Als Detective Inspector Hal Challis den brutalen Mord an Janine McQuarrie untersuchen soll, die auf einer einsamen Landstraße vor den Augen ihrer siebenjährigen Tochter erschossen wurde, werden seine Ermittlungen durch ein Gewirr von Lügen und Heimlichkeiten behindert. Jeder in Waterloo hat etwas zu verbergen und etwas zu verlieren.
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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.
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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.
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Schnappschuss
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ein Inspector-Challis-Roman (3)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Originaltitel: Snapshot (2005)
© by Garry Disher 2005
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Juang Niu/Getty
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30358-4
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Für Frank Nowatzki
Samstagabend hatte sie zugeschaut, wie Robert es mit vier Frauen hintereinander trieb. Sie selber hatte Sex mit zwei Männern. Nun war es Dienstag, und sie fuhr mit ihrer siebenjährigen Tochter über den Highway. Samstag abends Sex mit Fremden, Dienstag früh mit ihrer Tochter im Familienkombi: die Gegenpole ihrer Existenz? Nun nicht mehr. Dagegen hatte Janine McQuarrie etwas unternommen.
»Wann sind wir endlich da?«, fragte Georgia mit piepsender Stimme.
Noch so ein Klischee in einem Leben voller Klischees. »Bald, mein Schatz. Dauert nicht mehr lang.«
Sie musste sich konzentrieren. Die schwache Wintersonne warf verwirrende Schatten, aber vor allem musste sie bald mehrmals rechts abbiegen. Einmal vom Highway runter, dann vom Peninsula Freeway und dann von der Penzance Beach Road, die sich in schwindelerregende Höhe über dem Meer hinaufschraubte. Vor einer Kreuzung, an der die Ampel grün war, fuhr sie langsamer. Hier sollte sie rechts abbiegen, aber das bedeutete, dass sie dem Gegenverkehr, der unablässig auf sie zuströmte, Vorfahrt lassen musste, und was, wenn irgendein Irrer nicht mehr bremsen konnte, bevor sie ganz abgebogen war? Sie versuchte zu schlucken. Ihr Mund war ganz ausgetrocknet. Jemand hupte sie an. Ohne abzubiegen, fuhr sie über die Kreuzung.
All diese Leute letzten Samstag waren sich so nahe gekommen, wie es körperlich nur ging, doch Janine hatte keinerlei Zusammengehörigkeitsgefühl erwartet, nicht gesucht und auch nicht gefunden. Sie wusste von früheren Gelegenheiten, dass die anderen Paare Ausschau nach einander hielten. Die Frauen schauten nach ihren Männern, hatten stets ein Lächeln, einen Kuss, eine liebevolle Geste parat, die besagen sollte: »Wollte nur mal sehen, ob du glücklich bist.« Und die Männer schauten, wie es ihren Frauen erging: »Alles in Ordnung? Ich liebe dich.« Ja, manchmal kamen sie zusammen und hatten Sex miteinander, bevor sie zu einer anderen Spielecke weiterzogen. Aber das war nicht Roberts Art. Er wünschte ihr noch nicht mal viel Spaß, sondern war sofort hinter den jüngeren Ehefrauen her und den Frauen, die allein gekommen waren. Dann wurde er von Gier gepackt, die sie in seinen Augen aufblitzen sehen konnte. Letzten Samstag war es nicht anders gewesen. Bis drei Uhr früh hatte er sie dort festgehalten, selbst nachdem die meisten anderen schon lange nach Hause gegangen waren.
»Ma?«
»Was denn?«
»Krieg ich ein Happy Meal?«
»Mal sehen.«
Georgia neben ihr fing an zu singen.
Drei Monate lang hatte ihr Mann sie bearbeitet, bis sie endlich einwilligte. Als er das erste Mal vorschlug, sie sollten doch auf eine Swingerparty gehen, hatte Janine erst geglaubt, Robert würde einen Witz machen, aber schnell festgestellt, dass er es ernst meinte. Ihr war ein wenig unbehaglich dabei, aber eher wegen der Geschmacklosigkeit und der Gefahr, ertappt zu werden, weniger wegen des Eindrucks, dass er sie vielleicht körperlich nicht mehr begehrte.
