Über dieses Buch

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In einer kleinen Bahnstation in der Steppe ist ein Arbeiter gestorben. Doch während sich die Trauerkarawane auf den Weg macht, ihm die letzte Ehre zu erweisen, starten nicht weit entfernt mehrere Raketen. – Aitmatows Roman ist Vision und Warnung vor einer nicht mehr zu kontrollierenden, Geist, Vernunft und Natur auslöschenden Technik geblieben.

Tschingis Aitmatow

Tschingis Aitmatow (1928-2008) erlangte mit Dshamilja Weltruhm. Sein Werk fußt auf den Erzähltraditionen Kirgisiens und verarbeitet die Grundfragen der Zeit.

Charlotte Kossuth (*1925) war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Tschingis Aitmatow

Ein Tag länger als ein Leben

Roman

Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die russische Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel I dol’še veka dlitsja den’.

Originaltitel: I dol’se veka dlitsja den’ (1981)

© by Tschingis Aitmatow 1981

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30756-8

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Version vom 09.07.2020, 09:43h

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Und dieses Buch, es ist mein Körper,
Und dieses Wort, es ist meine Seele …

Grigor Narekazi
Klagegesang, 10. Jahrhundert

1

Die Beutesuche in den ausgetrockneten Mulden und verkahlten Schluchten forderte große Geduld. Während der hungrige Fuchs auf seiner Mäusejagd dem geradezu schwindelerregend wirren Hin und Her der kleinen Wühler nachspürte, bald fieberhaft einen Zieselbau aufscharrte, bald abwartete, ob nicht eine unter dem Überhang einer alten Wasserrinne verborgene Springmaus endlich herausschoss und er sie augenblicks hätte schlagen können, näherte er sich von fern langsam und unbeirrt den Bahngleisen, dem dunkel sich abhebenden, geradlinig aufgeschütteten Damm in der Steppe, der ihn lockte und zugleich abschreckte, auf dem, mal in die eine, mal in die andere Richtung, das Land schwer erschütternd, ratternde Züge rasten und brandigen Qualm zurückließen, dessen beizende Gerüche der Wind übers Land trieb.

Gegen Abend lagerte sich der Fuchs seitlich der Telegrafenlinie auf dem Grund einer kleinen Schlucht, in einer dichten und hohen Insel aus dürrem Pferdesauerampfer, und harrte, neben den dicht mit Samen besetzten dunkelroten Stängeln zu einem rotbraun-strohgelben Knäuel zusammengerollt, geduldig der Nacht; nervös ließ er die Ohren spielen und lauschte ständig auf das dünne Pfeifen des Bodenwindes in den hart raschelnden toten Gräsern. Auch die Telegrafenmasten summten ermüdend. Der Fuchs fürchtete sie jedoch nicht. Die Masten blieben immer an ihrem Platz, sie konnten ihn nicht verfolgen.

Der betäubende Lärm der Züge hingegen, die in regelmäßigen Abständen vorüberfuhren, schreckte ihn jedes Mal auf und ließ ihn sich noch fester zusammenkrümmen. Durch den dröhnenden Boden spürte sein zarter Körper, spürten seine Rippen die ungeheuerliche Kraft der erddurchdringenden Wucht und Schwerlastigkeit, mit der die Züge dahinsausten, und doch blieb er in der Schlucht, überwand er die Furcht und den Widerwillen vor fremden Gerüchen und wartete auf seine Stunde, da es mit Anbruch der Nacht auf den Eisenbahngleisen ruhiger würde.

Er kam äußerst selten hierher, nur wenn der Hunger ihn allzu sehr plagte …

Sowie keine Züge fuhren, trat in der Steppe jähe Stille ein wie nach einem Erdrutsch, und in dieser tiefen Stille nahm der Fuchs einen beunruhigenden Laut hoch droben über der dämmerigen Steppe wahr, kaum zu hören, unbestimmbar. Das war ein Spiel von Luftströmungen, es verhieß baldigen Wetterwechsel. Instinktiv spürte es das kleine Tier und erstarrte bitter, am liebsten hätte es laut aufgeheult, gekläfft im vagen Vorgefühl eines allumfassenden Unglücks. Der Hunger war jedoch stärker als selbst dieses Warnzeichen der Natur.

Der Fuchs winselte nur leise, während er sich die vom Laufen zerschundenen Pfotenkissen leckte.

In jenen Tagen wurden die Abende bereits kalt, es ging auf den Herbst zu. Nachts kühlte der Boden schnell aus, und bei Tagesanbruch überzog sich die Steppe wie Salzboden mit einem weißlichen Anflug kurzlebigen Reifs. Eine karge, unfrohe Zeit lag vor dem Steppentier. Das seltene Wild, das sich sommers in diesen Landstrichen aufhielt, war verschwunden – teils in warme Gegenden, teils in Höhlen, teils war es über Winter in die Wüste gewechselt. Jetzt beschafften sich die Füchse Nahrung, indem sie einzeln durch die Steppe streiften, als wäre die Gattung Fuchs ausgestorben. Die Jungtiere des Jahres waren bereits herangewachsen und auseinandergelaufen; die Zeit der Liebe aber stand noch bevor, da sich die Füchse im Winter von überall her zu neuen Begegnungen zusammenfinden und die Rüden in ihren Kämpfen mit der Kraft aufeinanderprallen, die dem Leben eignet seit Erschaffung der Welt.

