Eva von Redecker

Praxis und Revolution

Eine Sozialtheorie radikalen Wandels

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Gibt es einen Zusammenhang zwischen zäher Alltagspraxis und großer Umwälzung? Unter welchen Bedingungen können kleine Veränderungen revolutionäre Ausmaße annehmen und an welche Grenzen stoßen sie? Eva von Redecker plädiert vor dem Panorama ausgewählter Literaturbeispiele dafür, dem Revolutionsbegriff eine neue Gestalt zu geben. Radikaler Wandel wird in diesem Buch sozialtheoretisch erschlossen und als langwieriger Übertragungsprozess verständlich, in dem Gegenstand und Antrieb der Veränderung in eins fallen: in Praxis.

Vita

Eva von Redecker ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der HU Berlin und stellvertretende Direktorin des Center for Humanities and Social Change.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: »…es handelt sich um eine Revolution.«

I.Marias Ménage und die Flüchtigkeit alternativer Praxis

I.1Praktische Normativität

Die Priorität des Praktischen

Drei praktische Regeltypen

Drei Weisen praktischen Wissens

Wiederholbarkeit

I.2Die Materialität der Praxis

Bewegte Materie

Unteilbare Praxis

Ambivalenz und Interpretationsoffenheit

Wandel durch Überlagerung

I.3Praxiszusammenhänge

Teile ohne Ganzes?

Verkettungen

Verankerungen

Ambivalente Ankerpraktiken

II.Jakobinische Strickerinnen und die Bahnen der Strukturierung

II.1Die Dualität sozialer Strukturen

Die Strukturierungstheorie

Regeln, Ressourcen, Rekursivität

Materialismus durch Praxisübertragung

Materialismus durch Praxisverkettung

II.2Anerkennung und performative Strukturierung

Nichts als und doch mehr als Praxis

Wiederholung, Anerkennbarkeit, Performativität

Dreifache Hermeneutik

Erosion

II.3Drei Aggregatzustände des Sozialen

Versteinerte Strukturen

Geronnene Strukturen

Flüchtige Zwischenräume

Interstitielle Strukturierung

III.Martas unsichtbare Bezugsgruppe und interstitielle Strukturumbrüche

III.1Dis-Aggregation: Performative Kritik und das Lachen der Mimesis

Performativität rückwärts

Performative Kritik im Besonderen: Drag

Performative Kritik im Allgemeinen: Unfügsame Praxis

Subversives Lachen

III.2Konstitution: subkollektive Assoziation

Sub-Kollektive

Macht durch Assoziation

Praxis zwischen Welt und Mitwelt

Strukturen zwischen Spontaneität und dauernder Erscheinung

III.3Kontamination: Strukturüberlagerung

Subversion oder Perversion?

Szenarienüberblendung und synchrone Genealogie

Strukturumschlag und Re-Artikulation

Metaleptische Verschränkung

IV.Die Hinrichtung der Marquise und metaleptische Paradigmenwechsel

IV.1Paradigmenwechsel als sukzessiver Austausch von Ankerpraktiken

Paradigmenwechsel nach Kuhn

Kippbilder entzerren

Paradigmenwechsel nach Masterman

Replikation und Rekursivität

IV.2Der revolutionäre Entstehungsprozess des Revolutionsbegriffs

Prozess oder Ereignis?

Kulmination an der Bastille

Kumulation im Gang durch die Peripherie

Zur Vergegenwärtigung von Transformationsprozessen

IV.3Metaleptische Dynamiken

μετάληψις

Fern-Metonymie

Grund-Folge-Vertauschung

Mittelmäßiger Witz

Konklusion: »Die Mühen der Ebene« und die revolutionäre Tradition

Literatur

Filme

Vorwort

In Revolutionen wird zwar alles anders, aber nicht alles neu. Wandel ergibt sich aus dem Bestehenden und zwar, so die These dieses Buchs, durch das Umfunktionieren gegebener Strukturen nach Maßgabe von Praktiken, die in gesellschaftlichen Zwischenräumen vorweggenommen und eingeübt werden. Es bedarf dieses beharrlichen Untergrunds – oder auch dieser untergründigigen Beharrlichkeit –, um sicherzustellen, dass nach Fortsetzung nicht einfach Althergebrachtes, nach Auflösung nicht einfach Leere und nach Krisen nicht einfach Lähmung herrscht.

Die Praxis der Zwischenräume wird dabei aber nicht zum neuen Subjekt der Revolution erklärt – also zu dem, was die Revolution macht. Anders als Bücher, für die trotz aller Vielstimmigkeit und aller Kollektivarbeit doch eine Autorin verantwortlich zeichnet, werden Revolutionen überhaupt nicht »gemacht«. Sie entstehen aus Konstellationen von Bedingungen, die niemand steuert.

Etwas nicht zu steuern, heißt aber nicht, dass man es nicht (besser) verstehen könnte. Dieses Buch verwendet gut 250 Seiten darauf, Konstellationen radikalen Wandels sozialtheoretisch zu bestimmen und schließlich auf den der antiken Rhetorik entlehnten Begriff der Metalepsis zu bringen. Gemeint ist damit ein verkehrendes Ineinandergreifen – in diesem Fall von abseitiger Praxis und bedingenden Strukturen –, das einen Übergang ermöglicht.

Mit Doktorarbeiten vollziehen Wissenschaftlerinnen den Übergang in die akademische Gemeinschaft. Die tradititionellen Rituale, die damit – trotz aller neoliberalen Einebnung – immer noch verbunden sind, stiften bemerkenswerte Verwandtschaftsverhältnisse: auf die Adoption durch Doktormütter oder -väter folgt die Entstehung eines Werkes. Wie Nonnen nach bestandenem Novizat in einer symbolischen Zeremonie der Eheschließung in die Klostergemeinschaft aufgenommen werden, wird die Promovendin durch die Disputation Teil der Wissenschaftsgemeinde. Als deren Mitglied steht sie schließlich vor der Aufgabe, die Offerte wieder weltfähig zu machen und von einer Qualifikationsschrift in ein Buch zu verwandeln – nicht zuletzt, um sich anschließend von dem Gesellenstück trennen und neuen Forschungsfeldern zuwenden zu können.

