EINE REISE, UM DEN TOD ZU ÜBERWINDEN

Ein Brahmane prophezeit dem Journalisten Alberto Giuliani als junger Mann, dass er im Alter von 43 Jahren sterben werde. Für viele Jahre denkt er nicht weiter darüber nach. Mit Anfang 40 erinnert er sich plötzlich wieder an dessen Worte: »Du wirst mit 43 einen gewaltsamen Tod erleiden. Nur ein Mann aus der Zukunft kann dir helfen. Finde ihn und vertraue ihm, er wird dir den richtigen Weg weisen.« Auf der Suche nach diesem Mann trifft er auf der ganzen Welt Wissenschaftler und Vordenker. Bei jeder Begegnung geht es um die Frage, wie unser Leben in Zukunft aussehen kann. Welchen Preis wir bereit sind, für die vermeintliche Unsterblichkeit zu zahlen.

Ob es wirklich darauf ankommt, möglichst lange zu leben, oder ob am Ende vielleicht doch ganz andere Dinge wirklich zählen. Ein ungewöhnliches, poetisches Buch über den Sinn des Lebens.

Alberto Giuliani, geboren 1975, ist Journalist, Fotograf und Regisseur. Seine Reportagen und Fotos erscheinen in bedeutenden internationalen Medien, darunter Condé Nast Traveller, Vanity Fair, Der Spiegel und Stern. Fürseine Bilder wurde er mit den wichtigsten internationalen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Canon Award und dem Leica Award für Reportage.

Alberto Giuliani

IM WARTEZIMMER DER UNSTERBLICHKEIT

Ein Reisebericht aus der Welt von morgen

Kösel

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Deutsche Erstausgabe

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Gli immortali, Storia dal mondo che verrá«.

© il Saggiatore S.r.l., Milano, 2019

Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Übersetzerin: Elisabeth Liebl

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Satz: dtp im Verlag

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25597-8
V002

www.koesel.de

INHALT

VORWORT

DIE PROPHEZEIUNG

DER LETZTE TAG AUF DEM MARS

IM WARTESAAL ZUR EWIGKEIT

DIE HEIMSTATT DER APOKALYPSE

WÄCHTER AM RANDE DER WELT

UND DER MENSCH SCHUF DEN GARTEN EDEN

ICH BIN WIR

WIEDERGEBURT – FÜR ALLE EWIGKEIT

IM CODE DES LEBENS

AN DEN UFERN DES TODES

Für Francesca, Ernesto, Olivia und Rocco

Ihr wart immer bei mir, auch wenn wir uns ferne waren

VORWORT

Vor vielen Jahren las mir eine Frau am Ufer des Baikalsees in Sibirien aus der Hand. Und im Herbst 1999, ein paar Jahre später, tat ein indischer Brahmane aus der heiligen Stadt Vrindavan einen Blick in meine Zukunft. Beide sagten mir dieselben Freuden voraus, die das Leben für mich bereithalten würde. Und den Tod. Vorzeitig und gewaltsam. Und er sollte mich bald ereilen.

Der Brahmane riet mir, einen gelben Saphir am Zeigefinger der rechten Hand zu tragen. »An jenem Tag wird er dir helfen, dich zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Und ein Mann in der Zukunft wird dir den rechten Weg weisen.«

Einige der Dinge, die man mir vorhergesagt hat, sind eingetroffen. Andere – hm, ich weiß nicht so recht. Die Worte sind im Schlund der Zeit versunken, zusammen mit den Dingen, denen ich keine Bedeutung beimesse.

Aber als der bewusste Zeitpunkt näher rückte, habe ich mir immer wieder vorgesagt, dass die Prophezeiung nicht stimmen konnte. Die reiche Frau mit zwei Kindern, mit der ich ein Kind zeugen sollte, hätte eine Bekanntschaft aus Kindertagen sein sollen. Unmöglich, denn Francesca lebte am anderen Ende Italiens und wir hatten uns in Paris kennengelernt, etwa ein Jahr zuvor.

Letzten Sommer hielten wir uns dann in dem Haus am Meer auf, das meiner Familie gehört, gemeinsam mit allen Kindern. Dort habe ich eine Fotografie wiedergefunden, die im Jahr 1984 aufgenommen wurde, auf einer Hütte in den Dolomiten. Sie zeigte mich, als mein Skilehrer mir eine Medaille für mein erstes gewonnenes Rennen überreichte. Unter den Kindern, die vor dem Podium standen, war auch jenes Mädchen, das heute die Mutter meines Sohnes ist.

Ich habe diese Tatsache zunächst als Zufall betrachtet, der mehr über die Wechselfälle der Liebe aussagte als über jene des Todes. Doch so wie ich heute noch einen gelben Saphir am Zeigefinger der rechten Hand trage, hat sich an jenem Tag in mir etwas verändert: Ich wollte, von Prophezeiungen ausgehend, die Zukunft der Menschheit erforschen, der Wissenschaften, um vielleicht einen Hinweis auf mein persönliches Morgen zu entdecken.

Ich habe mit Astronauten der NASA gesprochen, deren Ziel der Mars ist, in Japan mit den Vätern der humanoiden Roboter und mit Menschen, die sich in Erwartung eines neuen Lebens einfrieren lassen. Ich habe mit den Klimawächtern am Nordpol geredet, mit Menschen, die hoffen, die Menschheit zu erlösen und die Wälder zu retten, indem sie beides unter riesige Glaskuppeln stecken. Ich habe Wissenschaftlern gelauscht, die eine künstliche Sonne konstruieren, stärker als jede natürliche, und Politikern, die die Artenvielfalt durch Einbunkern retten wollen. Ich habe Menschen getroffen, die sich für die Apokalypse bereit machen, habe genveränderte Fische gegessen und Gemüse, das es in der Natur so nicht gibt. Ich habe Forscher kennengelernt, die klonen, die DNS-Ketten auseinanderschnippeln und wieder zusammensetzen, fast wie zur Blütezeit der Eugenik. Allenthalben habe ich nach Orientierung und Anleitung gesucht, nach Antworten auf meine Fragen nach der Zukunft. Doch auch diese Menschen wollten nur, wie ich, einen Weg finden, den Tod zu besiegen.

