Michael Riekenberg

Gewalt

Eine Ontologie

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Sowohl in der Soziologie als auch in der Geschichtswissenschaft hat die Beschäftigung mit Gewalt in den vergangenen Jahren vielerlei Anregungen durch die »Neue Gewaltsoziologie« erfahren. Jedoch mehren sich in Fachkreisen die Zweifel, ob »dichte Beschreibungen« der Gewalt hinreichen, um sie zu verstehen, oder ob es nicht notwendig ist, Gewalt wieder stärker in Zusammenhänge zu stellen und aus ihnen heraus zu begreifen. Dieses Buch wählt einen gänzlich neuen Zugang: Es geht von der Anthropologie aus und versucht, deren Ergebnisse – insbesondere die Arbeiten der »Amazoniker«, meist französischer und brasilianischer Autoren, die hierzulande wenig gelesen werden – für den Entwurf einer Gewalttheorie zu nutzen, die verschiedene Wissenschaftsdisziplinen miteinander ins Gespräch bringt. In Gestalt eines Essays, in der Methode des Vergleichs und mit Blick auf nichtwestliche Kulturen gewinnt Michael Riekenberg faszinierende Gesichtspunkte und Kategorien, die es erlauben, in neuer Weise über die Gewalt in unserer Welt nachzudenken.

Vita

Michael Riekenberg ist Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1
Woher? Wohin?

Kapitel 2
Wovon spreche ich?

Kapitel 3
Eine Abschweifung

Kapitel 4
Ontologien

Kapitel 5
Der Mythos

Kapitel 6
Über Umgebungen

Kapitel 7
Über das Räuberische

Kapitel 8
Die Mimesis

Kapitel 9
Die Revolution

Kapitel 10
Metamorphosen

Kapitel 11
Die Furcht

Kapitel 12
Der Jaguar-Staat

Kapitel 13
Der Bürgerkrieg

Kapitel 14
Im Spiegel

Kapitel 15
Der gegenständliche Blick

Schluss

Anmerkungen

1. Woher? Wohin?

2. Wovon spreche ich?

3. Eine Abschweifung

4. Ontologien

5. Der Mythos

6. Über Umgebungen

7. Über das Räuberische

8. Die Mimesis

9. Die Revolution

10. Metamorphosen

11. Die Furcht

12. Der Jaguar-Staat

13. Der Bürgerkrieg

14. Im Spiegel

15. Der gegenständliche Blick

Schluss

Literatur

Namensregister

Vorwort

Ich schreibe dieses Buch wie einen wissenschaftlichen Essay. Dies soll es mir erlauben, mitunter nur meinen Eindrücken Ausdruck zu geben, nicht gesicherten Ergebnissen der Forschung, ohne deswegen freilich die wissenschaftliche Methodik aufzugeben. Zudem ist es mir auf diese Weise möglich, den Gegenstand aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu betrachten und mich nicht nur an die Erkenntnisse eines einzigen Fachs zu halten. Denn wenn ich dieses Buch auch als Beitrag zu einer Soziologie der Gewalt schreibe, so ist Gewalt doch zu weitläufig, als dass sie nur aus der Sicht der Soziologie behandelt werden könnte. 

Ein Essay mutet recht monologisch an, und auch dieses Buch führt meine Gedanken zum Thema aus. Aber natürlich beruhen diese Gedanken auf dem, was ich dazu gelesen habe. Ich will deshalb im Folgenden nicht auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichten; jedoch versuche ich, ihn klein zu halten, um den Charakter des Buches möglichst wenig zu stören. Werden Titel bereits im Text genannt und kann der Leser die benutzte Literatur daraus erschließen, so wird diese nicht mehr unbedingt in den Anmerkungen aufgeführt. Schließlich zitiere ich in diesem Buch mitunter aus meinen früheren Arbeiten, ohne dies ausdrücklich kenntlich zu machen oder darauf hinzuweisen. Jürgen Hotz danke ich für das wissenschaftliche Lektorat.

Nicht immer ist es in diesem Buch leicht, eine klare Grenze zwischen den eigenen Gedanken und den Einflüssen anderer Autoren zu ziehen. Auch gibt es vermutlich Überschneidungen. So spreche ich in diesem Buch von der Gewalt und dem Tod. Ich nehme an, dass es fernab der Gewaltsoziologie in anderer Literatur ähnlich lautende Sätze über den Tod und das Sterben gibt, ohne dass ich diese Literatur kennen würde oder sie je gelesen hätte.