Ich staune immer noch, dass dies gelungen sein soll. Und es ist ein ganz einfacher und überhaupt nicht neuer Begriff, auf den mich dieses Staunen bringt: Dankbarkeit.

Mit der Würdigung all der Hilfe, Ermutigung und Herzlichkeit, die mich durch die letzten Jahre getragen haben, ließen sich ihrerseits leicht 250 Seiten füllen. Ich hoffe, dass meine Dankbarkeit viele über die folgenden Passagen hinausreichende Ausdrucksmöglichkeiten finden wird und beschränke mich auf den Versuch, den Anteil derer zu benennen, ohne die dieses Buch schlichtweg nie geschrieben worden wäre.

Rahel Jaeggi danke ich als Betreuerin der diesem Buch zugrundeliegenden Dissertation: Für die grandiose Mischung aus vorbehaltloser Begeisterung für das Projekt im Allgemeinen und gehöriger Skepsis gegenüber fast allen seinen besonderen Hypothesen. Gerade das, wovon ich mich über weite Strecken der Promotion maßlos überfordert gefühlt habe – immer schon als die philosophische Dialogpartnerin angesprochen zu werden, die ich doch durch die Arbeit an der Qualifikationsschrift überhaupt erst allmählich zu werden gedachte –, erscheint mir im Nachhinein als die großzügigste Gabe. Es gibt also Lernprozesse.

Rahel als Chefin danke ich für das inspirierende und sich ständig bereichernde Umfeld, sowohl an der Humboldt-Universität als auch vorübergehend an der New School, New York, in dem ich Kooperationen, Herausforderungen und Freundschaften finden konnte, wie es sie in dieser Dichte wohl nur in wenigen intellektuellen Zentren gibt – dieser Dank gilt zugleich meinen wunderbaren Kolleg_innen am Lehrstuhl.

Schließlich danke ich Rahel für tiefe persönliche Vertrauensbeweise und dafür, den Elfenbeinturm mit so sprudelnder Lebendigkeit zu füllen, dass ich nie dazu gezwungen war, kostbare Zeit mit Grübelei darüber zu verschwenden, ob ich am richtigen Ort sei.

Raymond Geuss danke ich für die Zweitbetreuung und zunächst überhaupt einmal dafür, dass er sich dazu durchringen konnte, diese kurz vor Emeritierung doch noch zu übernehmen. Das Semester, das ich schreibend in Cambridge verbrachte, sicherte das Rückgrat der gesamten Arbeit. Die Gründlichkeit und Unbestechlichkeit, mit der Raymond sich auf meine Ideen einließ, war eine unschätzbare Hilfe; zu danken habe ich außerdem für eine unvergessliche Nachhilfestunde in Altgriechisch, die mir dazu verhalf, meinem eigenen Grundbegriff zu vertrauen, sowie für Beratung und Ermutigung in der Überarbeitung des Buchmanuskripts.

Die enorme Hilfe, nahezu das gesamte Manuskript zu lesen, haben mir in der Dissertationsversion Daniel Loick, in der Buchversion Lukas Kübler und in den prekären Zwischenstufen Lea-Riccarda Prix gewährt; alle drei bilden auch als Diskussionspartner_innen einen unersetzlichen Bestandteil meines philosophischen Horizonts.

Für Lektüre, Kritik und Verbesserung einzelner Teile danke ich Judith Butler, Robin Celikates, Lucy Duggan, Antke Engel, Sophia Ermert, Aurélie Herbelot, Leonie Hunter, Matthias Mader, Tobias Matzner, Judith Mohrmann, Johanna M. Müller, Katrin Pahl, Sophie von Redecker, Isette Schuhmacher, Margarete Stokowski und Selana Tzschiesche.

Einzelne Kapitel und deren Vorformen haben davon profitiert, in folgenden Zusammenhängen diskutiert worden zu sein: In mehreren Workshops mit Nancy Frasers Einstein-Gruppe; in der Lebensformen/formes de vie-Veranstaltungsreihe, die Estelle Ferrarese in Paris und am CMB Berlin organisiert hat; bei Antke Engels zehnjährigem Jubiläum des Instituts für Queer Theory; einmal im Colloquium für feministische Philosophie an der HU (Mikkola), zweimal im Sozialtheorie-Colloquium in Jena (Rosa/Strecker, Rosa/Reitz) und einmal im Politische-Theorie-Colloquium in Bremen (Nonhoff/Vogelmann).

Dem Sozialphilosophie-Colloquium an der HU danke ich für viel mehr als für die zwei Sitzungen, in denen ich vorstellen durfte: für eine konstante intellektuelle Basis.

Für die Einladungen in Institutscolloquien oder Vorlesungsreihen, in denen ich Material aus diesem Buch vorgetragen konnte, danke ich Sarah Bufkin (Oxford), Alice Crary (New York), Christine Hauskeller (Exeter), Hilge Landweer und Christine Kley (FU Berlin), Christian Thies (Passau), Adriana Zaharijević (Belgrad) und der Philosoph*innengruppe (Frankfurt a. M.).

Hilfreiches Feedback habe ich auch von Konferenzen in Prag, New York, Nisyros, Erlangen, Hannover, Genf, Zürich und Dresden mitgenommen. Eine Sonderstellung nimmt mein allererster mit der Revolutions-Thematik befasster Vortrag auf der Frankfurter Graduiertenkonferenz 2010 ein. Ich danke dem Schicksal dafür, in einem Panel mit Bini Adamczak und Daniel Loick gelandet zu sein – für alles weitere Bini und Daniel.

Für die erfreuliche Zusammenarbeit mit dem Campus-Verlag und ein fantastisches, wenn auch notgedrungen fragmentarisches Lektorat danke ich Isabell Trommer.

Gute Ratschläge und Rückenstärkungen an entscheidenden Stellen – zum Teil auch durchweg –, sowie institutionelle oder editorische Einsichten verdanke ich: Elisabeth Bonsen, Antke Engel, Estelle Ferrarese, Iwona Janicka, Patricia Purtschert, Martin Saar, Margarete Stokowski, Sabine Lammers, Sidonia Blättler.

