sie war wirklich Pfarrerin. Während sie die vier Brote des Rezeptionisten in sich hineinmampfte, erzählte sie, dass sie bis letzten Sonntag auch eine eigene Gemeinde gehabt hatte, bis sie mitten in der Predigt vom Sprecher des Gemeinderats mit der Aufforderung unterbrochen wurde, von der Kanzel zu steigen, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden.

Das fand Per Persson ganz schrecklich. Gab es im Himmel denn nicht auch so was wie Kündigungsschutz?

Doch, natürlich, aber der Sprecher des Gemeinderats sah sich im Recht. Und die restliche Gemeinde stimmte ihm da vollauf zu. Übrigens einschließlich der Pfarrerin selbst. Mindestens zwei Gemeindemitglieder warfen ihr noch ein Gesangbuch hinterher, als sie hinausging.

»Wie du sicher ahnst, gibt es auch eine längere Version der Geschichte. Möchtest du sie hören? Ich war im Leben wahrlich nicht auf Rosen gebettet, das kann ich dir versichern.«

Per Persson überlegte. Wollte er hören, worauf die Pfarrerin gebettet gewesen war, wenn nicht auf Rosen, oder reichte ihm schon das Elend, das er ohne ihr Zutun mit sich herumschleppen musste?

»Ich bin nicht sicher, ob es mein Dasein aufhellt, wenn ich mir die Geschichten von anderen Leuten anhöre, die ebenfalls in der Finsternis leben«, sagte er. »Aber den Kern der Sache können Sie mir schon kurz darstellen, wenn es nicht zu langatmig wird.«

Den Kern der Sache? Der Kern der Sache sah so aus, dass sie seit sieben Tagen herumirrte, von Sonntag bis Sonntag in Kellern und weiß Gott wo geschlafen hatte, gegessen hatte, was sie gerade in die Finger bekam, und …

»Wie vier von vier möglichen Schinkenbroten«, bemerkte Per Persson. »Möchten Sie mein einziges Essen mit meinem letzten Himbeersaft hinunterspülen?«

Da sagte die Pfarrerin nicht Nein. Und nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, fuhr sie fort:

»Um es kurz zu machen: Ich glaube nicht an Gott. Und an Jesus gleich noch weniger. Mein Vater hat mich gezwungen, in seine Fußstapfen zu treten – also, in die Fußstapfen meines Vaters, nicht in die von Jesus –, als er zu allem Unglück keinen Sohn bekam, sondern nur eine Tochter. Aber mein Vater war wiederum auch nur von seinem Vater zu dieser Laufbahn gezwungen worden. Ob sie alle beide vom Teufel gesandt waren, lässt sich schwer sagen. Das geistliche Amt lag auf alle Fälle in der Familie.«

Dieses Konzept, ein Opfer im Schatten von Vater und Großvater zu sein, vermittelte Per Persson sofort ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dieser Frau, und er meinte, wenn man es ihnen als Kinder erspart hätte, den ganzen Mist mit sich rumzuschleppen, den Generationen vor ihnen angesammelt hatten, dann hätte in ihrem Leben vielleicht ein bisschen mehr geklappt.

Die Pfarrerin verzichtete darauf, ihn auf die Notwendigkeit vorhergehender Generationen für die eigene Existenz hinzuweisen. Stattdessen fragte sie, welcher Weg ihn zu … dieser Parkbank geführt hatte.

Diese Parkbank, ja. Und eine düstere Hotelrezeption, in der er sowohl wohnte als auch arbeitete. Und sein Bier mit Mörder-Anders teilte.

»Mörder-Anders?«, wiederholte die Pfarrerin.

»Ja«, sagte der Rezeptionist. »Der wohnt in Nummer 7.«

Per Persson fand, dass er der Pfarrerin ruhig ein paar Minuten seiner Zeit schenken konnte, wenn sie ihn schon mal gefragt hatte. Also erzählte er vom Großvater, der seine Millionen verschleudert hatte. Vom Vater, der einfach aufgegeben hatte. Von seiner Mutter, die sich einen isländischen Banker geangelt und das Land verlassen hatte. Wie er selbst als Sechzehnjähriger in einem Freudenhaus gelandet war. Und wie er jetzt als Rezeptionist in dem Hotel arbeitete, in das man dieses Freudenhaus umgemodelt hatte.

»Und wenn ich mal zwanzig Minuten freihabe und mich auf eine Bank setze, in sicherem Abstand zu den ganzen Räubern und Gangstern, mit denen ich dienstlich zu tun habe, dann taucht eine Pfarrerin auf, die nicht an Gott glaubt, die erst versucht, mir mein letztes Geld abzuschwindeln, und mir dann mein Pausenbrot wegisst. Da haben Sie mein Leben, es sei denn, das alte Freudenhaus hätte sich dank Ihrer Fürbitte in ein Grandhotel verwandelt, wenn ich zurückkomme.«

Die schmutzige Pfarrerin mit den Brotkrümeln am Mund schaute beschämt drein. Sie meinte, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass die Fürbitte so unmittelbare Ergebnisse erzielt habe, vor allem deshalb nicht, weil sie hastig hingeworfen worden war und der Empfänger ja sowieso nicht existierte. Jetzt tat es ihr leid, dass sie für solchen Pfusch Geld verlangt hatte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Großzügigkeit des Rezeptionisten mit seinen belegten Broten.

»Erzähl mir doch gern mehr von diesem Hotel«, bat sie. Er habe nicht zufällig ein Zimmer übrig zum … Freundschaftspreis?

»Freundschaftspreis?«, sagte Per Persson. »Wann genau hätten wir denn Freundschaft geschlossen, die Frau Pfarrerin und ich?«

»Na ja«, meinte die Pfarrerin. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«