JENNIFER L.

ARMENTROUT

Wicked

EINE LIEBE ZWISCHEN

LICHT UND DUNKELHEIT

BAND 1

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michaela Link

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Auf den ersten Blick scheint die einundzwanzigjährige Ivy Morgan eine ganz normale junge Frau zu sein: sie genießt das Studentenleben in New Orleans, liebt Beignets und süßen Eistee und ist nach dem Verlust ihrer ersten großen Liebe überzeugter Single. Im Geheimen jedoch gehört Ivy einem uralten Orden an, der die Menschen vor dunklen Wesen aus der Anderwelt beschützt, und so tauscht sie regelmäßig ihren Laptop gegen einen spitzen Eisenpflock ein und macht Jagd auf die Fae, die durch die Viertel der Stadt streifen und Menschen töten. Als Ivy eines Tages selbst von einem außergewöhnlichen Fae angegriffen und verletzt wird, will ihr niemand aus dem Orden glauben, dass etwas mit dem Fae nicht stimmte. Außer Ren Owens, der Neue in ihren Reihen. Ren ist attraktiv, arrogant und er flirtet schamlos mit Ivy – alles Dinge, die dieser gehörig auf die Nerven gehen. Aber er ist auch so verdammt sexy, dass sie ihm schon bald nicht mehr widerstehen kann. Als sich die Zeichen mehren, dass die Fae einen Angriff auf den Orden planen, gehen die beiden gemeinsam auf die Jagd. Noch ahnt Ivy nicht, dass Ren ein Geheimnis vor ihr verbirgt, das alles verändern wird …

Jennifer L. Armentrouts aufregende Wicked-Serie:

Erster Band: Wicked

Zweiter Band: Torn

Dritter Band: Brave

Die Autorin

Jennifer L. Armentrout wurde 1980 in Martinsburg, West Virginia, geboren und zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA. Mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Jugendliche und Erwachsene – stürmt sie regelmäßig die nationalen und internationalen Bestsellerlisten. Wenn sie nicht gerade schreibt, frönt Jennifer L. Armentrout ihrer Leidenschaft für schlechte Zombiefilme. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Hunden in West Virginia.

Mehr zu Jennifer L. Armentrout und ihren Romanen erfahren Sie auf:

www.jenniferlarmentrout.com

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

WICKED

Redaktion: Martina Vogl

Copyright © 2014 by Jennifer L. Armentrout

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Irina Simkina / Shutterstock

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-23240-5
V003

www.heyne.de

Dieses Buch ist für dich, den Leser.

Ohne dich wäre dieses Buch nicht möglich.

Nichts von alledem wäre möglich.

1

Mir lief der Schweiß von der Stirn, und Strähnen meines roten Haars klebten mir feucht im Nacken. Meine Beine fühlten sich an, als säße ich in einer Sauna, und zwischen meinen Brüsten rann ein steter Strom hinab. Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem mir erfahrungsgemäß nur noch eines half: jemanden zu verprügeln. Oder ihn vor eine Straßenbahn zu stoßen.

In dieser klebrig-feuchten Hitze kam New Orleans mir vor wie einer der sieben Kreise der Hölle und der Außenbereich des Palace Cafés wie die Höllenpforte. Oder das Wartezimmer.

Ein fetter Schweißtropfen fiel mir von der Nasenspitze, klatschte auf den Text zu meinem Philosophiekurs, Der Mensch als Person, und hinterließ mitten in einem Absatz einen kleinen, nassen Kreis. Durch den salzigen Schweiß, der mir in den Augen brannte, konnte ich ohnehin kaum noch lesen.

Also schweiften meine Gedanken ab. Sollte es nicht besser heißen: Der Mensch als eine Person? Mit etwas mehr individuellem Spielraum? Etwas weniger Respekt und Würde vielleicht, etwas mehr Leidenschaft zum Beispiel in meinem Fall? Aber nein, so funktionierte es an der Loyola nicht.

Der kleine Café-Tisch wackelte, als jemand einen großen Becher Kaffee mit Eiswürfeln direkt vor mein Buch knallte. »Für dich!«

Ich spähte über den Rand meiner Sonnenbrille, und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als wäre ich einer von Pawlows Hunden. Valerie Adrieux plumpste auf den Stuhl mir gegenüber, ohne meinen Kaffee loszulassen. Dank ihrer spanischen und afrikanischen Wurzeln hatte Val einen wunderschönen Teint, ein kräftiges, makelloses Braun. Und in ihren Klamotten, stets in leuchtenden Orange-, Blau- und Pinktönen und in jeder anderen verdammten Farbe des Regenbogens, sah sie einfach umwerfend aus.