»Warum willst du denn Sex mit anderen Frauen haben?«, hatte sie ihn gefragt und dabei ein leichtes Zittern in die Stimme gelegt.
»Aber du kannst doch Sex mit anderen Männern haben«, hatte er verständnisinnig geantwortet, »mit so vielen, wie du magst.«
»Ach, machst du den Zuhälter, Robert?«
»Nein, natürlich nicht, das wird unserem Liebesleben Würze verleihen.«
Janine musste zugeben, dass ihr gemeinsames Liebesleben schläfrig bis nicht existent war. Das war es immer noch – zumindest mit Robert.
Drei Monate lang ließ sie ihn in dem Glauben, er würde sie dazu überreden, überzeugen, verführen. »Du wirst nette Leute kennen lernen«, sagte er einmal. »Sehr offenherzige Menschen.«
Das war die Bestätigung. Er hatte schon Erfahrungen mit so etwas. Sie machte eine kurze Pause und fragte dann mit leiser Stimme: »Willst du mir damit sagen, dass du schon mal auf so einer Party warst?«
»Ja«, antwortete er und versuchte, nicht beschämt oder ausweichend zu klingen, sondern offen und ehrlich, vielleicht sogar ein wenig herausfordernd und couragiert. Wut stieg in ihr auf, aber das behielt sie für sich. Er war so durchschaubar, so klein. Sie tat scheu, ein wenig eingeschüchtert, und fragte: »Ach, sind denn Männer allein überhaupt zugelassen?«
»Auf manchen Partys schon«, antwortete er. »Dann kostet es mehr, und wenn man als schmieriger Typ rüberkommt, wird man schnell ausgeschlossen.«
Schmierig war Robert nicht, und gruseln musste man sich auch nicht vor ihm. Er sah eigentlich nach nichts Besonderem aus. Schmierig waren nur seine Moralvorstellungen.
»Du hast keinen Grund, dich bedroht zu fühlen oder eifersüchtig zu sein«, sagte er mit sanfter Stimme und streichelte ihren Arm, ihren Hals, ihre Brüste, und tatsächlich erregte sie das, ihr Körper verriet sie. »Das schmiedet das Band zwischen den Paaren nur umso fester«, fuhr er fort. »Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Es geht um gegenseitiges Vertrauen. Eine ganz grundsätzliche Sache.«
Und so weiter und so fort, drei Monate lang.
»Ich will nicht mit einem Heizungsmonteur schlafen«, sagte sie schließlich. Sie wusste ganz genau, auf welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste.
Er schüttelte den Kopf, ganz Gentleman. »Natürlich finden sich dort Leute aus allen Gesellschaftsschichten«, sagte er, »aber ich werde dafür sorgen, dass wir nur auf die besseren Partys gehen.«
Ja genau, Partys, auf denen rechte, neunmalkluge Söhne von Police Superintendents zugelassen sind, dachte sie an der nächsten Kreuzung, und ihr Magen wurde zu Stein, als sie endlich den Mut aufbrachte, durch den ihr entgegenbrausenden Verkehr hindurch rechts abzubiegen. Kurz darauf fuhr sie den Anstieg hoch, landeinwärts, fort von der Küste, über schmale, sonnenlose, mit tropfnassen Kiefern und Eukalyptusbäumen gesäumte Straßen. Der Winter hatte eingesetzt.
Schließlich gaukelte sie Robert vor, dass er sie weich gekriegt hatte, und ließ sich von ihm zu seinen banalen kleinen Vorstadtorgien mitnehmen. Sie ging aus Neugier mit, aber auch, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Bei den ersten drei Malen bestand sie darauf, nur als Zuschauerin teilzunehmen – Robert juckte es natürlich, gleich mitzumachen.