Bei Anbruch der Nacht verließ der Fuchs die Schlucht. Lauschend verharrte er kurz und schnürte dann zum Eisenbahndamm, wechselte lautlos bald auf die eine, bald auf die andere Seite der Gleise. Er spähte nach Speiseresten, die Reisende aus den Wagenfenstern warfen. Lange musste er die Böschung entlanglaufen und allerlei Dinge beschnuppern, die widerlich rochen und ihn reizten, ehe er auf etwas halbwegs Brauchbares stieß. Die ganze Bahnstrecke war verschmutzt von Papierfetzen und zerknüllten Zeitungen, zerschlagenen Flaschen, Zigarettenstummeln, verbeulten Konservendosen und anderem Abfall. Besonders ekelhaft war der Gestank aus den Hälsen von heil gebliebenen Flaschen – geradezu betäubend. Nachdem ihm bereits zweimal davon taumlig geworden war, vermied er es, den Spritdunst einzuatmen. Fauchend sprang er jedes Mal rasch beiseite.

Das, wonach ihn verlangte, worauf er sich so lange vorbereitet und weswegen er seine Furcht bezwungen hatte, begegnete ihm nicht – wie zum Trotz. In der Hoffnung, doch noch Essbares zu finden, lief er unermüdlich weiter die Bahngleise entlang, huschte unentwegt von einer Seite des Damms auf die andere.

Plötzlich erstarrte der Fuchs mitten im Lauf mit angehobener Vorderpfote, als hätte ihn etwas überrascht. Im fahlen Licht des hohen, dunstigen Mondes stand er zwischen den Schienen wie ein Gespenst, ohne sich zu rühren. Das ferne Grollen, das ihn aufhorchen ließ, war nicht verschwunden. Noch war es weit entfernt. Die Lunte nach wie vor ausgestreckt, trat er unentschlossen von einer Pfote auf die andere, schon im Begriff, die Bahnstrecke zu verlassen. Doch unversehens begann er, noch hastiger die Böschung abzulaufen, immer noch in der Hoffnung, etwas zu entdecken, womit er sich stärken könnte. Er witterte es – gleich würde er auf einen Fund stoßen, obwohl von fern, wie ein unabwendbarer anschwellender Sturmangriff, Eisenrasseln und vielhundertfaches Räderklopfen näher kamen. Der Fuchs zögerte nur den Bruchteil einer Minute, aber das genügte – wie ein närrischer Schmetterling schreckte er auf und überschlug sich, als ihn von einer Gleiskrümmung her jäh die Nah- und Fernlichter voreinander gekuppelter Lokomotiven erfassten, als die mächtigen Scheinwerfer den vor ihnen liegenden Raum ausleuchteten und blendeten, die Steppe für einen Moment in weißes Licht tauchten und erbarmungslos ihre leblose Dürre bloßlegten. Der Zug aber ratterte todbringend über die Schienen. Die Luft roch auf einmal brandig und staubig, es kam auch ein Windstoß.

Hals über Kopf stürzte der Fuchs von dannen, immerfort sich umsehend, sich ängstlich zur Erde duckend. Das Ungeheuer mit den laufenden Lichtern polterte jedoch noch lange vorbei, klopfte noch lange mit den Rädern. Wieder sprang der Fuchs auf und suchte sein Heil in der Flucht.

Als er dann verschnauft hatte, zog es ihn erneut zur Eisenbahn, wo er seinen Hunger stillen könnte. Doch schon wieder sah er auf der Strecke Lichter, wieder schleppte ein Lokomotivenpaar einen langen Güterzug.

Da entschloss sich der Fuchs, einen weiten Bogen durch die Steppe zu machen; vielleicht käme er bei der Eisenbahn an einer Stelle heraus, wo keine Züge fuhren.

Die Züge in dieser Gegend fuhren von Ost nach West und von West nach Ost.

Zu beiden Seiten der Eisenbahn aber erstreckten sich in dieser Gegend große öde Landstriche – Sary-Ösek, das Zentralgebiet der gelben Steppe.

In dieser Gegend bestimmte man alle Entfernungen nach der Eisenbahn, wie nach dem Greenwicher Nullmeridian.