Heute zum Beispiel trug sie ein orangefarbenes, weites Neckholder-Top, das jede Schwerkraft zu verleugnen schien, eine purpurfarbene Kette und einen türkisfarbenen Bauernrock. Sie sah aus, als wäre sie gerade einem Katalog für Sommermode entstiegen. Wenn ich eine andere Farbe trug als Schwarz, Hellbraun oder Grau, sah ich aus, als wäre ich einer Irrenanstalt entsprungen.

Ich richtete mich auf, ignorierte die Tatsache, dass meine Oberschenkel am Stuhl festklebten, und griff gierig nach dem eiskalten Kaffee. »Gib her.«

Sie zog eine Braue hoch. In der Sonne hatte Vals Haar einen kastanienbraunen Schimmer. Hübsch. Meins sah aus wie ein Feuerwehrauto. Furchterregend. Ganz gleich, wie hoch die Luftfeuchtigkeit war, ihr Kopf voller Korkenzieherlocken sah immer toll aus. Wiederum, hübsch. Zwischen April und November gaben meine Locken jede Anstrengung auf und verwandelten sich in krisselige Wellen. Wiederum, höllisch furchterregend.

Manchmal wünschte ich, ich könnte Val hassen.

»Hast du dem nichts hinzuzufügen?«, fragte sie.

Jetzt zum Beispiel.

»Gib her … meine Teuerste?«, ergänzte ich.

Sie grinste. »Versuch’s noch mal.«

»Vielen Dank?« Meine Finger zappelten ungeduldig in Richtung Kaffee.

Sie schüttelte den Kopf.

Ich ließ mit einem müden Seufzer die Hände in den Schoß sinken. »Kannst du mir einen Tipp geben, was du hören willst? Eine Runde Heiß und Kalt spielen oder so was?«

»Sonst immer gern, aber heute passe ich.« Sie hob den Kaffee hoch und lächelte mich breit an. »Die korrekte Antwort lautet: ›Ich liebe dich so sehr dafür, dass du mir eiskalten Kaffee bringst, dass ich alles für dich tun würde.‹« Sie wackelte mit den Augenbrauen. »Ja, das klingt in etwa richtig.«

Lachend lehnte ich mich zurück, streckte die Beine aus und legte sie auf den freien Stuhl neben mir. Wahrscheinlich schwitzte ich deshalb so, weil ich kniehohe Schnürstiefel trug, in denen es ungefähr hundert Grad heiß war. Aber ich hatte heute Abend Dienst, und Flipflops eigneten sich weder, um meinen Job zu erledigen, noch, um die Dinge darin zu verstecken, die ich dafür brauchte. »Du weißt, dass ich dir einfach in den Hintern treten und mir den Kaffee nehmen könnte, ja?«

Val schob die Unterlippe vor. »Das ist nicht nett, Ivy.«

Ich grinste sie an. »Aber wahr. Ich könnte deinen Hintern mit einem Ninja-Tritt die ganze Canal Street hinauf- und hinunterbefördern.«

»Vielleicht, aber du würdest so was niemals tun, weil ich deine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt bin«, entgegnete sie nun ihrerseits mit einem breiten Grinsen, und sie hatte recht. »Okay. Was ich will, ist keine große Sache.« Sie zog sich den Strohhalm, der aus dem Kaffee ragte, etwas näher an den Mund, und ich stöhnte. »Gar keine große Sache.«

»Was willst du?« Mein zweites Stöhnen ging im Lärmen der Passanten und Jaulen von Sirenen unter, die höchstwahrscheinlich zum Quarter unterwegs waren.

Val zog eine Schulter hoch. »Ich habe am Samstagabend ein Date – ein heißes Date. Na ja, hoffentlich ein heißes Date, aber David hat mich eingeteilt, das Quarter zu beackern, also …?«

»Also, lass mich raten.« Ich drapierte die Arme über die Rückenlehne meines Stuhls. Nicht die bequemste Position, aber sie half mir, mich auszulüften. »Du willst, dass ich deine Schicht im Quarter übernehme … an einem Samstagabend? Im September? Mitten in der Touristenhölle?«

Sie nickte enthusiastisch. »Bitte. Bittebittebitte?« Sie schüttelte den Becher mit dem kalten Kaffee, und die Eiswürfel darin klirrten verlockend. »Bitte?«

Mein Blick wanderte von ihrem hoffnungsvollen Gesicht zum Kaffee und blieb dort haften. »Klar. Warum nicht? Ich hab schließlich kein heißes Date.«

»Yippie!« Sie stieß die Hand mit dem Kaffeebecher vor, und ich pflückte ihn eine halbe Sekunde, bevor sie ihn fallen ließ, aus der Luft. Einen Moment später schlürfte ich glücklich vor mich hin, ganz und gar in einen kühlen Koffeinhimmel versetzt.

»Weißt du«, sagte Val und stützte die Ellbogen auf den Tisch, »du könntest durchaus auch ein heißes Date haben, wenn du einmal im Jahr überhaupt ausgehen würdest.«

Ich ignorierte diese Bemerkung und trank in einem Tempo weiter, bei dem zwangsläufig mein Gehirn gefrieren musste.

