EIN JAHR SPÄTER

»Drei, zwei, eins … los!«

Der Techniker legte einen Schalter um, und ganz langsam begann der Rotor, sich in den blauen Sommerhimmel hineinzudrehen. Das vertraute Sirren fing an und verstärkte sich, bis die Rotorblätter ihre volle Geschwindigkeit erreicht hatten. Ich schloss die Augen, zog die Luft tief ein und versuchte, mir diesen Moment so genau einzuprägen, dass ich ihn bis ans Ende meines Lebens nicht vergessen würde.

Ich hatte es geschafft! Und die Menschen, die mir am meisten bedeuteten, waren bei mir: Michael hatte den Arm um mich gelegt, neben uns standen Svenja, Pablo und Sofia. Wenige Schritte entfernt starrten Franz und Chris verzückt in den Himmel, und Jonas ging herum und verteilte Pappbecher mit Sekt. Nur meine Eltern fehlten. Natürlich hatte ich sie eingeladen, aber beide antworteten, sie könnten leider nicht kommen. Noch nie hatte ich mich so über eine Absage gefreut – sie machten gemeinsam eine Reise durch Italien!

Jetzt ertönte die Stimme von Willi Hildebrandt, dem Vizepräsidenten der deutsch-litauischen Handelsgesellschaft, durch ein Mikrofon: »Verehrte Frau Moser, liebe Sunwind-Mitarbeiter, verehrte Pressevertreter! Ich möchte es mir nicht nehmen lassen, Ihnen am heutigen Tag im Namen unserer Gesellschaft ganz herzlich zu Ihrem Erfolg zu gratulieren! Diese Windkraftanlage, die gerade in Betrieb gegangen ist, markiert den Beginn eines neuen Kapitels der deutsch-litauischen Zusammenarbeit. Wir freuen uns mit Ihnen und sind stolz, dass auch wir einen Beitrag zu diesem Erfolg leisten konnten …«

Jonas und ich wechselten einen Blick. Welchen Beitrag? Schließlich hatte er alles darangesetzt, uns von unseren Plänen abzubringen.

Am Ende seiner Rede kam Hildebrandt zu mir, drückte mir die Hand und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Moser, auch von mir persönlich. Erstaunlich, in welch kurzer Zeit Sie hier zum Erfolg gekommen sind. Wie sind Sie denn mit der litauischen Mentalität zurechtgekommen?«

»Bestens«, sagte ich.

»Sehen Sie!«, erwiderte er strahlend und klopfte mir auf die Schulter. »Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt. Die Litauer sind ein prima Völkchen, innovationsfreudig, kooperationsbereit und sympathisch! Gut, dass Sie meinen Rat befolgt haben und dieses Projekt so zielstrebig angegangen sind!«

Ich hob eine Augenbraue.

»Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen«, sagte Michael.

Hildebrandt blickte ihn fragend an. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Goethe?«

Michael nickte anerkennend.

Eigentlich schade, dachte ich, dass Straus jetzt nicht da ist. Der Mann, der es um ein Haar geschafft hätte, nicht nur die Sunwind zu ruinieren, sondern auch meine berufliche und moralische Reputation. Der sich am Ende aber geschlagen geben musste und – nachdem sein Restitutionsverfahren gescheitert war – nach Dresden zurückgekehrt war. Dort hatte er eine PR-Agentur eröffnet. Ich war überzeugt, dass er damit sehr erfolgreich sein würde.

Ein zartes Greinen riss mich aus meinen Gedanken, ich blickte zu dem Kinderwagen, der in der Nähe stand, und musste lächeln. Unglaublich, was alles passiert war, seit wir vor einem Jahr das Rathaus von Gargzdai verlassen hatten!

Meinen Blumenstrauß hatte ich damals spontan an Chris weitergegeben und ihr für alles gedankt, was sie für uns getan hatte.

»Hoffentlich kann ich mich irgendwann bei dir revanchieren! «, hatte ich gesagt, selbst erstaunt darüber, wie sehr mir diese verrückte Räuberbraut ans Herz gewachsen war.

Chris hatte gegrinst. »Da hätte ich schon eine Idee!«

»Ach, ja? Welche denn?«

»Du kannst Patentante werden.«

Ungläubig hatte ich die Augen aufgerissen. »Waaas?«

»Du hast schon richtig verstanden, ich kriege ein Kind!«

»Wie … ist das denn so schnell passiert?«

Chris hatte gelacht. »Muss ich dir das jetzt wirklich erklären? «

Jetzt beugten sich Chris und Franz gemeinsam über den Kinderwagen, schaukelten ihn hin und her und gaben beruhigende Geräusche von sich.

Wenn jemals ein Mann gerne Vater geworden war, dann Franz. In einer stillen Stunde hatte er mir gestanden, dass er sich immer Kinder gewünscht habe, Dahlia aber nicht. Aus Groll darüber war er wohl oft wenig verständnisvoll gegenüber den Kinderbetreuungsproblemen seiner Mitarbeiter gewesen.

Inzwischen lebte Franz mit Chris in Litauen und hatte unser Projekt übernommen. Ich war nach München zurückgekehrt und zur Geschäftsführerin befördert worden. Meine Bedingung war gewesen, dass Jonas mein Assistent werden müsse. Daraufhin hatte Franz ihm ein sehr gutes Angebot gemacht, und ich wusste, dass Jonas es auf jeden Fall annehmen würde. Denn in der Zwischenzeit war noch etwas anderes passiert:

Eines Tages, als ich mal wieder auf Heimaturlaub gewesen war, hatte es an der Tür geklingelt. Zu meiner Überraschung stand Jonas vor mir, eine Hand hinter dem Rücken versteckt.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Hältst du es denn gar nicht mehr ohne mich aus?«

Er grinste verlegen. Dann hielt er mir plötzlich eine riesige Flasche Champagner hin. »Herzlichen Glückwunsch, du hast die Wette gewonnen.«

Eine Sekunde starrte ich ihn an, dann begriff ich. Sofia! Er hatte sich tatsächlich in sie verliebt! Und sie sich offenbar auch in ihn, denn von nun an war Jonas ein häufiger Gast bei uns. Als Sofias Praktikumshalbjahr bei uns beendet war, überraschte sie uns mit der Mitteilung, sie habe einen Studienplatz für Psychologie in Regensburg bekommen. Jonas nahm sich eine Wohnung in der Stadt, und an den Wochenenden pendelte Sofia zu ihm. Die beiden besuchten uns oft, für uns waren sie fast wie große Kinder geworden.