Das entscheidende enge im weiteren Umfeld bestand aus Isette Schumacher, Johanna M. Müller, Lea-Riccarda Prix und Hilkje Hänel. Ihr habt das wirkliche Kunststück vollbracht, nicht nur die intellektuellen Bedürfnisse besser zu versorgen als irgendjemand sonst, sondern nebenbei auch noch alle anderen im Blick zu behalten.

Die ungeheure Nachfrage nach Lehre in der praktischen Philosophie und Kritischen Theorie an der HU-Berlin – mit Seminargrößen von bis zu 100 Teilnehmer_innen –, habe ich oft als einen der Gründe dargestellt, die das Schreiben dieses Buchs erheblich erschwert haben. Dialektische Kontextualisierung, so würde ich es im Seminar zu erklären versuchen, erlaubt aber, dass etwas wahr sein kann, ohne die Wahrheit seines Gegenteils auszuschließen: Ich hätte dieses Buch auch nicht ohne meine Studierenden schreiben können. Sie haben mich in ihrem Wissensdurst unablässig an den Sinn der theoretischen Arbeit erinnert und zugleich damit lebendig gehalten, dessen Ergebnisse in Frage zu stellen. Dieses Buch wäre sehr viel weniger interessant, wenn ich es nicht auch mit und für Euch geschrieben hätte.

An dem Punkt, an dem man sich für intellektuelle und editorische Unterstützung bedanken kann, müssen bereits entscheidende Vorbedingungen gewährt worden sein. Es ist ein immenser Luxus und ein großes Glück, in einem Haushalt zu leben, der einem zu Schreiben erlaubt. Meine tiefste Dankbarkeit gilt den Liebsten, den Freund_innen und der Schwester, die dort und dergestalt mit mir das Leben teilen, sowie allen Gästen, die Geduld mit einer schreibenden Gastgeberin aufbrachten.

Und doch sind gelegentlich Rückzugsorte mit Zentralheizung und weniger Zimmern ein Geschenk. Thank you, Ann, for shelter at 346 (and everywhere else) und dank Dir für’s Repro-Paradies Richardstraße, Lea. Ein großes Dankeschön auch an die Zeckendorf-Tower-WG und den Hof Schoolbek.

Pingu, I know you distrust any ritual acknowledgements. I will simply remain grateful to you forever.

Wenn hier von so viel beharrlicher Unterstützungsarbeit die Rede ist, dann gibt es doch nur eine einzige Person, die mich wirklich durch alle Übergänge gebracht hat: meine Mutter. Sie hat mich gelehrt und macht mir weiterhin vor, worauf es unterwegs ankommt: Freiheitsliebe, Geistesgegenwart, Tatkraft und Ehrlichkeit.

Susanne von Redecker, geborener Steffen, möchte ich deshalb nicht nur aus ganzem Herzen danken, sondern auch dieses Buch widmen.

Einleitung: »…es handelt sich um eine Revolution.«

Als am 14. Juli 1789 die Bastille gestürmt wurde, soll König Louis XVI. einen seiner Höflinge, den Grafen de la Rochefoucauld-Liancourt, gefragt haben, ob in Paris ein Aufstand vor sich gehe. »Non, Sire, c’est une révolution« – »Nein, mein Herr, es handelt sich um eine Revolution«, lautete dessen Antwort.

Man könnte meinen, damit sei bestimmt, was unter einer Revolution zu verstehen ist. Nichtsdestotrotz wirbt dieses Buch dafür, »Revolution« neu zu denken – in gehörigem Abstand zu der unweigerlichen Assoziation mit dem Bastillesturm. Revolution soll als Form radikalen Wandels vorgestellt werden, der aus den Zwischenräumen einer sozialen Ordnung angestoßen wird und in langwierigen Übertragungsprozessen zu einer neuen Konstellation führt. Neu, weil in ihr selbstverständlich wird, was vorher undenkbar schien. Einübung des Zukünftigen und Umfunktionierung des Bestehenden sind dabei grundlegender als Aufstand und Bruch. Zur Eingrenzung dessen, was über den »bloßen Wandel« hinaus Revolution genannt wird, dient dann nicht der kämpferische Umschlagpunkt, sondern die Gestalt der neu begründeten Praxis: Ist sie in bislang historisch als revolutionär verstandenen Momenten verankert? Setzt sie ein möglichst reichhaltiges Erbe emanzipatorischer Hoffnungen und Versprechen fort?

Ein solches praxis- und prozessorientiertes Verständnis von Revolution wird in diesem Buch auf drei Weisen etabliert. Zunächst wird die Begriffsgeschichte angerissen und der Frage nachgegangen, auf welche Dilemmata und Desiderate bestehender Revolutionstheorien ein neuer Bestimmungsversuch zu antworten hätte. Die vier Hauptteile des Buchs entwickeln dann sozialtheoretisch das Transformationsverständnis, das den »gedehnten« Revolutionsbegriff begründet. Gerade weil in dem Begriff so viele Hoffnungen und so drastische historische Erfahrungen konzentriert sind, soll die Theorie der Revolution an Überlegungen dazu, wie sozialer Wandel überhaupt funktioniert, rückgebunden werden. Anschauungsmaterial wird in die sozialphilosophische Argumentation durch vier Literaturbeispiele getragen. Mary Wollstonecrafts Novelle The Wrongs of Women, Charles Dickens’ Tales of Two Cities, eine Videoinstallation von Matt Ebert und Bryan Landry, sowie Tania Blixens Erzählung »Die stolze Dame« leisten auf eine dritte, gewissermaßen untergründige Weise Überzeugungsarbeit für eine Neu-Konfiguration des Revolutionsverständnisses. Ihnen folgend hätten wir beim Blick auf soziale Kämpfe weniger das Ereignis vor Augen, um das es zwischen Louis XVI. und Rochefoucauld-Liancourt ging, sondern die Praxis einer eingekerkerten Beziehungskonstellation, einer Versammlung von Strickerinnen, einer militanten Drag-Queen und einer entlaufenen Enkelin.

