Im abgelegenen Buschland hinter Waterloo stolpert den Kommissaren eine junge Frau vor die Füße – nackt, verdreckt und verstört. Der Täter: ein Vergewaltiger in Polizeiuniform? Gleichzeitig lässt eine Reihe von perfekt geplanten Einbrüchen und Raubüberfällen die Ermittler an ihre Grenzen stoßen. Hal Challis sieht sich an allen Fronten belagert.
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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.
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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.
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Leiser Tod
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ein Inspector-Challis-Roman (6)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Originaltitel: Whispering Death
© by Garry Disher 2011
Lektorat: Anne-Catherine Eigner
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Christopher Brown (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-30983-8
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Für Jo Tapper
Grace taugte als Name so gut wie jeder andere, und an diesem Morgen war Grace in Hobart, schlenderte durch eine wohlhabende Ecke von Sandy Bay und besah sich die abgelegenen Anwesen. Ein Freitagmorgen im Frühling, der vom Meer hereinkommende Nebel verzog sich in Richtung Storm Bay und Tasmanische See, das Leben war schön, und in ihren weißen Tennissachen über der Trainingshose, mit Sonnenbrille, Nike-Sneakers und keck getragener Cap fiel sie nicht weiter auf. Ein Tennisschlägergriff lugte aus ihrer Sporttasche hervor und wies sie als eine nicht berufstätige junge Ehefrau aus, vielleicht auch eine junge Berufstätige an ihrem freien Tag, oder sogar – wenn man von der misstrauischen Sorte war – eine getarnte Ehebrecherin.
Doch es klingelten keine Alarmglocken. Kein Grund, sie anzuhalten und zu durchsuchen. Sie gehörte hierher.
Tatsächlich aber versteckte sie sich vor aller Augen; Grace verbarg sich hinter Cap und Sonnenbrille, verbarg die Tatsache, dass der Tennisrock am Body mit Klettverschluss festgemacht war und dass sich in der Sporttasche Einbruchswerkzeug befand, Handschuhe und robuste Plastiksäcke. Eine laut gerufene Anschuldigung, eine Nachfrage, und schon wäre sie verschwunden. Sie würde den Rock abmachen, ihn zusammen mit Cap, Tasche und Sonnenbrille wegwerfen und sich in eine Joggerin verwandeln, und wer schaute denn bei einer Joggerin schon zweimal hin?
»Rechne immer mit dem Schlimmsten«, hatte Galt ihr eingebläut, »dann erlebst du auch keine Überraschungen.«
Ein weiterer Punkt, auf den Galt sie hingewiesen hatte, war es, Appartementhäuser zu meiden. Nun, hier gab es keine. In einem Wohnblock ist immer jemand zu Hause, hatte Galt gesagt, immer gibt es eine arme Seele, die den ganzen Tag am Fenster hockt und auf Ablenkung hofft, um die ereignislosen Stunden zu erhellen.
Als Nächstes hielt Grace Ausschau nach Kindern: Spielzeug, Fahrräder, Skateboards, ein kleiner pinkfarbener Gummistiefel, der im Vorgarten lag. Klar, Kinder gingen zur Schule, hatte Galt gesagt; aber nicht, wenn sie noch klein sind oder die Windpocken haben, und auch nicht, wenn sie wegen eines Lehrertages freihaben. Und ein Kind daheim hieß, ein Erwachsener daheim.
Auch Fahrzeuge standen auf Galts Checkliste. Grace wusste, sie war im Land der Haushalte mit zwei Pkw; zwei Erwachsene, die gut bezahlte Jobs hatten und von neun bis fünf arbeiteten. Schichtarbeiter gab es hier keine. Bleib auf der sicheren Seite, hatte Galt immer gesagt. Steht ein Auto in der Einfahrt oder im Carport, geh einfach weiter. Oder die Garage ist geschlossen. Das heißt noch lange nicht, dass die Garage leer ist.
Und schließlich suchte man sich seine Ziele so aus, dass das Problem des neugierigen Nachbarn minimiert wurde. Die Personen, die es zu bestehlen lohnte, zahlten gutes Geld dafür, die Blicke der anderen abzuwehren, hatte Galt gesagt. Sie sollte nach hohen Hecken, abfallendem Gelände, dichtem Baumbewuchs und kurvigen Straßen Ausschau halten.