Zu guter Letzt hatte Michael es geschafft, mich gründlich zu überraschen.

Eines Tages bat er mich, ihn zu einer Buchpremiere zu begleiten. Die Veranstaltung fand in einer Buchhandlung in Schwabing statt. Wir fuhren früh los, weil wir aus Erfahrung wussten, wie schwer man dort einen Parkplatz findet.

Schon vor dem Eingang trafen wir auf Leute, die Michael gratulierten und ihm Erfolg wünschten. Offenbar würde er, wie schon öfter, die Einführung für den Autor sprechen, der heute Abend sein Werk vorstellte.

Wir betraten den Laden. Ich sah mich um – und traute meinen Augen nicht. Vor uns auf einem Tisch waren ungefähr hundert Exemplare desselben Buches aufgebaut. Es trug den Titel »Goethe – Ein junger Wilder«. Der Name des Autors war Michael Moser.

Ungläubig starrte ich ihn an. »Du hast ein Buch geschrieben? Und … warum weiß ich davon nichts?«

Er lächelte. »Ich wollte gern dein Gesicht sehen, genau in diesem Moment.«

Ich wollte mein Gesicht in diesem Moment lieber nicht sehen. Wahrscheinlich sah ich selten dämlich aus.

Mit einem Mal begriff ich. Die endlosen Recherchen mit Sofia, der angebliche Relaunch von Kultwärts, sein Rückzug auf die Berghütte. Kein Betrug, keine Affäre. Eine Liebesbeziehung mit Johann Wolfgang von Goethe. Jahrelang hatte er davon gesprochen, ein Buch über den Dichter als jungen Mann schreiben zu wollen. Ich hatte es für Spinnerei gehalten, für die Phantasien eines überspannten Kulturredakteurs. Und nun hatte er seinen Traum verwirklicht. Das Buch lag vor uns, und ich hatte das Gefühl, nun könnte mein Mann endlich zu mir zurückkehren.

Ich umarmte ihn vor all den Leuten, die uns umringten. »Du Verrückter!«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Ich bin so stolz auf dich!«

 

 

Nachdem die Einweihungsfeierlichkeiten bei der Windkraftanlage vorüber waren, machten Michael, die Kinder und ich eine mehrtägige Rundreise durch Litauen. Bei strahlendem Sommerwetter kamen wir schließlich in Vilnius an.

»Ich will euch was zeigen«, sagte ich und führte sie zu der Stelle, wo die Steinplatte mit der Inschrift Stebuklas in den Boden eingelassen war.

»Was bedeutet das?«, wollte Svenja wissen.

»Es heißt Wunder«, erklärte ich. »Und es bezeichnet das südliche Ende einer sechshundert Kilometer langen Menschenkette, mit der die Menschen aus den drei baltischen Staaten vor zwanzig Jahren zeigen wollten, wie sehr sie sich die Unabhängigkeit ihrer Länder wünschen. Man sagt, wer sich etwas ganz intensiv wünscht, sich dabei mit einem Bein auf die Platte stellt und dreimal um die eigene Achse dreht, dessen Wunsch geht in Erfüllung.«

»Au ja!«, rief Pablo, stellte sich mit einem Fuß auf die Platte, schloss die Augen und drehte sich. »Ich wünsche mir ein Rennrad und eine Playmobilstation und einen Computer und dass die Ferien noch zehn Jahre dauern …« Ihm wurde schwindelig, er musste aufhören und taumelte in meine Arme.

»Jetzt du, Svenja«, forderte Michael sie auf.

»Ich glaube, es wirkt besser, wenn man den Wunsch für sich behält«, flüsterte ich ihr zu. Sie lächelte mich verschwörerisch an. Dann drehte sie sich langsam, mit geschlossenen Augen, einen Wunsch vor sich hin flüsternd, den keiner von uns hören konnte. Ich vermutete aber, er könnte mit einem gewissen Kilian aus ihrer Schule zu tun haben, der seit neuestem bei uns ein und aus ging.

»Du bist dran!«, sagte ich zu Michael. »Und du weißt ja, bei Eheleuten wirkt der Zauber nur, wenn man dem anderen sofort verrät, was man sich gewünscht hat!«

»Das hättest du gern«, grinste er. Mit großer Geste breitete er die Arme aus, schloss die Augen und drehte sich. Und obwohl er kein Wort sagte, glaubte ich zu wissen, was er sich wünschte.

»Jetzt du, jetzt du!«, rief Pablo und hopste vor mir auf und ab.

Ich dachte an meinen Wunsch vom letzten Mal, der tatsächlich in Erfüllung gegangen war. Und so stellte ich meinen rechten Fuß auf die Platte, schloss die Augen und drehte mich dreimal.

»Ich wünsche mir, dass ich die Fähigkeit zu träumen nicht verliere und immer die Kraft haben werde, für meine Träume zu kämpfen.«

Für wertvolle Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches danke ich:

 

Dr. rer. nat. Wolfgang Daniels, Geschäftsführer
Sachsenkraft GmbH, Dresden
Jürgen Hoffmann, Green City Energy, Bereichsleiter
Windenergie, München
Teelke Bojarski, Enercon, Magdeburg
Joachim Keuerleber, Enercon, Magdeburg
Hans Peter Annen, Botschafter der Bundesrepublik
Deutschland, Vilnius
Maximilian Hurnaus, Ständiger Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland, Vilnius
Dr. Horstas Kahsteinas, Klaipeda
Vaida Bucinskaite, Klaipeda
Dr. Guido Knopp, ZDF

 

Sollten mir trotz sorgfältiger Recherche Fehler unterlaufen sein, übernehme ich für diese die alleinige Verantwortung.

 

Amelie Fried
Im April 2011

1

Es gibt Momente im Leben einer Frau, die sie nie mehr vergisst. Den ersten Kuss. Das erste Mal. Das erste Kind. Das erste Au-pair-Mädchen.