»Du bist wirklich hübsch, selbst mit diesem Haar.« Sie deutete mit einer kreisförmigen Bewegung in Richtung meines Kopfes. »Du hast wirklich tolle Möpse, und dein Arsch ist total zum Anbeißen. Ich würde es sofort mit dir treiben.«

Ich ignorierte sie weiterhin, während sich hinter meinen Augen ein dumpfer Schmerz ausbreitete. Ich musste mich bei dem Kaffee dringend bremsen, aber er war so verdammt lecker.

»Stehst du überhaupt auf Jungs, Ivy? Du weißt ja, ich bin für beides zu haben. Ich bin mehr als bereit, einem Mädchen auszuhelfen.«

Ich verdrehte die Augen und verzog sofort das Gesicht. Dann ließ ich den Kaffee sinken und presste mir eine Hand an die Stirn. »Au.«

Val schnaubte.

»Ich stehe auf Jungs«, brummelte ich, während das Eispickel-in-meinem-Kopf-Gefühl verebbte. »Und können wir bitte nicht über Jungs reden oder darüber, für beides zu haben zu sein oder mir auszuhelfen? Denn dieses Gespräch führt unweigerlich zu dem Mangel an Orgasmen in meinem Leben und dazu, dass ich einfach mit dem nächstbesten Kerl in die Kiste springen sollte, und ich bin nicht wirklich in der Stimmung, darüber zu reden.«

»Worüber willst du dann reden?«

Ich nahm bedächtig einen kleineren Schluck Kaffee und beäugte sie. »Wie kommt’s, dass du nicht schwitzt?«

Val legte den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass ein älteres, vorbeischlenderndes Paar mit Bauchtaschen im Partnerlook sie anstarrte. »Babe, ich bin in Louisiana geboren und aufgewachsen. Meine Familie lässt sich bis zu den ersten französischen Siedlern zurückverfolgen.«

»Bla, bla, bla. Bedeutet das, dass du eine Art magische Fähigkeit besitzt, die dich resistent gegen die Hitze macht, während ich in meinem eigenen Saft schmore?«

»Man kann ein Mädchen aus dem Norden holen, aber man kann den Norden nicht aus dem Mädchen holen.«

Ich schnaubte. Es stimmte. Ich war erst vor drei Jahren aus Virginia nach New Orleans gezogen, und ich hatte mich immer noch nicht an das Klima gewöhnt. »Weißt du, was ich genau jetzt für einen Schwall Kaltluft tun würde?«

»Sex haben jedenfalls nicht, so viel steht fest.«

Ich zeigte ihr den Stinkefinger. Ich wusste wirklich nicht, warum ich immer noch gewissenhaft jeden Tag die Pille nahm. Vermutlich eine Angewohnheit aus Zeiten, in denen es tatsächlich wichtig gewesen war.

Val kicherte und beugte sich über den Tisch, und musterte mit ihren dunkelbraunen Augen mein Philosophiebuch. »Ich kapiere einfach nicht, warum du aufs College gehst.«

»Warum nicht?«

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht legte die Vermutung nahe, dass die Hitze einige meiner Gehirnzellen weggebrutzelt haben musste. »Du hast bereits einen Job – der sehr gut bezahlt wird, und du brauchst im Gegensatz zu anderen eigentlich nicht noch einen. Wir haben zwar sonst nicht viele Vorteile, und die Lebenserwartung in unserem Job ist wahrscheinlich kürzer als bei allen anderen, außer Fallschirmspringern ohne Fallschirm, aber genau das ist doch ein Grund mehr, deine Zeit nicht mit diesem Mist zu verschwenden, oder?«

Ich zuckte mit den Achseln – ich wusste ja selbst nicht genau, warum ich mich vor einem Jahr an der Loyola eingeschrieben hatte. Vielleicht aus Langeweile? Oder aus einem merkwürdigen Bedürfnis heraus, einmal das gleiche zu tun wie die meisten anderen Einundzwanzigjährigen? Möglicherweise ging es aber doch tiefer, und was immer es war, hatte mich bewogen, Soziologie mit dem Nebenfach Psychologie zu studieren. Ich spielte mit dem Gedanken, Sozialarbeiterin zu werden, denn ich wusste, dass ich beides tun konnte, wenn ich wollte. Vielleicht hing es mit dem zusammen, was mit …

Ich verdrängte diese Gedanken. Es gab keinen Grund, heute oder an irgendeinem anderen Tag darüber nachzugrübeln. Die Vergangenheit war vergangen, tot und begraben. So wie meine ganze Familie.