Bei der vierten Party trank sie erst ziemlich, um so den Eindruck zu vermitteln, sie müsse sich Mut antrinken – doch dann stellte sie zu ihrer eigenen Verärgerung fest, dass sie den Alkohol tatsächlich nötig hatte. »Gut so, mein Schatz«, sagte Robert.
Zu ihrer Überraschung stellte sich das Ganze als ziemlich erotisch heraus. Ein Haus in Mornington, die Straße mit Platanen gesäumt, hohe Hecken, um die Blicke der Passanten oder neugieriger Nachbarn abzuhalten. Robert zeigte ihr das Anwesen und stellte den Wagen dann in einer Seitenstraße ab. »Wir tun nichts Verbotenes«, sagte er, »aber wir wollen auch kein unnötiges Aufsehen erregen.« Wie für eine normale Party gekleidet, gingen sie zum Haus und wurden an der Tür empfangen.
Es war zehn Uhr abends, die meisten Gäste waren schon anwesend, etwa zwanzig Pärchen und ein Dutzend Frauen. Janine hatte einige von ihnen schon bei früheren Gelegenheiten gesehen. Sie standen mit Drinks in den Händen herum, unterhielten sich über Football, die Börse und darüber, wer die Kinder hütete – in Janines und Roberts Fall war es Janines Schwester Meg.
Gegen halb elf hatten sich alle entspannt. Jacketts wurden abgelegt, Lichter gedämpft, es gab Geknutsche, in einer Ecke des Wohnzimmers lief auf einem Breitbildfernseher ein Porno.
Bald darauf verschwanden die Männer und Frauen in den »Umkleidezimmern«, hängten Hosen, Jeans, Kleider und Blusen weg und tauchten wieder auf, die Männer in Tangas, die Frauen in schwarzen Schlüpfern, Miedern, Jazzpants.
Nach den drei vorangegangenen Besuchen hatte sich Janine schon daran gewöhnt. Auch als Gast musste man sich »leger« kleiden.
Sie trank noch einen Wodka, zog sich dann bis auf den Schlüpfer aus und ging oben ohne in eines der Schlafzimmer, einen großen Raum, in dem zwei Doppelbetten zusammengeschoben worden waren. Schwarze Satinlaken, Kerzen, die ein schummriges Licht warfen, aber so standen, dass sie nicht umgestoßen werden konnten. Auf einem Beistelltisch eine Schale mit Kondomen und ein Gleitgelspender. Zwei Paare schliefen miteinander, andere standen im Schatten und schauten zu, traten manchmal vor und besahen sich das feuchte Geschehen aus der Nähe. Janine, die sich nach den Wodkas besser fühlte und herumschlenderte, spürte, wie die Lust sie schlagartig überkam und ihr heiß und unangenehm durch die Magengrube fuhr. Sie hockte sich auf eine Bettkante, berührte eine Frau an der Brust, einen Mann am Penis und fragte: »Darf ich?«
Es war wichtig, zu fragen und sich nicht einfach aufzudrängen. Die beiden lächelten. Ja, sie durfte. Mach doch einfach mit, Schätzchen, wie wärs?
Janine war immer noch unsicher. Ein Großteil von ihr wollte, ein anderer Teil nicht. Wenn sie sich vielleicht nur aufs Bett legte … die Zeit verging. Manche blieben stehen, schlenderten in eine andere Spielecke oder schlossen sich ihnen an. »Gefällt dir das?«, fragten sie, »oder das?« »Hier oder da?« »Was ist dir lieber?« »Darf ich das hier machen?« »Was macht dich an?« Gegen Mitternacht hatte Janine mit drei Männern geschlafen.
Ihre persönliche Erweckung erlebte sie, anders als Robert beabsichtigt hatte, als sie vor ein paar Wochen Liebe und Erregung in den Armen eines Mannes fand, der nicht zu dieser Swingerszene gehörte.