Unseres hieß Olga. Lange hatten wir uns nicht entscheiden können, ob sie es sein würde oder eines der vielen anderen Mädchen, die uns angeboten worden waren. Immer wieder lasen wir im Internet die Beschreibungen und verglichen die Vor- und Nachteile der Bewerberinnen miteinander.

»Diese kann Auto fahren«, sagte Michael.

»Aber sie hat so gut wie keine Deutschkenntnisse«, wandte ich ein.

»Die da sieht echt niedlich aus. Woher kommt sie? Argentinien? Brasilien?«

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Niedlich? Ist das wirklich ein Kriterium?«

»Schönheit ist ein gern gesehener Gast, wie Goethe gesagt hätte. Schließlich habe ich sie jeden Tag vor Augen, da kann es nicht schaden, wenn ihr Anblick Freude bereitet.«

»Abgelehnt«, entschied ich.

Er grinste. »Traust du mir nicht?«

»Darum geht es nicht«, sagte ich gereizt, »von mir aus kann sie aussehen wie Miss World. Aber stell dir vor, sie taugt nichts oder hat solches Heimweh, dass sie nicht hierbleiben will. Dann können wir ihr für tausend Euro ein Rückflugticket nach Brasilien kaufen.«

Michael grinste. »Dann sollten wir am besten ein Mädchen aus Stuttgart nehmen. Die kann nach Hause trampen.«

So war es immer mit ihm. Seine Art, die Dinge zu betrachten, unterschied sich komplett von meiner. Wo ich die praktische Seite sah, suchte er nach der ästhetischen. Wo ich ein Problem witterte, vermutete er eine Chance. Wenn ich vor Schlafmangel zusammenzubrechen drohte, schlug er vor, auszugehen und eine Nacht durchzutanzen. Wir waren so verschieden, wie zwei Menschen nur sein konnten. Außerdem waren wir verheiratet und Eltern zweier Kinder. Man kann nicht behaupten, dass die Lage dadurch einfacher wurde.

An diesem Sonntagvormittag saßen wir vor dem Computer und waren im Begriff, unserem Leben eine völlig neue Wendung zu geben. Genauer gesagt, hatte es diese Wendung bereits genommen, und nun bemühten wir uns, mit den Folgen fertigzuwerden.

Ich war Bauingenieurin, gerade vierzig geworden, und hatte den Gedanken an eine berufliche Karriere eigentlich schon begraben. Als Frau war es nicht leicht, in einem Umfeld zu arbeiten, in dem sich prozentual mehr Männer tummeln als auf einem Heringskutter, und ich war schon dankbar gewesen, dass ich nach ein paar Jahren Kinderpause halbtags in meine alte Firma hatte zurückkehren können. Das war jetzt vier Jahre her. Inzwischen war Pablo eingeschult und Svenja auf dem Gymnasium.

Obwohl es mir anfangs schwergefallen war, auf meinen Beruf zu verzichten, hatte ich die Zeit mit den Kindern genossen. Sie hatten mich gelehrt, die Welt aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, mit mehr Offenheit, Liebe und Geduld. Für lange Zeit hatte ich es als beglückend empfunden, dass die Fahndung nach Svenjas Kuschelhasen oder die Frage, wann Pablos erster Milchzahn kommen würde, zum Zentrum meines Kosmos geworden waren, während ich mir vorher den Kopf darüber zerbrechen musste, wie ich möglichst viele Solarzellen auf ein Einfamilienhaus packen kann, ohne dass die Baubehörde einschreitet. Für mich, die bis dahin nichts wichtiger fand als Effizienz, war diese Phase sehr lehrreich gewesen. Ich lernte, dass nicht alles im Leben einem Ziel dienen muss und dass der Erfolg einer Tätigkeit sich nicht darin bemisst, dass sie möglichst schnell durchgeführt wird. Wer einmal erlebt hat, mit welcher Ausdauer und Begeisterung Kinder einen Regenwurm beobachten, der eine kunstvoll errichtete Sperre aus Sand und Gras zu überwinden versucht, weiß, wovon ich spreche.

Aber nun hatte ich große Lust, noch einmal etwas anderes zu errichten als Wurmsperren. Und eine glückliche Fügung wollte es, dass ich die Chance dazu erhalten hatte.

 

Vor einer Woche hatte Franz Obermüller, mein Chef, mich zu sich gebeten. Er war ein sympathischer, gut aussehender Typ Mitte vierzig, dessen bayerische Sprachfärbung ihn ein bisschen harmlos erscheinen ließ. In Wahrheit war er ein gewiefter Geschäftsmann, der seine Firma Sunwind äußerst erfolgreich führte. Das Unternehmen war spezialisiert auf Projekte im Bereich erneuerbarer Energien. Damit bewies Franz Konsequenz – in jungen Jahren war er bei den Grünen aktiv gewesen. Dann hatte er Dahlia kennengelernt, eine verwöhnte junge Frau aus reichem Haus, deren körperlichen Reizen er völlig erlag, die sich aber keineswegs mit seinem alternativen Lebensstil zufriedengeben wollte. Um sie zu halten, musste er ihr mehr bieten als Campingurlaub und Klamotten aus ungebleichter Baumwolle. Also wurde er Unternehmer. Nun lautete seine Devise: Geld verdienen, aber mit gutem Gewissen.

»Was weißt du über Litauen?«, fragte er mich ohne Einleitung.

»Der größte der drei baltischen Staaten, im geografischen Zentrum Europas gelegen, ungefähr so groß wie Bayern«, rasselte ich herunter.

»Energiesituation?«

Ich überlegte. »Überwiegend Kernkraft, vermute ich, wie überall in der ehemaligen Sowjetunion.«

Franz wiegte den Kopf. Die Antwort schien ihn nicht zu befriedigen.