Göttingen, Anfang 2019

Michael Riekenberg

Kapitel 1
Woher? Wohin?

Vermutlich findet jeder Wissenschaftler, der sich mit dem Gegenstand Gewalt auseinandersetzt, in seiner Lebensgeschichte Beweggründe, die erklären helfen, warum er sich in seinen Gedanken gerade damit beschäftigt. Oft sind es Gewalterlebnisse, die den Menschen dazu anhalten, dies zu tun – es sei denn, er zieht es vor, die Erinnerung daran zu verdrängen, weil sie ihn allzu sehr belastet. Meine Motive, über Gewalt zu schreiben, rühren aus der Zeit her, in der ich in Guatemala lebte. Als ich zu Anfang der 1980er-Jahre in dieses Land kam, befand es sich auf dem Höhepunkt eines Bürgerkriegs. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Eindrücke damals: Das Flugzeug landete spät am Abend, und als ich vom Flughafen der Hauptstadt in die Innenstadt gefahren wurde, war unser Wagen nahezu das einzige Fahrzeug auf den menschenleer erscheinenden Straßen. Irgendwann überholte uns ein Polizeiwagen. Seine Scheiben waren zerschossen, auf dem Rücksitz saß ein Polizist, der ein Gewehr nach hinten aus dem Fahrzeug richtete, ständig gewahr, dass er und seine Kollegen in der Dunkelheit in einen Hinterhalt geraten und angegriffen würden. So war mein erster Eindruck von diesem Land ein Gefühl drohender Gewalt, das mich all die Jahre, die ich in Guatemala lebte, nicht mehr recht los ließ. Damals, unter dem Eindruck meiner Erlebnisse im Bürgerkrieg, begann ich, mich als Wissenschaftler mit dem Phänomen der Gewalt zu beschäftigen, und seitdem habe ich nicht mehr aufgehört, dies zu tun.

Ich werde später im Buch, wenn es um die Epistemologie der Gewalt geht, die Frage erörtern, was es bedeutet, wenn derjenige, der über Gewalt schreibt, ihr selbst nahe war und wie sich dies auf das Verhältnis von Nähe und Distanz auswirken mag, das wir im Schreiben über die Gewalt aufsuchen müssen, wenn wir der Erregung der Gewalt, die wir in ihrer Gegenwart empfinden, nicht einfach nachgeben wollen. Denn Gewalt nimmt uns in ihren Besitz, sie befällt uns, zumindest gilt dies für die schreckliche Gewalt, von der allein in diesem Buch die Rede ist. Hier, in der Einführung in dieses Buch, geht es aber zunächst nur darum darzulegen, mit welchen Vorstellungen ich mich im Folgenden der Betrachtung des Gegenstands nähere. Da nun fällt der Blick als Erstes auf die »Neue Gewaltsoziologie«, die die Gewaltforschung hierzulande in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten erheblich geprägt hat. Begründet wurde sie in einem Aufsatz, den der Soziologe Trutz von Trotha im Jahr 1997 in der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« veröffentlichte. Trotha schrieb über die Gewalt als eine normale Machtaktion, die potenziell jedem Menschen zur Verfügung stehe, weil jeder Mensch aufgrund seiner Körperlichkeit über die Fähigkeit zum Angriff auf einen Anderen verfüge. Gewalt sei körperlicher Einsatz, sei physisches Verletzen und Leid, dies sei der unverzichtbare Bezugspunkt jeder Gewaltanalyse, schrieb Trotha. Und es sei das größte Versäumnis der älteren Gewaltforschung gewesen, auf diese Eigenschaft der Gewalt nicht eingegangen zu sein.

Trotha machte dies in einem Exkurs über das Verhältnis von Gewalt und Schmerz deutlich. Besondere Beachtung verdient dabei, dass er in diesem Zusammenhang auch auf die – wie er schrieb – »Nicht-Mitteilbarkeit« des Schmerzes einging. Jedoch griff er das damit verbundene epistemologische Problem, d. h. die Frage, was wir dann noch über Gewalt, die vom Schmerz begleitet wird, sagen können, wenn dieser Schmerz nicht erzählt werden kann, nicht auf. Vielmehr beließ er es bei dem Hinweis, dass unser Vokabular der Schmerzerzählung »bemerkenswert kärglich« sei, ein Urteil, das sich freilich von der Unerzählbarkeit des Schmerzes auf die Nichtmitteilbarkeit der körperlichen Gewalt übertragen lässt. Dem ging die Neue Gewaltsoziologie jedoch nicht weiter nach. Stattdessen beließ sie es bei dem Glauben, Gewalt könne in der Wissenschaft unumwunden erzählt und anderen Menschen auf diesem Weg mitgeteilt werden. Freilich war Anderes auch gar nicht möglich. Denn die direkte Erzählung der Gewalt wurde zum Programm der Neuen Gewaltsoziologie: Sie nahm sich zum Ziel, die, wie es hieß, »Gewalt selbst« zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen, was in methodischer Hinsicht voraussetzte, dass diese Gewalt unmittelbar erzählt und in die Sprache der Wissenschaft überführt und dort aufgehoben werden kann.