Alles andere hatte ihr Galt nicht beigebracht. »Ich kann dir zeigen, wie du unter dem Radar durchhuschst«, hatte er gesagt. »Ich kann dir meine Leute vom Hals halten, aber du warst die Einbruchskönigin, lange bevor ich dich gefunden habe.«
Grace durchquerte zügig die nähere Umgebung. Die meisten Häuser waren von Bäumen und Büschen umstanden. Niemand war zu sehen, bis auf einen Arbeiter, der an einem Gartenzaun ein Tor anbrachte, und einen anderen, der einen Rasenmäher vom Pick-up schob. Die Häuser reichten von holzverschalten Sommerhäusern bis hin zu ultramodernen Glas-Beton-Konstruktionen, dazwischen Häuser im Tudor-Stil, toskanische Villen und kleine, geziegelte Anwesen aus den Dreißigern mit steilen Dächern. Grace legte sich im Geiste vier Zielobjekte zurecht und machte sich an die Arbeit.
Das erste war ein albtraumhaftes Gebilde aus miteinander verbundenen Betonwürfeln weit abseits der Straße hinter einer Feldsteinmauer. Entschlossen betrat sie das Grundstück, wie sie es immer tat, so als würde ihre beste Freundin hier wohnen und sie hätten sich zum Tennis verabredet. Auf halbem Weg zur Haustür blies sie in eine Hundepfeife. Sofort erhielt sie wildes Bellen zur Antwort, ein tiefes Blaffen und ein hohes Kläffen.
Grace zog sich zurück.
In der nächsten Straße stand ein flaches Ranchhaus aus den Siebzigern unter Eukalyptusbäumen. Keine Hunde. Grace ging einmal zügig um das Gebäude herum, prüfte Türknäufe und -griffe und linste durch die Fenster. Ab und zu stieß sie auf offene Türen und Fenster, falsche Alarmanlagen oder gar keine Sicherheitsvorrichtungen, aber dort gab es meistens auch nichts, was sich zu stehlen lohnte. Grace ging noch einmal um das Haus herum, doch diesmal fuhr sie mit einem Kompass an den Tür- und Fensterrahmen entlang. Die Kompassnadel schlug an allen Fenstern und Türen aus und verriet so, dass dort Strom floss, nur an der Haustür nicht. Die Menschen hegten falsche Vorstellungen von der Sicherheit ihrer Haustüren, vielleicht weil die meisten davon auf die Straße hinausgingen. Grace prüfte sie erneut. Ein leichter Ausschlag der Kompassnadel nahe dem Türriegel.
Es handelte sich um eine Glastür mit einer einzelnen Scheibe, die von schmalen Holzleisten im Rahmen gehalten wurde. Grace zog eine Eisenstange aus der Sporttasche, hebelte die Leisten ab und legte sie sorgfältig neben sich, bis die ganze Scheibe frei lag. Dann hob sie sie mit zwei Saugnäpfen aus dem Glasereibedarf aus dem Rahmen und stellte sie an die Wand neben dem Hauseingang.
Sie schlüpfte ins Haus, das nur so nach Geld roch. Das Gebäude selbst war hässlich und altmodisch, die Inneneinrichtung aber ultramodern, mit polierten Holzdielen und mit Glas und Leder minimalistisch eingerichtet; an einer Wand hingen zwei Vogelbilder von Brett Whiteley. Die Whiteleys würden ein paar Tausender bringen, aber sie waren zu groß, um sie mitzunehmen. Grace fotografierte sie. Vielleicht kam sie in einem Jahr noch einmal vorbei, wenn die Hausbesitzer sich von dem Schrecken erholt hatten. Sie würde Finch die Fotos zeigen, um herauszufinden, ob es einen möglichen Interessenten gab. Dann schoss sie noch ein paar Fotos von zwei Satsuma-Vasen von Fuzan. Ende 19. Jahrhundert, nahm sie an, Wert etwa fünftausend australische Dollar. Ein paar Hundert Dollar von Finch, aber auch sie waren zu groß, um sie in die Sporttasche zu stecken, ohne Gefahr zu laufen, sie zu beschädigen.
Nachdem sie sich kurz im Haus umgesehen hatte, konzentrierte sie sich auf Schlaf- und Arbeitszimmer. In beiden entschärfte Alltagskram die kühle Ultramoderne ein wenig: Im Schlafzimmer ein Taschenbuch mit gebrochenem Rücken, eine Blisterpackung Schmerztabletten, eine einsame Socke; im Arbeitszimmer ein paar angeknabberte Kugelschreiber, eine Ablage voller Rechnungen und Briefe, ein Satz Golfschläger und eine Wasserpistole. Das alles verriet ihr etwas über das häusliche Leben, über die Familie, doch dafür interessierte sich Grace nicht sonderlich. Sie zog eine Schublade nach der anderen auf.