Auch wenn es stimmen sollte, dass die geistesgegenwärtige Äußerung »Non, Sire, c’est une révolution« anlässlich des Bastillesturms fiel, wäre damit im Vokabular der Zeit zunächst nur gemeint gewesen, dass in dem ewigen Auf- und Ab der welthistorischen Wechselfälle ein Umschlagpunkt erreicht sei. Diese Bedeutung von »Revolution« geht zurück auf den ursprünglich astronomischen Sprachgebrauch, in dem die »Revolutionen der Gestirne« ihre immergleichen Umlaufbahnen beschrieben, deren Scheitelpunkte ab der Renaissance mit historischen Extremsituationen verglichen wurden. Gemäß der lateinischen Wurzel »revolutio« bezeichnete das Wort ausgerechnet die Rückkehr von etwas in die Ausgangskonstellation (Griewank 1969: 144). So bestand denn auch die Glorious Revolution in England – das einzige neuzeitliche politische Ereignis, das vor der Amerikanischen und Französischen Revolution den Titel »Revolution« erhielt – nicht in Cromwells Republikgründung nach der Hinrichtung Karl I., sondern in der erfolgreichen, verfassungskonformen Thronübertragung auf Wilhelm III. von Oranien.

Aufruhr und Rebellion hingegen waren auch schon in der Frühen Neuzeit allgegenwärtige politische Phänomene. Das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch treten sie etwa in Frankreich in großer Zahl auf; zu ihrem immer wieder erprobten Standardrepertoire gehört dabei meist auch eine Gefängnisstürmung, wie wir sie heute nur noch mit der Bastille verbinden (Tilly 1968). Solches Aufbegehren bezeichnete sich selbst jedoch nie als »revolutionär«. Auch in der eigentlichen Revolution nutzten die Abgeordneten des dritten Standes zunächst nicht diesen Terminus. In den Schriften von Voltaire und Rousseau, den von Widersachern des Hofes meist-rezipierten Philosophen, spielt der Begriff zwar insofern eine Rolle, als sie Geschichte für wechselhaft hielten und die verschiedensten Umbrüche Revolutionen nannten, ihre Hoffnung auf politische Neugründung delegierten diese Autoren aber gerade nicht an den Revolutionsbegriff. Politisch neu und aufgeladen war vielmehr die Konstitution – das, wofür dann die verfassungsgebende Nationalversammlung einstand. Im Juli 1789 noch in Versailles tagend, war diese zunächst der Idee gar nicht zugetan, die Aufwiegler_innen des Bastillesturms als Teil ihrer Bestrebungen anzusehen (vgl. Sewell 1996).

Erst als im Zuge der Revolutionskriege und der inneren Eskalation der ersten Republik die Mobilisierung der Massen dringlicher wurde, begann sich die Bezugnahme auf die Revolution durchzusetzen, auch wenn Referenzen auf personifizierte Allegorien wie Vernunft und Freiheit, später dann die republikanische Herkules-Figur, weitaus wichtiger blieben (Hunt 1983). Damit war aber nach wie vor nicht ein eindeutiges Bekenntnis zur Novität der eigenen Gesellschaft verbunden. »Revolution« bedeutete immer noch »Zurückwälzung«, und sei es die Zurückwälzung der konterrevolutionären Kräfte. So unterschiedliche Revolutionstheoretiker_innen wie Karl Marx und Hannah Arendt haderten im Nachhinein damit, dass die Akteur_innen der Französischen Revolution in historischen Rückgriffen vor sich selbst verbargen, dass ihr Handeln präzedenzlos war. In deren eigenen Begriffen lag es aber nahe, sich genau dann als revolutionär zu verstehen, wenn man eine fundamentalere Ordnung wieder herstellte – sei es die der Natur, in deren Schoß die größten Innovationen wie etwa der Menschenrechte zurückprojiziert wurden, oder die der römischen Republik, deren Insignien Robespierres Republik sich geradezu kultisch aneignete.

Dennoch lassen sich solche Imitate auch im modernen Sinn des Revolutionsbegriffs als Anzeichen dessen lesen, dass tatsächlich etwas Beispielloses geschehen war. Gerade die Bodenlosigkeit des Neuen – das, was Arendt »den Abgrund der Freiheit« nennt und Marx »die neue Weltgeschichtsszene« – hat die Akteur_innen womöglich in historische Kostüme oder kosmische Gesetze flüchten lassen (Arendt 2002: 442; Marx 2007: 10). Im gängigen modernen Verständnis bedeutet Revolution jedenfalls genau das – radikaler Wandel, der keine »Rückkehr«, sondern ein Neuanfang ist. In diesem Verständnis mischen sich erstmalig die drei eben separierten Elemente: auf die Gesamtgesellschaft gerichtete Transformationsbestrebungen wie die der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, kollektive Widerstandspraktiken wie die des Gefängnissturms, und der Eindruck geradezu von physikalischen Kräften gezwungen einen Scheitelpunkt passiert zu haben.

Wenn auch in der westeuropäischen Vorstellung die Französische Revolution paradigmatisch bleiben sollte, verdankte sie ihre Konturen zusätzlich zu dieser Gemengelage der Gruppierung von weiteren Ereignissen. Die Amerikanische Revolution wie auch die polnisch-litauische konstitutionelle Neugründung unterstrichen die zentrale Rolle der Verfassungen, die anschließend auch in nahezu allen deutschen Kleinstaaten zum Objekt der revolutionären Begierde wurden. Und nur die »Schwarzen Jakobiner« in Haiti vollbrachten 1791, was in allen anderen Revolutionen metaphorisch beschworen wurde: den Übergang von Sklaverei zu Selbstherrschaft.

Es ist das so angereicherte und neu verfasste Verständnis von »Revolution«, das die Erwiderung des Höflings zur Pointe macht. In seinem Einspruch – »Non, Sire, c’est une révolution« – korrigiert er nicht bloß seinen Herrscher, sondern sagt diesem sein Ende voraus.