Um ihr Ziel zu erreichen, griff die Neue Gewaltsoziologie auf die »dichte Beschreibung« zurück, eine Methode, die der Kulturanthropologie entlehnt war. Die dichte Beschreibung geriet zum Königsweg, um die Nähe im Blick auf die Gewalt zu gewinnen, die die ältere Gewaltsoziologie, die sich nur für die Umstände der Gewalt interessiert habe, habe missen lassen. Dem lag jedoch von vornherein ein Missverständnis zugrunde. Denn der dichten Beschreibung geht es nicht um die detailgenaue Betrachtung des Gegenstands selbst, sie will sich gerade nicht mit den »äußerlichen, mechanischen, vergleichsweise nichtssagenden [Hervorhebung des Verfassers] Aspekten des Verhaltens«1 von Menschen befassen. Vielmehr sucht die Methode – manche ihrer Kritiker bezweifeln, dass es sich tatsächlich um eine Methode handelt und sie nicht nur eine Form der Intuition darstellt, ähnlich der Verstehenslehre in der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zu Beginn des 20. Jahrhunderts – nach den Bedeutungen, die den Handlungen von Menschen zugrunde liegen. Dies aber geschieht durch die Interpretation von Zeichen, nicht durch die Beschreibung von Handlungen. Nicht umsonst trug, was mitunter übersehen wird, der in der Literatur vielzitierte Aufsatz von Clifford Geertz, in dem er 1973 die Methode der dichten Beschreibung vorstellte, den Untertitel »Bemerkungen zu einer deutenden Theorie [Hervorhebung des Verfassers] von Kultur«. Und nicht umsonst wies Geertz auch darauf hin, dass das beste Mittel, eine dichte Beschreibung zu erzeugen, der Essay sei, nicht etwa eine sozialhistorische Mikrostudie. Somit aber saß die Neue Gewaltsoziologie in ihren konzeptionellen Überlegungen von Beginn an einem Irrtum auf, indem sie das »Nichtssagende« des äußeren Geschehens in das Zentrum ihrer Methode rückte. Vermutlich ist dies ein Teil der Erklärung, warum es der Neuen Gewaltsoziologie letztlich nicht gelang, ihr Anliegen, eine neue Anschaulichkeit der Gewalt zu entwerfen und durch diese Anschauung hindurch in das Innere der Gewalt vorzudringen, hinreichend zu theoretisieren.

Woher rührte dieser Wunsch, Gewalt »dicht« zu beschreiben, den Trotha wie Andere mit ihm dem Programm einer neuen Gewaltsoziologie zugrunde legten? Es liegt auf der Hand, dass die Neue Gewaltsoziologie nur in einer Gesellschaft erdacht werden konnte, die im Frieden lebt und keinen Krieg, Bürgerkrieg oder offene Gewaltkonflikte kriegsähnlicher Art zwischen staatlichen Ordnungskräften und bewaffneten Meuten kennt. Denn Menschen, die im Krieg oder in dazu verwandten Auseinandersetzungen Gewalt erleben, verspüren kein Bedürfnis, sich diese Gewalt in ihren Erzählungen gegenseitig »dicht« vor Augen zu führen. Ganz im Gegenteil: Sie meiden die Erzählung davon wie die damit verbundenen Bilder, weil sie die Beschädigung ihrer Seele fürchten, die in diesen Geschichten und den Erinnerungen daran für sie aufschimmert. Manchmal sind Menschen auch ganz einfach nur zu erschöpft, um über ihr Erleben der Gewalt zu sprechen. Betrachten wir die Fotos, die Kriegsberichterstatter im Zweiten Weltkrieg von Soldaten am Rand des Kampfes machten – ich habe eine Aufnahme aus dem Bundesarchiv vor Augen, die in der Panzerschlacht im Kursker Bogen, die im Sommer 1943 stattfand, Grenadiere der Waffen-SS in einer Kampfpause zeigt –, so sehen wir an den Gesichtern dieser Männer, dass sie weder in der Lage waren noch das Bedürfnis verspürten, über das zu sprechen, was sie gerade erlebt hatten und was sie wieder erwartete. Menschen, die Gewalt kennen, müssen sie sich nicht erzählen.