Fünf Minuten später hatte sie das Haus wieder verlassen. In der Tasche hatte sie ein Paar Smaragdohrringe, eine Uhr von Bulova, ein iPod Classic, einen Toshiba-Laptop und neue, noch verpackte AutoCAD-Software. Allein die Software kostete neu sechstausend Dollar und der Computer dreitausend.
In der nächsten Straße stand ein schlichtes Holzhaus mit einem riesigen, modern luftigen Anbau. Keine Hunde, wieder eine leicht zu knackende Haustür, doch im letzten Augenblick entdeckte sie durch einen Spalt im Wohnzimmervorhang ein in der Zimmerecke angebrachtes rotes Blinklicht. Sie schaute in einem anderen Zimmer nach: auch hier ein rotes Licht. Grace hatte nicht die Absicht, sich mit Bewegungsmeldern anzulegen. Also ging sie zum vierten und letzten Zielobjekt auf ihrer Liste, einem hübschen Lofthouse mit einem steilen Dach und kirchenhohen Decken. Auch hier kein Hund. Keine Bewegungsmelder, soweit sie sehen konnte, und eine Haustür, die nur mit einem Alarm am Riegel versehen war. Die Tür bestand ganz aus Holz: Außenrahmen, eine Querstrebe und Sperrholztafeln, die von schmalen Leisten gehalten wurden. Grace entschied, die untere Tafel zu entfernen und hindurchzukriechen.
Als Erstes aber ein Ablenkungsmanöver. Sie nahm ein Paar Schuhe Größe sechsundvierzig aus der Tasche, zog sie über ihre Laufschuhe an und stapfte über den Lehmboden an der Seitenwand. Damit die Ermittler hier etwas zu tun hatten.
Dann machte sie sich an die Arbeit. Sie löste die Leisten ab und brachte zwei Ösenhaken an der Tafel an, die sie zuvor abgewischt und mit Bleiche besprüht hatte, um ihre DNA-Spur zu vernichten. Als sich die Dämpfe verzogen hatten, riss sie die Tafel aus dem Rahmen und legte sie beiseite.
Sie kroch durch die Öffnung, blieb mit der Hüfte in der schmalen Öffnung hängen und riss sich einen winzigen weißen Faden aus dem Rock. Nach getaner Arbeit verbrannte sie stets Kleidung, Handschuhe, Schuhe, trotzdem entfernte sie den Faden. Wozu der Polizei die Gelegenheit geben, das Täterprofil noch durch »trägt womöglich weiße Tenniskleidung« zu ergänzen?
Das Innere war überladen und wirkte abgewohnt. Teure Teppichböden, aber das Muster änderte sich von Raum zu Raum und passte nie so recht zu den Wänden oder Vorhängen. Zu viel Nippes: Schäferinnen aus Porzellan, Schüsselsets aus Holz, gläserne, bunt durchzogene Briefbeschwerer, Familienfotos in schweren Silberrahmen (nur versilbert, stellte sie fest), und jemand hier mochte Elefanten. Ganze Herden – aus Holz, Glas, Pappmaschee – trampelten und trompeteten über Fensterbretter und Ecktischchen.
An einer der Wände hing allerdings eine kleine Aquatinta von Sydney Long, wohl ein Erbstück. Grace löste das Bild aus dem hässlichen Rahmen, rollte es zusammen und schob es in den hohlen Griff ihres Tennisschlägers.
Sie schaute in allen Zimmern nach und entschied sich für ein paar leicht zu transportierende elektronische Geräte – eine externe Festplatte, eine Videokamera und als Hauptgewinn eine hochklassige Canon DSLR-Kamera, die sicher mehr als zehntausend Dollar gekostet hatte.
Grace schlenderte zurück zum Pub an der Ecke und ging dann den Hügel hinunter zu ihrem Mietwagen, den sie neben einem Fitnessstudio am Wasser abgestellt hatte. Niemand hielt sie auf, und falls jemand etwas bemerkte, dann nur die arrogante Art, wie sie dahinschritt. Hier in der Gegend gingen alle jungen Frauen so, als hätten sie ein Anrecht auf all das. Grace spielte gern mit solchen Dingen.
Grace zog sich auf einer Toilette am Flughafen in Hobart um und verwandelte sich in eine leitende Angestellte, die es eilig hatte: Strumpfhose, Stöckelschuhe, schwarzes Jackett, schmaler Rock und Aktentasche. Als Flughafenangestellter legte man sich besser nicht mit ihr an.