Die neue Sicht, dass Revolutionen nicht den alten Ausgangspunkt, sondern einen neuen, höher gelegenen Zustand anstreben, wurde auch von anderen in Westeuropa fühlbaren Tendenzen plausibilisiert. In der Aufklärungsphilosophie war neben zyklischen Weltalter-Vorstellungen wie etwa der Moses Mendelssohns und der meisten französischen Enzyklopädisten auch das Bild vom stetigen geschichtlichen Fortschritt entstanden. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts propagiert diesen ebenso wie Condorcets in den Revolutionswirren verfasster Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes.

Die Überzeugung, dass es wirklich Neues in der Welt gebe und dass sich die Geschichte insgesamt in einer gerichteten Bewegung befinde, fand im 18. und 19. Jahrhundert viele Anhaltspunkte in der Erfahrung. Die koloniale Expansion, die Entwicklung neuer Produktionstechniken und -verfahren, Bevölkerungswachstum und beginnende Konzentration in den Städten sprachen in westeuropäischen Augen alle die Sprache gewaltig fortschreitender, nicht mechanisch umlaufender Tendenzen. Als deren säkulare Quellen wurden zunehmend entweder die Natur oder das menschliche Handeln selbst erwogen. Auf einer phänomenologischen Ebene liegen die Dampfmaschine und die Revolutionen, die Marx später zu »Lokomotiven der Geschichte« ernannte, einander somit tatsächlich bereits nahe: beide wurden Ende des 18. Jahrhunderts »patentiert« und beide bildeten die Grundlage für die Mobilität des 19. Jahrhunderts.

Andererseits erschüttert aber gerade die Erfahrung der Revolution, des vermeintlichen Kulminationspunkts von Fortschritt, das aufklärerische Bild seiner stetigen Entwicklung. Von Seiten der Revolutionskritiker_innen wird ihr Abgleiten in die Schreckensherrschaft als chaotisch und barbarisch empfunden; ihre eigentlichen Befürworter_innen wiederum finden sich damit konfrontiert, dass »am Ende« eben gerade nicht die blühende Volkssouveränität steht, sondern eine in Napoleons offensichtlicher Annäherung an die Symbole der Bourbonen bereits vorweggenommene Re-Inthronisierung der Königsfamilie. Von Anfang an herrschte somit eine simultane Uneinigkeit sowohl darüber, ob das Neue besser, als auch ob das Alte überhaupt überwunden sei.

Karl Marx ist nicht zuletzt auch deshalb der einflussreichste Philosoph der Revolution, weil es ihm gelang, diese widerstreitenden Momente nicht nur auf einen Begriff zu bringen, sondern eine ganze Theorie der Revolution daraus zu machen. In seiner Konzeption spielen sowohl stetige Entwicklung als auch erschütternde Ereignisse, rebellierende Akteur_innen und über deren Köpfe hinweg ablaufende Vorgänge, Innovation und Kontinuität eine Rolle.

Als grundlegenden geschichtlichen Faktor isolierte Marx das Anwachsen der Produktivkräfte. Der Fortschritt darin, mittels Technologie, Wissen und Arbeitsorganisation Güter zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung immer effektiver und in immer größerer Komplexität herstellen zu können, zwingt nach Marx auch den Rest der Gesellschaft (und die menschlichen Bedürfnisse selbst) zur Weiterentwicklung. Als Basis jeglicher Gesellschaft und als Kriterium, um deren verschiedene Formen voneinander zu unterscheiden, entwickelt sich die Produktionsweise – als Organisationsform der Produktivität – nach Marx aber gerade nicht stetig, sondern über dialektische Umschlagpunkte. Letztere, die eigentlichen Revolutionen, verdanken sich dem Ineinandergreifen von Widersprüchen auf zwei Ebenen. Einerseits müssen die Produktionsverhältnisse, also die institutionelle Ordnung, der vollen Ausschöpfung der vermehrten Produktivkräfte im Weg stehen, andererseits bedarf es einer Gruppe von Akteur_innen, deren materielle Interessen an der Überwindung der bestehenden Ordnung hängen und denen es gelingt, ihr Interesse als allgemeines auszuweisen.

Revolutionen haben nach Marx also einen Antrieb und einen Mechanismus. Revolutionen werden aus einem zugrundeliegenden Fortschritt gespeist, und sie gelingen dank der dialektischen Natur der Geschichte, dank der Tatsache, dass diese als durch Widersprüche strukturierter Gesamtzusammenhang aufzufassen ist. Stetig wächst nicht nur die Produktivität, sondern auch die Arbeiter_innenklasse; dialektisch negiert nicht nur diese ihre bourgeoisen Ausbeuter_innen, sondern auch das technische Wachstum die Zweckmäßigkeit der bisherigen Produktionsverhältnisse.

Die beiden Ebenen von Produktivkraftdynamik und Klassenkampf werden oft als Unstimmigkeit von geschichtsphilosophischen und akteurszentrierten Elementen in Marx’ Geschichtsverständnis benannt, zumal Marx selbst nie zufriedenstellend klären konnte, wie sich die objektive Bedingungen eigentlich in das Handeln einzelner und kollektiver Subjekte übersetzen (vgl. Elster 1985: 428ff.). Dennoch lässt sich dieser Spagat auch als Kern der materialistischen Revolutionstheorie hervorheben. Dieser bestünde dann genau darin, dass bestimmte verfügbare und bestimmte unverfügbare Bedingungen zusammenkommen müssen, damit Revolutionen gelingen. Revolutionen – und Geschichte überhaupt – haben so gesehen stets auch ein »passives Element« (Marx 1981: 386; Jaeggi 2014: 78). Das erkannt zu haben, sichert die Überlegenheit der marxistischen Transformationstheorie gegenüber deterministischen und voluntaristischen Vereinseitigungen – etwa Vulgärmarxismus oder Blanquismus – und das vielleicht anschlussfähigste Theorem des historischen Materialismus (vgl. Jaeggi 2017).

