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Viktor Schklowski

ZOO

BRIEFE NICHT ÜBER LIEBE, ODER DIE DRITTE HELOISE

Aus dem Russischen und mit einem Nachwort

von Olga Radetzkaja,

Essay von Marcel Beyer

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INHALT

VORWORT DES AUTORS

MENAGERIE

ERSTER BRIEF

ZWEITER BRIEF

DRITTER BRIEF

VIERTER BRIEF

FÜNFTER BRIEF

SECHSTER BRIEF

SIEBTER BRIEF

ACHTER BRIEF

NEUNTER BRIEF

ZEHNTER BRIEF

ELFTER BRIEF

ZWÖLFTER BRIEF

DREIZEHNTER BRIEF

VIERZEHNTER BRIEF

FÜNFZEHNTER BRIEF

SECHZEHNTER BRIEF

SIEBZEHNTER BRIEF

ACHTZEHNTER BRIEF

VORWORT ZUM NEUNZEHNTEN BRIEF

ZWANZIGSTER BRIEF

EINUNDZWANZIGSTER BRIEF

ZWEIUNDZWANZIGSTER BRIEF

DREIUNDZWANZIGSTER BRIEF

VIERUNDZWANZIGSTER BRIEF

FÜNFUNDZWANZIGSTER BRIEF

SECHSUNDZWANZIGSTER BRIEF

SIEBENUNDZWANZIGSTER BRIEF

ACHTUNDZWANZIGSTER BRIEF

NEUNUNDZWANZIGSTER BRIEF

ANHANG

EDITORISCHE NOTIZ

DIE REIHE DER ANFÄNGE

DIE ZUSÄTZLICHEN BRIEFE

ANMERKUNGEN

»VERDICHTUNG UND WAHRHEIT. VIKTOR SCHKLOWSKIS BRIEFROMAN MIT DER WELT, 1922/23«

NACHWORT VON OLGA RADETZKAJA

»ICH SASS IM AFFENCAFÉ UND LAS VIKTOR SCHKLOWSKI«

ESSAY VON MARCEL BEYER

BIOGRAFIEN

VORWORT DES AUTORS

Dieses Buch entstand wie folgt: Ursprünglich hatte ich eine Reihe von Skizzen über das russische Berlin geplant, dann fand ich es reizvoll, diese Skizzen durch ein gemeinsames Thema zu verbinden. Ich entschied mich für die Menagerie (»Zoo«); damit war der Titel des Buchs geboren, aber er verband die einzelnen Stücke noch nicht. Mir kam die Idee, eine Art Briefroman daraus zu machen.

Ein Briefroman braucht eine Motivierung – es muss einen Grund geben, warum die Figuren korrespondieren. Für gewöhnlich ist der Grund Liebe, und etwas oder jemand, der die Liebenden trennt. Ich habe einen Sonderfall dieser Motivierung verwendet: Die Briefe schreibt ein Liebender an eine Frau, die für ihn keine Zeit hat. Damit kam ein weiteres Element ins Spiel: Da das Material des Buchs zum größten Teil nichts mit Liebe zu tun hatte, habe ich ein Verbot eingeführt, von Liebe zu schreiben. Das Ergebnis war, was im Untertitel steht: »Briefe nicht über Liebe«.

Ab da schrieb sich das Buch von selbst, es verlangte von sich aus nach einer Klammer, um es zusammenzuhalten: den lyrisch-amourösen und den deskriptiven Strang. Ich fügte mich meinem Material und verknüpfte sie auf dem Weg des Vergleichs: So wurden alle Beschreibungen zu Metaphern für Liebe.

Die Frau – die Adressatin der Briefe – nahm Gestalt an, eine Gestalt aus einer fremden Kultur, denn jemandem aus der eigenen Kultur braucht man keine deskriptiven Briefe zu schicken. Ich hätte dem Roman ein Sujet geben können, zum Beispiel die Lebensgeschichte des Helden. Aber niemand verehrt die Götzen, die er selbst erschafft. Zu herkömmlichen Sujets habe ich dasselbe Verhältnis wie ein Zahnarzt zu Zähnen.