Die Züge aber fuhren von Ost nach West und von West nach Ost …

Um Mitternacht stapfte jemand lange und beharrlich zu seinem Weichenstellerhäuschen, zunächst direkt über die Bahnschwellen; als aber dann vorn ein Zug auftauchte, ließ er sich die Böschung hinabgleiten und arbeitete sich weiter vor wie im Schneegestöber, mit den Händen Wind und Staub abwehrend, die der Güterschnellzug aufwirbelte (das war ein Sonderzug, der überall freie Fahrt hatte und dann zur Sperrzone Sary-Ösek-1 abzweigte, dort hatten sie ihren eigenen Bahndienst, kurz, er fuhr zum Kosmodrom, daher war er auch durchgängig mit Zelttuchplanen abgedeckt, und auf den Flachwagen standen Militärposten). Edige begriff sofort, dass seine Frau zu ihm eilte, und zwar aus einem ernsten Grund. Aber die Dienstpflicht erlaubte ihm nicht, sich von seinem Platz zu entfernen, ehe der letzte Wagen mit dem Zugbegleiter auf der offenen Plattform vorübergerollt war. Sie signalisierten einander mit Laternen, dass auf der Strecke alles in Ordnung war, erst dann wandte sich der von dem ununterbrochenen Lärm halb ertaubte Edige der Frau zu.

»Was gibt es?«

Erregt sah sie ihn an und bewegte die Lippen. Edige hörte nicht, was sie sagte, verstand jedoch – hatte es gleich vermutet.

»Komm hierher, aus dem Wind.« Er führte sie ins Haus.

Doch bevor er aus ihrem Mund vernahm, was er ohnedies ahnte, machte ihn etwas anderes betroffen. Zwar hatte er auch früher schon bemerkt, dass es aufs Alter zuging, doch als sie nach dem schnellen Lauf so heftig keuchte, aus ihrer Brust ein so qualvolles Röcheln drang und ihre abgemagerten Schultern sich dabei so unnatürlich hoben, ergriff ihn Mitleid. Das grelle elektrische Licht in dem geweißten Eisenbahnerhäuschen zeigte mit einem Mal schroff die nun schon unausmerzbaren Falten auf Ükübalas bläulich angelaufenen Wangen (dabei war sie einmal eine stattliche Brünette gewesen, die dunkle Haut mit einem Anflug ins Weizenfarbene, die strahlenden Augen voll schwarzem Glanz), dazu dieser eingefallene Mund, der ein übriges Mal daran erinnerte, dass auch eine Frau, deren Zeit abgelaufen ist, nicht zahnlos sein muss (längst hätte er sie zur Bahnstation bringen und ihr Metallzähne einsetzen lassen sollen, mit denen heutzutage Alt und Jung rumläuft), und nicht zuletzt die grauen, ja schlohweißen Haarsträhnen, die ihr unter dem zurückgerutschten Tuch hervor ins Gesicht fielen – es gab ihm einen Stich ins Herz. Alt bist du geworden, bedauerte er sie insgeheim, bedrückt von einer gewissen eigenen Schuld. Und daher empfand er noch stärker wortlose Dankbarkeit, Dankbarkeit für alles auf einmal – für das, was sie in vielen Jahren gemeinsam erlebt hatten, und besonders dafür, dass sie jetzt mitten in der Nacht über die Gleise hierhergekommen war, zum entferntesten Punkt der Ausweichstelle, angetrieben von Achtung und Pflichtgefühl, weil sie wusste, wie wichtig für Edige war, dass sie herkam, um ihm den Tod des unglücklichen alten Kasangap mitzuteilen, des einsamen Greises, der in einer leeren Stampflehmhütte gestorben war, weil sie wusste, dass Edige der einzige Mensch auf Erden war, der sich das Ende des von allen verlassenen Mannes wirklich zu Herzen nahm, obwohl der Verstorbene weder sein Bruder gewesen war noch sein Schwiegervater.

»Setz dich, verschnauf ein Weilchen«, sagte Edige, als sie in das Häuschen getreten waren.

»Setz auch du dich«, sagte sie zu ihrem Mann.

Sie nahmen Platz.

»Was ist geschehen?«

»Kasangap ist gestorben.«

»Wann?«

»Gerade hab ich bei ihm hereingeschaut – was macht er wohl, denk ich mir, am Ende braucht er was. Ich gehe rein, Licht brennt, er sitzt an seinem Platz, nur der Bart ragt sonderbar empor. Ich trete näher. Kasangap, sag ich, Kasangap, möchten Sie vielleicht heißen Tee – aber er war schon …« Ükübalas Stimme versagte, Tränen quollen unter ihren geröteten und dünn gewordenen Lidern hervor, sie schluchzte auf und begann, still zu weinen. »So ist alles ausgegangen. Was war er doch für ein Mensch! Und als er starb, war keiner da, der ihm die Augen geschlossen hätte«, sagte sie gramvoll unter Tränen. »Wer hätte das gedacht! Ist gestorben …« Sie wollte hinzusetzen: »wie ein Hund auf der Straße«, zog es aber vor zu schweigen; wozu aussprechen, was ohnehin klar war. Schneesturm-Edige, wie er weit und breit genannt wurde, denn er tat seit Kriegsende auf der Ausweichstelle Schneesturm-Boranly Dienst, saß finster auf seiner Bank, die schweren, knorrigen Hände auf den Knien, und hörte seiner Frau zu. Der Schirm seiner speckigen und zerschlissenen Eisenbahnermütze überschattete seine Augen. Woran mochte er denken?