Wenn auch die orthodox marxistische Deutung der Französischen Revolution inzwischen von der Geschichtswissenschaft in nahezu allen Einzelheiten widerlegt ist (Skocpol 1979; Cobban 1999), leuchtet doch ein, inwiefern ihr Ablauf das materialistische Schema dialektischen Fortschreitens nahelegt (vgl. Hobsbawm 1962). Vor der Kulisse des langen Prozesses der industriellen Revolution stellt die politische Revolution den Kulminationspunkt dar, an dem die Macht von der aristokratischen, in feudaler Landwirtschaft verwurzelten Klasse an die aufstrebenden, kapitalistisch produzierenden Bürger_innen übertragen wird. Die für den Siegeszug des Kapitalismus so wichtige liberale Rechtsordnung wird von letzteren im Verweis auf angeblich natürliche Menschenrechte als universaler moralischer Fortschritt proklamiert. Die Unterschichten, die gemeinsam gegen Krone und Adel gekämpft hatten, spalten sich nunmehr in Kapitalbesitzende und solche, die nur ihre Arbeitskraft auf den Markt zu bringen haben und produzieren den nächsten Widerspruch.

Als Theorie der Revolution beansprucht der historische Materialismus indessen immer schon mehr als nur eine überzeugende Deutung des vergangenen Geschehens. Worum es eigentlich geht, ist Aufschluss über das Vorausliegende. Das marxistische Modell war auch deshalb so einflussreich, weil es auf drängende revolutionspraktische Fragen eine Antwort anbot. Wenn man sich Revolutionen als Vorgänge mit Anfang, Übergangsmoment und Ergebnis vorstellt – also als Ereignisse, die ausbrechen, sich durchsetzen und sich stabilisieren müssen – kann die marxistische Revolutionstheorie an jedem dieser Punkte Fortschritt und Dialektik als entscheidende Faktoren ausweisen: Revolutionen brechen nach Marx aus, weil sich nicht nur materielle Widersprüche zuspitzen, sondern zugleich auch eine Akteursgruppe – Klasse – entstanden ist, die sowohl das Interesse als auch die Macht hat, die bestehende Ordnung zu überwinden. In ihnen gelingt der Übergang von einer sozialen Form zu einer anderen, weil das Gebiet, dessen Widersprüchlichkeit den dialektischen Umschlag erzwingt, auch die Form der Gesellschaft im Ganzen bestimmt – der Fortschritt geschieht nicht fragmentarisch. Zugleich ist der Übergang ohnehin nicht als totaler Bruch oder restloser Szenenwechsel vorgestellt. Die neue Gesellschaft entsteht »im Schoß der alten« (Marx 1972 [1847]: 181). Diese Kontinuität in der Diskontinuität bildet auch das Fundament zur Stabilisierung, weil vorher Gewachsenes dialektisch bewahrt bleibt. Die neue Ordnung hat zudem dank ihrer Fortschrittlichkeit Bestand: Nach jeder Revolution ist die Welt produktiver und freier, nach der letzten, sozialistischen, dann sogar auch noch friedlich und unentfremdet. Wenn auch das marxistische Verständnis das Feld der Revolutionsdeutungen nie vollständig erschöpfte, steckt es doch in seiner Reichweite ab, wie viel aufzubieten wäre, um nicht nur von Revolution zu reden, sondern eine Revolutionstheorie zu entwickeln, die ihre Vorstellung von Antrieb und Mechanismus des Wandels philosophisch begründen kann.

Es sind denn auch nicht so sehr andere Theorien, die mit ihren Argumenten den Marx’schen Revolutionsbegriff widerlegt hätten, sondern bestimmte geschichtliche Tendenzen und Erfahrungen – also genau der Stoff, aus dem der historische Materialismus selbst sich speist –, die ihn haben problematisch werden lassen. Diese Herausforderungen, die theoretische Ergänzungen und Abstandnahmen zum marxistischen Korpus provoziert haben, lassen sich in einem kursorischen Durchgang durch die historischen Erfahrungen von misslingenden revolutionären Ausbrüchen, Übergängen und Stabilisierungen veranschaulichen.

Im Laufe des »langen 19. Jahrhunderts« erwies sich zunächst der Revolutionsausbruch als Dilemma. Die Tatsache, dass der industrielle Fortschritt einerseits unaufhaltsam wuchs, gerade die organisiertesten Arbeiterschaften in Westeuropa aber nicht revolutionierten, zermürbte den Glauben an eine verlässliche Kopplung von Fortschritt und Dialektik. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie wurden angesichts dieses Dilemmas zwei widerstreitende dogmatische Antworten formuliert, die das Problem im Nachhinein betrachtet vermutlich eher verschärften. Karl Kautskys Variante des wissenschaftlichen Sozialismus beharrte auf einer notwendig dialektischen Geschichtslogik und versteifte sich taktisch darauf, den richtigen Moment abzuwarten. Die Dialektik würde greifen, wenn der Fortschritt vielleicht auch unerwartet langsam sei. Eduard Bernsteins Revisionismus betrieb dagegen offene Häresie an der Unauflöslichkeit von technischem Fortschritt und dialektischer Zuspitzung und schlug vor, den Fortschritt lieber über den Weg parlamentarischer Wahlen und nicht im offenen Klassenkampf zu suchen. Er stellte sich gewissermaßen eher auf die Seite des Fortschritts als auf die Seite der Dialektik. Als im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die Mobilisierung breiter Teile der Arbeiterklasse gelang, aber eben nicht im Namen der internationalen Solidarität, sondern unter dem Banner der national-chauvinistischen Kriegsführung, waren beide Varianten desavouiert. Offenbar konnte längere Wartezeit auch zu dramatischen Verlusten führen – und die parlamentarische Symbiose mit der Nation zur völligen Evakuation der eigenen Klasseninteressen.

Das damit besiegelte »Ausbruchsdilemma« reflektieren auf diamentral entgegengesetzte Weise sowohl Lenin als auch die erste Generation der Frankfurter Schule. So sehr Lenin proklamiert, in Marx’ Geschichtsbild verwurzelt zu sein, ist sein Revolutionsverständnis doch gerade eine Konsequenz aus dessen Auflösung (vgl. Geuss 2006). Die Avantgarde-Partei übernimmt gewissermaßen die Arbeit der stockenden historischen Fortschrittstendenzen. Der Klassenkampf ist bei Lenin vorrangig eine machtpolitische Frage: eine Angelegenheit, die zwar dialektisch interpretiert, tatsächlich aber organisatorisch und martialisch gelöst wird.

