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Eberhard Seidel

DÖNER

Eine türkisch-deutsche
Kulturgeschichte

Mit Illustrationen von Laura Fronterré

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Inhalt

1.Der Aufstieg

2.Die Wiege des Döner Kebaps

3.Wie der Döner über die Deutschen kam

4.Kebap-Träume im Wilden Osten

5.Vom Reinheitsgebot zur Döner-Mafia

6.Die Dönerproduzenten

7.Das A B C des Döner Kebaps

Anmerkungen

1.

DER AUFSTIEG

»Mein Lieblingsessen in Deutschland ist der Döner Kebap!« Das gestand der Multimilliardär Elon Musk der Weltöffentlichkeit, als er gefragt wurde, was er an der deutschen Küche am meisten schätzt.

Nur wenige Monate vor diesem Bekenntnis unterzeichnete der Tesla-Chef am 12. November 2019 im Berliner Hotel Adlon die Absichtserklärung, seine Europafabrik vor den Toren Berlins zu bauen. Auf seinen Döner musste Musk bei den Verhandlungen in Berlins edelstem Hotel nicht verzichten. Seit August 2018 führt das Adlon den »türkischen Klassiker«, wie es auf der Speisekarte heißt. Nicht als Tellergericht, sondern im Fladenbrot, ganz so wie ihn das Volk auf den Straßen Berlins verzehrt. Damit ist der Döner in Deutschland ganz oben angekommen. Auch kulinarisch. Verfeinert ist die mit Kalbsrückenstreifen gefüllte Brottasche im Adlon mit Trüffelcreme und Rotkohl, und nicht wie ansonsten üblich mit Knoblauch-, scharfer oder Kräutersoße. Sechsundzwanzig Euro anstatt der sonst üblichen vier bis sechs Euro kostet das originelle Berlinvergnügen für die Besserverdienenden. Er ist damit auch der teuerste Döner Deutschlands. »Die Idee war«, so verkündet der Küchendirektor des Adlon, Stephan Eberhard, »neue innovative Gerichte mit einem Twist zu kreieren«.

Neu und kreativ ist der Döner Kebap allenfalls für die gehobenen Stände. Für die Ärmeren ist der Döner aufgrund seines sagenhaften Preis-Leistungs-Verhältnisses seit bald 50 Jahren eine feste Säule ihres mühsamen Überlebenskampfes. Oder wie es der Journalist Ömer Erzeren einmal drastisch formulierte: »Der Markt verlangte nach einer Ware für die Abfütterung der Deklassierten, Ausgegrenzten, der Sozialhilfeempfänger.«

Es ist eine spannende, mitunter auch gefährliche Reise, die der Döner Kebap in 50 Jahren von seinen Ursprüngen in Berlin-Kreuzberg bis zu seinem Einzug in das Hotel Adlon zurückgelegt hat. Man kann sich über die Suche der Wohlhabenden nach dem immer neuen, authentischen Kick lustig machen. Man kann sich aber auch darüber freuen, dass diese deutsch-türkische Innovation, die von einfachen, ungelernten Arbeitern in jahrzehntelanger schweißtreibender Arbeit entwickelt wurde, nun auch Eingang in die Hochkultur gefunden hat. Der Döner ist Punk und Rock ’n’ Roll.

Die kulturelle Aneignung des neuen deutschen Volksgerichts durch die Reichen und Schönen erfolgte in einem Doppelschlag. Zeitgleich mit der Markteinführung des Döner Kebaps auf die Speisekarte des Hotel Adlon stellte das Modelabel Diesel anlässlich der letzten Berliner Bread & Butter-Modemesse im August 2018 die Kollektion »Diesel x Mustafa’s Gemüse Kebap« vor. Bei dem aufreibenden Wettbewerb um Street Credibility in der Modewelt wollte Diesel mit dem »angesagtesten Label der Stadt Berlin« zusammenarbeiten. Und wo ist das zu finden? »Ganz einfach, dort wo sich die coolsten Menschen der Stadt in eine Schlange stellen«, verkündete Diesel in seiner Presseerklärung zu dieser ungewöhnlichen Kooperation. Und die spektakulärste und international bekannteste ist die Warteschlange vor »Mustafa’s Gemüse Kebap« am Kreuzberger Mehringdamm. Zwei bis drei Stunden stehen dort allerdings nicht die Coolsten der Stadt für einen recht gewöhnlichen Chicken-Döner an. Es sind Touristen aus aller Welt, die die sozialen Medien befragen, wo Berlin besonders cool und authentisch ist. Der Erfolg von »Mustafa’s Gemüse Kebap« ist ein Mythos, den trotz genialer Werbestrategie kein Mensch so richtig erklären kann.1 Doch das letztlich Unerklärliche ist bekanntlich das Wesen eines jeden guten Mythos. Nur so viel sei an dieser Stelle verraten: Die Qualität ist es nicht, auch wenn ein Großteil der mehr als 4000 Bewertungen bei TripAdvisor genau dies behauptet. Ganz offensichtlich geht es beim Essen immer um mehr als um Geschmack, Qualität und Kalorien. Bei »Mustafa’s Gemüse Kebap« scheint es auch wichtig zu sein, einer weltweit exklusiven Community anzugehören – der Mustafa-Gemeinde.