Trotz der drückenden Hitze schauderte ich. Aber Val hatte recht. Unsere durchschnittliche Lebenserwartung war brutal kurz. Seit Mai hatten wir drei Ordensmitglieder verloren. Cora Howard, sechsundzwanzig, war auf der Royal Street getötet worden, Genickbruch. Vincent Carmack, neunundzwanzig, hatte auf der Bourbon Street sein Ende ereilt. Ihm war der Hals aufgerissen worden. Und Shari Jordan, fünfunddreißig, war erst vor drei Wochen mit gebrochenem Genick im Warehouse District gefunden worden. Todesfälle waren nichts Ungewöhnliches, aber drei in fünf Monaten machten uns alle unruhig.

»Alles okay mit dir?«, fragte Val und legte den Kopf schief.

»Ja.« Mein Blick folgte der Straßenbahn, die vorbeirollte. »Du arbeitest heute Abend, richtig?«

»So was von richtig.« Sie lehnte sich zurück, klatschte in die Hände und rieb sie aneinander. »Willst du eine freundschaftliche Wette abschließen?«

»Auf was?«

Ihr Lächeln wurde geradezu böse. »Wer bis ein Uhr früh die meisten umgelegt hat.«

Ein älterer Mann, der an unserem Tisch vorbeischlurfte, warf Val einen eigenartigen Blick zu, bevor er seine Schritte beschleunigte. Natürlich hörte man auf den Straßen von New Orleans noch merkwürdigere Dinge, vor allem in direkter Nachbarschaft vom French Quarter.

»Abgemacht.« Ich leerte den Kaffeebecher. »Moment mal. Was bekomme ich, wenn ich gewinne?«

»Falls du gewinnst«, korrigierte sie mich. »Dann bringe ich dir eine Woche lang Kaffee mit Eiswürfeln. Und falls ich gewinne, machst du den …« Ihre Stimme verlor sich, und sie kniff die Augen zusammen. »Da schau mal einer an.« Sie reckte das Kinn vor.

Stirnrunzelnd drehte ich mich um und sah sofort, wovon Val sprach. Ich holte kurz Luft und winkelte das rechte Bein an, damit ich besser an meinen Stiefel kam.

Das Mädel war nicht zu übersehen.

Für die meisten Menschen, also für neunundneunzig Prozent, sah die junge Frau in dem wallenden Maxikleid wie eine ganz normale Passantin aus. Eine Touristin auf der Canal Street. Oder vielleicht auch eine Einheimische, die an einem Mittwochnachmittag shoppen ging. Aber Val und ich waren nicht wie die meisten Menschen. Bei unserer Geburt war eine Menge Hokuspokus geredet worden, um uns gegen Glamour-Zauber zu immunisieren. Wir sahen, was die anderen nicht sahen.

Nämlich das Monster unter der normalen Fassade.

Diese Kreatur gehörte zu den tödlichsten, die die Menschheit kannte. Und zwar seit Anbeginn der Zeit.

Eine Sonnenbrille schützte ihre Augen. Aus irgendeinem Grund war ihre Spezies empfindlich gegen das Sonnenlicht. Ihre wahre Augenfarbe war das blasseste Blau, das man sich vorstellen konnte, ein fast farbloser Ton. Aber mithilfe eines Glamour-Zaubers, einer Art dunkler Magie, konnte ihresgleichen bestimmen, wie die Menschen sie wahrnahmen, sodass sie uns in einer Vielfalt körperlicher Merkmale, Formen und Größen begegneten. Dieses Exemplar beispielsweise erschien blond, hochgewachsen und gertenschlank. Sie sah beinahe zerbrechlich aus, aber ihr Äußeres war extrem trügerisch.

Es gab auf dieser Welt weder Menschen noch Tiere, die stärker oder schneller waren als diese Wesen, und das Spektrum ihrer Fähigkeiten reichte von Telekinese bis hin zum Entzünden der heftigsten Brände durch die bloße Berührung ihrer Fingerspitzen. Aber ihre gefährlichste Waffe war das Vermögen, Sterbliche ihrem Willen zu unterwerfen und sie zu versklaven. Fae brauchten Menschen. Sich von Sterblichen zu nähren, war die einzige Möglichkeit, ihren Alterungsprozess so zu verlangsamen, dass sie beinahe unsterblich waren.

Sonst alterten und starben sie genau wie wir.

Manchmal spielten sie mit ihren Opfern, nährten sich monatelang, wenn nicht jahrelang von ihnen, bis nichts mehr übrig war als eine vertrocknete Hülle dessen, was einmal gewesen war. Dabei vergifteten sie den Körper und den Geist des Menschen und verwandelten ihn in etwas, das genauso gefährlich und unberechenbar war wie die Fae selbst. Aber manchmal schlachteten sie ihre Opfer auch einfach direkt ab. Menschen wie Val und ich konnten nicht völlig dagegen geschützt werden, dass Fae sich – mit allen üblen Auswirkungen – von uns nährten. Aber schon vor Jahrhunderten hatte man den einfachsten, kleinsten Gegenstand entdeckt, der uns zumindest vor der Unterwerfung unter ihren Willen bewahrte: Nichts hatte einen solch unerwarteten und krassen Effekt wie ein vierblättriges Kleeblatt.