Somit war die Neue Gewaltsoziologie das Kind einer Zeit und Gesellschaft, in der das Zusammenleben der Menschen – mögen sich gegenwärtig auch gegenläufige Tendenzen zeigen und mag die Bereitschaft in Teilen der Bevölkerung wachsen, die Autorität des Staates und die Geltung seines Rechts und Gesetzes in Frage zu stellen – über Jahrzehnte hinweg in einem vergleichsweise hohen Maße befriedet gewesen ist. Und insofern stellten das Gewaltmonopol des Staates wie die Abwesenheit »großer« Gewalt gerade die Voraussetzungen dafür dar, dass die Wissenschaft sich in der Absicht der Gewalt zuwenden konnte, sie in ihren Erzählungen aufleben zu lassen. Denn erst die Distanz zu tatsächlicher Gewalt schafft den Schutz vor der Gewalt, den die Wissenschaft benötigt, um über sie sprechen zu können. Auf dieser Grundlage und von dem Wunsch geleitet, Menschen eine Gewalt nahe zu bringen, die sie nicht kennen, brachte die Wissenschaft in den zurückliegenden Jahren eindrucksvolle Beschreibungen der Gewalt hervor, nicht zuletzt in historischen Studien. Inzwischen wissen wir einiges mehr darüber, was mit Menschen in der Gewalt geschieht und was die Gewalt aus Menschen macht. Jedoch verspüren wir mittlerweile zugleich die große Müdigkeit, auch den Überdruss, die sich irgendwann einstellen, wenn wir immer neu die immer gleichen Erzählungen der Gewalt lesen, gleich, wo und wie sie sich zutrug oder in Zukunft zutragen wird. Und so stellt sich heute (in) der Gewaltsoziologie die Frage, ob wir nicht wieder ein Mehr an Kontextualisierung, nicht zuletzt auch an Theoriebildung benötigen, um nicht im bloßen Anblick der Gewalt zu verharren.

Dieses Buch setzt an diesem Punkt an. Es versucht, die Gewaltsoziologie über die engere Tat und die »dichte« Betrachtung der Gewaltsituation hinaus in ein neues analytisches Feld einzugliedern: das der ontologischen Anthropologie. Auf deren Grundlage sollen die Kategorien gewonnen und erörtert werden, die am Ende dieses Buches in die Skizze einer Gewalttheorie eingehen. Freilich muss ich vor einem Missverständnis warnen. Denn die ontologische Anthropologie trifft keine Aussagen darüber, was in der Gewalt geschieht oder wie sie »ist«. Sie erzählt keine Gewalt. Vielmehr folgt sie einer strukturalen Methode, in der es um systemische Beziehungen und formale Verfahren geht, in denen Gewalt sich darstellt, losgelöst von den kontingenten Handlungen Einzelner in der Gewalt, denen ohnehin keine Gewalttheorie Rechnung zu tragen vermag. Ich werde Gewalt in diesem Buch also als eine »Strukturtatsache« (Philippe Descola) betrachten, um auf diese Weise die Regelmäßigkeiten und verschiedenen Schemata zu erfassen, die die Art und Weise erklären helfen, wie Menschen sich in die Gewalt stellen.