»Was machen wir jetzt?«, fragte seine Frau.

Edige hob den Kopf und musterte sie mit bitterem Lächeln. »Was wir machen? Was tut man in solchen Fällen? Begraben werden wir ihn.« Er richtete sich auf wie jemand, der bereits einen Entschluss gefasst hat. »Weißt du was, Frau, geh schnell zurück. Aber erst höre, was ich dir sage.«

»Ich höre.«

»Wecke Ospan. Scher dich nicht drum, dass er der Chef der Ausweichstelle ist, das spielt keine Rolle, angesichts des Todes sind alle gleich. Sag ihm, Kasangap ist gestorben. Vierundvierzig Jahre hat der Mann an einem Platz gearbeitet. Ospan war wohl noch gar nicht geboren, als Kasangap hier anfing und man für kein Geld Leute hierher in die Steppe gelockt hätte. Zu seinen Leibzeiten sind hier mehr Züge durchgefahren, als wir Haare auf dem Kopf haben. Darüber soll er nachdenken. Sag ihm das. Und dann …«

»Ich höre.«

»Wecke alle der Reihe nach. Klopf an die Fenster. Wie viele sind wir schon – acht Häuser, die zählt man an den Fingern ab. Bring alle auf die Beine. Niemand darf heute schlafen, wo so ein Mensch gestorben ist. Bring alle auf die Beine.«

»Und wenn sie schimpfen?«

»Unsere Aufgabe ist, jedem Bescheid zu sagen, lass sie nur schimpfen. Sag, ich habe befohlen, sie zu wecken. Man muss doch ein Gewissen haben. Warte!«

»Was denn noch?«

»Zuerst lauf zum Fahrdienstleiter, heute ist es Schaimerden Dispatcher, überbring ihm alles und sag, er möge sich überlegen, wie wir es machen sollen. Vielleicht findet er eine Ablösung für mich. Wenn was ist, soll ers mich wissen lassen. Hast du mich verstanden? Sag ihm das!«

»Ich sags, ich sags«, erwiderte Ükübala, dann aber griff sie sich plötzlich an den Kopf, als erinnere sie sich unversehens an das Wichtigste, das sie unverzeihlicherweise vergessen hatte. »Aber seine Kinder! Meine Güte! Denen müssen wir doch zuallererst die Nachricht schicken – oder etwa nicht? Der Vater ist gestorben …«

Edige zog ein abweisend finsteres Gesicht bei diesen Worten, blickte noch strenger. Äußerte sich nicht.

»Wie sie auch sein mögen, Kinder sind nun mal Kinder«, fuhr Ükübala fort, denn sie wusste, Edige hörte das nicht gern.

»Ich weiß …« Er winkte ab. »Begreife ich denn gar nichts? Das ist es ja, ohne sie geht es nicht, aber hätte ich etwas zu bestellen – ich ließe sie nicht in die Nähe.«

»Edige, das ist nicht unsere Sache. Sollen sie nur kommen und ihn selber beerdigen. Sonst verfolgt uns Gerede bis zum Lebensende.«

»Hindere ich sie etwa daran? Sollen sie doch kommen.«

»Aber wenn es der Sohn nicht schafft aus der Stadt?«

»Der schafft es schon, wenn er will. Vorgestern noch, als ich auf dem Bahnhof war, hab ich ihm selber ein Telegramm durchgegeben: Dein Vater liegt im Sterben. Was denn noch? Er hält sich für gescheit, da muss er doch begreifen.«

»Na, wenns so steht, mag es angehn«, gab sich die Frau unbestimmt mit Ediges Argumenten zufrieden und sagte, immer noch von ihren Überlegungen beunruhigt: »Schön wärs, wenn er mit seiner Frau käme, schließlich müssen sie den Schwiegervater beerdigen und nicht irgendwen.«

»Das müssen sie schon selber entscheiden. Wie können wir ihnen raten – es sind ja keine kleinen Kinder.«

»Ja, ja, freilich«, pflichtete Ükübala bei, trotz allem zweifelnd.

Sie verstummten.

Na, trödel nicht länger, geh, wollte Edige schon mahnen.

Die Frau hatte aber noch etwas zu sagen: »Seine Tochter, das Unglückswurm Aisada, auf der Station mit ihrem Mann, dem Saufsack, und mit den Kindern, die müssten doch auch zur Beerdigung zurechtkommen.«

Edige lächelte unwillkürlich und klopfte der Frau auf die Schulter.