Jedes Mitglied des Ordens trug eins. Val hatte ihres in ihrem Armband eingewoben. Ich trug meins in meiner Kette aus Tigerauge. Ich legte es niemals ab, nicht einmal zu Hause, wenn ich duschte und schlief, da ich auf die harte Tour gelernt hatte, dass ohne so ein Kleeblatt kein Ort hundertprozentig sicher war.

Wir durchschauten den Glamour-Zauber, mit dessen Hilfe die Fae sich tarnten, und waren damit in der Lage, sie zu entdecken und zu jagen. Ihre wahre Gestalt war ebenso schön wie verstörend. Ihre Schönheit war von unheimlicher Makellosigkeit, mit hohen, kantigen Wangenknochen, vollen Lippen und schrägstehenden Augen. Ihre Haut schimmerte silbern, ähnlich flüssigem Stickstoff, und war unglaublich glatt. Alles an ihrer wahren Gestalt war auf schauerliche Weise anziehend, die es dem Betrachter schwermachte, den Blick abzuwenden. Das Einzige, was die Märchen und Mythen richtig beschrieben, waren die leicht spitzen Ohren.

»Verdammte Fae«, murmelte Val.

Sie sprach mir aus der Seele. Die Fae hatten mir alles genommen. Nicht nur einmal, sondern zweimal, und ich hasste sie mit der brennenden Kraft von zehntausend Sonnen.

Abgesehen von den Ohren waren die Fae ganz anders, als sie in Disney-Filmen dargestellt wurden, oder als die Feen oder Elfen, um die Shakespeare Geschichten gesponnen hatte, und sie gehörten wie all ihre entfernten Verwandten nicht in diese Welt. Vor langer, langer Zeit hatten die Fae einen Weg gefunden, die Grenze zwischen ihrem Reich, das als die Anderwelt bekannt war, und dem Reich der Sterblichen zu durchbrechen. Die Sommer- und Winterhöfe hatten sich, falls es sie überhaupt jemals gegeben hatte, aufgelöst. Die Fae bildeten nur eine einzige gewaltige Gruppe mit einem wirklich beängstigenden und total typischen Ziel.

Sie wollten die Welt der Sterblichen übernehmen.

Und es war unsere Aufgabe, sie in die Anderwelt zurückzuschicken. Oder sie zu töten. Was schneller ging.

Das Problem dabei war, dass weder das eine noch das andere leicht zu bewerkstelligen war, und die Fae sich in jeden Bereich der sterblichen Welt hineingewoben hatten.

Als die Frau an unserem Tisch vorbeiging, blickte Val zu ihr auf, ganz die freundliche Unschuld, und die Fae reagierte mit einem gepressten Lächeln, nicht ahnend, dass wir ihre Maskerade durchschauten.

Val sah mich an und zwinkerte mir zu. »Die da gehört mir.«

Ich klappte mein Buch zu. »Nicht fair.«

»Ich hab sie zuerst gesehen.« Sie stand auf und strich mit der Hand über den breiten Ledergürtel, den sie über ihrem Rock trug. »Bis später.« Sie machte Anstalten, sich umzudrehen. »Ach, und danke für Samstagabend. Ich werde mich flachlegen lassen und du kannst sozusagen stellvertretend durch mich leben.«

Ich lachte und steckte mein Buch ein. »Vielen Dank.«

»Ich denke immer an andere. Mach’s gut.« Sie wirbelte herum, wich elegant einem anderen Tisch aus und verschwand im Gedränge der Fußgänger.

Val würde die Fae einholen und an einen Ort locken, wo sie sich ihrer schnell entledigen konnte, ohne dass ein argloser Mensch Zeuge von etwas wurde, das für ihn wie kaltblütiger Mord aussehen musste.

Sonst konnte es nämlich richtig schnell richtig peinlich werden. Der größte Teil der Menschheit hatte keine Ahnung, dass die Fae wirklich existierten, obwohl sie überall anzutreffen waren. Und in einer Stadt wie New Orleans, wo tonnenweise schräger Mist abging, ohne dass die Leute mit der Wimper zuckten, hatten sie sich zu einer echten Plage entwickelt.

Als ich den Blick hob und auf die sich wiegenden Palmen starrte, fragte ich mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wie jeder andere normale Mensch zu sein, der hier durch die Straßen lief. Einfach in, nun ja, seliger Unwissenheit zu leben. Wenn ich in eine andere Familie hineingeboren worden wäre, wäre so vieles anders gewesen.