Mein anthropologisches Wissen beziehe ich aus der Ethnographie, in erster Linie aus den Arbeiten der sogenannten Amazoniker, dies sind Forscher, die sich mit den Kulturen und Gemeinwesen in den südamerikanischen Regenwäldern befassen. Allerdings muss ich hier neuerlich eine Einschränkung vornehmen, weil ich auf dem Gebiet der Ethnographie wenig mehr als ein interessierter Beobachter bin, der einiges gelesen, das Fach aber nicht studiert hat. Auch ist meine Literaturkenntnis auf diesem Gebiet beschränkt und bezieht sich nahezu ausschließlich auf Süd- und Mittelamerika, die Regionen also, mit denen ich mich als Historiker beschäftige. Deshalb ist gut möglich, dass ich im Folgenden mancherlei Vereinfachungen vornehme oder Missverständnissen aufsitze, wenn ich über den Beitrag einer ontologischen Anthropologie zu einer Soziologie der Gewalt schreibe. Aber ich nehme das in Kauf. Denn die Ethnographie ist hilfreich, wenn wir in den Wissenschaften, die von Kulturen handeln, nach Dingen fragen wollen, die am Rand unserer Begriffswelt und ihrer Gewissheiten und Konventionen liegen. Und dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der die Geschichte wie auch deren Wissenschaft ja mehr und mehr darauf festgelegt werden, uns in der Betrachtung anderer Zeiten und Menschen nur mehr in dem zu bestätigen, was wir heute für gut und richtig halten. Freilich soll deshalb nicht der Eindruck erweckt werden, die Ethnographie könne uns Wahrheiten zeigen, die anderen Wissenschaften verborgen blieben. Das wäre unsinnig. Denn auch die Ethnographie macht nur das, was jede Kulturwissenschaft tut: sich mit ihren Begriffen und Vorstellungen beständig in den Gegenstand hineinzuschreiben und diesen dadurch erst für uns zu erzeugen. Diese »monologische Autorität« (James Clifford) teilt die Ethnographie mit allen Wissenschaften, die von Kulturen handeln und die deswegen allesamt Schöpfungsgeschichten sind.2

Für dieses Buch wähle ich aus der Ethnographie einen Ausschnitt. Vieles von dem, was im Folgenden geschrieben steht, geht zurück auf die Arbeit des französischen Anthropologen Philippe Descola über das Verhältnis von Natur und Kultur und die kategoriale Gegenüberstellung beider Bereiche, die in der Geschichte unserer technischen Zivilisation vollzogen wurde. Philippe Descola, ein Schüler des französischen Anthropologen und Soziologen Claude Lévi-Strauss (und wie jener ein Amazoniker und Strukturalist), ist in der gegenwärtigen Ethnographie Lateinamerikas ein prominenter Vertreter für deren ontologische Richtung. Neuerlich muss ich vor Missverständnissen warnen, die an dieser Stelle auftreten können. Denn ähnlich wie verwandte Strömungen in der Wissenschaft – zu nennen ist vor allem die Soziologie von Bruno Latour – wirft zwar auch die ontologische Anthropologie einen anderen Blick auf das Verhältnis von Natur und Kultur, von Menschen und Nichtmenschen, und betreibt aufgrund ihrer Kenntnis amazonischer Kulturen eine Dezentrierung des Anthropos in seinem Verhältnis zu anderen Lebensformen, Wesen und Entitäten. Aber dies ist nicht das Interesse, das ich in diesem Buch verfolge, und keineswegs will ich hier der Gewaltsoziologie eine Rücknahme des Menschen vorschlagen, um auch Nichtmenschen als Gewalttäter zu begreifen und untersuchen zu lernen. Dazu bin ich zu sehr Menschenhistoriker, als dass ich ein solches Ansinnen verfolgen wollte. Ich werde in diesem Buch also über Menschen in der Gewalt reden, nicht über andere Wesen oder Hybridgeschöpfe biologisch-technischer Art, wenngleich wir, wie Bruno Latour schrieb, wissen, dass ein Mensch, der eine Waffe in der Hand hält und sich mit dieser Waffe eins fühlt, ein Anderer ist als der, der dies nicht tut. Wohl als Erster befasste sich vor dem Hintergrund der Geschichte des Ersten Weltkriegs und seiner Erfahrungen als Frontsoldat Ernst Jünger mit dieser Verschmelzung von Mensch und Technik zu einem Gewalthybrid, zu einem – wie er es nannte – »eisernen Krieger«.