Grundlegend für mein Buch ist der Streit zwischen Menschen aus zwei verschiedenen Kulturen; die Ereignisse, die darin vorkommen, sind nur Material für Metaphern.

In erotischen Texten ist das ein gängiges Verfahren: Sie negieren die reale Reihe und etablieren die metaphorische. Lesen Sie zum Vergleich Afanassjews »Geheime Märchen«.

Berlin, 5. März 1923

MENAGERIE

O Garten, Garten!

Wo das Eisen einem Vater gleicht: er erinnert die Brüder, dass sie Brüder sind, und unterbindet den blutigen Kampf.

Wo die Deutschen ihr Bier trinken gehen.

Und die Hübschen ihren Körper verkaufen.

Wo Adler thronen gleich der Ewigkeit: sie endet mit dem heutigen, noch abendlosen Tag.

Wo das Kamel den Buddhismus durchschaut und Chinas Grimasse verbirgt.

Wo der Hirsch nichts als Schreck ist, eine breite, steinerne Blüte.

Wo festliche Menschenkleider prangen.

Und die Deutschen vor Gesundheit blühen.

Wo der schwarze Blick des Schwans, der ganz dem Winter gleicht – nur sein Schnabel gleicht einem herbstlichen Wäldchen –, sich ein wenig scheut vor sich selbst.

Wo der blaue Schönste seinen Schweif herabrauschen lässt: er gleicht Sibirien, von der Spitze des Pawdafelsens gesehen, wenn die Wolken ihr blaues Netz übers Gold der Rodungen und das Grün des Waldes werfen, und alles ist vielfältig schattiert durch die Unebenheiten des Bodens.

Wo vielfältig erboste Affen ihr Gesäß zur Schau stellen.

Wo Elefanten sich gebärden wie Berge bei Erdbeben; sie betteln um Essen bei einem Kind, legen uralten Sinn in die Wahrheit: Hunger! Ham-ham!, knien nieder, als bäten sie um eine milde Gabe.

Wo Bären blitzschnell nach oben klettern und nach unten blicken, in Erwartung der Befehle des Wächters.

Wo Fledermäuse kopfüber hängen wie das Herz eines heutigen Russen.

Wo die Brust des Falken an die Federwolken vor einem Gewitter erinnert.

Wo ein niedrig fliegender Vogel den Sonnenuntergang hinter sich herschleift, mit der ganzen Glut seines Brandes.

Wo wir im Gesicht des Tigers mit seinen Augen eines alten Moslems, umrahmt vom weißen Bart, den ersten Mohammedaner ehren und das Wesen des Islams erkennen.

Wo uns der Gedanke kommt, dass die Religionen die Ausläufer derselben Wellen sind, deren Anschwellen die Arten waren.

Und dass es auf der Welt so viele Tiere gibt, weil sie Gott so verschieden sehen können.

Wo das Krachen des Mittagssaluts den Adler den Blick zum Himmel heben lässt, in Erwartung eines Gewitters.

Wo die Adler von ihren Stangen stürzen wie Götzenbilder bei Erdbeben von Tempeln und Dächern.

Wo die Enten einer bestimmten Rasse nach einem Regenguss in einhelliges Geschnatter ausbrechen, als hielten sie ihrem Entengott – ob er wohl Füße und Schnabel hat? – ein Dankgebet.

Wo die silbrig-aschgrauen Perlhühner sich als Bettler verkleidet haben.

Wo ich mich weigere, den Malaienbären als meinen nordischen Landsmann zu betrachten: ich enttarne ihn als verkappten Mongolen.

Wo die Wölfe willig und ergeben wirken.

Wo an der Tür zum schwülen Papageienhaus die einhellige Begrüßung auf mich herunterprasselt: »Trrrott-tel !«

Wo das dicke, glänzende Walross wie eine müde Schöne mit dem glitschig-schwarzen Fächerfuß winkt und ins Wasser plumpst, und als es sich wieder auf den Steg hinaufwälzt, sitzt auf seinem fetten, schweren Leib ein bärtig-borstiger, glattgestirnter Nietzschekopf.

