Titel

3Barbara Cassin

Nostalgie

Wann sind wir wirklich zuhause?

Aus dem Französischen von Christine Pries

Suhrkamp

Widmung

7»Mit einem Fuß in einem und mit dem anderen in einem
anderen Land zu stehen, ist ein großer Glücksfall für mich,
denn so bin ich frei.«

René Descartes, Brief an Christina von Schweden, Juli 1648

9Über korsische
Gastfreundschaft

»Sie ist wiedergefunden.

Was? Die Ewigkeit.

Es ist das Meer, verbunden

Mit der Sonne in eins.«

Arthur Rimbaud

11Eine Insel, nicht zuhause zuhause

Man könnte meinen, ich käme nach Hause zurück, aber es ist nicht mein Zuhause. Vielleicht weil ich kein Zuhause habe bzw., genauer gesagt, weil ich dort, wo ich nicht zuhause bin, am stärksten das Gefühl habe, zuhause, so etwas wie zuhause zu sein. Wann sind wir wirklich zuhause?

Ich verlasse das Flugzeug, hole das Auto aus der Garage am Flughafen, man sagt mir, wo der altertümliche weiße Peugeot steht, der immer noch eine Pariser Nummer hat und sich fährt wie ein Lastwagen. Im Sommer nehme ich gerne die Straße an der Lagune, vorbei an Früchten und Gemüsen, dicken Zitronen, Cantaloupe- und Wassermelonen, Aprikosen, es gibt schon Feigen, Ochsenherztomaten, blasslila marmorierte Auberginen, kleine, gedrungene Zucchini. Die Tunnel, Kreisverkehre und Bremsschwellen, dann die Kurven, eine nach der anderen. Sie fahren sich wie von selbst, meine Hände und vielleicht auch das Lenkrad haben sie verinnerlicht, ohne dass ich besonders darauf achten müsste. Neben den Abgasen wehen die Jahreszeiten den Duft der Macchia-Büsche herüber (»dieser Hauch von Kiefer, diese leichte Andeutung von Beifuß ‌…«, sagt der entflohene Gefangene in Asterix auf Korsika und springt ins Wasser1), den Geruch von Mimosen, Oleander, Feuer, Meer. Ich sehe das Gewerbegebiet wachsen, neue oder restaurierte Häuser, kaum Veränderungen, sobald man die Straße zum Cap erreicht hat. Ich komme nach Hause zurück wie ein Pferd in seinen Stall.

12Eine solche Erfahrung möchte ich zum Ausgangspunkt nehmen: das Gefühl einer ununterdrückbaren Nostalgie in meinem Inneren, das ich jedes Mal empfinde, wenn ich nach Korsika »heimkehre«. Es ist ein starkes Gefühl und insofern merkwürdig, als meine Vorfahren nicht von dieser Insel kommen, ich nicht dort geboren bin und weder als Kind noch als Jugendliche dort gelebt habe. Ich bin keine Korsin, ich wurde in Paris geboren, wo ich wohne und arbeite, ich habe in einem bezaubernden, etwas dunklen Haus mitten in Paris meine Kinder bekommen und aufgezogen, ich spreche das gestochene Französisch einer »pinsoute«, wie die Korsen Frauen vom Festland nennen: Wie kann es sein, dass ich mich dort so zuhause fühle? Wie kommt es, dass Korsika mir so fehlt, wenn ich lange, immer allzu lang, nicht dort bin? »Du kommst, um neue Energie zu tanken«, höre ich häufig, wenn ich im Dorf bin, was für eine merkwürdige Ausdrucksweise: um welche Energieressource handelt es sich, was ist ihre Quelle? Ich bin dort nicht zuhause und trotzdem bin ich zuhause. So wie im Evangelium die Rede von jemandem ist, der »sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht« (1. Korinther 7,31), empfinde ich Korsika »als« mein Zuhause, auch wenn ich dort nicht zuhause bin. Weil ich dort keine Wurzeln habe, fasst die Entwurzelte, die ich bin, die ich gerne bin und die ich zu bleiben hoffe (meine jüdische Mutter stammte über Triest und unter Fremdherrschaft stehende Gebiete aus Ungarn, und die Familie meines Vaters, die ehedem Barbaresken-Korsaren gewesen waren, gehörten zu den Bankiers des Papstes in der 13südfranzösischen Grafschaft Venaissin), es tatsächlich »als« ihr Zuhause auf.