Döner Kebap und Big Money, das war mit Sicherheit nicht die Verbindung, die Kavita Meelu, eine Berlinerin mit britisch-indischen Wurzeln, im Sinn hatte, als sie sich 2016 mit einem enthusiastischen Aufruf an die Berliner Öffentlichkeit wandte: »Ich freue mich außerordentlich, das Line-up von Kebabistan, der Berliner Street Food Party des Jahres, bekanntgeben zu dürfen. Die spektakuläre Auswahl an Helden des Kebabs ist eine einzigartige Mischung aus Berliner Kebab-Meistern der alten Schule und New School Helden.« Es war eine Verheißung, die Kavita Meelu mit Kebabistan in die Welt setzte. In einem Art Manifest forderte sie die innovative und kreative Berliner Gastronomie- und Street-Food-Szene dazu auf, Inspirationen nicht nur außerhalb Deutschlands zu suchen: »Wir neigen dazu zu vergessen, dass wir in einer Stadt leben, die bereits über eine außerordentlich reiche und inspirierende Esskultur verfügt, die von einer großen Gruppe von Einwanderern mitgebracht wurde, die lange vor dem Mauerfall nach Berlin kamen. Das eine Lebensmittel, das sich als Vermächtnis dieser Food-Helden hervorhebt, ist eines, das lange genug im Schatten der Berliner Food-Szene verweilte. Sehr geehrte Damen und Herren, es ist Zeit, unsere LIEBE FÜR DEN KEBAB zu feiern!«

Hier sprach nicht irgendjemand. Es war die Ansage der Autorität der Berliner Food-Szene im Zeitalter vor Corona. Über Jahre mischte Kavita, wie sie in Berlin gemeinhin genannt wird, die Street-Food-Bewegung mit innovativen kulinarischen Veranstaltungen auf. Auf sie gehen die weltweit als Insidertipps bekannten Events wie der Street Food Thursday in der Markthalle Neun in Kreuzberg, Burgers & Hip Hop und viele weitere Food-Projekte wie Kitchensurfing zurück. 2016 wandte sie sich dem Döner Kebap zu. Ihr Ziel: Rehabilitierung eines in Verruf geratenen Produkts der Berliner Gastronomie. Diese Rehabilitierung ist allerdings ein steiniger und dorniger Weg, wie wir noch sehen werden.

Tatsächlich ist der Döner Kebap, so wie wir ihn in Deutschland kennen, eine Berliner Kreation. Fünfzig Jahre nach seiner Markteinführung durch Einwanderer aus der Türkei ist er das beliebteste Fast Food Deutschlands und erzielt Milliardenumsätze. Dennoch hängt ihm bis heute hartnäckig ein Schmuddelimage an. Auch für Kavita ist die mangelnde Qualitätsentwicklung des Döner Kebaps ein großes Rätsel: »Warum essen wir die gleichen Kebabs seit Jahrzehnten? Warum gibt es so wenig Qualitätsbewusstsein in der Welt des Kebabs? Was ist der Kebabtraum der Kinder der zweiten und dritten Generation von Immigranten? Gemeinsam mit Euch möchten wir eine Reise nach Kebabistan unternehmen, um die eine große Frage zu beantworten: Wie sieht der Kebab der Zukunft aus?«