Wo Lenin gewissermaßen eine erzwungene Dialektik betreibt, theoretisiert die erste Generation der Frankfurter Schule eine ausstehende. Revolution wird hier nach wie vor im Modus des Fortschritts und über den Mechanismus der Dialektik gedacht, aber beide Aspekte werden ambivalent. Mit dem Erstarken des europäischen Faschismus und schließlich der Shoah vor Augen schien sozialer Fortschritt höchstens noch mit dem unheimlichen Anwachsen der Produktivkräfte verknüpfbar, wenn gleichermaßen immense Regressions-Möglichkeiten eingeräumt würden. Die Pazifizierung der konsumorientierten Arbeiterschaft der westlichen Nachkriegsordnung zementierte schließlich das diagnostizierte Ausbruchsdilemma: Ideologie bildete aus Sicht der Kritischen Theorie das entscheidende Element, das die nunmehr unüberbrückbare Kluft zwischen objektiven gesellschaftlichen Widersprüchen und ausbleibendem subjektiven Aufbegehren erklärte. Als Kritik richtete sich die theoretische Arbeit nachfolgend einerseits »nur« auf die Bedingung der Möglichkeit von Revolution. Andererseits ist aber festzuhalten, dass sie sich als Ideologiekritik eine überaus weitreichende Aufgabe vornahm. Wo nicht mehr von klar durch Klassenstatus prädestinierten Träger_innen der Revolution ausgegangen wird, ist die Arbeit an der Ideologie eine, die in zweifacher Hinsicht revolutionäre Folgen verheißt: sie erodiert einen wichtigen Pfeiler des Bestehenden und sie setzt ihre Adressat_innen für die revolutionäre Praxis frei.

Diese revolutionäre Praxis selbst geriet aber ohne eine feste Verankerung in geschichtlichen Großtendenzen in ein weiteres Dilemma, nämlich das des Übergangs. Gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drängte sich von mehreren Seiten der Eindruck auf, dass der immer schon heikle Übergang zu etwas wirklich Neuem und wirklich Besseren die menschliche Gesellschaft vor eine paradoxe – wenn nicht gar unmögliche – Aufgabe stelle. Angesichts dessen, dass die kommunistische Revolution offenbar auch dort, wo ihre Feinde sie nicht besiegt hatten, gescheitert war – und zwar vor allem und restlos an ihren eigenen Idealen (vgl. Adamczak 2007) –, stellte sich ernsthaft die Frage, ob so etwas wie ein radikaler Wandel einer Lebensform zum Besseren überhaupt möglich war.

Dieser Zweifel, der den modernen Revolutionsbegriff von konservativer Seite schon immer begleitet hatte (vgl. Burke 1982 [1790]; Gentz 2010 [1800]), wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der anti-autoritären, inner-sozialistischen Lenin-Kritik geäußert. Rosa Luxemburg etwa prognostizierte hellsichtig, dass in autoritärer Organisation letztlich die alte, verinnerlichte »Knute« auch über die eigenen revolutionären Ziele triumphieren werde (Luxemburg 1977: 87). Martin Buber, der aus anarchistischer und utopisch-sozialistischer Perspektive die Kongruenz von revolutionären Mitteln und Zwecken einfordert, fasste das Übergangsdilemma als »Tragödie der Revolutionen« folgendermaßen zusammen: »daß sie, auf das positive Ziel hin betrachtet, das Gegenteil des gerade von den ehrlichsten und leidenschaftlichsten Revolutionären Herbeigesehnten zur Folge haben, wenn und weil das Angestrebte nicht schon vorrevolutionär so weit vorgebildet war, daß die revolutionäre Aktion ihm nur noch den vollen Entfaltungsraum zu erringen hat« (Buber 1950: 77f.). Wenn das Neue nicht schon da ist, so legt Buber nahe, wird stets das Alte die Überhand behalten. Diese paradoxe Diagnose droht grundsätzlich die Möglichkeit des Übergangs auszuhöhlen und stellt diesem Buch zugleich die Herausforderung, ihn neu zu denken.

In der Theoriebildung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich grob drei, zum Teil auch überlappende Stränge identifizieren, die Bubers pessimistische Einschätzung untermauern. Insofern das französische Theoriemilieu fest in der kommunistischen Partei verwurzelt geblieben war, wirkte der Stalin-Schock hier besonders stark und führte in vielen intellektuellen Biografien zu drastischen Brüchen mit marxistischen Ansätzen. Der Strukturalismus, der Gesellschaft als stabil in Praktiken oder Signifikationsordnungen reproduziert versteht, ist das deutlichste Beispiel eines philosophischen Themenwechsels hin zu den Beharrungskräften.

Im Anschluss an Louis Althusser und Michel Foucault wurde zweitens mit der Subjektivierungstheorie ein Ansatz entwickelt, in dem die Erfahrungen und Prägungen von unterworfenen Subjekten diese gerade nicht auch zu Träger_innen der Revolution machen. Vielmehr erklärt die Subjektivierungstheorie die Permanenz der bestehenden Mächte über deren Verlängerung in die damit überhaupt erst geformten Subjekte hinein. Ohne die dialektische Grundannahme notwendiger und produktiver Widersprüche zeichnet sich kein gangbarer Weg ab, der aus diesen Verhältnissen auch wieder hinaus führte.