Nun sind Begriffe wie Ontologie oder Kosmologieformen (ich verwende beide Begriffe in diesem Buch synonym), um die die ontologische Anthropologie kreist, sperrig. In der Soziologie oder Geschichtswissenschaft scheuen wir solche Begriffe als methodische Instrumente, weil sie allzu maßlos daherzukommen scheinen. Wer von Ontologien spricht, steht im Verdacht, ein Unbedingtes zu suchen und Aussagen über das Eigentliche der Welt treffen zu wollen, während das historische wie das soziologische Denken doch darauf gerichtet sind, uns Kultur und Geschichte in Begriffen zu verdeutlichen und sie einer nüchternen Wahrheitssuche zugänglich zu machen. Das »geschichtliche Denken«, schrieb Wilhelm Dilthey 1910 in seinem Buch »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, will »durch Begriffe verdeutlicht werden, nicht aber durch irgendeine Beziehung auf ein Unbedingtes, Absolutes ins Transzendentale oder Metaphysische umgewandelt werden«. Dies sind deutliche Worte, und an deren Gültigkeit hat sich nichts geändert. Deshalb sprechen wir in der Soziologie oder Geschichtswissenschaft gemeinhin nicht von Ontologien, wenn wir uns mit den kollektiv verbindenden Weisen beschäftigen, die Menschen dazu anhalten, ihre Welt zu sehen und dieses Wissen um die Welt den eigenen Absichten und Handlungen zugrunde zu legen wie jene der Anderen zu deuten. Dennoch belasse ich es in diesem Buch bei den Begriffen, die Philippe Descola vorgibt, weil dieses Buch seinem Werk viel schuldet.

Ontologien werden im Amazonismus als »Systeme der Relationen«3 definiert, durch die Menschen sich in ein Benehmen mit dem setzen, was wir Natur und Kultur – nicht jede Gemeinschaft kennt diese Unterscheidung, wovon noch ausführlich die Rede sein wird – nennen. Ontologien sind also nicht einfach nur Bedeutungsgefüge und Weltverständnisse, sondern umfassen beides: formale Prozedere und operative Strategien, in denen Menschen handeln, ebenso wie Wissensbestände und Zeichensysteme, die sie dabei führen wie ausdrücken. Ich bezeichne es als ontologische Figuren, die auf diese Weise erzeugt werden. Sie sind die Schemata, um die es in diesem Buch geht und die die Bausteine einer Gewalttheorie aus Sicht einer ontologischen Anthropologie bilden. Maßgeblich für die Ausbildung einer ontologischen Figur ist somit das Verhältnis, in das Menschen bzw. Gemeinschaften sich in das Kontinuum von »Natur« und »Kultur« einstellen. Neben vielem Anderen gilt dies auch mit Blick auf die Gewalt, und dies nicht allein deshalb, weil Menschen im Vorfeld der Gewalt ja unterscheiden müssen, ob die Gefahr, die ihnen droht und vor der sie sich schützen müssen, aus der Natur oder von anderen Menschen herrührt. Vielmehr ist die Gewalt selbst Teil dieses Kontinuums, weil sie sowohl naturhaft, d. h. an den Körper des Menschen gebunden, wie kulturgerichtet, da von Absichten getragen, ist. An den Polen dieses Kontinuums gerät Gewalt entweder zu einem reinen Instinkthandeln des Menschen, in dem in der Gefahr nur mehr seine körperlichen Reflexe über die Ausübung der Gewalt und sein Schicksal darin entscheiden. Oder aber sie ist hochgradig organisiert und rituell dargestellt, d. h. sie ist ganz Zeichen, also: ganz Ausdruck, in diesem Sinn: ganz (wenn man denn diesen Begriff verwenden will) Gewalt-Kultur.

In der Regel reden wir nicht über Ontologien, wenn wir über Gewalt sprechen. Dies geschieht aber nicht, weil Ontologien unwichtig wären, wenn Gewalt Gestalt annimmt. Denn jede Gewalt ist auch ein Zeichen. Vielmehr ist der Grund der, dass wir in Routinen leben, in denen wir die Bedeutung der Welt, in die wir gestellt sind, nicht weiter hinterfragen. Dies ist, wie in den Klassikern der Wissenssoziologie nachzulesen ist, auch nicht verwunderlich, sondern im Gegenteil vonnöten, denn wir könnten unser Leben nicht bewältigen, wenn wir seine Selbstverständlichkeiten beständig in Frage stellen würden. Deshalb besteht in der Routine unseres Lebens kein Bedarf, über unsere Ontologien nachzudenken, so lange wir deren Bedeutung für gewiss halten und niemand da ist, der uns fragt, warum wir an diese eine Bestimmung der Gewalt glauben und nicht an eine andere. Dies ändert sich jedoch, wenn wir uns die Mühe machen zu vergleichen. Denn im Vergleich von Kulturen und Geschichten sehen wir, dass die gleiche Gewalttat in dem einen Weltverhältnis, das Menschen eingehen, etwas gänzlich Anderes darstellen kann als in dem anderen. Deshalb müssen wir im Vergleich den Zusammensetzungen der einzelnen Ontologien nachgehen und eine Übersicht ihrer Anordnungen erstellen, wenn wir uns in der Wissenschaft für die Vielfalt der Gewalt interessieren und nicht nur ihre uns vertrauten Formen betrachten wollen.