Kebabistan war ein Erfolg. Und ein Beleg, dass viele Menschen mehr wollen als nur einen Döner. Die Hauptstadtpresse heftete sich an den vermeintlich neuen Trend und berichtete vom Festival, das von Tausenden jungen Berlinerinnen und Berlinern besucht wurde. »Ein Hinterhof am Moritzplatz, Security, Eintritt zwei Euro, es ist rappelvoll. Foodies und Hipster sitzen dicht gedrängt an Biertischen, umzingelt von improvisierten Ständen und Foodtrucks, vor denen sich lange Schlangen bilden. Bässe wummern, Rauch zieht in Schwaden über den Platz und über allem hängt der Duft von frisch Gegrilltem: Willkommen bei ›Kebabistan‹, dem interkulturellen Street-Food-Festival zur Rettung der Kebab-Kultur. Unter dem roten Zeltdach gibt es die thailändische Version eines Kebabs mit scharfem Salat aus gestampften rohen Bohnen, daneben eine vietnamesische aus am Drehspieß gegrilltem und mit Whiskey und Honig mariniertem Entrecote, dazwischen Ayran vom Fass.«2

Keine Frage, Essen ist zum Lifestyle geworden. In Städten wie Berlin, Hamburg, München, Leipzig, Frankfurt und Dresden, aber auch in der Provinz leben Millionen junger Menschen, deren Gedanken sich erstaunlich wenig um Sex, dafür umso mehr um das Essen drehen. Sie sind auf der Suche nach dem einen Café, dem spektakulären Street-Food-Markt, dem gesündesten Essen, dem außergewöhnlichen Restaurant. Döner Kebap als Modeereignis der Besserverdienenden, Döner Kebap als Event der qualitätsbewussten, ernährungskritischen, hippen Kreativklasse der Großstädte, das sind Entwicklungen, die in Ordnung, nein, die zu begrüßen sind. Denn bisweilen braucht es die Unterstützung der finanziell Etablierten, die kulturelle Aneignung durch gebildete und polyglotte Kreative, damit die gesellschaftlichen und kulturellen Innovationen, die in den Milieus der sozial Randständigen, der Arbeiterklasse, der Unterdrückten und Diskriminierten ihren Ausgang nahmen, ihre längst überfällige Anerkennung bekommen.

Bei der Fokussierung auf Bioprodukte, aufregende Präsentationen, erlesene Zutaten, exquisite Ausstattung der Restaurants und entspannte Atmosphäre sollte allerdings nicht vergessen werden, wie der Döner über die Deutschen kam. Die Geschichte des Döner Kebaps in Deutschland ist spannender als jeder Restaurantbesuch. Und natürlich kommt es dabei darauf an, wer die Geschichte erzählt: ein Dönerproduzent, eine Historikerin, ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft, ein Mann, eine Frau, ein Alter oder ein Junger, oder ein Nachfahre türkischer oder griechischer Einwanderer.

Wer spricht, warum, und mit welcher Absicht? In Deutschland gibt es keine Tradition, dass Autoren sich verorten. Das ist ein großes Versäumnis. Vor allem in der Berichterstattung über Migration hat sich dieses Muster in den zurückliegenden Jahrzehnten etabliert: Migranten werden in aller Öffentlichkeit seziert, sie sollen bereitwillig Auskunft geben über ihr Leben, über ihre Familiengeschichten, kulturellen Traditionen, über ihre Akkulturation in die Moderne. Die deutschen Gesprächspartner dagegen verharren in voyeuristischer Neugier, wenn sie sich »dem Fremden«, »den Anderen« annähern, aber nur selten legen sie offen, wer sie selbst sind. Nur so konnte vor allem bezüglich der Einwanderer aus der Türkei der irre Eindruck entstehen, diese kämen aus rückständigen, patriarchalen und bäuerlichen Familien und ihre Gegenüber, die bei näherer Betrachtung doch recht provinziellen, ungelenken und gehemmten Kartoffeldeutschen, seien als Linke, Liberale, Gebildete und polyglotte Großstädter auf die Welt gekommen.

Was lange unangefochten galt, ändert sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Offensichtlich wurde dies im Herbst 2021. Nicht mehr biodeutsche Journalisten und Wissenschaftler dominierten die Berichterstattung zum sechzigsten Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei. Es waren überwiegend die Kinder und Enkelkinder der Eingewanderten, die heute in den Redaktionen oder an den Hochschulen arbeiten und Teil der Meinungs- und Bildungselite sind. Ihre Erzählungen waren, was zählte.