Am Ende dieser Reise bin ich wieder in die alte Stadt Vrindavan in Indien zurückgekehrt. Um jenen Brahmanen ausfindig zu machen und ihn zu fragen, ob der einzige Weg, ein würdevolles Leben zu führen, nicht das Annehmen seiner Endlichkeit ist.

DIE PROPHEZEIUNG

Ich kam schon immer gerne zu früh, wenn ich eine Verabredung hatte. Die Zeitspanne zwischen dem, was wir gerade getan haben, und dem, was wir gleich tun werden, ist frei von jeder Unruhe: Ich muss und kann nichts anderes tun als warten. Endlich höre ich auf, der Welt hinterherzujagen. Stattdessen kann ich sie, so kommt es mir jedenfalls vor, in solchen Momenten genau betrachten, kann mich Träumen und Hoffnungen hingeben, die fast immer erfreulicher anmuten als die Realität. Es ist wie mit einer Reise: Sie beginnt in dem Moment, in dem wir anfangen, sie uns auszumalen. In unserer Fantasie kommen wir meist weiter herum als in der Wirklichkeit. Manchmal denke ich, ich sollte mich einfach hinsetzen und mein ganzes Leben mit Warten verbringen statt ständig irgendetwas hinterherzuhetzen und mich zu verlieren, nur um mit den Problemen der Rastlosigkeit fertig zu werden.

Befände ich mich auf einem weit entfernten Planeten, bräuchte ich dafür nur einen Augenblick. Man sagt, die Zeit dehne sich da oben, wo sie der Schwerkraft entrissen ist, aus. Ein Seufzer im Himmel entspricht einem Jahr auf der Erde. Dann wäre ich vielleicht schon wieder wohlbehalten zu Hause.

Stattdessen spiele ich immer noch mit dem Ring herum, der seit zwanzig Jahren mein Wegbegleiter ist. Er ist viereckig und hat abgeschrägte Kanten. Ein honigfarbener Saphir ist in das inzwischen matt gewordene Gold eingebettet. Ich sollte ihn eigentlich am Zeigefinger tragen, aber am Ringfinger der rechten Hand gefällt er mir besser. Als ich ihn zum ersten Mal ansteckte, befand ich mich auf der anderen Seite des Erdballs. Ich war in einem Alter, in dem wir uns wünschen, jede Erfahrung möge Spuren auf unserem Körper hinterlassen. So würden wir uns weniger hilflos fühlen angesichts der Ungewissheit des Lebens. Ein Kuss vielleicht oder eine Narbe. Oder eben ein Ring. Der erinnert mich jetzt an diese Geschichte, die vor langer Zeit ihren Anfang nahm. Ich habe ihn immer bei mir getragen, weil er mir half, die Angst zu verscheuchen. Aber die hat mich nach all diesen Jahren wieder gepackt und mich zu dieser Reise getrieben.

Sie hatte leichtes Spiel mit mir. Fortgehen war schon immer mein Heilmittel gegen jede Art von Übel, jedenfalls soweit ich mich erinnern kann. Wenn es nicht mehr rund läuft, packe ich meine Sachen und breche still und leise meine Zelte ab. Das heißt nicht, dass ich fliehe. Was mich antreibt, sind eher eine Art Nomadeninstinkt und die Achtung vor dem Glück. Sind die Weiden abgegrast, hat Ausharren keinen Zweck, weil mich nur noch Dunkelheit und Kälte erwarten wie beim Einbruch des Winters. Ziehe ich hingegen los, sehe ich durch das Fenster die Landschaft an mir vorbeifliegen und mit ihr zusammen die Erinnerungen. Im Licht neuer Begegnungen, in der Sehnsucht nach dem Vergangenen finde ich zu meinen Gefühlen zurück. Manchmal brauche ich nur in einen Zug zu steigen oder ein paar Stunden lang im Auto herumzufahren, und schon geht es mir besser. Zu anderen Zeiten hingegen gibt es kein Zurück. Ich kehre meinem bisherigen Leben für immer den Rücken und behalte es in Erinnerung wie ein wunderbares Abenteuer.

Die Reiselust habe ich von meiner Mutter. Als ich acht war, klingelte an einem Sommernachmittag das Fernweh an unserer Tür. Ich öffnete mit nackten Füßen, die Katze auf dem Arm. Vor mir saß ein Mann auf einem Moped. Er war so um die sechzig und trug einen Sonnenhut und ein schweißnasses hellblaues Hemd. Auf dem Gepäckträger und dem Trittbrett des Mopeds stapelten sich Zeitschriften. Weitere Exemplare hingen in Tüten am Lenker. Es war der Zeitungshändler, der einen Stand auf der Piazza hatte. Er teilte mir mit, die Sammlung unserer Reisezeitschriften sei komplett, wir müssten sie nur noch bezahlen. Ich lief zu meinem Vater. Er hatte sich in der Mansarde ein Büro eingerichtet. Sein Schreibtisch stand vor den Fenstern, die auf den Garten gingen. Ich wusste, dass er bei der Arbeit nicht gestört werden wollte. Daher blieb ich auf der Schwelle stehen und meldete ihm mit gedämpfter Stimme, es sei ein Mann an der Tür, der uns etwas verkaufen wolle. Mein Vater war nicht geizig, aber er hatte als Kriegskind erfahren, was Armut bedeutet. Deshalb ging er mit Geld sehr sparsam um und beschränkte sich auf das Wesentliche. Ganz anders meine Mutter. Zwar hatte sie dieselbe Not erlebt, doch sie gab aus, was sie nur konnte, als wollte sie sich für diese Zeit entschädigen. Sie hatte eine besondere Leidenschaft für Reiseberichte und alles, in dem von fernen Ländern die Rede war. Also hatte sie den Inhaber des Zeitungsstands vor ihrem Büro gebeten, ihr die vielen Ausgaben einer in Einzelheften veröffentlichten Enzyklopädie aufzuheben. Nur hatte sie dies dann völlig vergessen, weil die Telefongesellschaft, für die sie arbeitete, an einen Standort außerhalb der Stadt verlegt wurde.

Mein Vater stand vom Schreibtisch auf und murrte etwas vor sich hin. Während ich die Zeitschriften auf den Tisch im Wohnzimmer häufte, bezahlte er ohne ein weiteres Wort den Betrag, der über anderthalb Jahre zusammengekommen war. Er wusste, wie wichtig diese Hefte waren, auch wenn niemand sie vielleicht je durchblättern würde.