Somit gewinnt die Methode des Vergleichs für dieses Buch besonderes Gewicht. Denn es ist ja, wie oben schon geschrieben, nicht meine Absicht, in diesem Buch eine Ethnographie der Gewalt zu schreiben. Vielmehr sollen in der Methode des Vergleichs und mit Blick auf die amazonischen Kulturen und Gemeinwesen die Gesichtspunkte und Kategorien gewonnen werden, die es uns erlauben, aus einem anderen Blickwinkel über die Gewalt und ihr Verständnis in unserer Welt nachzudenken. In Umrissen entsteht so eine Gewalttheorie, in der die Grenzen zwischen der Gewaltsoziologie und der Anthropologie neu gezogen sind und versucht wird, verschiedene Wissenschaftsdisziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Kapitel 2
Wovon spreche ich?

Im Vergleich getrennt voneinander existierender Kulturen, Wissenssysteme oder ethnographischer Einheiten kommt ein allgemeiner Gewaltbegriff recht schnell zum Erliegen. Man mag das ignorieren und sich damit trösten, dass wir nur über unsere Welt sprechen wollen und uns eine andere nicht interessiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange wir nicht behaupten, in allgemeinen Begriffen zu reden, die bei näherem Hinsehen doch nur die unsrigen sind. Allerdings neigen wir in der Wissenschaft dazu, dies zu tun. Denn in der Soziologie wie in der Geschichtswissenschaft stehen wir ja im Bann des allgemeinen Begriffs, des Idealtypus, den Max Weber in seiner Soziologie entwarf. In dem Gebrauch von Idealtypen bemächtigen wir uns in unserer Sprache der Welt und geben ihr die Bedeutung, die wir benötigen, um in ihr zu leben. Jedoch ist das Konzept des Idealtypus in epistemologischer Hinsicht fragwürdig – darauf haben schon Andere in der Literatur hingewiesen –, wollte Weber den Idealtypus doch wie einen Maßstab dazu nutzen, um die Wirklichkeit an ihm zu messen. Seit der Hegelianischen Philosophie wissen wir nun aber, dass wir uns die Welt, in der wir leben, erst in Begriffen erschaffen, um dann in diesen Begriffen über diese Welt zu reden. Auch in diesem Buch geschieht nichts Anderes. Wie aber wollen wir eine Welt an einem Begriff messen, wenn dieser Begriff diese Welt doch erst erzeugt? Können wir dann nicht nur Selbstgespräche führen und uns in unseren Begriffen nur ständig im Kreis drehen?

Es lohnt vor diesem Hintergrund und angesichts der erkenntnistheoretischen Problematik, die hier aufschimmert, ein Blick in die Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein. Nach Wittgenstein existiert die Bedeutung von Begriffen erst in ihrem Gebrauch, er nannte das Sprachspiele, nicht in einer abstrahierenden Methode, wie Max Weber glaubte. Insofern sind allgemeine Begriffe keine Wahrheiten, sie sind nur Wegweiser in den Gegenstand. In gewisser Weise verhält es sich mit diesem Begriff wie mit dem Modell eines Schiffes, stellen wir es uns aus Papier oder Holz gebastelt vor, das wir, wie Kinder es tun, an einem Bachlauf auf das Wasser setzen und mit unserer Hand anstoßen und nun schauen, wie weit es auf dem Strom der Geschichte fährt. Und der bedeutendste Augenblick auf dieser Fahrt, schreibt der französische Historiker Fernand Braudel, der dieses Bild gezeichnet hat, ist nicht etwa die Ankunft des Schiffes in seinem Hafen, sondern vielmehr die Stelle im Strom der (historischen) Zeit, an der das Modell Schiffbruch erleidet und sinkt.1 Denn spätestens an diesem Ort der Geschichte müssen wir beginnen, dem allgemeinen Begriff zu misstrauen und über Anderes als Allgemeines nachzudenken. Oder wie Ludwig Wittgenstein vorschlug: Wir sollen den Begriff nicht in reiner Form definieren, sondern ihn in Gestalt seiner »Familienähnlichkeiten« umschreiben. Auf dieses Buch übertragen fordert uns dieser Gedanke auf, Gewalt bzw. deren Begriff nicht als einen Kollektivsingular, sondern als eine Mehrzahl zu betrachten. Im Grunde ist dies eine ethnographische Methode, und auch für dieses Buch ist sie von großem Nutzen.