Wer wissen möchte, wie der Autor dieses Buches als Angehöriger eines bildungsfernen handwerklichbäuerlichen Milieus in der unterfränkischen Provinz in den Fünfziger- und Sechzigerjahren herangewachsen ist, wie er und die Menschen in seiner Heimat tickten, als die ersten Einwanderer Anfang der Sechzigerjahre aus der Türkei nach Deutschland kamen, wie sich sein Leben seit den Siebzigerjahren durch den Umzug nach Berlin und den Bildungsaufstieg veränderte, kurz: wie seine Akkulturation in das Einwanderungsland Deutschland verlaufen ist, dem sei die Lektüre seines Buches Unsere Türken. Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis3 empfohlen.

Doch nun geht es erst einmal darum, zu erzählen, wie tiefgreifend der Döner Kebap dieses Land und uns Deutsche verändert hat.

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»Der Junge muss nun völlig abgedriftet sein! Gibt es denn keine wichtigeren Themen? Damit verpasst der uns Türken doch wieder nur dieses glitschig-fette Döner- und exotische Bauchtanz-Image.« Zu Beginn meiner Dönerrecherchen in den Achtziger- und Neunzigerjahren erntete ich verständnislose Blicke. »Du wirst dir mit einer Reportage über den Döner Kebap schnell die Kritik der türkischen Intellektuellen einhandeln«, warnte eine türkische Gesprächspartnerin. Denn mit dem Dönerkonsum verhält es sich wie mit Bordellbesuchen: Hunderttausende tun es täglich, aber denen, die die Dienstleistung erbringen, wird die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt. »Türkische Kultur ist mehr als Döner«, »Nicht nur Kebap und gekürzte Hosenbeine«, »Türken sind nicht nur Kebap-Verkäufer«, »Türkische Geschäftsleute haben mehr zu bieten als Döner Kebap«. So lauteten über viele Jahre die Schlagzeilen, wenn Deutsche4 aufgerüttelt und bei ihrer vermeintlichen kulturellen Ignoranz gepackt werden sollten, ein türkischer Kulturverein5 auf sein ambitioniertes Programm aufmerksam machen wollte, oder eine Ausländerinitiative6 demonstrativ um Gehör für ihr politisches Anliegen bat.

Das gebrochene Verhältnis der türkischen Akademiker zum türkischen Exportschlager Nummer Eins lässt sich leicht erklären. Der Döner hat stärker als kulturelle Offensiven, Freundschaftsfeste und moralische sowie politische Appelle die interkulturelle Begegnung befördert. Das schmerzt, macht die eigene, bescheidene Bedeutung deutlich, stellt die Kleiderordnung infrage. Nicht in den Volkshochschulkursen und an den Stätten der Hochkultur, sondern an der Imbissbude kamen Hans und Mustafa ins Gespräch, reiften die Pläne für die erste Türkeireise, wurden die ersten türkischen Worte gelernt. Das gilt für den Osten des Landes noch mehr als den Westen. Wenn irgendjemand die Bürger der DDR nach 1990 lehrte, dass die Wiedervereinigung nicht nur die Deutschen in Ost und West betrifft, sondern auch die zwei, drei Millionen Einwanderer aus der Türkei, dann waren es eben jene einfachen Kebapcı, die Dönerverkäufer. Sie waren die Kundschafter. Sie wagten sich, kaum war die Mauer gefallen, in den Wilden Osten vor. Sie, und nicht die staatlich subventionierten und verbeamteten Integrationsspezialisten, bauten in der Gluthitze des Dönergrills Brücken der Verständigung. Tagtäglich stellten sie sich den neugierigen und immer gleichen Fragen ihrer Kundschaft: »Mehmed, wie ist das eigentlich bei euch da unten?« – »Heinz, glaubst du wirklich, dass wir da noch im Eselskarren durch die Gegend gurken? Fahr mal nach Antalya. So einen Urlaub, wie du ihn dort verbringen kannst, hast du noch nicht erlebt.«

Die Kebap-Verkäufer sind die wahren, da allgegenwärtigen Botschafter der türkischen Kultur. Für die deutsch-türkische Beziehung haben sie mehr geleistet als zum Beispiel wir, die Journalisten. 1996, als ich mit Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam eine erste Kulturgeschichte des Döner Kebaps vorlegte, habe ich die Entwicklung so positiv gesehen. Es waren die Jahre Fünf und Vier nach den Terroranschlägen in Mölln und Solingen. Den Brandanschlägen fielen 1991 und 1992 türkische Familien zum Opfer. Acht Menschen, darunter Kinder, starben, dreißig wurden zum Teil schwer verletzt. Es war der vorläufige Höhepunkt einer langen Serie antitürkischer Gewalttaten.