»Da fällt mir was ein«, fuhr ich fort. »Musste sich Litauen beim EU-Beitritt nicht verpflichten, sein größtes Atomkraftwerk abzuschalten? Das Ding war baugleich mit Tschernobyl. 2004 ging die erste Stufe vom Netz, dieses Jahr, glaube ich, die zweite.«

Jetzt wirkte Franz zufrieden. »Bingo. Und nun müssen sie zusehen, wo sie ihren Strom herkriegen. In den nächsten Jahren wollen sie auf einen Anteil von zehn Prozent erneuerbarer Energien kommen. Da sich der Windpark bei Palanga als rentabel erwiesen hat, stehen die Chancen für einen zweiten äußerst günstig. Und nun rate, wer genügend Investoren für das Projekt aufgetrieben hat?«

Ich gab vor, angestrengt nachzudenken. »Wahrscheinlich der cleverste, innovativste und risikofreudigste Energie-Unternehmer westlich des Urals?«

Er strahlte. »Richtig geraten! Wir haben einen komplett neuen Fonds aufgelegt, und die Anteilseigner sind hin und weg. Das Genehmigungsverfahren läuft schon, das ist nur noch reine Formsache. Wir können also loslegen!«

Ich erinnerte mich, dass in den letzten Monaten immer wieder die Rede von einem Projekt in Litauen gewesen war. Franz war auch einige Male dorthin gefahren. Er hatte schon länger den Wunsch, Richtung Osten zu expandieren, weil er in den ehemaligen Ostblockstaaten einen riesigen Markt für Solarzellen und Windkraftanlagen vermutete. Dass es sich um ein Projekt dieser Größenordnung handelte, hatte ich nicht geahnt.

»Gratulation!«, sagte ich und lächelte.

Er beugte sich so weit vor, dass seine Krawatte eine elegante Drehung auf der Schreibtischplatte vollführte. »Und jetzt willst du sicher wissen, warum ich es dir als Erster erzählt habe?«

Ich hob die Schultern und ließ sie fallen. »Ja, klar.«

Zufrieden lehnte er sich wieder zurück. »Weil du die Projektmanagerin bist.«

 

Seither hatte ich Nacht für Nacht wach gelegen und mir die immer gleichen Fragen gestellt. Kann ich das überhaupt? Bin ich nicht schon viel zu lange aus dem Geschäft (in den letzten Jahren hatte ich nur Teilzeit gearbeitet)? Werden die Kinder seelischen Schaden nehmen, wenn ich so viel weg bin? Und wer soll sie überhaupt betreuen?

Nach der dritten schlaflosen Nacht erzählte ich Michael von dem Angebot, das Franz mir gemacht hatte. Das heißt, eigentlich war es ja weniger ein Angebot als ein Befehl. Ich hatte nicht den Eindruck, eine Wahl zu haben. Aber von genauso einer Herausforderung hatte ich insgeheim geträumt. Ich wollte es so gern allen noch einmal zeigen!

»Es irrt der Mensch, solang er strebt«, zitierte Michael.

»Was soll das heißen?«, fragte ich. »Traust du mir das etwa nicht zu?«

»Aber natürlich, ich finde es großartig. Du bist reif für solch eine Aufgabe.« Seine Euphorie erschien mir ein bisschen aufgesetzt.

»Und die Kinder?«, fragte ich zaghaft.

»Was soll mit ihnen sein?«

»Ich wäre die meiste Zeit in Litauen, sie würden mich wenig sehen.«

»Aber ich bin doch da«, sagte er.

Ich stieß spöttisch die Luft aus. Wenn er mit »da« meinte, dass er sich auf demselben Kontinent aufhielt, stimmte das. Aber er war mindestens drei, vier Abende die Woche unterwegs, bei Theaterpremieren, Ausstellungseröffnungen oder anderen Kulturevents, bei denen seine Anwesenheit als Redakteur des Monatsmagazins Kultwärts unverzichtbar war.

»Was ist mit deinen Abendterminen?«

»Wir finden jemanden für die Kinder.«

»Und wer soll das sein?«

»Eine Leihoma. Eine Kinderfrau. Ein Au-pair-Mädchen.«

»Ein Au-pair-Mädchen?«, kreischte ich. »Nur über meine Leiche!«

Alles, was ich von meinen Freundinnen über Au-pairs gehört hatte, war dazu angetan gewesen, mich für immer von dieser Idee zu kurieren. Eines der Mädchen hatte eine Telefonrechnung von achthundert Euro produziert und war abgehauen. Ein anderes hatte in der Wohnung der Gasteltern Freier empfangen und mit ihnen im Ehebett gevögelt. Wieder eine andere war von einem Mann, der sich rettungslos in sie verliebt hatte, entführt worden. Er hatte sie in seine Wohnung gebracht, von innen abgeschlossen und den Schlüssel aus dem sechsten Stock geworfen.

Ein Au-pair-Mädchen sei wie ein zusätzliches Kind, man habe noch mehr Verantwortung und kaum Entlastung, so die übereinstimmende Meinung aller Befragten. Meine beste Freundin Tine hatte es auf den Punkt gebracht: »Das Maximum, was du von einem Au-pair erwarten kannst, ist, dass bei deiner Rückkehr das Haus noch steht und die Kinder nicht verhungert sind.«

Nein, vielen Dank, das brauchte ich nicht. Hatte ich gedacht. Und saß nun mit meinem Mann vor dem Computer, um herauszufinden, ob Biljana aus Zagreb oder Georgette aus Marokko besser zu uns passte. Ein Blick in die Stellenanzeigen der Tageszeitung hatte uns gezeigt, dass der Lohn für eine fest angestellte Kinderfrau ungefähr die Hälfte dessen verschlingen würde, was ich netto rausbekäme, und da Michael als Kulturredakteur auch nicht gerade üppig verdiente, war schnell klar, dass ein Au-pair die einzig realistische Lösung war, wenn wir die Kinder nicht zur Adoption freigeben wollten.

Vielleicht hatten meine Freundinnen ja übertrieben. Es war doch gar nicht möglich, dass alle diese Mädchen unfähig, kriminell oder nymphoman waren. Man musste nur sorgfältig suchen, dann würde sich bestimmt eines finden, mit dem es auszuhalten wäre. Mehr noch, vielleicht würde es richtig nett werden und das Mädchen wie eine große Schwester für Pablo und Svenja sein. Man hatte ja schließlich auch soziale Verantwortung – dem Mädchen eröffneten sich nach einem Auslandsjahr bessere Zukunftschancen, und unsere Kinder würden Toleranz und Gastfreundschaft lernen.