Dass die gegebenen Verhältnisse nicht allein in der jeweiligen Produktionsweise wurzeln, sondern in diversen historisch gewachsenen und psychologisch verinnerlichten gesellschaftlichen Arrangements, lässt sich auch als Grundeinsicht feministischer und anti-rassistischer Theoriebildung beschreiben. Schon bevor dieser Punkt kanonisch wurde, haben Denker_innen wie Simone de Beauvoir und Frantz Fanon ihn ausführlich demonstriert. Dass Rassismus, Patriarchat und Heteronormativität mit dem Wandel der Wirtschaftsform ebenfalls erledigt wären, erschien nicht nur im Blick auf den real existierenden Sozialismus unplausibel, sondern auch theoretisch widerlegt, wo in ihrer historischen Genese und psychologischen Verankerung Eigenlogiken erkannt waren. Eine Multiplizität von Unterdrückungsformen, die sich zumindest nicht vollständig aufeinander reduzieren lassen – also das inzwischen als »intersektional« bezeichnete Verständnis des Sozialen –, unterläuft aber auf noch grundsätzlichere Weise das historisch-materialistische Transformationsverständnis. Revolutionen können ja nur dann eindeutig als Umschlagpunkte zu einer höheren, besseren Gesellschaftsform ausgewiesen werden, wenn man sie im Sinne dialektischen Fortschreitens auf einer als Gesamtentwicklung verstandenen Linie ansiedeln kann. Zerfasert sich diese in verschiedene Aspekte sind plötzlich gegenläufige Entwicklungen erkennbar – etwa, dass die in der Französischen Revolution durchgesetzte Bürgerfreiheit Frauen nicht einmal mit formalen Rechten ausstattete und sie in eine der öffentlichen und ökonomischen Sphäre entgegengesetzte Kompensations-Rolle zwang. Während ihre Klasse zur Herrschaft gelangt war, fanden sich bürgerliche Frauen im Westeuropa des 19. Jahrhunderts intensiverer patriarchaler Beherrschung und Einschränkung ausgesetzt als es im 18. Jahrhundert der Fall gewesen war. Zugleich ist es auch nicht so, dass bei einer Vervielfältigung der Kampfplätze das Modell von deren dialektischer Zuspitzung Bestand behielte. Vielmehr eröffnen sich diverse Möglichkeiten, Widersprüche zu verschieben oder zu verdecken, wie zum Beispiel wenn die westeuropäische Arbeiter_innenschaft in kolonialistisch-rassistischen und nationalchauvinistischen Überlegenheitsgefühlen den Interessenkonflikt gegenüber ihren kapitalistischen Ausbeuter_innen aus dem Blick verliert. Und sogar wenn man die mitunter zu unvermittelt an sozialen Identitäten orientierten Kategorien der Intersektionalitätstheorie anlegt, wird es sehr schwer, zuzuordnen, welche Tendenzen und Phänomene eigentlich zu welchem »Widerspruch« gehören.

Selbst ohne die vorher skizzierten Gründe, die Hoffnung auf Wandelbarkeit generell gering zu halten, konnte der Revolutionsbegriff nicht einfach »mitwachsen«, um der Multiplizität von Unterdrückung Herr zu werden. Wenn der Strukturalismus keinen dynamischen Antrieb wie den Fortschritt mehr denken kann und die Subjektivierungstheorie die Zuspitzung von Widersprüchen auf der Akteursseite unwahrscheinlich werden lässt, dann verändert die intersektionale Vervielfachung die gesamte Landkarte. Die herrschenden Verhältnisse stellen sich nunmehr als eine Art Knoten dar, der sich nicht nur nicht auflösen lässt – weil sämtliche Ausgangspunkte in ihn verwickelt sind –, sondern auch nicht zerschlagen. Denn bei Licht besehen handelt es sich gar nicht nur um einen Knoten, der getroffen werden könnte.Was aus einer Perspektive wie ein Knoten aussieht, bildet aus anderer vielleicht gerade das soziale Band.

Angesichts solcher Paradoxien ist es nicht ganz überraschend – und auch nicht nur Folge quietistischer Ideologie, sondern echter Probleme des klassischen Revolutionsbegriffs – dass dort, wo die Sozialphilosophie des späten 20. Jahrhunderts überhaupt von Transformation und nicht nur über Beharrungskräfte sprach, ein eigentlicher Revolutionsbegriff gar nicht mehr in Betracht gezogen wurde. Aufgegeben scheint er sowohl in Ansätzen, die auf Subversion und Variabilität setzen wie auch dort, wo das alte Revolutionsverständnis durch einen geradezu apokalyptischen Ereignisbegriff überboten wird (Badiou 2011; Žižek 2002). Zwischen Veränderungsbestrebungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, Widerstandspraktiken der Basis und historischen Umschlagpunkten ist offenbar kaum noch ein Zusammenhang herstellbar, wo sich die Deutungsklammer dialektischen Fortschreitens gelöst hat. Selbst in der Kritischen Theorie, die sich wenn nicht als direkte Advokatin, dann doch als Platzhalterin einer ausgebliebenen Revolution zu verstehen gewohnt war, trat der Begriff eher in den Hintergrund. Wo an historischen Fortschrittslinien festgehalten wurde – wie im Werk besonders des frühen Jürgen Habermas und in Axel Honneths Überlegungen zur Verwirklichung der Freiheit –, verlaufen diese evolutionär ohne dialektische Kulminationspunkte. In Axel Honneths Die Idee des Sozialismus tritt das revolutionäre Erbe allerdings jüngst wieder in den Vordergrund (Honneth 2015a). Die von ihm avisierten, pragmatistisch ergänzten Lern- und Experimentierprozesse bleiben aber insofern ihrerseits evolutionär, als eine Überschreitung des mit dem Begriff der sozialen Freiheit gefassten normativen Horizonts ausdrücklich nicht zur Debatte steht (Honneth 2015b). In gewisser Weise geht es also um den – wenn auch ausgesprochen weitreichenden – Vollzug eines bereits abgesteckten Übergangs und nicht um den nächsten Umschlagpunkt.

Raymond Geuss fasst die theoretische Abkehr vom Revolutionsbegriff nicht ohne Bedauern folgendermaßen zusammen:

»If the prospects for a traditional revolution, a radical change in the political structure in the direction of increasing substantive rationality, were grim in the 1930s or the 1950s, they are, if anything, much worse at the start of the twenty-first century. We also lack a belief in a unitary, teleologically structured history and the consolation of the ›dialectic‹. It is understandable under these circumstances that attempts to appropriate the Frankfurt School might concentrate on what might seem the only viable portion of their legacy, their cultural criticism in the narrow sense. This is perfectly understandable, but it is a mistake.« (Geuss 2006: 136)