Das Buch sollte einen Beitrag dazu leisten, die völkische Offensive im Zuge der Wiedervereinigung mit einer neuen Erzählung zu überwinden und ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken aufzuschlagen. Die Deutschen adoptierten den Döner Kebap und er wurde ihr beliebtestes Fast Food – vor der Pizza, vor der Currywurst und vor dem Hamburger. Diese Liebe kann doch nicht folgenlos sein, lautete die Botschaft. Oder um es in den Worten der Historikerin Maren Möhring einmal etwas akademischer auszudrücken: »Die besondere Bedeutung des Essens für die Identitätskonstruktion liegt darin begründet, dass die Nahrung in den eigenen Körper aufgenommen wird und damit im materiellen Sinne ein Teil des eigenen Selbst wird.«7

Der Optimismus schien berechtigt. Mit dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung im Herbst 1998 bekannte sich Deutschland endlich zu dem, was nicht mehr zu leugnen war: Wir sind ein Einwanderungsland! Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 wurden die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt. Deutschsein war von nun an nicht mehr allein an Abstammung und das Blut gebunden. Deutsche und Deutscher konnte nun werden, wer in diesem Land geboren wurde, beziehungsweise dieses Land zum Lebensmittelpunkt für sich gemacht hatte. Es gab vor 25 Jahren viele Gründe, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Das in der Dönerindustrie akkumulierte Kapital ermöglichte soziale Aufstiege. Mehr und mehr Kinder der »Gastarbeiter« studierten. Manche wurden erfolgreiche Anwälte, andere Journalisten und wieder andere entwickelten als Betriebswirte oder Veterinäre die Dönerproduktionen und Fast-Food-Imbisse ihrer Eltern weiter. Andere folgten den Fußstapfen ihrer Eltern und arbeiteten im Niedriglohnsektor.

35 Jahre nach ihrem Beginn im Oktober 1961 entwickelte sich die Einwanderung aus der Türkei zu einem Erfolgsmodell. Etwas Neues entstand mit dem Döner Kebap. Er war nicht mehr Türkisch und er war nicht Deutsch, er war etwas Hybrides. Zeitgleich mit dem Buch Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam betrat Feridun Zaimoglu mit »Kanak Sprak« die Bühne und mischte von da an die deutschsprachige Literaturszene mit mutigen Romanen und spektakulären Theateraufführungen auf. Im gleichen Jahr wurde aus Şermin Özel Shermin Langhoff und etwas später die Intendantin des Maxim Gorki Theaters, welches sich unter ihrer Leitung zum Epizentrum der postmigrantischen Kulturszene entwickelte. 1998 gründete sich Kanak Attak, ein Zusammenschluss von klugen und selbstbewussten Menschen, die sich in ihrem Manifest ausdrücklich als »kein Freund von Mültikültüralizm« bezeichneten.8 Sie kritisierten den dominanten Einwanderungsdiskurs um Multikultur als rassisfizierend und identitätspolitisch – als tendenziell rassistisch. Und mit Cem Özdemir saß der erste Abgeordnete mit türkischem Hintergrund im Deutschen Bundestag. Deutsch-Türken konnten von jetzt an alles sein: Steuerberater, Arbeiter, Unternehmer, Arbeitslose, Spekulanten, Kriminelle, Sozialhilfebezieher, Politiker, Künstler, Prostituierte, Eltern, Alleinerziehende, Schwule, Lesben, Schönheitsköniginnen, Gottlose, Muslime, Aleviten, Sunniten, Christen, Juden, Lasen, Kurden, Assyrer, Yeziden, Handwerker, Putzfrauen, Istanbuler, Anatolier, Dumme und Kluge, Eiferer und Pragmatiker, Mörder und Polizisten, Schriftsteller und Analphabeten – und auch Dönerimbissbetreiber. Nicht mehr und nicht weniger.