»Du liebe Güte, um alles machst du dir Sorgen. Bis zu Aisada ist es doch bloß ein Katzensprung, gegen Morgen macht mal jemand einen Abstecher zur Station und sagt Bescheid. Sie wird natürlich kommen. Aber du, Frau, sei dir über eins im Klaren – Nutzen wird Aisada kaum bringen und Sabitshan schon gar nicht, auch wenn er der Sohn ist, ein Mann. Pass auf, sie kommen angefahren, was bleibt ihnen schon übrig, werden aber wie unbeteiligte Gäste rumstehen, beerdigen werden wir ihn, so ist das nun mal … Geh und tu, wie ich dich geheißen.«

Die Frau ging ein paar Schritte, blieb unschlüssig stehen und lief weiter. Da rief Edige ihr nach: »Vergiss nicht, geh zuallererst zum Fahrdienstleiter, zu Schaimerden, der soll mir jemand als Ablösung schicken, ich arbeite es später nach. Der Verstorbene liegt in einem leeren Haus, das geht doch nicht. Sag ihm das.«

Die Frau nickte und ging. Inzwischen begann auf dem Gleisbildtisch der Signalgeber zu summen und rot zu blinken – der Ausweichstelle Schneesturm-Boranly näherte sich ein neuer Zug. Auf Befehl des Fahrdienstleiters musste Edige ihn auf ein Nebengleis leiten, um einen Gegenzug durchzulassen, der sich gleichfalls vor der Ausweichstelle befand, nur an der Weiche vom entgegengesetzten Ende. Ein gewohntes Manöver. Während die Züge auf ihren Gleisen aneinander vorbeirollten, sah sich Edige hin und wieder nach der längs der Strecke entschwindenden Ükübala um, als habe er ihr noch etwas zu sagen vergessen. Zu sagen blieb natürlich genug – gibt es doch viel zu tun vor einer Beerdigung, und wem fällt schon alles sofort ein; doch nicht deshalb blickte er ihr nach – er hatte einfach gerade jetzt betroffen entdeckt, wie sehr seine Frau in letzter Zeit gealtert und zusammengefallen war, im gelben Dunst der trüben Bahnbeleuchtung sah man es deutlich.

Also sitzt uns das Alter bereits im Nacken, dachte er. Wie doch die Zeit vergeht – ein alter Mann bin ich mit einer alten Frau! Zwar konnte er sich beim Herrgott über seine Gesundheit nicht beklagen – er war noch kräftig, aber immerhin schon sechzig, sogar einundsechzig. Noch zwei Jahre, und sie können mich in Rente schicken, sagte sich Edige nicht ohne Spott. Doch er wusste, so bald würde er nicht in Rente gehen, und es wäre auch nicht so einfach, in dieser Gegend einen Mann für seine Stelle zu finden – als Streckenwärter und Wartungsarbeiter; Weichenwärter war er ja nur von Fall zu Fall, wenn jemand krank wurde oder in Urlaub ging. Es sei denn, jemand war erpicht auf den Zuschlag für die abgelegene Gegend und den Wassermangel. Das war kaum jemand. Wer von der heutigen Jugend würde sich dafür finden?

Um in den Ausweichstellen der Sary-Ösek zu leben, braucht man den rechten Charakter, sonst geht man zugrunde. Die Steppe ist gewaltig, der Mensch klein. Die Steppe ist teilnahmslos, ihr ist gleich, ob es einem schlecht geht oder gut, man muss sie nehmen, wie sie ist; dem Menschen aber ist es nicht gleich, wie die Welt um ihn beschaffen ist, er martert und quält sich, und ihm scheint, an einem anderen Ort, unter anderen Menschen, hätte er mehr Glück, hierher habe ihn nur ein Irrtum des Schicksals verschlagen. Daher verliert er sich angesichts der gewaltigen, unerbittlichen Steppe, entlädt sich sein Charakter wie der Akku von Schaimerdens dreirädrigem Motorrad. Schaimerden schont es dauernd, fährt selbst nicht und lässt andere nicht fahren. Da steht also das Fahrzeug unnütz herum, wird es aber mal gebraucht, dann springt es nicht an, die Anlassenergie ist erschöpft. So ist es auch beim Menschen in den Ausweichstellen der Sary-Ösek: Geht er nicht in der Arbeit auf, schlägt er nicht Wurzeln in der Steppe, gewöhnt er sich hier nicht ein – dann hält er schwerlich durch. Manche, die im Vorbeifahren aus den Wagenfenstern schauen, fassen sich an den Kopf – Herrgott, wie können hier Menschen leben? Weit und breit nur Steppe und Kamele! Und doch lebt man hier, ein jeder, solange er es erträgt. Drei Jahre, höchstens vier hält er durch, dann ist Schluss, dann lässt er sich auszahlen und fährt weg, möglichst weit weg.

In Schneesturm-Boranly haben nur zwei Menschen fürs ganze Leben Wurzeln geschlagen – Kasangap und er, Schneesturm-Edige. Aber wie viele haben sie kommen und gehen sehen! Über sich selbst kann er schwer urteilen, er hat gelebt und standgehalten, aber Kasangap hat hier vierundvierzig Jahre abgedient, und nicht etwa deshalb, weil er dümmer war als andere. Ein Dutzend anderer hätte Edige den einen Kasangap nicht aufgewogen. Und nun ist er nicht mehr, der Kasangap.