Auf den Landkarten der Welt spürte meine Mutter ihren Erinnerungen nach, fügte die Bruchstücke ihrer Familie wieder zusammen, die von der Geografie und der Not der Auswanderer und Melancholie in alle Winde verweht worden waren. Auf den Seiten ihrer Reisebücher konnte sie Argentinien sehen und ihren Vater ausfindig machen, der sie für ein staubiges Zwiebelfeld in Patagonien zurückgelassen hatte. In den symmetrischen, rechtwinkligen Straßen von Buenos Aires suchte sie nach einem Friedhof am Stadtrand, in dem das Grab ihrer Schwester lag. Und auf den Fotos der Fischer auf dem Rio Paraná fand sie ihre Kindheit wieder. Sie wünschte sich, nach Kanada zu reisen, wo jener Onkel mit den rauen Maurerhänden eine Modedesignerin geheiratet und später, der Ärmste, sein Lebensende in der Klapsmühle verbracht hatte. Sie träumte von Kenia, wo ihre Cousins hingezogen waren. Einer von ihnen hatte sich in eine Chinesin verliebt und war dann spurlos verschwunden.

Im Alter von vier Jahren war meine Mutter ganz allein und wurde einer Adoptivtante anvertraut. Von da an behielt sie wie eine Schiffbrüchige den Horizont im Auge. Sie wollte ihre Wurzeln schützen, weil alle versprochen hatten, eines Tages zurückzukommen. Aber die Zeit ließ alle Beziehungen dahinschwinden und ließ ihr Leben zu einer Form des Exils werden. Sie fuhr nie weg, aus Angst, auch sie würde in der Welt verloren gehen. Aber in jenen stummen, in Zellophan eingeschweißten Heften fand sie die Kraft weiterzumachen.

Erst als Erwachsener verstand ich ihre Neurose. Als Kind setzte ich mich vor ein Bücherregal und schlug wahllos einen Band auf, von derselben Neugier getrieben, mit der man eine Truhe auf dem Dachboden öffnet. Ich liebte den Geruch des Kunstdruckpapiers und das Geräusch der Seiten beim Umblättern. So begann ich in der Fantasie zu reisen. Ich riss meine Lieblingsbilder aus den Heften und versteckte sie in einem Rucksack unter dem Bett. In meinen Tagträumen verbrachte ich jeden Tag an einem anderen Ort, traf Ureinwohner oder fuhr auf dem Schiff neben Walfischen her. Ich wusste nicht, ob ich je den Mut aufbringen würde, wirklich wegzufahren. Bis ich ins Teenageralter kam und alles in meiner Umgebung mich zu langweilen begann.

Ich war dreizehn. In China besetzten junge Leute den Tian'anmen-Platz und in Berlin brachten sie die Mauer zu Fall. Ich aber verbrachte meine Tage mit Algebra und den alten Ägyptern, und das mit denkbar schlechten Resultaten. Ich schämte mich für meinen schmächtigen Körper und versteckte ihn unter zu weiten Sweatshirts, deren Kapuzen mein Gesicht verbargen. Auf einem kaputten Rad fuhr ich zum Basketballtraining. Der einzige Korb, den ich in einem Spiel je warf, landete im eigenen Korb. Ich fühlte mich unnütz, alles erschien mir sinnlos. Ich begann ernsthaft darüber nachzudenken, wegzugehen.

In jenem Herbst schenkte mir mein Vater einen Fotoapparat zum Geburtstag. Damit ich die schönen Momente verewigen könne, meinte er. Dafür hätte ich das Geschenk gar nicht erst auspacken müssen. Aber ich hängte mir die Kamera um den Hals und begann, einfach alles zu fotografieren. Ich tat das nicht, um die Zeit festzuhalten, eher im Gegenteil. Ich fühlte, dass mich die Kamera über meine Grenzen hinauswachsen ließ. Mit dem Apparat in Händen fand ich in den Augen der anderen endlich eine Bestimmung, er machte meine Unzulänglichkeit wett und rückte mich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber das Wichtigste war, dass er sich zwischen mich und die Welt stellte und mir so ein Gefühl der Sicherheit verschaffte. So wurde die Kamera zum Reisepass meiner übermütigen Neugierde, zur Wegzehrung auf meinen Reisen und bald auch zu meinem Beruf.

Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, begann ich wegzufahren, ohne jemandem zu sagen, wohin ich ging oder wann ich zurückkommen würde. Ich wollte alles erleben, einfach alles, und wie kein anderer sein, ohne groß über die Zukunft nachzudenken, die mir damals unvergänglich erschien.

Auch als mich eines Tages in Sibirien jemand auf das Ende des Lebens ansprach. Das war im Oktober 1996. Ich befand mich im Auftrag einer deutschen Zeitung am Baikalsee. Als Dolmetscherin wurde mir eine junge Frau aus Sankt Petersburg zugeteilt, die im gleichen Alter war wie ich. Anna hatte rote Backen und einen fröhlichen Blick. Meine Aufgabe schien nicht weiter schwierig zu sein, aber nach zwei Wochen war mir noch kein einziges gutes Bild gelungen. Der Wintereinbruch hatte alle meine Pläne zunichtegemacht. Dieses Pech brachte mich fast zum Aufgeben. Ich saß auf dem Bett in meinem Hotelzimmer in Irkutsk und zählte das Geld, das uns geblieben war. Anna stand am Fenster und schaute einer Kuh zu, die im Garten weidete, während der erste Schnee fiel.

»Gut tausend Dollar. Was machen wir?«

»Sieh mal, wie süß.«

»Anna, könntest du die Kuh bitte sein lassen und überlegen, was wir jetzt am besten tun? Der Zug nach Moskau fährt morgen früh, und das Flugzeug können wir uns nicht leisten.«

»Lass uns weitermachen.«

»Wo?«

»Keine Ahnung. Warten wir doch einfach ein bisschen. Aus irgendeinem Grund werden wir schon hier sein.«

Annas Fatalismus war vielleicht die Eigenschaft, die ich neben ihrer Hartnäckigkeit an ihr am meisten bewunderte. Ich habe mich nie einfach mit den Ereignissen abgefunden, aber in jenem Moment hatte ich keine andere Wahl. In dem Hotelzimmer mit der vergilbten Tapete mit Rosenmuster schien die Zeit stillzustehen. Als ob nie etwas geschehen wäre und nie etwas geschehen könnte. Aber ein Reisender muss glauben können, dass der Ort, an dem er sich aufhält, eine Bedeutung hat. Nur so hat er auch selbst eine Bedeutung. Deshalb beschloss ich, Anna zu vertrauen. Manchmal ist mehr Verlass auf den weiblichen Instinkt als auf den Verstand. Ich rollte die Geldscheine wieder zusammen und steckte sie in die Brieftasche aus Wildleder, die ich immer um den Hals trug. Ich zog den Mantel an, hielt ihr den ihren hin und teilte ihr mit, ich wolle nach draußen, um ein Stück zu gehen und einen Happen zu essen.