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Das war vor dem 11. September 2001. Bevor aus den uns Altdeutschen9 immer ähnlicher werdenden Deutsch-Türken plötzlich in den medialen Diskursen gefährlich fremde Muslime wurden. Das alles geschah, bevor der Begriff »Döner-Morde« von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2011 erklärt wurde. Zur Erinnerung: Sieben Jahre lang, zwischen 2000 und 2006, ermordeten Mitglieder des terroristischen »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer und eine Polizistin, zündeten eine Nagel- und mindestens zwei Rohrbomben. Die Polizei vermutete bis zum 4. November 2011 Killer aus dem türkischen Drogenmilieu hinter diesen Morden und verbreitete diese Legende. 2005 prägte sie den Begriff »Döner-Morde«, der von der Presse übernommen wurde. Das alles fußte auf keinerlei Fakten, wie wir heute wissen, sondern allein auf rassistischen Vorurteilsstrukturen in Polizei und Presse.

Die Morde der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« waren nach 1945 einer der gewaltsamsten Versuche des völkischen Milieus, in Deutschland eine ethnische Homogenität zu erzwingen. Der Terror richtete sich gezielt gegen Gewerbetreibende, die als Türkisch markiert wurden. Das ist kein Zufall, sondern politische Strategie, denn ihre Lebensmittelläden und Dönerimbisse sind der sichtbarste Beweis der Auflösung der ethnischen Homogenität durch Migration. Sie und ihre Familien sollten terrorisiert werden. Die Täter verzichteten auf Bekennerschreiben, sie wussten: Anders als die Behörden und die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft verstehen die potenziellen Opfer, also die Angehörigen der türkischen Minderheit, die Intention ihrer Taten auch so – die Verbreitung von Verunsicherung, Angst und Terror. Das perverse Kalkül der Terroristen ging auf.

Die Terroristen des NSU folgten damit bereits in den Nullerjahren einer Strategie, die der rechtsextreme französische Philosoph Renaud Camus, ein Vordenker der rechtsextremen Front National (heute Rassemblement National), seit 2010 in seiner Schrift und Theorie des »Großen Austauschs« und der »Auflösung der Völker« propagiert – einem Bestseller in der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreichs und Deutschlands. Camus fordert genau dies: Den Migranten das Leben, notfalls mit Gewalt, so unbequem wie möglich zu machen, um sie zum Verlassen des Landes zu zwingen. Auch der rechtsextreme Attentäter von Christchurch in Neuseeland, dem 51 Menschen zum Opfer fielen, und der Attentäter auf die Synagoge und den »Kiez-Döner« in Halle, Stephan Balliet, bezogen sich auf Renaud Camus.

Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, nach vernichteten Akten, toten Zeugen, verschwundenen Beweismitteln und dem offensichtlich mangelnden Willen zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes gibt es viele Gründe, zornig zu sein. Zornig darüber, wie viele Opfer rechtsextremen Terrors seit 1949 in Deutschland, ähnlich der Morde des NSU, falsch interpretiert wurden. Es gibt nicht nur die unbestrittenen 213 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990.10 In den vierzig Jahren davor gab es ebenfalls Dutzende, Hunderte. Allerdings wurden viele von der Polizei nicht als Opfer rechtsextremistischer Gewalt erkannt. Und wenn doch ein rechter Terroranschlag als solcher ausgemacht wurde, wie die Ermordung des jüdischen Verlegers Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke 1980 in Erlangen, oder der Brandanschlag im gleichen Jahr auf ein Flüchtlingswohnheim in Hamburg, bei dem zwei junge Vietnamesen, Ngoc Nguyen und Anh Lan Do, starben, dann hat das kollektive Gedächtnis die Opfer längst vergessen.

Die Mehrheitsgesellschaft blieb über Jahrzehnte angesichts rechtsextremer Gewalt stoisch gelassen. Und auch heute noch empfindet sie zivilgesellschaftliche Akteure, die nicht aufhören darauf hinzuweisen, sehr schnell als nervig, störend und in altdeutscher Denke als Querulanten. Dass sie auch anders kann, zeigen ihre völlig anders gelagerten Reaktionen auf den Terror der RAF zwischen 1971 und 1993. Es ist schlimm genug, dass man einen solchen Vergleich zumindest für die ersten 50, 60 Jahre der Bundesrepublik ziehen muss. Aber er lehrt: Die Mehrheit fühlt rechts. Wäre es anders, wäre vieles in der Bekämpfung des Rechtsextremismus anders gelaufen.