Die Züge hatten sich gekreuzt, der eine war nach Osten entschwunden, der andere nach Westen. Für eine Weile verödeten die Ausweichschienen von Schneesturm-Boranly. Und alles ringsum war plötzlich entblößt – die Sterne am dunklen Himmel schienen jetzt heller und klarer zu leuchten, der Wind fegte heftiger über die Böschungen, über die Schwellen und über das Schotterbett zwischen den schwach summenden, knackenden Schienen.

Edige ging nicht in das Häuschen. In Gedanken versunken, lehnte er sich an einen Mast. Weit vor sich, jenseits der Eisenbahnstrecke, unterschied er die vagen Umrisse von weidenden Kamelen. Sie standen unterm Mond, in Reglosigkeit erstarrt, und warteten die Nacht ab. Mitten unter ihnen erkannte Edige seinen zweihöckrigen großköpfigen Hengst – wohl das stärkste Kamel in der Sary-Ösek-Steppe, schnellfüßig, mit dem gleichen Spitznamen wie sein Herr: Schneesturm-Karanar. Edige war stolz auf ihn, es war ein Tier von seltener Kraft, allerdings auch nicht leicht zu lenken, denn Karanar war unverschnitten geblieben, ein Atan – in jungen Jahren hatte Edige ihn nicht kastrieren lassen, und später wollte er ihn nicht anrühren.

Neben anderen Arbeiten für den kommenden Tag nahm sich Edige vor, frühmorgens Karanar nach Hause zu treiben und ihm den Sattel aufzulegen. Es würde ihm zustatten kommen auf seinen Wegen für die Beerdigung. Noch andere Besorgungen fielen ihm ein.

In der Ausweichstelle aber schliefen alle noch ruhig. Mit den kleinen Stationsgebäuden an einer Seite der Schienen, mit den Wohnbauten unter gleichartigen Schiefersatteldächern waren es sechs von der Bahnverwaltung aufgestellte Fertigteilhäuser, dazu kamen das selbst errichtete Haus von Edige, die Lehmhütte des verstorbenen Kasangap, allerlei Wirtschaftshöfe, Anbauten, Schilfmatteneinzäunungen fürs Vieh und für andere Zwecke und im Mittelpunkt die mit Windmotor angetriebene, gelegentlich aber auch von Hand bediente Wasserpumpe, die hier in den letzten Jahren eingebaut worden war – das war auch schon die ganze Siedlung Schneesturm-Boranly.

Das war sie – angesichts der großen Eisenbahn, der großen Sary-Ösek-Steppe, ein kleines Verbindungsglied in dem, Blutgefäßen gleich, weit verzweigten System anderer Ausweichstellen, Stationen, Knotenpunkte, Städte … Das war sie – offen einsehbar, allen Winden auf Erden preisgegeben, besonders im Winter, wenn die Schneestürme übers Land fegen und die Häuser bis an die Fenster zuwehen, die Bahngleise aber unter Hügeln von hart gefrorenem Harsch verschwinden. Ebendarum wurde diese Ausweichstelle Schneesturm-Boranly genannt, in zwei Sprachen steht auf ihrem Stationsschild der Name »Schneesturm« – Kasachisch: Boranly; und Russisch: Buranny.

Edige erinnerte sich: Bevor auf den Streckenabschnitten alle möglichen Schneeräumgeräte aufgetaucht waren – solche, die den Schnee in Strahlen wegschossen, die ihn mit Kielmessern beiseiteschoben und andere –, kämpften Kasangap und er mit den Gleisverwehungen, man kann schon sagen: auf Leben und Tod. Ihm schien, als wäre das noch gar nicht so lange her. Wie grimmig waren doch die Winter ʼ51, ʼ52 gewesen! Nicht nur an der Front musste man sein Leben einsetzen für eine einmalige Tat – bei einer Attacke, einem Handgranatenwurf unter einem Panzer … Auch hier gab es so etwas. Sogar wenn einen keiner tötete. Selber brachte man sich um. Wie viele Verwehungen hatten sie weggeschippt, auf Schleppen beseitigt, sogar in Säcken hatten sie den Schnee hochgetragen – das war am Kilometer sieben gewesen, dort führte die Strecke tief durch einen zerschnittenen Hügel, und jedes Mal sah es so aus, als wäre es das letzte Gefecht mit dem wirbelnden Schneetreiben und als könne man sogar froh sein, wenn der Teufel dieses Leben holte, wenigstens würde man nicht mehr hören müssen, wie in der Steppe die Lokomotiven heulen – freie Fahrt, freie Fahrt!