Die Straßen von Irkutsk führen hinunter zum Fluss Angara. Sie sind von Fassaden aus dem neunzehnten Jahrhundert gesäumt, die aussehen wie mit buntem Zuckerguss überzogen. Früher nannte man die Stadt das »Paris Sibiriens«, und auch wenn mein Gemütszustand nicht zu dieser Romantik passte, linderten die bescheidene Größe und die flüchtige Anmut der Stadt meine Sorgen. Der Schnee fiel jetzt in großen, nassen Flocken. Eine Schar junger Frauen in kurzen Röcken und glänzenden Strumpfhosen spazierte Arm in Arm durch das Schneegestöber, ausgelassen lachend. Sie gingen mit langen Schritten vor uns durch die Karl-Marx-Straße. Zu beiden Seiten boten kleine Läden und Kioske die gleichen Gerichte feil. Die ersten Fastfoods hatten Einzug gehalten, und der Geruch nach Pommes und Pelmeni, sibirischen Teigtaschen, lag in der Luft.

Zwei Kamele überquerten die Straße. Irgendwo im Osten, hinter den Hügeln, dehnte sich der Baikalsee aus. Der tiefste und größte See der Welt, aber auch der am schlimmsten heimgesuchte. Für die Einheimischen war er das Heilige Meer. Sie verehrten und fürchteten ihn. Es hieß, aus seinem Atem entstünde der Sarma, ein eisiger und wie aus dem Nichts aufkommender Sturmwind, dem unzählige junge Fischer zum Opfer gefallen waren. Nur der Winter brachte eine Art Frieden. Die Winde legten sich, der See gefror, und seine harte Oberfläche wurde zur Straße für Lastwagen und zur Spielfläche für die Kinder.

In der stillen Luft dieser Jahreszeit gingen wir bis zum größten Markt der Stadt. Dort gaben sich Pelzhändler, Mineraliensucher und Bauern jeden Tag ein Stelldichein, um ihre Ware feilzubieten, die nach über hundertjährigem Brauch ordentlich auf dem Boden ausgelegt war. Die Väter dieser Kleingewerbetreibenden waren während der Goldgräberzeit über Nacht reich geworden, nur um alles in Nightclubs und illegalen Spielhöllen wieder zu verprassen. Sie blieben im Herzen Asiens in ihrer Armut gefangen, die Irkutsk nach dem Fall des Kommunismus zu einer der gewalttätigsten Städte Russlands machte. In allen Familien schaute das Oberhaupt jeden Abend vor dem Schlafengehen aus dem Fenster und schoss mit Platzpatronen in die Luft.

Zwischen einem Einkaufszentrum mit schmutzigen Schaufenstern und einem baufälligen Haus ragte hellblau das frisch gestrichene Gebäude des Telegrafendiensts auf. In einer Ecke wiesen Schilder auf eine Bäckerei, ein Café und ein Restaurant hin. Dort bekam man laut Anna einen sehr guten Tsuivan, gebratene Nudeln mit Ziegenfleisch und Zwiebeln. Wir folgten den Wegweisern und traten in einen kahlen Flur, dessen Fußboden aus alten, morschen Holzbrettern bestand. An der hintersten Wand prangte die Aufschrift: »Krasivij i khoroshij«, »Die Schönen und Guten«. Das war der Ort, von dem Anna gesprochen hatte. Ein Empfangssaal, in dem nur noch die Relikte einer glorreichen Vergangenheit zu bestaunen waren. In der Mitte, eine Stufe tiefer als der Rest des Lokals, lag der nunmehr holprige Tanzboden, von dessen Decke verstaubte bunte Girlanden hingen. Pokale längst vergessener Tanzturniere, auf denen noch Hammer und Sichel eingraviert waren, standen in einem Spiegelregal. Auf dem Fußboden lehnte ein kaputter Rahmen, aus dem heraus ein Leninbild die Trophäen fixierte. Darüber hatte die Zeit den Schatten des Porträts auf die Wand gezeichnet.

Das Einzige, was hier an ein Restaurant erinnerte, waren die paar wahllos im Raum verteilten Tische. Sie waren mit einem Tischtuch aus bordeauxrotem Satin gedeckt. Darauf standen je eine Vase mit künstlichen Blumen und ein Plastikkorb für Brot. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals hatte ein Friseur mit Sessel, Shampoobecken und Trockenhaube sich vor einem ovalen Spiegel einen Arbeitsplatz eingerichtet.

Über diese merkwürdige Kombination staunend hatte ich die alte Frau gar nicht bemerkt, die uns aus einiger Entfernung beobachtete. Sie saß in einem grünen Sessel vor dem Fenster. Ihr blond gefärbtes Haar war eher gelb und ihre kleinen Augen blitzten angriffslustig. In ihrer Tunika aus dunklem, mit roten Stickereien verziertem Samt steckte ein untersetzter Körper. Auf den Knien hielt die Alte eine große, flache Rundtrommel, bespannt mit vom Gebrauch abgenutzten Leder. Einen Moment lang dachte ich, die Frau sei von der letzten Tanzveranstaltung übrig geblieben.