Wo die Kiefer des erhabenen, schwarzäugigen weißen Lamas und des Wasserbüffels mit den flachen Hörnern sich regelmäßig nach rechts und links verschieben, wie das Leben in einem Land mit Volksvertretung und rechenschaftspflichtiger Regierung – dem ersehnten Paradies für so viele!

Wo das Nashorn in seinen rot-weißen Augen den unstillbaren Zorn eines gestürzten Zaren trägt: als einziges Tier macht es keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Menschen, diese meuternden Sklaven. In ihm steckt ein Iwan der Schreckliche.

Wo die Möwen mit ihren langen Schnäbeln und den kaltblauen, wie bebrillten Augen internationalen Geschäftemachern gleichen: wir sehen es daran, wie geschickt sie den Robben das Futter wegschnappen.

Wo wir uns erinnern, dass die Russen ihren erfolgreichsten Feldherren den Beinamen »Falke« gaben, und dass das Falkenauge von dem eines Kosaken nicht zu unterscheiden ist: so wird uns klar, wer die Russen die Kriegskunst gelehrt hat.

Wo die Elefanten das Trompeten vergessen haben: sie schreien, als hätten sie sich den Magen verdorben. Vielleicht bringt unser über die Maßen jämmerlicher Anblick sie auf die Idee, jämmerliche Laute seien ein Zeichen von gutem Geschmack? Ich weiß es nicht.

Wo herrliche Möglichkeiten ungenutzt in den Tieren verloren gehen, wie das in ein Stundenbuch eingefügte Igorlied.

Welimir Chlebnikow

(Sadok Sudej 1, 1909)

Ich widme »Zoo«
Elsa Triolet
und gebe dem Buch den Titel
»Die dritte Heloise«

ERSTER BRIEF,

geschrieben von einer Frau in Berlin, an ihre Schwester in Moskau. Die Schwester ist sehr schön, sie hat leuchtende Augen. Der Brief dient als Einleitung. Hören Sie seine ruhige Stimme!

In der neuen Wohnung habe ich mich eingelebt. Ich habe den Verdacht, meine Zimmerwirtin ist ein ehemaliges leichtes Mädchen, dementsprechend ist ihr Charakter weder bösartig noch kleinlich. Gesprochen wird in meiner Gegend ausschließlich Deutsch, und egal woher man kommt, muss man erst unter zwölf eisernen Brücken durch. An so einen Ort fährt man nicht ohne Not. Keine Bekannten vom Kurfürstendamm mehr, die auf dem Weg vorbeischauen!

Meine Gefolgschaft ist unverändert, alle halten die Stellung. Nummer drei – Du erinnerst Dich – lässt sich endgültig nicht mehr abschütteln. Ich betrachte ihn als meinen höchsten Orden, auch wenn ich weiß, wie leicht er sich verliebt. Er schreibt mir jeden Tag ein oder zwei Briefe, bringt sie selber vorbei, setzt sich brav neben mich und wartet, bis ich sie gelesen habe.

Nummer eins schickt immer noch Blumen, wird aber zunehmend trübsinnig. Nummer zwei, dem Du mich leichtsinnigerweise anvertraut hast, besteht weiterhin darauf, dass er mich liebt. Im Gegenzug verlangt er, dass ich mit jeder Unannehmlichkeit zu ihm komme. Ein raffinierter Bursche.

Die Taxigebühren steigen gerade auf das Fünftausendfache.

Trotz des bequemen Lebens hier vermisse ich London – das Alleinsein, den geregelten Alltag, die Arbeit von früh bis spät, das tägliche Bad und das Tanzen mit wohlgestalteten Jünglingen. Hier bin ich das nicht mehr gewöhnt. Es gibt auch zu viel Unglück um einen herum, man kann es nicht mal für eine Minute vergessen.

Schreib mir bald, was es bei Dir gibt. Ich küsse Dich, meine Süße und Schönste, danke noch einmal, dass Du so liebevoll an mich denkst.