Doch jene Schneemassen waren getaut, jene Züge längst dahingeeilt, jene Jahre vergangen. Keinen kümmert das heute noch, ob es so war oder nicht. Die Eisenbahnarbeiter von heute, krakeelende Typen der Wartungs- und Reparaturbrigaden, kommen hierher wie zur Stippvisite; und nicht etwa, dass sie es einem nicht glauben – sie begreifen nicht, ihnen will nicht in den Kopf: die Verwehungen und auf der Strecke bloß ein paar Mann mit Schaufeln! Nicht zu fassen! Einige von denen lachten sie sogar offen aus: »Wozu hattet ihr es denn nötig, eine solche Schinderei auf euch zu nehmen, was musstet ihr euch so fertig machen! Um nichts in der Welt hätten wir uns auf so was eingelassen! Geht doch zu des Teufels Großmutter, damit wären wir auf und davon – zum Mütterchen Bau oder sonstwohin, wo alles ist, wie sichs gehört. Für soundso viel Arbeit soundso viel Geld. Und gibts mal einen Feuerwehreinsatz – holt genug Volk zusammen, bezahlt die Überstunden … Für dumm habt ihr euch verkaufen lassen, ihr, Alten, und als Dummköpfe werdet ihr sterben!«

Liefen Kasangap solche »Neubewerter« über den Weg, so schenkte er ihnen keine Aufmerksamkeit, als berührte ihn das nicht, er lächelte nur spöttisch, als wüsste er etwas Bedeutsameres, was ihnen aber verschlossen blieb; Edige hingegen hielt es nicht aus, der konnte sogar explodieren, ließ sich auf Streit ein, verdarb sich damit aber nur die Laune.

Dabei hatte er sich mit Kasangap auch über die Dinge unterhalten, deren jetzt die zugereisten Typen in den Spezialwaggons der Wartungs- und Reparaturbrigaden spotteten, dazu über vieles andere, sowohl in früheren Jahren, als diese Schlauköpfe sicherlich noch als Hemdenmätze herumgelaufen waren, sie selbst aber, so gut sie verstanden, sich schon Gedanken über das Leben gemacht hatten, als auch später ständig – viel Zeit war seit jenen Tagen verflossen, seit dem Jahr ʼ45, und besonders, nachdem Kasangap in Rente gegangen war, dabei aber kein rechtes Glück gehabt hatte: Er war in die Stadt zum Sohn gezogen, doch nach drei Monaten wieder zurückgekehrt. Über vieles hatten sie damals gesprochen – wie und was alles geschieht auf Erden. Ein weiser Mann war Kasangap gewesen. Es gibt vieles, woran zurückzudenken lohnt. Und jäh begriff Edige mit völliger Klarheit, von Bitternis überflutet, dass ihm von nun an nur die Erinnerung blieb.

Edige hastete ins Haus, weil er vernahm, wie die Fernsprechanlage sich knackend einschaltete. Es rauschte und zischte in diesem albernen Apparat wie bei einem Schneesturm, ehe eine Stimme erklang.

»Edige, hallo, Edige«, krächzte Schaimerden, der Fahrdienstleiter der Ausweichstelle, »hörst du mich? Antworte!«

»Ich höre! Höre!«

»Hörst du mich?«

»Ja doch!«

»Wie hörst du?«

»Wie aus dem Jenseits!«

»Wieso aus dem Jenseits?«

»Einfach so!«

»Aha … Also der alte Kasangap, der Dingsda …«

»Was heißt Dingsda?«

»Na, der ist also gestorben.« Schaimerden suchte vergebens nach einem angemessenen Wort. »Wie soll ich sagen … Hat das gewissermaßen … vollendet … das Dingsda … na eben seinen Weg.«

»Ja«, entgegnete Edige knapp.

Blöder Kerl, dachte er, kann nicht mal über den Tod wie ein normaler Mensch sprechen.

Schaimerden schwieg sich eine Minute aus. In der Fernsprechanlage hörte Edige noch lauteres Rascheln, Knarren und Atemgeräusch. Dann krächzte Schaimerden: »Edige, mein Lieber, verdreh mir bloß nicht den Kopf mit diesem … Dingsda. Er ist tot, was sollen wir jetzt … Ich hab keine Leute. Warum musst du unbedingt daneben sitzen? Der Verstorbene, der Dingsda, der kommt davon auch nicht wieder auf die Beine, denk ich mir …«

»Und ich denk mir, du hast keinen blassen Schimmer!«, empörte sich Edige. »Was soll das heißen – verdreh mir nicht den Kopf! Du bist das zweite Jahr hier, ich aber habe dreißig Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Begreif doch. Ein Mensch ist bei uns gestorben, es gehört sich nicht, ist nirgends Brauch, einen Verstorbenen im leeren Haus allein zu lassen.«

»Was weiß der schon, ob er, der Dingsda, allein ist oder nicht?«

»Aber wir wissen es!«

»Na schön, hau bloß nicht auf die Pauke, Alter!«

»Ich erkläre es dir ja nur!«

»Was willst du denn? Ich hab keine Leute. Was kannst du da machen, sowieso ist Nacht.«