»Scheint mir nicht gerade ein Nobelrestaurant zu sein«, sagte ich zu Anna. Aber bevor ich den Satz noch zu Ende gesprochen hatte, marschierte Anna schon quer durch den Saal auf die Frau zu und verwickelte sie in ein Gespräch. Ich zögerte kurz, bevor ich mich zu ihnen gesellte. Da ich nicht verstand, worüber sie sich unterhielten, lächelte und nickte ich einfach und schaute zerstreut in eine andere Richtung. Bis das Weib mich mit einem Winken zu sich rief. Sie streckte einen Arm aus und hieß mich niederknien, indem sie mich bei den Handgelenken fasste. Anna nickte wortlos, während ich die Arme auf den Beinen der Alten ausstreckte, die meine Hände in die ihren nahm. Sie drehte meine Handflächen nach oben und drückte sie seitlich nach unten, sodass die darauf verlaufenden Linien der Zeit besser sichtbar wurden. Dann zeichnete sie sie mit den Fingerkuppen nach, als wolle sie ein Staubkorn wegwischen. Wie eine Blinde, die nur durch Berührung sehen kann. Da sie mich kitzelte, versuchte ich die Hände zurückzuziehen, aber sie hielt sie entschlossen fest, ohne sich ablenken zu lassen. Ihr Gesicht wurde ernst, sie holte eine Handvoll kleiner weißer Steine, rund wie Haselnüsse, unter ihrem Kleid hervor, die sie offenkundig in der Nähe des Herzens aufbewahrte. Diese legte sie in meine rechte Hand und bedeutete mir, ich solle sie auf den Boden werfen.

Ich habe noch nie an Wahrsager oder Hexen geglaubt. Für mich sind das bloß Scharlatane mit bescheidenen psychologischen Kenntnissen, aber mit einem außergewöhnlichen Einfühlungsvermögen ausgestattet. Ist man jedoch auf Reisen, sehen die Dinge ganz anders aus. Man hat Zeit im Überfluss und fühlt sich freier. Deshalb sind wir auf Reisen offen für Dinge, die wir normalerweise ablehnen würden, Dinge, die uns am Ende verändern. Im Grunde ist eine Reise nichts anderes als eine Bühne, auf der wir vor einem Publikum auftreten, dem wir nie wieder begegnen werden.

Wie mir die alte Frau befohlen hatte, ließ ich die Steine fallen und sah zu, wie sie über den Boden kullerten. Wie Planeten in der Galaxie des Chaos nahmen sie eine Ordnung an. Ihre Bewegung gehorchte in meinen Augen ausschließlich den Gesetzen der Physik, die sie an der Kurve der Holzmaserung oder einem Zigarettenstummel haltmachen ließen. In den Augen der Alten aber redeten diese Steine über mein Schicksal, das sie Anna in einer mir unbekannten Sprache offenbarte.

»Anna, könntest du mir bitte übersetzen, was sie sagt? Es ist zwar nur Bockmist, aber neugierig bin ich trotzdem.«

»Sie sagt, du wirst weit herumkommen.«

»Na ja, das war ja wohl nicht schwer zu erraten.«

»Und dass du drei Kinder haben wirst. Eines wird deutlich jünger sein als die andern.«

»Wenigstens kann sie rechnen!«

Flüsternd erhob sich die Frau mit müder Geste vom Sessel und kauerte sich neben den am weitesten gerollten Steinen hin. Amüsiert beobachtete ich sie. Ich wartete eigentlich nur darauf, dass sie Geld von mir forderte. Aber die Sache nahm eine völlig andere Wendung.

Irkutsk ist ein Ort, den die Schamanen lieben. Sie haben an den Ufern des Baikalsees ihre Dämonen und Götter gefunden. Jahrhunderte lang waren sie die Hüter des Gedächtnisses der Völker, haben Traditionen und überlieferte Geheimnisse bewahrt. Ihre Kleidung war über und über mit klimperndem Zierrat behangen. Auf dem Kopf trugen sie Federn oder Hörner. So riefen sie das Gute und das Böse an. Begleitet vom Rhythmus ihrer Trommeln und Rasseln, traten sie in Kontakt mit dem Tod. Ihre Magie hatte mich noch nie fasziniert, und ich hatte auch keine Vorstellung davon, wie ein heutiger Schamane aussehen würde. Auf jeden Fall nicht wie diese Frau, die da irgendeinem verlorenen Faden auf der Spur über den Fußboden robbte. Die Geister würden sich doch wohl nie eine derart gewöhnliche Vermittlerin wählen.

Meine Gedanken wurden vom erstickten Lachen Annas unterbrochen, die sich die Hand vor den Mund hielt und mit der Frau einen komplizenhaften Blick tauschte.

»Was sagt sie?«

»Sie spricht von deinem Geschlechtsorgan.«

»Das interessiert mich jetzt.«

»Es ist aber komisch.«

»Was?«

»Nichts, lass gut sein, es ist Quatsch.«

»Ja, aber wo ich euch schon zum Lachen bringe …«

»Ich erklär’s dir später.«

Plötzlich verfinsterte sich Annas Gesicht. Ihr Blick wurde düster, sie verstummte, wie jemand, der nicht sicher ist, ob er richtig verstanden hat. Sie bückte sich zu der Alten hinunter, um sie besser zu verstehen. Die Frau murmelte über die Steine gebeugt Wörter, es klang wie ein Klagelied. Dann stand sie auf, zeichnete einen Kreis in die Luft und atmete befriedigt einen Duft ein, den offenbar nur sie erschnupperte. Dann setzte sie sich wieder in den Sessel.

»War’s das jetzt mit meiner Zukunft?«, fragte ich großspurig.

Anna hob die Hand und bedeutete mir zu warten. Sie wechselte ein paar Worte mit der Alten und fragte mich dann, ob ich es wirklich wissen wolle.

»Was?«, fragte ich.

»Es ist nichts Schönes. Soll ich es dir sagen?«

»Verlangt sie Geld?«

»Nein. Sie sagt, dass du sterben wirst.«

»Ja, vor Hunger, wenn wir nicht schnell etwas zu essen kriegen.«

»Bevor du fünfundvierzig wirst.«

Das kam mir vor wie die Schlussszene eines schlechten Films. Ich war zwanzig, und es interessierte mich kein bisschen, dass ich eines Tages sterben würde. Ich warf einen letzten Blick auf die Steine auf dem Boden, hakte Anna unter und ging.

Ich setzte meine Reise fort. Und auch das Leben ging weiter, mit all seinen Kapriolen. Liebschaften, Aufbrüche und Abschiede ließen mich die Prophezeiung der Schamanin schnell vergessen. Genau wie Anna, von der ich mich ein paar Tage später am Flughafen von Moskau verabschiedete, ohne sie zu fragen, was die Seherin über meine Sexualität gesagt hatte. Weil es mir peinlich war und weil es manchmal einfacher ist, Dinge totzuschweigen. Ich kehrte nach Italien zurück und Anna nach Sankt Petersburg. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen.