Vermutlich würde ich dann im Frühling meinen College-Abschluss machen. Ich hätte eine große Gruppe von Freunden, einander verbunden durch Erinnerungen statt durch Geheimnisse. Ich hätte vielleicht sogar einen – keuch – festen Freund.

Einen festen Freund.

Sofort verschwand die belebte Straße vor meinen Augen. Da waren nur noch ich und diese seelenvollen braunen Augen. Gott, drei Jahre waren vergangen, und es tat immer noch höllisch weh, auch nur an Shaun zu denken. Einige der Details verblassten langsam, und das Bild seines Gesichtes verschwamm allmählich, aber der Schmerz war nicht geringer geworden.

Ein Saatkorn der Trauer hatte tief in meinem Bauch Wurzeln geschlagen, und ich versuchte verzweifelt, es zu ignorieren. Denn wie pflegte meine Mutter noch gleich zu sagen? Nicht meine echte Mom. Ich war zu jung gewesen, als sie getötet worden war, um mich an sie zu erinnern. Meine Pflegemutter – Holly – hatte oft gesagt, wenn Wünsche Fische wären, würden wir alle Netze auswerfen. Es war ein Zitat, das sie aus einem Buch hatte, und bedeutete locker übersetzt: Es hatte keinen Sinn, Zeit mit etwas zu vergeuden, das man nicht haben konnte.

Es war nicht so, als wüsste ich nicht, wie wichtig mein Job, meine Verpflichtung, war. Die Zugehörigkeit zum Orden – einer weitverzweigten Organisation, die über Wissen verfügte, das in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurde –, hatte zur Folge, dass mein Leben mehr Bedeutung hatte als das der meisten anderen.

Jedenfalls sagte man das.

Jeder von uns hatte eine Tätowierung, die uns als ein Mitglied des Ordens auswies: drei ineinander verschlungene Spiralen, die an ein vorkeltisches Design erinnerten, und darunter standen drei gerade Linien. Der Orden hatte die Linien zu seinem Freiheitssymbol erklärt.

Die Freiheit, ohne Angst zu leben. Die Freiheit, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Freiheit, zu gedeihen.

Ich hatte mein Tattoo an der Hüfte. Keiner von uns trug es an einer Stelle, die Sterbliche oder Fae auf den ersten Blick hätten sehen können.

Also war es tatsächlich wichtig, was ich mit meinem Leben anfing. Das verstand ich. Der Orden war meine Familie. Und ich bereute nichts von dem, was ich tun musste oder was ich aufgegeben hatte. Selbst wenn der Großteil der Bevölkerung keinen Schimmer hatte, was der Orden und ich taten, bewirkte ich etwas. Ich rettete Leben.

Und wenn ich wollte, war ich ein richtig krasser Ninja.

Das zauberte ein Lächeln auf meine Lippen.

Ich sprang auf, warf mir meinen Rucksack über die Schulter und schnappte mir meinen leeren Kaffeebecher. Es war Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Der Fae, den ich draußen vor einer Bar auf der Bourbon Street entdeckte, erinnerte mich an Daryl Dixon aus The Walking Dead. Was ätzend war, da ich ihn würde töten müssen.

Er trug ein hellbraunes Hemd mit an den Schultern abgeschnittenen Ärmeln. Die Ränder waren ausgefranst und zerschlissen, und seine Jeans war an den Knien komplett ausgebleicht. Er hatte diese befremdlich heiße Redneck-Ausstrahlung, vor allem mit seinen zotteligen Haaren.

Der ganze Kram mit der silberfarbenen Haut und den spitzen Ohren ruinierte diesen Charme allerdings komplett.

Als er nacheinander sämtliche Bars auf der Bourbon Street abklapperte, erinnerte er mich an einen Touristen, denn jedes Mal, wenn er irgendwo herauskam, hatte er einen neuen Getränkebehälter in der Hand. Es hieß, dass Alkohol auf Fae keine Wirkung hatte, sie sich aber mit einem für Menschen ungenießbaren Gebräu aus Nachtschatten berauschen konnten.

Nachdem ich ihn eine Stunde lang beobachtet hatte, stieg in mir der Verdacht auf, dass ihn in jeder dieser Bars vielleicht ein Fae bedient hatte, denn als er der Bourbon Street den Rücken kehrte und am Gumbo Shop vorbeikam, schwankte er, als wäre er sternhagelvoll.

Ich nahm mir vor, David Faustin anzurufen, den Vorsitzenden des Ordens in New Orleans, um festzustellen, ob er von den anderen Mitgliedern etwas darüber gehört hatte, dass in Menschenbars Nachtschatten ausgeschenkt wurde. Aber zuerst musste ich mich um diesen Daryl-Dixon-Verschnitt kümmern.