Am späten Vormittag war sie auf dem Festland und zog sich erneut um, diesmal aber leger: weite Jeans, alte Sportschuhe, ausgeleierter Baumwollhoodie. Dann holte sie ihren Golf vom Langzeitparkplatz und fuhr über den Tullamarine Freeway ins Zentrum von Melbourne; sie wusste, es würde noch Stunden dauern, bevor jemand ihre Einbrüche entdeckte.
Der Golf brummte. Grace hatte lange darüber nachgedacht, welchen Wagen sie fahren wollte. Ihre Grundsätze waren simpel. »Lass dich nicht erwischen«, aber das verstand sich ja von selbst, und »man sollte wissen, wann man verschwinden muss« und »lege dir immer einen Plan B zurecht«. Eine wichtige Regel lautete: »Arbeite niemals im heimischen Umfeld«. Grace operierte nur außerhalb des Staates. Perth, Brisbane, Adelaide, die Gold Coast, Noosa, Launceston, Hobart … wo immer das Geld war. Niemals in New South Wales. Galts Leute kannten sie dort. Also nur überregional, und manchmal fuhr sie zu einem Job hin und zurück mit dem Auto. Überland, also war Komfort wichtig. Ordentlich Drehmoment und Motorkraft, falls sie jemals fliehen musste. Jede Menge Sicherheitsfunktionen, falls sie sich überschlug oder einen Zusammenstoß hatte. Gutes Fahrverhalten in brenzligen Kurven und Serpentinen. Deshalb der Golf. Ein Porsche, Audi, BMW oder Alfa Romeo wären zwar nett, aber zu auffällig gewesen. Bei einem Falcon, Holden oder Camry hätte niemand zweimal hingeschaut, aber das waren Vertreterautos, sie fuhren sich wie Dampfer, und Grace brauchte eine überzeugende Tarnung, falls sie erklären musste, was sie mitten in der Nacht auf einer Überlandstraße zu suchen hatte. Deshalb also der Golf Diesel, Zwei-Liter-Maschine, ein Frauenauto, perfekt für eine hübsche junge Rechtsanwältin mit Flugangst. Kein Drogenkurier oder Juwelendieb, der was auf sich hielt, würde so etwas fahren; keinen Highwaybullen würde es in den Fingern jucken, so etwas zu verfolgen.
Natürlich ergab es manchmal Sinn zu fliegen. Man stelle sich vor, sie würde auf einer Autofähre mit einem Kofferraum voller Diebesgut einer Kontrolle unterzogen …
Heute hatte sie auf der Mautstraße freie Fahrt zwischen Melbourne Airport und der City, ebenso über die West Gate Bridge, auf der kräftige Böen den kleinen Wagen durchrüttelten, bis hinunter nach Williamstown, wo die harte Malocherseite des alten Melbourne friedlich neben den strahlenden, hohen Hypotheken existierte. Fabriken und Werkstätten standen neben pastellfarbenen kleinen Stadthäusern mit niedlichen bonbonfarbenen Autos in den Einfahrten. Grace ließ die Seitenscheibe hinunter. Die schwere, träge Luft von der Port Phillip Bay her schmeckte leicht salzig. Die Bäume, deren Zweige sich nur träge bewegten, wirkten von der jahrelangen Dürre wie benommen.
Grace stellte den Wagen auf einem vollen Parkplatz hinter einer Eckkneipe ab. Sie hatte sich am Flughafen bereits kleidungsmäßig heruntergestuft, und jetzt passte sie ihre Haltung an, wirkte freudlos, als sie mit einer Plastiktüte in der Hand den Block entlang zu Steve Finchs Gebrauchtwarenladen ging. Sie stützte sich an der Schaufensterscheibe ab, als wolle sie sich ein Steinchen aus der Schuhsohle polken, und hielt Ausschau nach Überwachungsvans, nach Kameras hinter Vorhängen oder Bullen im Geschäft. Nichts. Sie ging hinein. Wenn jetzt die Bullen auftauchten, war sie nur eine Kundin mit etwas Plunder, den sie verpfänden wollte.
In Finchs Laden änderte sich nie etwas. Er war sieben Tage die Woche geöffnet, verstaubte Fernseher und Videorekorder im Schaufenster, kastenförmige Monitore auf Beistelltischen, Kartons voller Schallplatten, Kassetten und Taschenbüchern. Grace musste Inseln liebloser und unschöner Möbel umrunden, bevor sie Steve an einer tintenfleckigen Theke fand, wo er auf der Tastatur eines schnittigen neuen Macs herumklimperte. Er stank nach Rasierwasser. Es kämpfte erfolgreich gegen den Muff an.