Über Nostalgie wollte ich offenkundig nachdenken bzw. nachsinnen, weil ich Homer liebe, Odysseus, die griechische Sprache, das Mittelmeer. Aber auch, und das ist merkwürdiger, weil ich an Korsika hänge, am Horizont eines Hauses, eines Dorfes und eines Caps auf einer anderen Insel, auf die ich zumindest insofern nicht gehöre, als ich dort nicht geboren wurde. Trotzdem ist »Nostalgie« das Wort, das mir wie selbstverständlich in den Sinn kommt, wenn ich an Korsika denke. Aber genauso wie »Homer« ist »Nostalgie« nicht unbedingt das, wofür man sie hält. Ebenso wenig wie Homer der Dichter ist, der ursprünglich und ganz allein die Ilias und die Odyssee verfasst hat, wie wir sie kennen,2 ist Nostalgie nicht bloß Heimweh und die Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren. Wie die Herkunft selbst ist dieses überwältigende und zugleich süße Gefühl eine bewusste Fiktion, die immer wieder Hinweise darauf gibt, sie als die wunderbare, menschliche und kulturbedingte Fiktion zu verstehen, die sie ist. Also als beste Weise, in Gestalt einer durch die Erfahrung der Neuzeit verwandelten Odyssee in die Heimat zurückzukehren, und sei es gar nicht die eigene?

Wie Sprache ist Heimat »nichts, was einem gehört«.3

Ich möchte eine sehr, ja viel zu persönliche Erfahrung zum Ausgangspunkt nehmen.

Mein Mann ist an den Folgen einer langen und zugleich kurzen Krankheit gestorben, die in unserem dörflichen Zufluchtsort und in den Räumen des von uns 14für uns hergerichteten Hauses gleichmütig hingenommen wurde. Abgesehen vom Erbrecht und vom Preis für Zigaretten gehört das Privileg, zuhause begraben zu werden, wenn die Département-Verwaltung es gestattet, zu den Sonderrechten des seltsamen, immer noch napoleonischen Gebiets namens Korsika. Mein Mann ist in diesem Dorf und in diesem Haus auf einer das Dach, den Jachthafen und das Meer überragenden Terrasse beerdigt worden. Wir haben eine Steintafel aufgestellt, die Freunde mit ihrem Boot aus einer kleinen Bucht geholt und in die sie seinen Namen, sein Geburts- und sein Sterbedatum eingraviert haben; man kann sich auf eine Bank aus Treibholz setzen, die wir alle gemeinsam gebaut haben. An seiner Seite liegt dort in dem Flecken Erde, der einem – uns – gehört und doch auch nicht gehört, auch mein eigenes Grab, das noch hohl klingt.

An dem Tag, als er starb, der absehbar war, dessen Datum wir aber nicht kannten (»Er ist so müde, hören Sie auf, ihn zu beobachten, lassen Sie ihn gehen«, hatte die Ärztin an jenem Morgen zu mir gesagt), war sein Grab nicht fertig. Es haben mich aber an jenem Tag zwei Personen angerufen, um mir zu sagen, dass er in ihrem Familiengrab willkommen sei: »Auch dies ist korsische Gastfreundschaft.«