Ich konnte ihn schlecht vor aller Augen niederstechen. Außer ich wollte die Nacht im Gefängnis verbringen. Schon wieder. Als ich letzte Mal dabei beobachtet worden war, wie ich einen Fae erledigte, kam die Polizei, und obwohl es keine Leiche gegeben hatte, war es schwer zu erklären gewesen, warum ich bis an die Zähne bewaffnet war.

Und ich hatte wirklich keine Lust, mir anzuhören müssen wie David rumzickte, weil er wieder an Strippen hatte ziehen müssen und so weiter und so fort.

Inzwischen hatte ich einen Mordshunger, der Duft von Beignets, die nur darauf warteten, von mir verspeist zu werden, wehte zu mir herüber, und vor lauter Schwitzen hatte ich wahrscheinlich schon ein Pfund von meinen Brüsten eingebüßt, als der Fae schließlich in eine Gasse stolperte. Halleluja! Da es Mittwochabend war, waren nicht viele Fae unterwegs. Schlecht für meine Wette mit Val.

Am Wochenende sah es ganz anders aus. Wenn mehr Sterbliche unterwegs waren, an denen sie sich vergreifen konnten, und sie leichter damit durchkamen, dann trieb es die Fae in Scharen aus ihren Schlupflöchern.

Wie Kakerlaken, die nachts herumhuschten.

Der Fae verschmolz mit den tiefen Schatten der schmalen Gasse. Leise folgte ich ihm und hielt mich dicht an den feuchten Ziegelsteinmauern der Häuser. Ich nahm die Hände von den Riemen meines Rucksacks und stöhnte, als der Fae plötzlich stehen blieb und sich einem der Gebäude zuwandte.

Er fasste sich an den Reißverschluss seiner Hose.

Echt jetzt? Hatte er ernsthaft vor zu pinkeln? Igitt, das stand so was von nicht auf der Liste mit Dingen, die ich heute Abend hören oder sehen wollte. Und konnte ich wirklich ein Wesen töten, das gerade pinkelte? Es war irgendwie unsportlich, einen Typen mit heruntergelassener Hose zu treten.

Doch ich würde auch auf keinen Fall abwarten, bis er sein Geschäft verrichtet hatte. So langsam, wie er sich bewegte, müsste ich ungefähr zehn Minuten hier stehen, bevor er auch nur seinen Reißverschluss unten hatte.

Den Blick weiter auf den Fae gerichtet, bückte ich mich und legte die Hand um den Griff des Eisenpflocks, den ich in meinen Stiefel gesteckt hatte. Eisen hatte schon immer eine fatale Wirkung auf die Fae gehabt. Sie mieden es, wo sie konnten. Schon die Berührung von Eisen versengte sie, und wenn man eine Fae damit in die Brust stach, tötete man sie zwar nicht, schickte sie aber auf direktem Weg zurück in die Anderwelt.

Wenn man ihnen den Kopf abtrennte, erledigte sie das allerdings. Ein für alle Mal.

Aber Gott sei Dank genügte es, sie in die Anderwelt zu schicken, denn natürlich war es eine eklige Sauerei, Köpfe abzuhacken. Überall verborgene Portale verbanden unsere Welten. Sie waren seit Jahrhunderten verschlossen, aber immer noch gut bewacht. Es war eine Reise ohne Wiederkehr, wenn man einen Fae zurückschickte.

Ich trat von dem Gebäude weg, meinen Pflock in der Hand, und bewegte mich schnell durch die Gasse. Hinter mir blieb der Lärm der belebten Straße zurück, gedämpfte Gespräche und das ferne Dröhnen von Gelächter.

Meine Finger schlossen sich fester um den Pflock, als der Fae die Beine spreizte. Ich gab keinen Laut von mir, als ich direkt auf ihn zuging, aber irgendein angeborener Instinkt machte ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam. Fae konnten uns nicht direkt spüren, aber sie wussten, dass es den Orden gab und was er tat.

Der Fae drehte sich halb um und sah mich mit einem unsteten Blick aus seinen milchig-blauen Augen an. Verwirrung zeichnete sich auf seinen markanten Zügen ab.

»Hey!«, zwitscherte ich und holte weit aus.

Sein Blick flackerte zu meiner Hand, und er seufzte. »Scheiße.«

Selbst berauscht und im Begriff zu pinkeln, war der Fae verflucht schnell. Er wirbelte herum, wehrte meinen Hieb mit einem Arm ab und riss das Knie hoch. Ich warf mich zur Seite und entkam nur knapp einem Tritt in den Bauch.

Ich schaute nicht nach unten, um zu sehen, wie weit er mit dem Reißverschluss gekommen war, sondern sprang vor und tauchte unter dem Arm durch, mit dem er nach mir schlug. Ich schnellte hinter ihm hoch und trat ihm mit dem Fuß in den Rücken.