»Eine Sekunde.«
Finch hatte nicht mal aufgeblickt; er hatte sie bei dem Thrash-Metal auch nicht hören können, der aus einem Fünfzehn-Dollar-Radio dröhnte. Aber er hatte sie wohl auf den Überwachungsmonitoren gesehen. Die Kameras deckten alle Winkel ab und überblickten die Straße, die Seitengassen und den Hinterhof. Grace hatte ihm geraten, was er wo installieren sollte.
Er hatte nicht aufgeblickt, und er hatte auch keine diskreten Zeichen gegeben, um sie zu warnen, was bedeutete, dass sich keine Bullen hinter einem Schrank versteckten oder in seinem Büro lauerten. Grace beobachtete ihn. Finchs Gesicht bestand aus großen Merkmalen an einem schmalen Schädel, weit vorgereckte Nase und Kinn, riesige Segelohren. Er trug sein Haar lang, so als wolle er den schmalen Kopf noch betonen. Etwa vierzig, groß, gut gekleidet, Baumwollhemd und Hose. Die dreckigen Finger hatte er sich vermutlich geholt, als er in den Eingeweiden des Plattenspielers herumgefummelt hatte, der in Einzelteilen neben dem Computer lag.
»Braucht einen neuen Motor und neue Walzen«, sagte er, als könne er ihre Gedanken lesen. Noch immer sah er sie nicht an.
Er tippte noch ein paarmal und linste auf den Monitor. »Ein Laden in Kalifornien kann mir das Zeug schicken.«
»Lohnt sich das?«
Endlich sah er sie an. »Ob sich das lohnt? Ein Sammlerstück, Suze.« Susan taugte als Name so gut wie Grace oder irgendeiner der anderen, die sie verwendete.
Sie hatte auch Pässe, Kreditkarten und Führerscheine auf Namen, die sie noch nicht verwendet hatte, Namen von Babys, die etwa zu der Zeit verstorben waren, als sie auf die Welt gekommen war. Und dann war da noch ein alter Name, Nina, der in ihren Träumen hauste und wirklich schien, was die anderen Namen nicht waren. Doch im Augenblick hieß sie bei Steve Finch Susan, kurz Suze.
Finch fiel etwas ein, er grinste und hob einen Finger. »Ich muss dir was zeigen.«
Ein Foto von seinem kleinen Sohn, wie das Kind sich an einem Stuhl festhielt und ein wütendes Gesicht zog. »Zehn Sekunden später hat er seinen ersten Schritt gemacht«, sagte Finch.
»Wie umwerfend«, meinte Grace.
Die neue junge Frau, die Schwangerschaft, die Entbindungsstation und jetzt die ersten Schritte, alles auf Fotos festgehalten, die Steve ihr unbedingt zeigen musste, wann immer sie kam, um Geschäfte zu machen.
»Und wie gehts deiner Kleinen?«, fragte er. »Irgendwelche neuen Fotos?«
»Steven Finch, Hehler und gefühlsduseliger Familienvater«, entgegnete Grace, öffnete ihre Brieftasche und enthüllte eine Reihe von kleinen Fotos in Klarsichthüllen; auf dem ersten war eine breit grinsende blonde Dreijährige zu sehen.
Finch schnappte sich die Brieftasche und schaute sich das Foto an. »Süß«, sagte er weiterblätternd. »Och, und hier, im Tutu.« Wieder schaute er genau hin, las laut: »Hurstbridge Community Childcare Centre«, und schaute Grace besorgt an. »Deine Schwester wohnt da draußen, oder?«
Grace ließ kurz ihren Schmerz aufblitzen, der einen alten Kummer verriet, eine Heroinsucht, die sie befriedigen musste, der Versuch, alles wieder auf die Reihe zu kriegen, aber du weißt ja, wie das ist. Sie schluckte, hüstelte und brachte heraus: »Ich besuche sie, sooft ich kann.«
Steve nickte zweifelnd. »Und wer ist das? Deine Eltern?«
Grace beugte sich über die Theke und legte den Kopf zur Seite, um in die offene Brieftasche schauen zu können. »Ja.«
»Sonniger Herbst … wo ist denn das?«
»Draußen in Lakes Entrance.«
Finch runzelte die Stirn. »Nicht gerade in der Nähe.«
»Können wir zum Geschäftlichen kommen?«
Finch besah sich noch immer das Foto von Grace und einem älteren Paar vor einem Häuschen in einer ganzen Reihe von Häuschen. »Du wirkst zu jung für jemanden, dessen Eltern in einer Seniorenanlage leben.«
Grace zuckte mit den Schultern.