Der institutionelle Rassismus in den Behörden, ihr Bild von der türkischen Minderheit in Deutschland und, wie wir heute wissen, rechtsextreme Netzwerke in Polizei, Militär und Nachrichtendiensten, haben mit dazu beigetragen, den rassistischen Gehalt der Anschläge des NSU nicht zu verstehen. Die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und der Medien der von den Strafverfolgungsbehörden in die Welt gesetzten Legende einer türkischen Mafia willig zu folgen, erschüttert das Verhältnis der Deutschen mit Migrationsgeschichte aus der Türkei und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bis heute. Viele Deutsch-Türken spürten in den Jahren vor der Selbstenttarnung des NSU, im Verlauf der »Döner-Morde«, welch tödlicher Rassismus da in Deutschland im Untergrund brodelt. Die Folge: Zwischen 2006 und dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 emigrierten mehr Deutsch-Türken in die Türkei, als von dort nach Deutschland einwanderten.

Ein unbeschwertes Reden über den Döner Kebap ist nach den »Döner-Morden« und der medialen Inszenierung einer »Döner-Mafia« (siehe Kapitel 5) nicht mehr möglich. Dennoch sollten wir uns dagegen wehren, dass unsere Narrative von den Rechten diktiert werden. Dieses Buch möchte den Döner Kebap der rassistischen Vereinnahmung entreißen. Es möchte ihm wieder den besonderen und ehrenvollen Platz in der Migrationsund der Nachkriegsgeschichte Deutschlands zuweisen, der ihm gebührt.

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Um die Verdienste der Dönerproduzenten für die Ernährungslage in Deutschland im vollen Umfang zu würdigen, werfen wir einen kurzen Blick zurück: »Die jüngeren Einwanderer entbehren sehr ihre gewohnten, scharf gewürzten Speisen«, berichtete der Berliner Tagesspiegel im Juni 1956 mitfühlend.11 Die Folgen waren besorgniserregend: »So kommt es, dass der Wirtschaftsstudent Vecdi Demirkol in zwei Jahren vierzehn Pfund abgenommen hat und – bei aller Liebe zu Berlin – schon Magenverstimmung bekommt, wenn er nur an das Berliner Essen denkt«. 1956 lebten in der Stadt einhundert Türken. Die Kaufleute, Wissenschaftler, Handwerker und Studenten vereinte das kulinarische Martyrium. Schutz- und alternativlos waren sie Eisbein, Erbsenpüree, Buletten, Sauerkraut, Kohlrouladen, Matjesfilet mit Pellkartoffeln, Curry- und Bockwürsten ausgesetzt. In den Lebensmittelgeschäften fehlte so ziemlich alles, was für den heimischen Speisezettel unentbehrlich war. Zucchini? – Fehlanzeige. Auberginen? – Unbekannt. Sucuk, Lokkum, Pide und Baklava? – Fremdworte. Joghurt, Schafskäse, Oliven, Lammfleisch? – Wenn man diese Produkte überhaupt finden konnte, werden sie zu astronomischen Preisen gehandelt. Zumindest sprengten sie den finanziellen Rahmen eines Studenten. Der europäische Binnenmarkt war erst im Entstehen begriffen, der Wechselkurs der D-Mark noch nicht so konsumentenfreundlich wie der Euro heute. Und natürlich gab es noch nicht an jeder Ecke einen türkischen Gemüsehändler, der seine Landsleute mit dem lebensnotwendigen Sortiment versorgte. Die kleine türkische Gemeinde rückte notgedrungen enger zusammen: »Ein Glück daher, dass die Türken so gastfreundlich sind, dass sie einander hin und wieder zu einem heimatlichen Festschmaus einladen. Aram Pestemalci, der Teppichhändler, brät sogar manchmal einen ganzen Hammel am Spieß, damit sich seine Gäste bei ihm wie zu Hause fühlen.«12

Wir wissen nicht, ob der Student Demirkol zu Pestemalcis Tafelrunde gehörte. 15 Jahre später hätte sein Leiden schließlich ein Ende gehabt. Anfang der Siebzigerjahre, inzwischen lebten 40 000 Türken in Berlin, eröffneten Export- und Importläden. Und 1970 gab es bereits die ersten fünf türkischen Lebensmittelgeschäfte. Und einige Entschlossene warfen in Berlin-Kreuzberg und in Schöneberg ihren Döner-Grill an und boten für zwei bis drei Mark (zwei Mark sind ein Euro) die Portion geschnetzeltes Kalbs- und Lammfleisch im Fladenbrot an. Sie ahnten nicht, dass sie damit den Grundstein für eine Industrie legten, die in den nächsten vierzig Jahren jährlich traumhafte Umsatzsteigerungen erzielen würde. Eine Industrie, die Jahrzehnte später den europäischen, ja selbst den türkischen Markt erobern würde.