Der Fae ächzte und taumelte einen Schritt, dann drehte er sich zu mir um, während ich vorsprang, um die Sache zu Ende zu bringen. Ich schwang die Hand mit dem Pflock, und die scharfe Spitze war kaum zwei Zentimeter von der Brust des Fae entfernt, als er zischte: »Deine ganze Welt endet. Er ist …«

Ich rammte ihm den Eisenpflock in die Brust und schnitt ihm damit das Wort ab. Die Spitze durchbohrte seine Haut wie fadenscheinigen Stoff. Eine Sekunde lang blieb er intakt, dann öffnete er den Mund und stieß ein schrilles Heulen aus – wie ein Kojote, der von einem Truck überfahren wurde.

Heilige Haifischzähne!

Vier seiner Schneidezähne waren rasiermesserscharf und verlängert. Sie reichten bis zu seiner Unterlippe und erinnerten mich an einen mutierten Säbelzahntiger. Es war nicht hübsch anzusehen. Fae konnten beißen. Tatsächlich hatten alle Kreaturen aus der Anderwelt die Neigung zu knabbern.

Ich wich zurück und ließ den Pflock sinken, während der Fae irgendwie in sich selbst hineingesogen wurde. Von seinem zotteligen Kopf bis zu seinen Sneakers faltete er sich wie ein Stück Papier zusammen, das zerknüllt wurde, und schrumpfte von über einem Meter achtzig auf die Größe meiner Hand zusammen. Es krachte einmal, wie bei einer Knallerbse, und ein intensives Licht blitzte auf.

Dann war er weg.

»Deine letzten Worte waren irgendwie klischeehaft und lahm«, sagte ich zu der Stelle, an der der Fae eben noch gestanden hatte. »Da habe ich schon Besseres gehört.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Mein Herz tat einen Satz, und ich fuhr herum. Bilder davon, wie ich die Nacht im Stadtgefängnis verbrachte, schossen durch meinen Kopf. Obwohl ich offensichtlich gerade auf frischer Tat ertappt worden war, ließ ich den Pflock schnell hinter meinem Rücken verschwinden.

Zum Glück war es kein städtischer Freund und Helfer, der im Eingang der Gasse stand, sondern ein Mann in schwarzer Hose und weißem Hemd. Trotzdem verspürte ich keinerlei Erleichterung, als er gemächlich auf mich zukam, als wäre er zu einem mitternächtlichen Spaziergang unterwegs.

Er hatte mitangesehen, wie ich den Fae erstochen hatte. Dass er trotzdem herkam, konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder gehörte er zum Orden – aber nicht zur Sektion New Orleans, denn ich kannte ihn nicht –, oder er war ein Diener der Fae, ein Mensch, der in ihrem Bann stand. Dann konnte er genauso gefährlich sein wie seine Herren.

Und wenn man ihn erstach, würde er keine Puff-und-weg-Nummer abziehen, sondern er würde bluten, sterben und eine Leiche hinterlassen, genau wie alle anderen Menschen auch. Der Orden hatte keine strikten Regeln, was das Töten von Menschen anging, weil es manchmal ein notwendiges Übel war. Aber es musste schon extrem mies stehen, bevor man einen umbrachte.

Meine Finger verkrampften sich um den Pflock. Bitte, sei kein Diener. Bitte, sei irgendein Spinner, der glaubt, ich wäre seine rothaarige Stieftochter oder so was. Bitte. Bitte. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich und wappnete mich innerlich.

Der Mann legte den Kopf schief. O nein, das gefiel mir ganz und gar nicht. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Der Typ stand einige Schritte vor dem Ausgang der Gasse. Und dann sah ich es.

Schrägstehende Augen von einem blassen, ausgewaschenen Blau – Fae-Augen. Aber seine Haut war nicht silberfarben. Sie hatte einen kräftigen Olivton, der einen scharfen Kontrast zu seinem blonden Haar bildete. Es war so hell, dass es beinahe weiß war, und es war lang, wie das Haar von Legolas in Der Herr der Ringe.

Legolas war heiß.

Okay. Ich musste mich dringend konzentrieren, weil mit diesem Typen irgendetwas nicht stimmte. Alle meine Instinkte warnten mich. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete den Neuankömmling. Er war nicht mit einem Glamour-Zauber belegt, und er zeigte auch nicht den typischen, stumpfen Blick eines Dieners. Er sah menschlich aus, gleichzeitig aber auch wieder nicht, und er hatte etwas an sich, das mir geradezu entgegenschrie, dass er nicht freundlich sein würde.

Der Typ lächelte und hob den Arm. Wie aus dem Nichts erschien eine Pistole in seiner Hand. Einfach so. In der einen Sekunde war da eine leere Hand, und in der nächsten Sekunde hatte er eine Waffe.

Was zur Hölle?

»Ich wünschte, du könntest gerade deinen Gesichtsausdruck sehen«, sagte er. Dann richtete er die Pistole auf mich.