»Ich finde es schön, nicht in der Enge der bürgerlichen Kleinfamilie zu verharren, sondern sein Haus und sein Herz zu öffnen«, sagte ich verträumt.

»Vor allem, wenn man die meiste Zeit nicht da ist«, gab Michael zurück.

Ich sah ihn an. »Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war?«

Er seufzte. »Jede große Idee, sobald sie in Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch.«

»Hat Goethe eigentlich zu allem eine Meinung?«, fragte ich genervt. »Tine hat gesagt, man muss sich nur von Anfang an abgrenzen. Die Mädchen brauchen klare Regeln.«

»Hat Tine eigentlich zu allem eine Meinung?«

Ich musste lachen. »Ja, aber was die Au-pair-Thematik angeht, ist sie Goethe an Sachverstand eindeutig überlegen.«

»Ich bräuchte auch jemanden, der für mich arbeitet«, maulte Michael, »jemanden, der Recherchen für mich macht, Material sammelt, Telefonate erledigt. Kann ein Au-pair so was?«

»Michael«, sagte ich geduldig, »diese Mädchen können nur wenig Deutsch. Deshalb kommen sie ja hierher. Natürlich können sie so was nicht.«

Er gab nicht auf. »Ich will morgens keine Fremde in meinem Badezimmer treffen.«

»Außer, sie ist Brasilianerin?«

»Ehrlich gesagt, nicht mal dann.«

»Wir haben ein Gästeklo und eine Dusche im Keller«, erinnerte ich ihn. »Unser Haus ist wie geschaffen für das Zusammenleben mit einem Au-pair-Mädchen!«

Insgeheim erträumte ich mir eine Art moderner Mary Poppins, die, elegant an ihrem Schirm hängend, aus den Weiten des World Wide Web zu uns hinabgeschwebt käme, um mit leichter Hand zu schaffen, was mir bislang nicht gelungen war: unsere Kinder zu erziehen und einen perfekten Haushalt zu führen.

»Also, dann nehmen wir jetzt diese Olga?«, vergewisserte ich mich. Mein Zeigefinger schwebte über der Computermaus. Michael nickte ergeben. Mein Zeigefinger senkte sich nach unten. »Sicher?« Michael stöhnte. Ich holte tief Luft. Legte den Zeigefinger auf die Maus. Click. Danke für Ihren Einkauf.

Olga aus der Ukraine, schrieb ich auf einen Zettel, einundzwanzig, Vater Landwirt, Mutter Lehrerin. Ich hängte den Zettel an meine Pinnwand, an der Hunderte von anderen Zetteln klebten, die mich an alles Mögliche erinnern sollten.

Mädchen aus Osteuropa, so hatten wir von der Leiterin der Au-pair-Agentur gehört, seien besonders motiviert und weniger anspruchsvoll als Mädchen aus westlichen Ländern. Der Kulturschock sei nicht so groß wie bei Bewerberinnen aus dem afrikanischen oder lateinamerikanischen Raum, sie wären sehr anpassungsfähig und würden sich schnell an die hiesigen Lebensverhältnisse gewöhnen.

Die Art, wie diese Frau über die Mädchen sprach, hatte mich an eine Hundezüchterin erinnert, die ich mal kennengelernt hatte. Sie hatte sich ganz ähnlich über die Eigenschaften und Vorzüge der verschiedenen Hunderassen ausgelassen. Motiviert. Nicht so anspruchsvoll. Besonders anpassungsfähig. Gutes Hundchen. Braves Mädchen.

Bei diesem Gedanken fühlte ich mich schlecht. Noch schlechter fühlte ich mich allerdings bei dem Gedanken, Svenja und Pablo einer wildfremden jungen Frau zu überlassen, über die wir nur das wussten, was in ihrer Bewerbung zu lesen war. Und die glich den anderen so sehr, dass wir sicher waren, es gäbe vorbereitete Standardbewerbungsbögen für Au-pairs, die einfach abgeschrieben wurden. Alle Mädchen hatten angeblich Deutsch in der Schule gelernt, als Betreuerinnen in Kinder-Ferienlagern gearbeitet und großen Spaß am Umgang mit Kindern sowie an Hausarbeit. Alle waren Nichtraucherinnen, gingen nicht gerne in Diskotheken, sondern gaben als Hobbys Lesen, Sport und Kochen an. Alle wollten nach Deutschland, um die Sprache zu lernen und die Kultur zu erleben.

»Ha«, hatte Tine geschnaubt, als ich ihr von unserem Plan erzählt hatte. »In Wahrheit wollen sie einen Kerl kennenlernen und heiraten. Bei Jana war’s jedenfalls so. Und dann ist sie an diesem Türken hängengeblieben, der sie eingesperrt und beschimpft hat, wenn sie einen kurzen Rock anziehen oder mit ihren Freundinnen weggehen wollte.«

»Was sind das denn für rassistische Sprüche«, sagte ich empört.

Tine lachte nur. »Du wirst an mich denken. Bei dieser Au-pair-Nummer geht dir die letzte Multikulti-Romantik flöten, das verspreche ich dir.«

Ich dachte nicht daran, mich negativ beeinflussen zu lassen, sondern schwelgte in den mit fröhlichen Fotos geschmückten Erfahrungsberichten, die es im Internet zu lesen gab. Darin berichteten Gasteltern voller Dankbarkeit von der Unterstützung, die sie durch ihr Au-pair erfahren hätten, und die Mädchen schwärmten vom Spaß mit den Kindern und den tollen Ausflügen, die ihre Gasteltern mit ihnen unternommen hatten.

Ausflüge? Was für Ausflüge?