Alja

3. Februar

ZWEITER BRIEF

Über Liebe, Eifersucht, das Telefon und die Stadien der Liebe. Er endet mit einer Bemerkung über den Gang der Russen.

Liebe Alja!

Seit zwei Tagen schon sehe ich Dich nicht.

Ich rufe an. Das Telefon fiept, ich höre, ich bin jemandem auf den Fuß getreten. Ich erreiche Dich – Du bist beschäftigt Tag und Nacht.

Ich schreibe noch einmal. Ich liebe Dich sehr.

Du bist die Stadt, in der ich wohne, Du bist der Name des Monats und des Tages.

Ich schwimme, salzig und tränenschwer, ich tauche kaum mehr auf.

Vermutlich gehe ich bald ganz unter, aber auch unter Wasser, wo kein Telefon klingelt und kein Gerücht hindringt, wo man Dich nicht treffen kann, werde ich Dich lieben.

Ich liebe Dich, Alja, und Du lässt mich auf dem Trittbrett Deines Lebens hängen.

Meine Hände werden steif vor Kälte.

Ich bin nicht auf Menschen eifersüchtig, ich bin eifersüchtig auf Deine Zeit.

Ich halte es nicht aus, Dich nicht zu sehen. Was soll ich denn tun, wenn die Liebe sich durch nichts ersetzen lässt?

Du kennst das Gewicht der Dinge nicht. Alle Menschen sind gleich vor Dir, wie vor dem Herrn. Was soll ich tun? Ich liebe Dich sehr.

Erst zog es mich zu Dir, wie der Eisenbahnschlaf den Kopf eines Passagiers auf die Schulter des Nachbarn zieht.

Dann konnte ich den Blick nicht mehr von Dir wenden.

Ich kenne Deinen Mund, Deine Lippen.

Der Gedanke an Dich ist die Spule, um die ich mein ganzes Leben gewickelt habe. Ich bin sicher, dass Du mir keine Fremde bist – komm schon, schenk mir einen Blick.

Ich habe Dir Angst gemacht mit meiner Liebe; am Anfang, als ich noch fröhlich war, habe ich Dir besser gefallen. Das kommt von Russland, meine Liebe. Unsereins hat einen schweren Gang. Aber in Russland war ich stark, erst hier habe ich angefangen zu weinen.

4. Februar

DRITTER BRIEF,

Aljas zweiter. Darin bittet sie, ihr nichts von Liebe zu schreiben. Es ist ein müder Brief.

Herzblatt, mein Guter. Schreib mir nichts von Liebe. Bitte nicht. Ich bin sehr müde. Mir hängt die Kruppe durch, das hast Du selber gesagt. Uns zwei trennt die Lebensart. Ich liebe Dich nicht, und das wird auch so bleiben. Ich fürchte Deine Liebe, irgendwann wirst Du mich noch dafür beschimpfen, dass Du mich jetzt so liebst. Stöhne nicht so furchtbar, Du bist mir ja trotzdem nahe. Mach mir keine Angst! Du kennst mich so gut, und doch tust Du alles, um mich abzuschrecken, mich von Dir wegzustoßen. Es mag schon sein, dass Deine Liebe groß ist, aber Freude macht sie keine.

Ich brauche Dich, weil Du weißt, wie man mich aus mir herauslockt.

Aber schreib mir nicht von Deiner Liebe. Mach keine wilden Szenen am Telefon. Werd nicht rabiat. Du bringst es fertig, mir den ganzen Tag zu verderben. Ich brauche meine Freiheit, mir soll niemand auch nur Fragen stellen dürfen.

Du dagegen forderst meine komplette Zeit. Du musst leicht sein, sonst wird es nichts mit der Liebe! Stattdessen wirst Du von Tag zu Tag trauriger. Du gehörst in ein Sanatorium, mein Lieber.

Ich schreibe im Bett, weil ich gestern tanzen war. Gleich steige ich in die Badewanne. Vielleicht sehen wir uns heute.