Einsam segelte ich auf den Meeren des Lebens dahin, meinen Kurs haltend, ohne mich groß darum zu kümmern, was ich zurückließ. Ich reiste durch die Welt auf der Suche nach Geschichten, die auf den Seiten irgendeiner Zeitung Aufnahme fänden. So kam ich eines Tages, es war im April 1999, ins Haus eines Brahmanen in Vrindavan, das zu den heiligen Orten der Hindu-Gottheit Krishna gehört und an den Ufern des Flusses Yamuna liegt.

Am Yamuna-Fluss

Vrindavan, Indien (1999)

6000 Menschen und Millionen von Seelen bewohnten das indische Städtchen. Die Legende erzählt, dass Krishna hier in Gestalt eines Viehtreibers Tausende von Dämonen besiegt und im Mondschein einer einzigen Nacht 16108 Hirtenmädchen geliebt hatte. Dazu gehörte die tantrische Figur der Radha, die ihm die vollkommene Liebe schenkte und zu seiner ewigen Gefährtin wurde. Ein durch und durch magischer Ort. Seit mehr als hundert Jahren beten jeden Tag Tausende von Witwen ohne Unterbrechung zu Radha. Sie kommen von weither, aus Bengalen, der Region Odisha und dem Bundesstaat Bihar. Und sie nehmen diese verzweifelte Reise auf sich, um sich auf das Ende ihres Lebens vorzubereiten. Denn in den konservativsten Regionen Indiens gilt eine Frau, die ihren Mann verloren hat, als wertlos. Man nimmt ihr sämtliche Güter weg, erkennt ihr sogar die Kinder ab. Vrindavan, die Stadt der ewigen Liebe und der 5000 Tempel, ist der einzige Ort, an dem Witwen Aufnahme finden. Unglückselige Frauen, denen das Schicksal die Aufgabe übertragen hat, den Göttern zu huldigen, während sie auf eine barmherzige Hand hoffen, die ihre Gebete mit einer Handvoll Linsen vergilt. Ich sah sie in ihren weißen Saris durch die Straßen gehen, zart und leicht wie Schmetterlingspuppen, die in ihren Kokons darauf warten, den Flug der Wiedergeburt anzutreten. Wie Wolken am Frühlingshimmel zogen sie die Kalkmauern entlang durch die staubigen Gassen der Stadt. Manchmal begegneten sie dem Leben: Sie streiften die kostbaren Kleider junger Bräute oder gingen an mitten auf der Straße stehenden Kühen und mit Waren aller Art beladenen Händlern vorbei. Dabei sangen sie ununterbrochen ihr Klagelied, während ihnen die Perlen der Mala durch die Finger glitten. Die weiß gekleideten Witwen waren der Grund für meine Reise. Mir war nicht klar, dass das Schicksal ein ganz anderes Abenteuer für mich bereithielt.

Auf Empfehlung eines Freundes mietete ich ein Zimmer bei Mister Sharma, einem Brahmanen mittleren Alters, den jedermann um seiner aufrichtigen Hingabe willen schätzte. Sein Haus war prachtvoll: Die Einrichtung bestand aus massiven Möbelstücken, Kelimteppiche zierten die Wände, und in der Mitte des Hofs plätscherte Wasser in einem sechseckigen Brunnen. Der Verputz zeigte noch die rötliche Farbe der Erde, aus der er gefertigt war, und das plastische, handmodellierte Material ließ das Haus harmonisch und behaglich wirken. Zwei Frauen besorgten den Haushalt. Mit ihren Reisigbesen wedelten sie jedes Stäubchen weg, und mehrmals täglich brachten sie Mister Sharma seinen Tee. Sie stellten ihn dem Brahmanen vor die Tür des Arbeitszimmers, um ihn nicht in seinen Gedanken zu stören. Mister Sharma war ein zurückhaltender Mann und wirkte ein wenig träge, aber ehrlich. Außerdem genügte ihm ein einziger Blick, um einen Menschen zu verstehen. Aufgrund dieser Fähigkeit waren seine Getreuen überzeugt, er könne das Karma der Menschen lesen. Wenn ich ihm zufällig im Hof begegnete, lächelte er mir immer zu. Trotz seiner Wortkargheit war er mir sympathisch. Immerhin ließ er mich in seinem schönsten Zimmer im Hochparterre wohnen. Die Einrichtung war schlicht, aber das Fenster ging auf den Fluss Yamuna hinaus. Das war ein bisschen so, als könne man das ganze Leben überschauen. In der Morgendämmerung die Fischer, dann die rituellen Waschungen der Pilger, die Taufe der Leichen vor der Verbrennung und schließlich deren Asche, die im Lichte des Sonnenuntergangs vom Winde fortgetragen wurde. Nachts leuchteten die Sterne und ließen in ihrer Schönheit auch den Rauch der großen Raffinerie auf der anderen Flussseite wie Morgenröte erscheinen.

Ich habe meine Tage in den Tempeln von Vrindavan und den umliegenden Gassen verbracht. Habe weiße Witwen kennengelernt, die längst darauf verzichtet hatten, den Ursachen ihres Leides einen Namen und ein Gesicht zu geben. Aber auch Frauen, die nicht aufgeben und immer noch hoffen, durch den Glauben Samsara, den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten überwinden zu können. Bei Sonnenuntergang ging ich am Fluss entlang heimwärts, auf Straßen, die nach Unrat aller Art stanken. Ich kam bis zu den Ufern der Toten, wo der herbe Geruch von Weihrauch sich mit den Rauchschwaden der Scheiterhaufen mischte und die Tränen der Familien im Gewühl der Händler untergingen.

Obwohl in Dunkelheit und Rauch nur Schatten sichtbar waren, schien an den Ufern dieses Hades alles in bunten Farben zu erstrahlen, und der Tod wurde ebenso alltäglich wie das Leben. Hunderte von Menschen drängten sich an der Böschung dicht zusammen wie Würmer, hier an der Grenze zur Welt der Lebenden.

Es war nicht krankhafte Neugier, die mich an diesen Ort trieb. Eher das Gegenteil. Ich verspürte Respekt und Mitleid für die Toten und für die Menschen, die sich auf die große Überfahrt vorbereiteten.