»Ist doch ganz einfach«, klärte Tine mich auf, »die kommen hierher und wollen Neuschwanstein sehen und das Deutsche Museum und das Oktoberfest. Also, in Wirklichkeit wollen sie natürlich nur aufs Oktoberfest, aber weil das einen schlechten Eindruck machen würde, behaupten sie, sie wollten das andere auch sehen. Und ihr macht dann jedes Wochenende Ausflüge zu touristischen Sehenswürdigkeiten, die eigentlich keiner sehen will, weil ihr euch als Gasteltern nicht nachsagen lassen wollt, ihr hättet das Mädchen nur ausgebeutet und nichts mit ihm unternommen. «

Ich schluckte. Die Wochenenden waren die einzige Zeit, die ich mit meiner Familie würde verbringen können, da wollte ich doch nicht nach Neuschwanstein oder ins Deutsche Museum! Eigentlich wollte ich nicht mal, dass an diesen Tagen eine fremde Person im Haus wäre. Ich wollte mit meinen Kindern und meinem Mann am Frühstückstisch sitzen und das Gefühl genießen, daheim zu sein und mich erholen zu dürfen von einer anstrengenden Woche in der Fremde. Das Handelsvertretergefühl nannte ich es bei mir. Als Kind hatte ich eine Freundin gehabt, deren Vater »in Fenstern machte«. Er war die ganze Woche unterwegs und kam am Wochenende nach Hause. Dann durfte man diese Freundin nicht besuchen, ja, nicht mal bei ihr anrufen, weil der Vater keine Störungen wollte, und schon gar keinen Besuch. Aber wie sollte ich das hinkriegen, dass so ein Mädchen die Woche über alles machte, was nötig war, und sich am Wochenende in Luft auflöste?

Mir kam der Verdacht, dass diese ganze Au-pair-Sache weit komplizierter war, als ich angenommen hatte.

 

Als Erstes richtete ich das Gästezimmer ein. Die Matratze war ziemlich durchgelegen, eigentlich hatten wir sie länger schon ersetzen wollen. Aber sollte ich wirklich jetzt eine teure neue Matratze kaufen, wo nicht mehr meine Eltern oder Michaels Geschwister im Gästebett schlafen würden, sondern eine Fremde? Wer weiß, in welchen Verhältnissen sie in der Ukraine lebte, bestimmt würde sie es gar nicht bemerken.

»Verwöhn sie bloß nicht«, hatte Tine mich gewarnt. »Du reichst diesen Mädchen einen Finger, und sie reißen dir den Arm ab.«

»Was meinst du damit?«, hatte ich gefragt. Ich stellte mir vor, die Mädchen müssten dankbar sein für das, was sie hier vorfanden. Ein eigenes Zimmer, kostenloses Essen, Taschengeld, einen Sprachkurs – für die meisten musste das doch eine enorme Verbesserung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse darstellen.

»Erst sind sie dankbar«, hatte Tine gesagt, »und dann werden sie gierig.«

So wollte ich nicht denken, es war nicht meine Art, anderen immer das Schlimmste zu unterstellen. Wenn man einem Menschen mit Offenheit und Großzügigkeit begegnet, würde er sich ebenso verhalten, davon war ich überzeugt.

Ich räumte den Schrank leer, schleppte einen Schreibtisch, den wir vor Jahren ausrangiert hatten, aus dem Keller nach oben und wusch die Vorhänge. Es fanden sich noch ein alter, aber gemütlicher Sessel und ein Beistelltischchen.

»Stell ihr unbedingt einen Fernseher rein«, hatte Tine empfohlen. »Sie glotzen in jeder freien Minute. Deine Kinder glotzen übrigens mit, nur damit du das schon mal weißt.«

Bisher hatten wir es geschafft, Svenja und Pablo fast völlig vom Fernseher fernzuhalten. Wir hatten ihnen viel vorgelesen und mit ihnen gespielt. Und obwohl ich es langweilig fand, auf dem Boden zu liegen und Barbies anzuziehen oder Playmobilmännchen herumzuschieben, obwohl ich Brettspiele hasste und trotz meines technischen Berufes ziemlich unbegabt fürs Basteln war, hatte ich mich all die Jahre dazu gezwungen, damit meine Kinder in einer kreativen und anregenden Atmosphäre heranwüchsen. Ich würde strenge Regeln fürs Fernsehen aufstellen.

Mir fiel ein, dass wir noch einen uralten, kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher von meiner Oma besaßen. Sie hatte ihn mir damals unbedingt schenken wollen, als sie sich einen neuen kaufte. »Er ist doch noch gut«, hatte sie gesagt, »wäre doch schade drum!« Ich hatte ihn genommen und in den Keller gestellt, und da stand er noch immer. Nun würde er wieder zu Ehren kommen.

Pablo stürmte ins Zimmer. »Mama, darf ich …«, er verstummte und sah sich überrascht um. »Warum machst du es hier so schön? Kommt Oma?«

Ich klopfte mit der Handfläche auf die Matratze. »Setz dich, mein Großer, ich erklär’s dir.«

Bisher hatten wir vor den Kindern zwar von dem großartigen neuen Projekt von Sunwind gesprochen, aber noch nicht darüber, dass ich diejenige war, die es ausführen sollte. Und schon gar nicht darüber, dass ich wochenlang weg sein würde und wir deshalb ein Au-pair-Mädchen bräuchten.

Ich legte einen Arm um seine schmalen Schultern. Für einen Siebenjährigen war Pablo ziemlich klein, außerdem war er ein äußerst empfindsames Kind. Viel zarter besaitet als seine Schwester. Um Svenja machte ich mir kaum Sorgen, um Pablo ständig. Nun versuchte ich, die richtigen Worte zu finden.

»Wir bekommen Besuch, aber es ist nicht Oma.«

»Opa?«, fragte er hoffnungsvoll.