»Tschuldige, geht mich ja nichts an«, sagte Finch, der sich ihr Wohlergehen zur Aufgabe gemacht hatte. »Was hast du denn für mich?«
Sie beschrieb die Beute des Vormittags.
»Lass mal sehen.«
Sie verließ den Laden und fuhr den Golf zu einem Parkplatz hinter einer aufgelassenen Fabrik. Als Finch in seinem Van eintraf, öffnete sie den Kofferraum. Mit reglosem Gesicht zog er ein Paar Baumwollhandschuhe an und durchsuchte die Gegenstände. »Keine Münzen, Briefmarken? Die kriege ich immer los.«
»Diesmal nicht.«
Finch fuhr mit einer Schwarzlichtlampe über Laptop, iPod und Kameras. Auf der Canon erschienen Name und Telefonnummer, und er warf sie hin, als habe er sich verbrannt. »Schmeiß die weg.«
Das würde sie machen. Ein paar Tausend Dollar in die Meeresfluten.
Stirnrunzelnd besah er sich den Kofferraumboden und ging im Kopf Kosten und Aufwendungen durch. »Zwei Riesen kann ich dir geben«, sagte er.
Stets klang er, als müsse er sich rechtfertigen, aber nach Grace’ Vorstellungen waren zweitausend Dollar ziemlich gut für eine Stunde Arbeit, und manchmal zahlte er erheblich mehr, kam ganz darauf an, was sie anzubieten hatte. Der Klang in seiner Stimme besagte auch, dass er wusste, wie schnell sie das Geld bei ihrer Sucht durchgebracht haben würde, aber was sollte er machen? Er hatte ein Geschäft zu führen.
Sie zeigte ihm die Fotos von den Vasen und den Whiteleys. »Vielleicht hole ich die mir eines Tages.«
Finch nickte ihr leicht zu, als wollte er sagen: »Ja, vielleicht, wenn du es so lange schaffst«, dann zählte er ihr ihren Anteil in frischen Hundertern ab. »Bleib in Kontakt, okay?«
»Klar.«
Grace hatte einen Festnetzanschluss, ein iPhone und mehrere billige Prepaid-Handys, aber niemand rief sie an, sie rief die anderen an. Wenn jemand was von ihr wollte, dann über den Account bei Hotmail.
Finch sah sich auf der Wüstenei aus geborstenem Beton um: »Du kannst nicht noch bleiben, oder?«
Sie war noch nie geblieben. Sie wollte keinen Sex mit ihm, wollte sich auch seinen Scheiß nicht anhören. Werd sauber, verbring mehr Zeit mit deiner Tochter, Familie ist wichtig …
»Wie spät ist es denn?«, fragte sie, so als wollte sie nicht von vornherein ablehnen.
»Mittag.«
»Dann sollte ich besser los«, sagte sie. »Ich kriege einen neuen Kühlschrank geliefert.«
»Na gut.«
Sie fuhr in Richtung City, nahm die West Gate Bridge, wollte aber nicht nach Hause. Das lag in einer anderen Richtung, außerdem brauchte sie gar keinen neuen Kühlschrank. Sie war auf dem Weg nach Waterloo auf der Peninsula. Aus reiner Gewohnheit vermied sie die Mautstraßen und fuhr für die Geschwindigkeitskontrollen und Kreuzungskameras ganz gemütlich.
Zu Mittag aß man in Waterloo am besten im Café Laconic. Detective Constable Pam Murphy ging zur Theke und bestellte sich das Übliche, Focaccia und einen grünen Tee zum Mitnehmen. Nimm noch eine Serviette, ermahnte sie sich, du hast ein weißes T-Shirt an.
Sie ging gerade zum Wagen zurück, als das Handy klingelte. »Murphy.«
Es war der Diensthabende, es ging um eine nackte Frau, die im Buschland entlang einer Nebenstraße nordöstlich von Waterloo gesehen worden war. »Tut mir leid, Murph, aber ich hab gerade keinen Uniformierten, den ich schicken kann.«
»Na gut, ich kümmere mich darum.«
Ihr Subaru stand vor dem Campingladen. Pam stieg ein, vernichtete ihr Mittagessen in einer raffinierten Choreografie für Finger und Serviette und kroch dann die High Street entlang, achtete auf die neu verlegten Bodenschwellen und die Geschwindigkeitsbegrenzung auf fünfzig km/h und legte sich im Kopf die Route zu der abgelegenen Straße zurecht, wo jemand eine nackte Frau gesehen hatte.