Die bundesweit jährlich verzehrte rund eine Milliarde Döner-Kebap-Sandwiches beweist, dass Deutschland längst auf den Döner gekommen ist. Jeder Bundesbürger isst im statistischen Mittel 2,25 Kilogramm Döner – wovon eine Hälfte auf Geflügelfleisch und die andere auf Kalbfleisch entfällt. Ein dichtes Netz von 18 500 Dönerimbissen und türkischen Restaurants macht die Deutschen zu den führenden kulinarischen Orientalisten der westlichen Hemisphäre.13

Aber Berlin ist und bleibt ohne Zweifel Zentrum der Dönerrepublik. Rotierten 1983 in Berlin rund 200 Drehspieße in friedlicher Nachbarschaft zu den allgegenwärtigen Wurstbratereien, waren es 1988 bereits 400. Heute hat Berlin mit rund 1600 Döner-Verkaufsständen die Mitkonkurrenten auf ihre Plätze verwiesen.14 Neue Produktionsverfahren in der Dönerindustrie, neue Präsentationsformen und Rezepte werden nicht in Istanbul, London oder New York entwickelt, sondern in der Döner-Kebap-Metropole der Welt. Hier hat auch der 2010 gegründete Verein Türkischer Dönerhersteller in Europa (ATDID e. V.) seinen Sitz am Kurfürstendamm.

Von Berlin aus wurden in den Achtziger- und Neunzigerjahren zunächst die alten, dann die neuen Länder im Sturm erobert, in den Nullerjahren dann die Konsumentenmärkte in Polen, Skandinavien, Frankreich, Spanien, Österreich, Portugal, den baltischen Staaten, Tschechien und Ungarn.

Die Erfolgsbilanz der Dönerindustrie in nüchternen Zahlen: Derzeit beläuft sich der Dönerkonsum in Deutschland auf etwa 550 Tonnen täglich, also auf rund 200 000 Tonnen im Jahr. Etwa die gleiche Menge wird in Deutschland täglich für den Export produziert. Das ergibt die tägliche Produktionsmenge von 1000 Tonnen, von der Gürsel Ülber, Vorsitzender des Verbandes der Dönerhersteller in Europa, bei unserem Gespräch im Herbst 2018 ausgeht.15 Bei einem Endverkaufspreis von bundesweit durchschnittlich fünf Euro werden allein mit dem Verkauf von einer Milliarde Döner-Sandwiches, Dürüm Döner und Dönerboxen in den Dönerimbissen fünf Milliarden Euro umgesetzt. Das ist deutlich mehr als McDonald’s mit seiner gesamten Produktpalette. 2020 erzielte der Hamburgerkonzern in Deutschland laut des Portals Food Service einen Umsatz von 3,15 Milliarden Euro. Um Gleiches mit Gleichem zu vergleichen, muss auch bei den Dönerimbissen und Restaurants nicht nur der Döner, sondern die gesamte Produktpalette berücksichtigt werden; also auch der Verkauf der Currywürste, des Böreks, der türkischen Pizzas, der Getränke und der Süßigkeiten. Auf diese Weise werden aus den fünf Milliarden Euro sehr schnell sieben, acht Milliarden Euro und mehr.

Damit machen die Dönerimbisse und die türkischen Restaurants etwa genauso viel Umsatz wie die zehn Größten der Systemgastronomie in Deutschland zusammen. Ihr Umsatz betrug nach Angaben von Food Service 2018 rund sieben Milliarden Euro.16 Im Einzelnen:

McDonald’s

3470 Millionen

Burger King

955 Millionen

Lufthansa Service Holding

909 Millionen

Autobahn Tank & Rast GmbH

647 Millionen

Nordsee GmbH

272 Millionen

Subway GmbH

254 Millionen

Edeka

239 Millionen

Ikea Deutschland

230 Millionen

Starbucks

160 Millionen

Marché Möwenpick

134 Millionen

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