Es gab mir einen Stich. Noch immer litt ich darunter, dass meine Eltern getrennt waren und nur einzeln zu Besuch kamen. »Nein, auch nicht Opa. Wir bekommen Besuch von einem Mädchen, sie wird eine Weile hier wohnen.«

»Ein Mädchen? Wieso nicht ein Junge? Ich spiele lieber mit Jungen.«

Ich lachte. »Es ist kein Kind, sondern eine junge Erwachsene, so was wie eine große Schwester. Sie wird auf euch aufpassen, wenn ich unterwegs bin. Sie kommt aus einem anderen Land und möchte hier Deutsch lernen. Wenn ihr viel mit ihr sprecht, lernt sie es ganz schnell. Man nennt so ein Mädchen Au-pair-Mädchen.«

Sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, offenbar versuchte er zu begreifen, was das für ihn bedeutete. »Spielt sie auch mit uns?«

»Ich denke schon. Aber vor allem kocht sie für euch und wäscht eure Sachen und sorgt dafür, dass ihr pünktlich zur Schule kommt und Schulbrote dabeihabt.«

Er drehte den Kopf zur Seite und sah mich an: »Aber das machst doch alles du.«

Ich spürte einen Druck in der Magengegend. »Pablo, du hast doch von dem großen Auftrag gehört, den Franz bekommen hat? Er soll mit seiner Firma in Osteuropa einen Windpark bauen, damit die Leute dort gesunden und billigen Strom bekommen. Das ist wirklich eine tolle Sache, weißt du! Und das Tollste ist, dass er mich gebeten hat, das für ihn zu machen. Deshalb muss ich in nächster Zeit viel verreisen. Und damit ihr drei hier gut versorgt seid, kommt dieses Mädchen zu uns.«

Mit der unbestechlichen Logik eines Siebenjährigen, dem die Stromversorgung anderer Leute völlig schnuppe ist, sagte er: »Warum macht Franz das nicht selbst, wenn es so toll ist?«

»Weil er mir eine Chance geben will. Und weil ich Lust dazu habe. Da kann ich nochmal zeigen, was in mir steckt.«

»Kannst du das hier nicht?«

Ich musste lachen. »Doch. Aber eben nicht alles. Ich habe lange studiert, um meinen Beruf zu lernen, und dann habe ich mich viele Jahre hauptsächlich um euch gekümmert. Jetzt möchte ich gerne wieder mehr arbeiten.«

Eine Weile sagte er nichts. Dann blickte er mich prüfend von der Seite an. »Und wenn sie gemein zu uns ist?«

»Dann suchen wir eine andere.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Er blickte finster. »Ich glaube, die sind alle gemein.«

 

Beim Abendessen sah Pablo seine Schwester triumphierend an. »Ich weiß etwas, was du nicht weißt!«

»Was kann das schon sein, du Angeber«, sagte Svenja herablassend. Sie war fünf Jahre älter als ihr Bruder und fühlte sich ihm haushoch überlegen.

Manchmal bedauerte ich, dass wir uns mit dem zweiten Kind so viel Zeit gelassen hatten. Nach Svenjas Geburt war ich so traumatisiert gewesen, dass ich mir geschworen hatte, nie wieder schwanger zu werden. Michael schien es recht zu sein, er war ohnehin nicht wild darauf gewesen, Vater zu werden. Als Svenja immer größer wurde und es so aussah, als würde sie ein Einzelkind bleiben, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Mehr aus Pflichtbewusstsein als aus Leidenschaft zeugten wir ein zweites Kind. Als Pablo geboren wurde, war ich überglücklich. Ein Mädchen und ein Junge, das war einfach perfekt! Endlich waren wir die Familie, die ich mir vorgestellt hatte.

Was ich mir nicht vorgestellt hatte, war, wie anstrengend es sein würde, wieder ein Baby zu haben. Und einen Mann, der genauso weiterlebte wie zu der Zeit, als er noch keine Kinder hatte. Der nachts lange ausging, morgens lange schlief und jederzeit spontan zu einem Wochenendtrip aufbrach, egal, ob ein Kind zahnte, Brechdurchfall hatte oder für eine Mathearbeit lernen sollte. Die meiste Zeit fühlte ich mich wie eine alleinerziehende Mutter.

Die Geschwister hatten angefangen zu streiten. »Du bist so plöd!«, schrie Pablo verzweifelt.

»Und du?«, gab seine Schwester zurück. »Du weißt ja noch nicht mal, wie man blöd schreibt!«

»Du sollst deinen Bruder nicht dissen«, sagten Michael und ich wie aus einem Mund. Dann sahen wir uns an. Michael schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass wir auch schon dieses doofe Wort verwenden«, sagte er. Und zu unserer Tochter gewandt: »Du sollst ihn nicht ärgern.«

»Pablo hat angefangen.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Los, sag schon, was weißt du?«

Unsicher sah Pablo zu mir rüber. Ich nickte ihm aufmunternd zu.

»Wir kriegen ein Opär!«, verkündete er.

»Ein Au-pair?« Fragend sah Svenja mich an. »Wie bei Tine?«

Ich nickte und ließ im Geist die zahllosen Mädchen Revue passieren, die in den letzten Jahren bei Tine und ihrer Familie gelebt hatten. Ich hatte es immer furchtbar gefunden, dass alle paar Monate eine neue Jana, Lenka, Marta oder Monika im Leben der Kinder auftauchte, aber offenbar waren sie so daran gewöhnt, dass sie die wechselnden Betreuerinnen gleichmütig hinnahmen.

»Ein Au-pair-Mädchen, echt? Ist ja cool!«, sagte Svenja.

Ich tauschte einen erleichterten Blick mit Michael. Wenigstens von dieser Seite kam kein Widerstand. »Wieso findest du das cool?«, wollte ich wissen.

»Weil man bei denen viel mehr darf als bei den Müttern. Die Au-pairs erlauben einfach alles, weil es ihnen egal ist.«

Michael setzte seine Strenge-Vater-Miene auf. »Da habe ich dann wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden«, dämpfte er Svenjas Erwartungen. »Ich bleibe nämlich hier. Ich baue kein Windkraftwerk im Osten.«

Täuschte ich mich, oder hatte das ein wenig vorwurfsvoll geklungen?

Nach dem Essen räumte ich die Spülmaschine ein. Michael ging mir zur Hand. Dann schrieb ich den Einkaufszettel für den nächsten Tag. Michaels Arme umschlangen mich von hinten. Ich notierte rasch »Wäsche raus« und »Schockfrost aus« und legte die Zettel so auf den Küchenblock, dass sie nicht zu übersehen waren. Michael begann, meinen Hals zu küssen.

»Hast du heute Abend gar nichts vor?«, fragte ich.

»Eigentlich schon«, sagte er, »aber du scheinst es mal wieder nicht zu merken.«

Großer Gott, dachte ich, ist es schon wieder so weit? Eine Woche ohne Sex nahm Michael noch ohne Beschwerde hin. Danach wurde er anschmiegsam. Dann wütend.