»Ich werde beten. Den Verstorbenen einkleiden. Für ihn beten.«

»Beten? Du, der Schneesturm-Edige?«

»Ja, ich. Ich kenne Gebete.«

»Da haben wirs – nach sechzig Jahren Dingsda … Sowjetmacht.«

»Lass die Sowjetmacht aus dem Spiel, was hat die damit zu tun! Am Totenbett beten die Menschen seit Urzeiten. Schließlich ist ein Mensch gestorben und kein Stück Vieh!«

»Na schön, dann mach dich an deine Dingsda, deine Gebete, bloß schrei nicht rum. Ich schicke nach Edilbai, wenn er einverstanden ist mit Dingsda, dann kommt er und löst dich ab … Aber jetzt fix, der Hundertsiebzehner ist gleich da, lenk ihn aufs zweite Nebengleis.«

Damit schaltete sich Schaimerden ab, ein letztes Mal knackte es in der Fernsprechanlage. Edige eilte zur Weiche, verrichtete seine Arbeit und überlegte, ob wohl Edilbai zustimmen, ob er kommen würde. Und seine Zuversicht wuchs – die Menschen haben doch ein Gewissen –, als er sah, wie in einigen Häusern die Fenster aufleuchteten. Hunde bellten. Also schlug seine Frau Alarm, brachte die Boranlyer auf die Beine.

Inzwischen war der Hundertsiebzehner auf das Nebengleis gerollt. Vom anderen Ende näherte sich ein Tankzug – Kesselwagen. Die Züge kreuzten sich – der eine fuhr nach Osten, der andere nach Westen.

Es ging schon auf zwei Uhr nachts. Die Sterne am Himmel gewannen an Leuchtkraft – ein jeder Stern für sich allein. Auch der Mond über der Steppe begann, etwas heller zu scheinen, mit frischer, allmählich anschwellender Kraft. Unter dem Sternenhimmel aber breitete sich weit und grenzenlos Sary-Ösek, nur die Konturen der Kamele – mitten unter ihnen der zweihöckrige Riese Schneesturm-Karanar – und die vagen Umrisse ihrer nächsten Rastplätze waren zu erkennen, alles Übrige zu beiden Seiten der Eisenbahn versank in nächtlicher Unendlichkeit. Der Wind hatte sich nicht gelegt, er pfiff unentwegt, raschelte in Unrat.

Edige, der ins Häuschen zurückgekehrt war, trat immerfort wieder heraus, hielt Ausschau nach dem Langen Edilbai. Da erblickte er seitab der Gleise ein kleines Raubtier. Es war der Fuchs. Seine Augen glitzerten, schillerten grünlich. Niedergeschlagen stand er unter einem Telegrafenmast, ohne näher zu kommen oder wegzulaufen.

»Was willst denn du hier?«, murmelte Edige und drohte ihm zum Spaß mit dem Finger. Der Fuchs erschrak nicht. »Nimm dich in Acht! Gleich werd ich dir …« Edige stampfte mit dem Fuß.

Der Fuchs sprang ein Stück zurück und setzte sich erneut, Edige zugewandt. Aufmerksam und bekümmert betrachtete er, wie es Edige schien, mit starrem Blick ihn oder auch etwas anderes neben ihm. Was hat ihn wohl hierhergezogen, warum ist er aufgetaucht? Haben ihn die elektrischen Lichter angelockt, ist er aus Hunger gekommen? Sonderbar dünkte Edige sein Verhalten. Warum eigentlich sollte er eine Beute, die ihm geradezu in die Arme gelaufen kam, nicht mit einem Gesteinsbrocken erledigen? Edige scharrte auf der Erde nach einem größeren Stein. Schätzte die Entfernung, holte weit aus und warf doch nicht. Ließ den Stein fallen. Geriet sogar in Schweiß. Teufel, was einem nicht alles in den Kopf kommt! War das nicht Unsinn? Als er sich anschickte, den Fuchs zu töten, war ihm unversehens eingefallen, wie jemand erzählt hatte – einer von jenen Brigadetypen oder der Fotograf, mit dem er sich einmal über Gott unterhalten hatte, oder sonst wer –, aber nein, Sabitshan, hol ihn der und jener, hatte es ihm erzählt, ewig faselt der von allerlei Wundern, bloß um beachtet zu werden, bloß um andere zu verblüffen. Von Sabitshan, Kasangaps Sohn, hatte er das gehört – von der Seelenwanderung nach dem Tode.

Einen unnützen Schwätzer hatten sie sich da herangezogen. Wenn man den Burschen zum ersten Mal sah, wirkte er ganz vernünftig. Er wusste alles, hörte alles, nur Nutzen brachte das wenig. Da hatten sie ihn durch Internate und Institute geschleust, aber was Rechtes war aus ihm nicht geworden. Er prahlt gern, trinkt gern, versteht es meisterhaft, Trinksprüche auszubringen, nur mit der Arbeit steht er auf Kriegsfuß. Kurz, eine taube Nuss, daher ist er, verglichen mit Kasangap, ziemlich unbedarft – was hilft da seine Protzerei mit dem Diplom. Missraten ist er, der Sohn, nicht nach dem Vater geschlagen. Aber was kann man machen, so ist er nun mal.