Bevor ich ins Haus von Mister Sharma zurückkehrte, machte ich halt an einem Restaurant am Weg, das neben einem Café lag. Ich beobachtete das bunte Treiben zwischen den Tischchen, die unter einer mit Bougainvillea bewachsenen Pergola standen. Männer in billigen Hemden und mit Aktenkoffern aus Kunstleder hielten Ausschau nach guten Geschäften. Liebespaare verschlangen sich mit den Augen, weil Küssen verboten war. Hunde mit Flöhen streunten umher, und ärmlich gekleidete Jungen spielten Kricket auf den Gehsteigen. Ich sprach mit niemandem und genoss das Spektakel.

Am Tag meiner Abreise klopfte ich an Mister Sharmas Tür, um ihm für seine Gastfreundschaft zu danken. Als ich auf sein Geheiß eintrat, saß er im Schneidersitz inmitten von Büchern auf einem Charpai, einem traditionellen geflochtenen Bett. Er trug einen weißen Kurta Pajama, ein knielanges Hemd über weiter Hose. Auf dem Schoß hielt er ein Heft, auf dessen dünnen Seiten er seine Gedanken festhielt. Das Fenster in seinem Rücken ging auf eine Nebengasse hinaus. Ein gelber Vorhang, in dem sich das Licht verfing, verbarg es teilweise. In einer Ecke jenes langen, engen Zimmers stand ein Feigenstrauch in einem Topf, und auf einem Schemel wartete ein Krug, bis zum Rand mit kaltem Lassi gefüllt.

»Hast du das, was du dort draußen gesucht hast, gefunden?«, fragte Mister Sharma mich, während er ein schweres Buch mit abgenutztem Einband zur Seite schob, damit ich mich setzen konnte.

»Ja, ich glaube, ich hatte Glück.«

»Möchtest du einen Becher Lassi?«

»Gerne.«

»Glück haben kann man nicht«, sagte er, während er das dickflüssige weiße Getränk in einen irdenen Becher goss. »Du musst dich bei deinem Karma bedanken. Auf deinen Reisen sammelst du die Geschichten anderer. Aber hast du dich je gefragt, was du hinterlässt? Nur wenn du gibst, bringst du deine Schätze für immer in Sicherheit.«

Ich wusste nicht recht, worauf er hinauswollte, aber ich empfand Respekt für seine Gedanken. In dem Augenblick der Stille, der seinen Worte folgte, suchte ich nach einer passenden Antwort. Aber schon tat mir Mister Sharma kund, er wolle mir ein Geschenk machen. Er streckte seine Hände nach mir aus und bat mich, ihm die meinen zu zeigen. Seine Miene ließ keine Widerrede zu.

»Hier steht geschrieben, was Gott dir mitgegeben hat«, sagte er, während er meine linke Hand drückte.

»In der anderen, was du daraus machen kannst.«

Einige Minuten lang nahm Mister Sharma schweigend meine Handflächen unter die Lupe. Sein Blick wanderte zwischen linker und rechter Hand hin und her. Nur Verkehrslärm aus weiter Ferne, das Holpern einer Rikscha auf dem unebenen Boden der Gasse und unser Atemgeräusch unterbrachen die Stille.

»Du hast viel gelernt aus deinen vorhergehenden Leben, aber du hast noch eine lange Reise vor dir. Fürchte dich nicht, sie wird schön sein. Du wirst die Liebe einer reichen Frau finden, der du schon in deiner Kindheit begegnet bist. Sie hat schon zwei Kinder, und zusammen werdet ihr ein drittes bekommen. Du wirst zu geben verstehen, bis du alles loslässt. Wenn du dreiundvierzig bist, wirst du an einem heißen Tag einen gewaltsamen Tod erleiden. In diesem Moment, wenn du allein vor dem Ende stehst und alles in deinem Herzen wiederfindest, liegt die Entscheidung bei dir.«

»Warum erzählen Sie mir das? Ich habe Sie nicht darum gebeten.«

»Das ist mein Geschenk an dich. So bist du vorbereitet. Ein Mann aus der Zukunft kann dir helfen. Finde ihn und vertraue ihm, er wird dir den richtigen Weg weisen. Und trage einen gelben Saphir am Zeigefinger der rechten Hand. Er wird dir in jenem Moment helfen, damit du das Gleichgewicht findest. Nichts kann existieren ohne sein Gegenteil. Du musst nur deine Mitte finden.«

»Verkaufen Sie gelbe Saphire?«, fragte ich.

»Nein. Aber du wirst problemlos einen finden.«

Er lächelte.

Ich verließ Vrindavan in einem Zug Richtung Norden. Überall waren Menschen, aber ich fühlte mich sehr einsam. Zum Brahmanen hatte sich in meinem Kopf die Schamanin gesellt, der ich zu einer Zeit begegnet war, an die ich mich nur noch vage erinnerte. Vereint besiegten sie meine Skepsis und drückten meinen Zukunftsträumereien plötzlich ein Verfallsdatum auf. In dem Augenblick, in dem diese Worte fielen, überlagerten sie jeden Gedanken meinerseits. Und jetzt, wo ich mich mit tausend Fragen quälte, war es zu spät, ein klassischer Treppenwitz also. Ich stieg aus und setzte meinen Weg fort. Schlagartig wurde mir bewusst, dass die Reise gerade erst begonnen hatte.

Am Bahnhof in Delhi nahm ich ein Taxi und fuhr zum Markt von Chandni Chowk. Von dort aus ging ich zu Fuß bis in die Dariba Kalan Road und betrat einen der zahlreichen Schmuckläden.

Ich war dreiundzwanzig und besiegelte mit diesem Ehering den Bund mit meiner Zukunft.

Da ich das Leben mehr liebte als seine Logik, verloren sich die Details dieser Weissagungen über die Jahre, und der Ring an meinem Finger wurde zu einer von vielen Geschichten, die man abends unter Freunden zum Besten gibt.

Mit der Zeit musste ich zwar feststellen, dass manche Prophezeiungen des Brahmanen sich tatsächlich bewahrheiteten. Aber schließlich sind wir in gewissen schwachen Momenten immer geneigt, alles als Zeichen der Vorsehung zu interpretieren. Und trotzdem schauen wir jedes Mal nach links und nach rechts, bevor wir die Straße überqueren.