Ersteinsatz gehörte eigentlich nicht zu ihren Aufgaben. In einer perfekten Welt hätte der Diensthabende einen Streifenwagen hinausgeschickt. Wenn die Besatzung dann ein Verbrechen, ein Opfer vorfand, würde sich die ganze Maschinerie in Bewegung setzen: Kriminaltechniker, weitere Beamte der CIU, der Crimes Investigation Unit, ein Arzt, ein Gerichtsmediziner, ein Krankenwagen …
Doch Pam lebte in einer Zeit der Budgetkürzungen. Oft genug war sie gezwungen, ihren Privatwagen zu Dienstzwecken zu benutzen. Beim Kreisverkehr am anderen Ende der High Street fuhr sie nach rechts und landete hinter einem verschlammten Land Rover, der wiederum hinter dem Bus nach Frankston feststeckte. Die kleine Karawane schlich nordwärts an Reifenhändlern und Malergeschäften, Möbelläden und Autohäusern vorbei, und nach einer Weile machte das Kleinstadt-Gewerbe Platz für bescheidene Fabriken, Lagerhallen und Farmerbedarf.
Am Rande der Stadt bog der Land Rover zu einem Holzlager ab, und nun fuhr Pam direkt hinter dem Bus, der hinter einem Mähfahrzeug der Gemeinde herschlich, dessen Schneidwerk am Ende seines ausgefahrenen gelben Arms im hohen Gras und Farnkraut steckte, das die Straße säumte. Funken stoben; Kieselsteine, geschreddertes Plastik, Glas und Aluminium flogen durch die Luft. Pam zuckte zusammen und dachte an den Ärger, den sie haben würde, bei der Versicherung eine neue Windschutzscheibe einzufordern. Noch immer schuldete sie ihren Eltern fünftausend Dollar für den Subaru. Demnächst war sie zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen, und ihr Vater würde sie wegen des Wagens löchern, und ob sie auch ja ordentlich auf ihn achtete?
Sie gab Gas und überholte. Die Straße vor ihr war frei, als sie an Bus und Mäher vorbeifuhr, und am nächsten Kreisverkehr nahm sie eine Nebenstraße zu einer nicht sonderlich hübschen Gegend nordöstlich von Waterloo.
Die Müllkippe der Gemeinde lag dort, neben rätselhaften Schuppen und bankrotten Jachtbauern, deren ehemalige Bauplätze mit rostigen Bootsrümpfen vollstanden. Zu beiden Seiten der Straße zeichneten sich tote Eukalyptusbäume auf ungepflegten Weiden vor dem Himmel ab wie Bleistiftstriche. Unkraut strangulierte die Drahtzäune, Rauchfahnen wehten von den fernen Schornsteinen an der Western Port Bay herüber.
Dieser Winkel der Welt kam Pam immer feucht vor: Schimmel arbeitete sich voran, Wasser tropfte von den Bäumen, kleine Tiere starben in irgendwelchen Höhlen. Ein Müllabladeplatz, ein guter Ort zum Sterben.
Pam kam an ein kleines Ziegelhaus auf einem verkrauteten Stück Farmland. Bedrängt von Rosenbüschen und Lavendel, duckte es sich dicht an die Straße, und ein paar Eukalyptusbäume ragten über die Dachziegel. Ansonsten gab es dort nichts, nur ungepflegte Weiden und ein struppiger Hain aus Weinenden Steinlinden, Akazien, Farnen, Brombeergestrüpp und meist toten Eukalyptusbäumen hundert Meter hinter dem Haus.
Pam stieg aus, beobachtet von zwei Frauen. Die eine, die in der Einfahrt neben einem schmuddeligen Daihatsu-Transporter stand, war mittleren Alters, ein Monokular baumelte ihr um den Hals, und sie trug einen verblichenen braunen Overall, ein Wollkäppi und Arbeitsschuhe. Die andere, viel ältere, schaute von der Veranda aus zu, dürre Beine steckten in ausgeleierten Strümpfen, ihre Lippen zuckten, die Hände auf der Gehhilfe zitterten.
Pam lächelte, hob eine Hand zum Gruß, schloss ab und betrat die Einfahrt. »Polizei«, sagte sie, nannte ihren Namen, bemerkte die Kratzer an den Armen der Frau im Overall, auch auf einer Wange, sah die flechtenbewachsene Rinde und die Zweige an ihrem Käppi. »Sie haben eine – «
»Leiche gemeldet, ja. Drüben im Schutzgebiet.«
Die Frau drehte sich um und wies in die Richtung, und Pam entdeckte etwas Merkwürdiges oben auf ihrem Käppi: ein Paar Stoffaugen, die himmelwärts glotzten, große weiße Ovale mit gruseligen schwarzen Pupillen.