Alja

5. Februar

VIERTER BRIEF

Über die Kälte, über Petrus’ Verrat, über Welimir Chlebnikow und wie er ums Leben kam. Über die Inschrift auf seinem Kreuz. Außerdem geht es um Chlebnikows Liebe, die Grausamkeit der Nichtliebenden, um Nägel, einen Kelch und die gesamte menschliche Kultur, die auf dem Weg zur Liebe gebaut wurde.

Ich werde nichts von Liebe schreiben, nur vom Wetter.

Das Wetter ist schön heute in Berlin.

Der Himmel ist blau, und die Sonne steht über den Häusern. Die Sonne schaut direkt in die Pension Marzahn hinein, in Aichenwalds Zimmer.

Mein Zimmer liegt zur anderen Seite der Wohnung.

Draußen ist es schön und frisch.

Schnee gab es in Berlin dieses Jahr fast keinen.

Heute ist der 5. Februar … Lauter Sätze nicht über Liebe.

Ich laufe in einem Herbstmantel herum; wenn es Frost gäbe, müsste ich ihn Wintermantel nennen.

Ich mag keinen Frost, auch keine Kälte.

Die Kälte war schuld, dass der Apostel Petrus Jesus Christus verleugnet hat. Die Nacht war frisch, er trat ans Feuer, ums Feuer saß die öffentliche Meinung, die Diener fragten ihn nach Jesus, und Petrus verleugnete ihn.

Der Hahn krähte.

Die Winter in Palästina sind mild. Wahrscheinlich ist es dort wärmer als in Berlin.

Wäre es eine warme Nacht gewesen, dann wäre Petrus nicht aus dem Dunkel getreten, der Hahn hätte umsonst gekräht wie alle Hähne, und im Evangelium gäbe es keine Ironie.

Gut, dass Jesus nicht in Russland gekreuzigt wurde: Bei uns herrscht ein kontinentales Klima mit Frost und Schneesturm, die Jünger wären scharenweise zu den Wegkreuzungen ans Feuer geströmt, sie hätten Schlange gestanden, um ihren Meister zu verleugnen.

Vergib mir, Welimir Chlebnikow, dass ich mich am Feuer fremder Redaktionen wärme. Dass ich nicht dein, sondern mein eigenes Buch herausbringe. Bei uns, Rabbuni, herrscht ein kontinentales Klima.

Der Fuchs hat seinen Bau, dem Häftling gibt man eine Pritsche, das Messer nächtigt in der Scheide, du aber hattest nicht, da du dein Haupt hinlegest.

Die Utopie, die du für die Zeitschrift »Wsjal« entworfen hast, enthält neben anderen phantastischen Ideen auch diese: Jeder Mensch hat das Anrecht auf ein Zimmer in jeder beliebigen Stadt.

In der Utopie ist zwar von gläsernen Zimmern die Rede, aber ich glaube, Welimir hätte auch ein gewöhnliches akzeptiert.

Chlebnikow starb, und irgendein Staubfänger in den »Literarischen Aufzeichnungen« sagte ein paar matte Worte von einer »gescheiterten Existenz«.

Auf das Grabkreuz auf dem Friedhof schrieb der Künstler Mituritsch: »Welimir Chlebnikow – Vorsitzender des Erdballs«.

So fand sich doch noch ein Raum für den Unbehausten, wenn auch kein gläserner.

Ich glaube kaum, Welimir, dass du gern auferstehen und weiter umherirren würdest.

Auf einem anderen Kreuz stand einst geschrieben: »Jesus Christus, König der Juden«.

Es fiel dir schwer, durch die Steppe zu ziehen und mal als Soldat, mal als Nachtwächter in Lagerhallen Dienst zu tun, mal als Beinahe-Kriegsgefangener in Charkow an einem Imaginistenspektakel teilzunehmen.

Vergib uns für dich selbst und für die anderen, die wir noch umbringen werden.

Dass wir uns an fremden Feuern wärmen.

Der Staat ist nicht verantwortlich, wenn Menschen umkommen; zur Zeit von Jesus verstand er kein Aramäisch, er versteht überhaupt keine menschliche Sprache.

Die römischen Soldaten, die Jesu Hände ans Kreuz genagelt haben, tragen nicht mehr Schuld als die Nägel.