Ich hatte ganz andere Pläne für den Abend. Ich musste mich weiter in das Litauen-Projekt einlesen, meine E-Mails beantworten, mit Tine telefonieren.

Mein kurzes Zögern war offensichtlich bereits zu viel für ihn. Er ließ mich los und machte einen Schritt zurück. »Ach, natürlich, ich weiß schon! Es gibt keinen Zettel, auf dem es steht. Und ohne Zettel denkst du einfach nicht daran!«

Er riss mir die Einkaufsliste aus der Hand, drehte sie um und schrieb mit großen Buchstaben darauf: SEX! Er hielt mir den Zettel vor die Nase, dann heftete er ihn zu den vielen anderen, die mit Magneten am Kühlschrank befestigt waren. »Zahnarzt Pablo!« – »Steuererklärung!« – »Getränke bestellen!« – »Geb.Geschenk Petra!«

Ich seufzte schuldbewusst. Er hatte ja Recht. Immer war so viel zu tun. Die Kinder, der Haushalt, der Job. Ich kam gar nicht mehr dazu, an Sex auch nur zu denken. Von praktischer Umsetzung ganz zu schweigen. Und je seltener wir miteinander schliefen, desto weniger fehlte es mir.

Für Michael war Sex etwas so Selbstverständliches wie Nahrungsaufnahme oder Zähneputzen, es gehörte zu seinem Alltag. Ich hingegen wünschte mir, Sex sollte in Momenten stattfinden, die aus dem Alltag herausgehoben waren, also etwas Besonderes sein. Leider erlebten wir kaum noch solche Momente, seit wir Kinder hatten.

Zu Beginn war das ganz anders gewesen, obwohl alles mit einem großen Missverständnis angefangen hatte: Es war bei einer Mottoparty »Vamp und Vampir« gewesen. Ich hatte mich – sonst ganz der burschikose Hosentyp – für Vamp entschieden, mir ein enges schwarzes Kleid und hochhackige Schuhe von einer Freundin geliehen und mich zum ersten Mal seit Jahren geschminkt. In diesem Aufzug lief ich Michael in die Arme. Der hielt mich natürlich für das verführerische Biest, als das ich mich ausgab, und ich hatte zunächst auch Spaß an dieser Rolle. Im Laufe der Zeit hätte er eigentlich merken müssen, dass ich in Wahrheit nicht so war, aber bis heute hatte er diesen ersten Eindruck von mir konserviert und war offenbar immer wieder erstaunt darüber, wie ich es geschafft hatte, ihn so zu täuschen.

»Na gut«, lenkte ich ein und sah auf die Uhr. »In zwanzig Minuten im Schlafzimmer?«

Michael sah mich resigniert an. »Leidenschaft sieht anders aus, findest du nicht?« Er drehte sich um und verließ die Küche.

»Wir sprachen von Sex!«, rief ich ihm nach. »Nicht von Leidenschaft!«

Wütend riss ich den SEX-Zettel vom Kühlschrank und drehte ihn wieder um.

Spülmittel, notierte ich. Zahnseide, Wattestäbchen, Batterien.

 

Nachdem ich meine E-Mails beantwortet hatte, blieb ich sitzen, griff in meine Handtasche, holte einen Taschenkalender hervor und blätterte die letzten sechs Wochen durch. Nur vier Häkchen. Das war entschieden zu wenig. Es sollte auch mir zu wenig sein, denn eigentlich fand ich Michael immer noch sehr anziehend. Aber wo war die Leidenschaft des Anfangs geblieben?

Ich setzte mich aufrecht hin, schloss die Augen und stellte mir seinen Körper vor. Er hatte breite Schultern, eine glatte, weiche Haut und nur wenige Haare auf der Brust. Seitlich an seiner Taille saßen zwei kleine Muskelstränge, die sich ein wenig wölbten. Die Griffe zum Festhalten, nannte ich sie. Sein Hintern war klein und fest, sein Penis lag angenehm weich in der Hand und richtete sich bereitwillig auf, wenn er sollte. Seine Beine waren muskulös und behaart. Ich mochte Michaels Geruch, den Geschmack seiner Zunge, seine Berührungen und Bewegungen. Wenn wir uns liebten, war es vertraut und aufregend zugleich, trotz der vielen Jahre, die wir uns kannten. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass er mich noch begehrte, denn damit ging es mir besser als den meisten meiner Freundinnen. Deren Männer (sofern noch vorhanden) verweigerten sich oft schon seit Jahren, viele hatten eine feste oder ständig wechselnde Geliebte.

Je länger ich da saß und mir Michaels Körper vorstellte, desto deutlicher spürte ich meine Erregung. Warum hatte ich trotzdem so selten Lust, mit ihm zu schlafen? Einen Augenblick lang verfluchte ich mein Leben zwischen Familie und Job, die ständige Hetzerei, das ewige Abgekämpftsein, und wünschte mich zurück in die Zeit, als ich noch frei und ungebunden gewesen war. War ich damals je zu müde für Sex gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.

Ich öffnete die Augen, streckte mich und gähnte. Dann griff ich nach der Einkaufsliste, die neben dem Computer lag, und verließ das Arbeitszimmer.

Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, ich warf einen kurzen Blick Richtung Bett. Wenn ich mich jetzt hinlegen würde, wäre ich innerhalb einer Sekunde eingeschlafen …

Im Wohnzimmer saß Michael vor dem Fernseher und starrte wütend auf die Mattscheibe. Als er nicht auf mein Erscheinen reagierte, ließ ich mich neben ihn gleiten und faltete den Zettel auseinander.

Milch, Brot, Joghurt, Äpfel, Spülmittel …

Ich drehte den Zettel um und hielt ihn vor sein Gesicht. Überrascht sah er mich an.

Ich lächelte verlegen. »Tut mir leid. Ich hab’s nicht vergessen. Nur … eine Weile nicht dran gedacht.«

Ich lehnte die Stirn an seine Wange und schloss die Augen. Einen Moment bewegte er sich nicht. Dann zog er mich sacht an sich und küsste mich.