Gehen wir den Differenzen nach, die im Vergleich von Kulturen, Gemeinwesen oder ethnographischen Einheiten in den Begriff der Gewalt bzw. dort, wo es diesen nicht gibt2, in seine Synonyme oder sprachlichen Umschreibungen eingehen, so stoßen wir auf verschiedene ontologische Figuren der Gewalt. Diese reflektieren das Natur-Kultur-Kontinuum, in das der Mensch sich stellt und in dem er neben allem Anderen auch die Gewalt für sich begreift. Hier werden der Gewalt Merkmale, Eigenschaften und Attribute zugeschrieben, die über ihre Anwendung und Ausführung befinden, ihre Bedeutung ohnehin. Diese Zuschreibungen an die Gewalt sind ein mehr oder minder konstanter Vorgang, der beständig vonstattengeht, mag er auch wenig bewusst verlaufen, und von dem Menschen nicht lassen können. Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede, wie dieses Natur-Kultur-Kontinuum jeweils beschaffen ist. Wir sind es in unserer technischen Zivilisation gewohnt, Natur und Kultur als einen Gegensatz zu begreifen, wir besitzen eine dualistische Theorie der Welt. Auch der uns geläufige Begriff der Gewalt ist in diese kategoriale Unterscheidung eingebettet, so wie er im Übrigen selbst Anteil daran hatte, diese Trennung überhaupt erst herzustellen. Dies nahm in der antiken Polis seinen Anfang, als eine wilde, weil naturhafte Gewalt der Barbaren der kultivierten Gewalt der Zivilisierten und Städter entgegengestellt wurde. Die dichotome Anthropologie, die in das Bild der Gewalt Einzug hielt, streute in alle möglichen Richtungen, bis hinein in die Begründung der wissenschaftlichen Ethnographie im späten 19. Jahrhundert, und sie übt bis heute eine tiefe Wirkung auf unser Verständnis der Gewalt aus.

Während wir mit der Objektivierung der Natur und ihrer Trennung von der Kultur vertraut sind und diese Dichotomie eine Grundlage unserer technischen Zivilisation ist, stellt sich dies in den Welten anders dar, deren Merkmale nicht der Schriftgebrauch, die Urbanität und die Errichtung politischer Zentralgewalten in Form eines Staates sind, sondern die Landschaft des Regenwalds, dünne, dispersierte Demographien, akephale Strukturen sowie das Memorieren des kulturellen Wissens einer Gemeinschaft durch rituelle Experten, wie es die Seher und Schamanen sind. In diesen Ontologien existieren Einheiten, Symbiosen und Identitäten, die wir in unserer Welt nicht (mehr) kennen. Allenfalls Schatten davon sind (in) uns geblieben, blasse Überreste oder verdeckte Ablagerungen; am ehesten lesen wir davon in der Psychologie. Mitunter erinnern nur mehr lose Sprachwendungen daran, deren ursprünglicher Sinn uns verborgen bleibt. Diese Ontologien nehmen keine kategoriale Trennung der Welt in einen Bereich der Natur und einen der Kultur vor, beide sind vielmehr Teil eines Kontinuums, eines »gemeinsamen Modells«, das durch Vorstellungen der Identität, Symmetrie und Reziprozität verbunden ist.3 Philippe Descola schlägt deshalb vor, für diese Kulturen und Gruppen – er bezieht sich in erster Linie auf das Amazonasgebiet, wo die Achuar, der Sprachgruppe der Jivaro zugehörig, Gegenstand seiner Forschungen sind – auf dieses Begriffspaar zu verzichten und stattdessen von der »Interiorität« und der »Physikalität« zu sprechen. Die Interiorität umfasst alles den äußeren Sinnen Verborgene wie »Intentionalität, Subjektivität, Reflexivität, Affekte« sowie Fähigkeiten methodischer und strategischer Art, die Physikalität betrifft die »äußere Form, die Substanz, die physiologischen, perzeptiven und sensomotorischen Prozesse«, sie ist die »Quelle eigener Empfindungen« wie zur gleichen Zeit »Organ einer Vermittlung mit der Umwelt«.4 Wir sehen: Diese Begriffe decken sich nur ungefähr mit dem, was wir in unserer Welt Natur und Kultur nennen.