Trotzdem tut es denen, die gekreuzigt werden, sehr weh.

Früher dachte man, Chlebnikow merkt gar nicht, wie er lebt, dass die Ärmel seines Hemds bis an die Schulter zerrissen sind, dass auf dem Metallrost seines Betts kein Strohsack liegt, dass die Manuskripte, die er in den Kissenbezug stopft, ruiniert sind. Aber vor seinem Tod hat er von seinen Manuskripten gesprochen.

Er starb entsetzlich. An Blutvergiftung.

Rund um sein Bett standen Blumen.

Es gab keinen Arzt in der Nähe, nur eine Ärztin, aber eine Frau ließ er nicht an sich heran.

Ich denke an alte Geschichten.

Es war in Kuokkala, schon im Herbst, wenn die Nächte dunkel sind.

Im Winter zuvor hatte ich Chlebnikow manchmal im Haus eines Architekten getroffen.

Das Haus war reich, das Mobiliar aus karelischer Birke, der Hausherr blond mit schwarzem Bart und klug. Er hatte Töchter.

Chlebnikow war oft hier. Der Hausherr las seine Gedichte und verstand sie. Chlebnikow glich einem kranken Vogel, dem es nicht passt, dass man ihn ansieht. Da saß er mit gesenkten Flügeln in seinem alten Gehrock, den Blick auf die Tochter des Hausherrn gerichtet.

Er brachte ihr Blumen und las ihr seine Texte vor.

Er verleugnete jeden einzelnen, bis auf den »Jungfrauengott«.

Er fragte sie, wie er schreiben sollte.

Es war in Kuokkala, im Herbst.

Chlebnikow wohnte dort in der Nähe von Kulbin und Iwan Puni.

Ich kam an, fragte mich zu ihm durch und sagte ihm, dass das junge Mädchen einen Architekten geheiratet hatte, den Assistenten ihres Vaters.

So einfach war das.

Ein Unglück, wie es viele trifft. Das Leben ist so sinnvoll eingerichtet wie ein Necessaire, aber wir finden partout nicht unseren Platz darin. Das Leben hält uns probehalber nebeneinander, und es lacht, wenn wir die Arme nach jemandem ausstrecken, der uns nicht liebt.

Das alles ist so einfach wie Briefmarken.

Auch die Wellen in der Bucht waren einfach, Kuokkalawellen. Sie sind immer noch einfach. Wellen wie geripptes Eisen. Wolken aus Wolle. Chlebnikow sagte: »Wissen Sie, dass Sie mich verletzt haben?« Ich wusste es.

»Was suchen sie bloß? Was suchen die Frauen bei uns? Was wollen sie? Ich hätte alles getan. Sogar anders geschrieben. Vielleicht suchen sie Ruhm?«

Das Meer war einfach. In den Sommerhäusern schliefen die Menschen.

Was konnte ich auf dieses Kelchgebet antworten?

Trinkt, Freunde, trinkt, ihr Großen und Kleinen, den bitteren Kelch der Liebe! Hier ist sich jeder genug. Zutritt nur mit Freikarte. Grausam sein ist nicht schwer, man braucht nur nicht zu lieben. Auch die Liebe versteht weder Aramäisch noch Russisch. Sie ist wie die Nägel, die man durchs Fleisch treibt.

Dem Hirsch hilft sein Geweih im Kampf, die Nachtigall singt nicht umsonst, nur wir haben nichts von unseren Büchern. Die Kränkung ist unheilbar.

Uns bleiben die gelben Hausmauern im Sonnenlicht, unsere Bücher und die ganze auf dem Weg zur Liebe von uns erbaute menschliche Kultur.

Sowie der Auftrag, leicht zu sein.

Und wenn es sehr weh tut?

Betrachte das Ganze im Maßstab des Weltalls, nimm dein Herz zwischen die Zähne, schreib ein Buch.

Aber wo ist sie, die mich liebt?

Ich sehe sie im Traum, ich fasse sie bei den Händen und nenne sie Ljussja, blauäugiger Kapitän meines Lebens, ich falle in Ohnmacht, ihr zu Füßen, ich falle aus dem Traum.