Was sollte es schon bedeuten, dass ich mich in eine Frau verliebte, die – wie vom Brahmanen vorausgesagt – bereits zwei Kinder hatte? Und darauf, dass aus unserer Liebe ein Kind entstehen würde, konnte man auch ohne hellseherische Fähigkeiten kommen. Aber in jedem bedeutsamen Moment meines Lebens suchten mich die verflixten Worte des Brahmanen heim. Ängstlich versuchte ich sie aus meinem Kopf zu verbannen und so zu tun, als ob sie mich nichts angingen.

Der Brahmane hatte vorhergesagt, ich würde eine Frau heiraten, die ich schon von früher kannte. Im Geiste ließ ich sämtliche mir bekannten Mädchen Revue passieren. Das machte mir sogar Spaß. Meine Frau, die ich viele Jahre später in Paris kennenlernte, war natürlich nicht darunter. In Prophezeiungen finden wir meist nur, was wir erwarten, nicht was uns erwartet. Also war alles in Ordnung. Wenigstens bis zum letzten Sommer.

Ich fuhr mit Frau und Kindern zu meiner Mutter, bei der wir die Ferien verbringen wollten. Sie besitzt ein großes Haus in Strandnähe. Die Unterkunft war zwar nicht optimal, aber eine andere konnten wir uns nicht leisten.

An einem Regentag räumte ich mit meiner Frau den Dachboden auf, um Platz für unsere Schreibtische zu schaffen. Die Kinder saßen währenddessen vor dem Fernseher. Zwischen Schachteln und Krimskrams stießen wir auf ein Fotoalbum in brauner Plastikhülle, auf die der Name eines Fotolabors gedruckt war. In der schlichten Handschrift meiner Mutter stand als Überschrift »Livigno 1984«. Das Album enthielt Bilder von einem Winterurlaub, in dem ich mein erstes Skirennen gewonnen hatte. Ich war neun und stand auf dem mit Teppich belegten Podest vor einem Restaurant, eine Goldmedaille um den Hals. Neben mir stand ein Mann mit Mikrofon in der Hand. Unten aber entdeckte ich zwischen anderen Kindern Francesca, die später meine Frau werden sollte. Sie trug einen Rock mit Schachbrettmuster, ein Reif bändigte ihr Haar, und sie blickte zerstreut in die Kamera. Sie war erst fünf. Auch sie gehörte damals zu den Gästen jenes Bergrestaurants.

Ein tibetischer Mönch erzählte mir einmal vom Bardo. Er beschrieb es als Zwischenzustand, als einen Moment, in dem das Leben stehen bleibt, in dem wir keinen festen Boden mehr unter den Füßen haben und nicht mehr wissen, was auf uns zukommt. In jenem Moment fühlte ich mich genau so, in einem Zwischenzustand des Lebens befangen. Das Schicksal schnürte mir den Hals zu, aber ich zeigte meiner Frau lächelnd das Foto, im Wissen, dass wir schon immer füreinander bestimmt waren. Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich dieser Angelegenheit ein für alle Mal nachgehen musste. Der Rat des Brahmanen fiel mir wieder ein: Es galt, einen Mann aus der Zukunft zu finden.

»Ich mache das nur spaßeshalber, nicht weil ich Angst habe«, erklärte ich meiner Frau, als ich anfing zu suchen, ohne zu wissen wonach, wie oder wo. Sie schwieg angesichts meiner Besorgnis und ließ mich voller Vertrauen ziehen, wie sie es immer getan hat. Das Weltall war der geheimnisvollste Ort, der mir in den Sinn kam. Immerhin deckte sich dort die Zeit mit der Ewigkeit. Ich suchte nach jemandem, der wie ich etwas wagen wollte, und fand eine Gruppe junger Astronauten, die von einem Leben auf dem Planeten Mars träumten.

Nach ein paar E-Mails schickte ich ihnen eine Videonachricht, die ich auf dem Sofa bei mir zu Hause aufnahm. In einer Hand hielt ich das Handy und im anderen Arm meinen Sohn Ernesto. Er feierte an diesem Tag seinen fünften Geburtstag. Ausgerechnet an diesem Nachmittag hatte er es zum ersten Mal geschafft, seinen Namen zu schreiben. Darauf war ich so stolz, dass ich fand, das müsste man auch auf dem Mars wissen. Ernesto war kein Wunschkind, seine Geburt ließ mich zunächst fast gleichgültig. Doch ohne um Erlaubnis zu fragen, eroberte er mein Herz. Ich liebte seinen pfiffigen Gesichtsausdruck, den blonden Haarschopf, der ihm über die braunen Augen fiel, und seinen Schmollmund, wenn er versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ich liebte ihn so sehr, dass ich alles mit mir machen ließ, um ihn glücklich zu sehen.

Mit ihm zusammen erzählte ich jenen Forschern, dass es auf der Erde Samstag war, dass immer noch Winter herrsche, aber die Bäume schon die ersten Knospen trügen.

Ich ging mit der Kamera in der Hand durchs Haus und zeigte ihnen, wie wir lebten. Im Wohnzimmer lag Geschenkpapier auf dem Tisch, und die gelöschten Kerzen waren voller Sahnespritzer. Das Bett im Schlafzimmer war nicht gemacht, vor dem Fenster sah man die Hügel und das blassblaue Meer. Ich ließ die Forscher an unserem ganz normalen Alltag teilhaben. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, schickte ihnen das Video und wartete.

Die Nachricht brauchte zwanzig Minuten, um mit Lichtgeschwindigkeit das Universum zu durchqueren. Anschließend dauerte es weitere zwanzig Minuten, bis mich die Antwort erreichte.

Damien, der Astrobiologe der Mission, hatte in der Raumbasis mit der Webcam die Runde gemacht, um mir alle vorzustellen. Die Gesichter dieser jungen Marsmenschen stimmten mich fröhlich, auch wenn die Melancholie, die in ihren Worten zum Ausdruck kam, sie in weite Ferne rücken ließ.

Ihr Leben auf dem Mars war lediglich eine Simulation. In Wirklichkeit hielten sie sich in einer bewohnbaren Raumstation auf Hawaii auf. Seit einem Jahr waren sie dort eingeschlossen, um herauszufinden, was sich jenseits der uns bekannten Grenzen befindet. Das war etwas, was uns verband.

In wenigen Wochen würde ihre Mission zu Ende gehen. Ich beschloss, sie bei der Rückkehr auf die Erde in Empfang zu nehmen. Das sollte der Anfang meiner Reise in die Zukunft sein.