Wir sind hospites, Gäste. Immerhin bin ich Französin, wie mein Personalausweis bestätigt, und Korsika liegt in Frankreich, ich bin also schlicht und einfach in meinem Heimatland zuhause. Trotzdem fühle ich mich dort nur zuhause, weil ich zu Gast bin. Andere haben 15dort Wurzeln, tiefere Wurzeln, und sie heißen mich willkommen. Da meine Eltern mir dankenswerterweise keinen Grundbesitz hinterlassen haben, bin ich im Besitz eines Fleckens Erde, der mir ursprünglich nicht gehört hat, mir in keiner Weise gehört, auch wenn ich seine rechtmäßige Eigentümerin bin. Denn hier deutet sich so etwas wie Wechselseitigkeit an. Im Französischen wird der Wirt oder Gastgeber, der jemanden willkommen heißt, und der Gast, der willkommen geheißen wird, mit demselben Wort, hôte, bezeichnet, und diese Eingebung aus unvordenklichen Zeiten macht Zivilisation als solche aus. Natürlich darf man nicht vergessen, dass mit dem griechischen Wort für hôte in seinen beiden Bedeutungen, xenos, auch der »Fremde« gemeint ist, dem man vor allem Gastfreundschaft gewähren muss, während das lateinische hostis auch den »Feind« bezeichnet, Vertrauen, Misstrauen. Vom Meer aus sieht man oberhalb des Hauses den Turm, in dem Seneca De Consolatione geschrieben haben soll. Ob tot oder lebendig genießen wir hier die Gastfreundschaft des Dorfes. Aber gleichzeitig genießen wir hier die Gastfreundschaft der Welt, in einem wahrhaft griechischen Kosmos, der sich entlang jenes für Inseln so typischen Horizonts erstreckt: »Sie ist wiedergefunden. Was? Die Ewigkeit. Es ist das Meer, verbunden mit der Sonne in eins«, schrieb ein hellsichtiger Rimbaud (diese Worte kamen mir als Danksagung für die Beileidsbekundungen all jener Bekannten und in manchen Fällen Unbekannten in den Sinn, die gekommen waren, um an einem heißen Mittag im Juni den über die Straße hol16pernden Leichenwagen in Empfang zu nehmen). Die Realität einer Insel. Eine Insel ist auf spezifische Weise real. Vom Boot oder Flugzeug aus sieht man ihre Ufer. Und von einer Insel aus sieht man die Krümmung des Horizonts über dem Meer; wenn abends die Sonne untergeht, ist die Erde rund. Man weiß, dass mitten im Wasser ein Küstenstrich liegt, der ein Innen von der großen Weite des Außen abgrenzt, und dass die Insel endlich ist. Eine Insel ist par excellence eine Entität, eine Identität, ein Etwas, das einen Umriss hat, eidos, sie tritt in Erscheinung wie eine Idee. In ihrer Begrenztheit und Endlichkeit ist die Insel eine Sichtweise der Welt. Eine Insel ist in den Kosmos eingebettet, kosmisch und kosmologisch, mit dem Sternenhimmel über unseren Köpfen und der unermesslichen Weite vor uns, empfänglich für unsere Blicke. In Griechenland, auf Korsika, erlebe ich ohne Unterbrechung den kosmos – die »Welt« der Griechen –, »Ordnung und Schönheit«, heißt es bei Baudelaire. An jeder Wegbiegung, in jeder Kurve, bei jedem Schritt fügt die Welt sich neu zusammen und organisiert sich neu. Was das Auge sieht, wird unmittelbar Struktur, Harmonie breitet sich aus, man ist jedes Mal von neuem erstaunt. Zwischen Kosmologie und Kosmetik ordnet der unermessliche und begrenzte Horizont sich neu. Eine Insel ist ein Ort par excellence.

Nostalgie im Hinblick auf eine Insel. Als Ort ist eine Insel zugleich ein ganz besonderer Ort, ein Ort, der zur Abreise einlädt: Auf einer Insel kann man nichts anderes als aufbrechen, »O Tod, alter Kapitän«, so ebenfalls Baudelaire. Und man möchte, muss, auf sie zurückkeh17ren. Sie bestimmt und zieht einen an. Es ist so, als krümme die Zeit sich wie der Horizont und als komme man von einer langen Reise, einer Rundfahrt, einer Odyssee zurück.

Aber kehrt man wirklich dorthin zurück? Und bleibt man überhaupt jemals da?