Sie riss sich davon los. »Eine Leiche?«
»Hat man Ihnen das nicht mitgeteilt?«
Pam sah sich beklommen um und entdeckte die Aufschrift auf dem Lieferwagen: Tierrettung, was bedeutete, dass die Frau ihre Zeit im Freien verbrachte. Um diese Jahreszeit brüteten die Elstern und griffen an, wenn man ihnen zu nahe kam. Pam war mal als Kind von einer Elster attackiert worden. Selbst heute noch konnte eine Elster im Sturzflug sie in Panik versetzen. Wehrte ein Paar Stoffaugen auf dem Kopf tatsächlich die Angriffe der Elstern ab?
»Jemand hat berichtet, eine nackte Frau gesehen zu haben, keine Leiche. Sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen?«
»Jan Overton«, sagte die Frau und schüttelte ihr energisch die Hand.
»Also, Sie haben eine Leiche gefunden?«
»Junge Frau, nackt, sehr tot«, antwortete Overton. »Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«
Selbst im Stehen wirkte sie ruhelos, eine Frau, die lieber im Freien war und Stillstand hasste, und nun stapfte sie mit rudernden Armen zum Seitentor. Pam rief ihr nach. »Vielleicht erzählen Sie mir erst mal die Einzelheiten.«
»Wie Sie wünschen.« Overton kehrte zu Murphy zurück, und das Monokular hüpfte vor ihrer Brust. Sie blieb stehen, zupfte sich einen Zweig aus dem Haar, eine Handlung, die merkwürdig häuslich und intim wirkte, so als habe sie Spliss entdeckt. »Also, folgendermaßen. Mrs McIntosh – die Frau auf der Veranda – hat mich wegen eines kranken Koalas angerufen.« Sie hielt angriffslustig inne. »Das ist mein Job, ich rette und pflege kranke und verletzte Tiere.«
Pam nickte.
»Seit ein paar Tagen hatte sie einen jungen Koala im Garten«, fuhr Overton fort. »Heute Morgen bemerkte sie, dass das Tier die Räude hatte. Ein sicheres Anzeichen für ein schlechtes Immunsystem, womöglich Chlamydien. Die armen Dinger hungern eh schon die halbe Zeit wegen der Dürre. Dass ihr Lebensraum für all diese hässlichen McVillas niedergewalzt wird, die überall aus dem Boden sprießen, brauche ich gar nicht erst zu erwähnen.«
Overton war jünger, als Pam anfangs gedacht hatte, fünfunddreißig vielleicht, aber sonnenverbrannt, und sie wirkte gekränkt. Vielleicht fand sie, dass niemand ihr die mühevollen Jahre zugutehielt, die sie zugunsten der Tierwelt geschuftet hatte.
»Bis ich eintraf, war der Koala verschwunden«, sagte Overton weiter, »aber wohin, war kein Geheimnis.« Sie deutete zu dem ramponierten Baumbestand hinter dem Haus der alten Frau hinüber. »Also habe ich mich ins Dickicht gewagt. Moskitos und Brombeeren … Sie können es sich ja vorstellen.«
Pam nickte und wies auf die Arme der Frau. »Die Kratzer stammen also nicht von dem Koala?«
Overton schüttelte den Kopf. »Das arme Ding ist immer noch dort draußen irgendwo. Doch um auf den Punkt zu kommen, ich kam auf eine Lichtung, und den Rest kennen Sie.«
Sie wartete, bis Murphy ihr den Gefallen tat: »Eine nackte Leiche?«
»Ja.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Ich habe die Polizei angerufen.«
Angespannt hakte Pam nach: »Haben Sie die Leiche angerührt?«
»Nein.« Overton zog die Schultern hoch. »Ich wollte ja den Tatort nicht kontaminieren.«
Pam beließ es dabei. Sie schaute zu dem Baumbestand hinüber. »Ich möchte, dass Sie mich dorthin führen, aber nicht auf die Lichtung treten.«
Overton nickte. Der Weg war nicht gerade ein Wanderpfad, aber das Gestrüpp leistete ihnen hier am wenigsten Widerstand. Brombeerranken krallten sich an ihrer Kleidung fest, Bodenfeuchtigkeit drang durch die Schuhe. Zweige brachen; die Luft war schwer von müden Moskitos und Pflanzenfäulnis. Overton blieb stehen und erstarrte. »Das glaube ich nicht.«
Die Lichtung war leer.