O Trennung, o gebrochener Leib, o vergossenes Blut!

FÜNFTER BRIEF,

der eine Beschreibung von Alexej Michailowitsch Remisow enthält sowie seiner Technik, das Wasser in Flaschen in den dritten Stock zu tragen. Ebenfalls beschrieben werden Sitten und Gebräuche des Großen Affenordens. Außerdem habe ich einige theoretische Anmerkungen zum Persönlichen als Material der Kunst eingebaut.

Weißt Du schon, der Affenkönig Asyka – Alexej Remisow – hat wieder mal Scherereien: Seine Wohnung wurde gekündigt.

Man lässt den Mann nicht in Ruhe leben, wie er will.

Den Winter 1919 verbrachte Remisow in Petersburg, und ausgerechnet da kam die Wasserleitung in seinem Haus auf die Idee, zu platzen.

Jeder andere wäre ratlos gewesen. Remisow aber sammelte bei all seinen Bekannten Flaschen zusammen – Medizinfläschchen, Weinflaschen, was er in die Finger bekam.

Er ließ sie in seinem Zimmer auf dem Teppich aufmarschieren, dann griff er sich je zwei, lief die Treppe hinunter und holte Wasser. Bei dieser Technik trägt man am Wasservorrat für einen Tag eine ganze Woche.

Sehr unpraktisch, aber unterhaltsam!

Remisows Leben – er hat es sich selbst gebaut, eigenschwänzig – ist sehr unpraktisch, aber unterhaltsam.

Er ist ein kleiner Mann mit dichtem Haar – ein einziger großer Igelwirbel. Gebeugte Haltung, tiefrote Lippen. Die Nase zeigt aufwärts, und all das ist Absicht.

Sein Pass ist ganz mit Affenzeichen bekritzelt. Schon vor der Sache mit der Wasserleitung hatte Remisow sich von den Menschen entfernt – er wusste von Anfang an, was das für Vögel waren – und dem großen Affenvolk angeschlossen.

Den Affenorden hat Remisow sich nach dem Vorbild der russischen Freimaurer ausgedacht. Zu den Mitgliedern gehörte Blok, derzeit amtiert Kusmin als Musikchef der Großen und freien Affenkammer, Grshebin ist der Affenpate und stellvertretende Fürst des Ordens, für Hungers- und Kriegszeiten.

Auch ich wurde in die Affenverschwörung aufgenommen, meinen Rang – »Stummelschwänziger Affenwelpe« – habe ich mir selbst verliehen. Den Stummelschwanz hatte ich mir gleichfalls selbst verpasst, bevor ich in Cherson zur Roten Armee ging. Da Du hier als stellvertretende Ausländerin fungierst, deren Koffer nicht wissen, dass ihre Besitzerin von einer rotwangigen sibirischen Amme namens Stescha aufgezogen wurde, muss ich Dir außerdem sagen, dass unser Affenvolk, das Volk der Deserteure aus dem Leben, einen echten Zaren besitzt. Einen hochverdienten.

Remisow hat eine Frau, die sehr russische, sehr blonde und kräftige Serafima Pawlowna Remisowa-Dowgello; in Berlin fällt sie auf wie ein Neger in Moskau unter Zar Alexej Michailowitsch, so hellhäutig und russisch ist sie.

Remisow selbst heißt auch Alexej Michailowitsch. »Ich kann keinen Roman mehr mit ›Iwan Iwanowitsch saß am Tisch‹ beginnen«, hat er mir einmal gesagt.

Da ich Dich sehr schätze, verrate ich Dir hier ein Geheimnis.

Wie eine Kuh eine Weide abgrast, so werden auch literarische Themen abgegrast, Verfahren verschlissen und abgenutzt.

Der Schriftsteller kann kein Ackerbauer sein: Er ist ein Nomade, er zieht mit seiner Herde und seiner Frau auf neues Weideland.

Unser großes Affenheer lebt wie Kiplings Katze auf den Dächern – es »geht seine eigenen Wege«.