Janine schlug sich die Gedanken daran aus dem Kopf und konzentrierte sich auf die Straße. Jetzt, da sie auf der Penzance Beach Road war, fühlte sie sich etwas sicherer. Sie fuhr durch eine Gegend mit asphaltierten Straßen, von denen Schotterwege abzweigten, und kam an Weingütern, Beerenfarmen, Kunsthandwerksgalerien vorbei und begegnete dabei mehr Autos, als ihr eigentlich lieb war. Von Westernport aus hatte sich dichter Nebel über die Halbinsel gesenkt. Sie versuchte, sich im Geiste die Fahrtroute vorzustellen, aber sie war noch nie hier entlanggefahren. Robert war der Fahrer in der Familie.
Robert mit seinem Blödsinn von wegen höherer Form sexueller Freiheit. Von Anfang an hatte Janine gewusst, dass Robert und die anderen die ganze Angelegenheit nur ins rechte Licht rücken wollten, damit sie sich wegen dessen, was sie da in Wahrheit taten, besser fühlten. »Die Aufhebung der Eifersucht« nannten sie das, »wahrhaftiges Teilen« und eben »die höchste Form sexueller Freiheit«. Janine hatte auf ein paar Websites noch mehr solcher Sprüche gefunden: »Spaß und Erotik für alle gemeinsam«, verkündete ein Anbieter, der auch Kleinanzeigen schaltete, die darauf abzielten, gleichgesinnte Pärchen zusammenzubringen.
Auch in den Verhaltensregeln kam dieser Ton durch. Natürlich nannte sie niemand Verhaltensregeln, sondern »Umgangsformen«: vorher duschen, Safer Sex, kein Analverkehr, die Wünsche des anderen respektieren. Nein heißt Nein, erst fragen und den passenden Augenblick abwarten, zuschauen erlaubt. In den Spielbereichen nur erotische Kleidung, einen Drink zur Auflockerung gern, aber niemand will mit einem Betrunkenen zusammen sein.
Trotz all des Unsinns drumherum war es beim ersten Mal durchaus erregend gewesen, und so blieb es auch eine Weile. Manchmal passten die Bestandteile – die Gerüche, Geräusche, Eindrücke – so gut zusammen, dass Janine ganz geil wurde. Frei, lebendig oder leicht verrucht, um nur einiges von dem Blödsinn zu nennen, den die anderen ab und zu von sich gaben, kam sie sich allerdings nicht vor. Und ihre Beziehung zu Robert hatte sich auch nicht gebessert – nicht, dass sie das damals gewollt hätte und heute, wo sie einen echten Mann, die echte Liebe gefunden hatte, erst recht nicht. Janine empfand das alles eher als harte Arbeit, und sie verachtete das ganze Drumherum. Alle waren so nett, bemühten sich so sehr darum, dass alle Gelegenheit hatten, in dieses einzudringen, jenes zu berühren, dieses zu lutschen, jenes zu streicheln, tu dies, bitte, tu das noch mal, bitte. Sie war Psychologin von Beruf, aber man brauchte keinen Universitätsabschluss, um zu erkennen, dass diese ganze Sexpartyszene auf die Bedürfnisse des Mannes zugeschnitten war, nicht auf die der Frau, und ganz symptomatisch war für fundamentale Ängste, für das verzweifelte Klammern an die Jugend, für die Suche nach Selbstachtung und für den jämmerlichen, illusorischen Wunsch, begehrt und geliebt zu werden.
Robert und seine Kumpel brauchten mal eine gehörige Portion Wirklichkeit. Die Möglichkeit dazu war Janine in den Schoß gefallen. Vor genau einer Woche hatte der Waterloo Progress, eine kleine Wochenzeitung, einen langen Artikel über die Swingerszene veröffentlicht. Die Herausgeberin hatte offenbar an einer Party irgendwo auf der Halbinsel teilgenommen und mit Einverständnis der Veranstalter und Teilnehmer darüber geschrieben. Der Artikel hatte bei den braven, anständigen Bürgern, die insgeheim nach etwas Würze in ihrem Leben gierten, für ziemlichen Wirbel gesorgt. Keine Fotos, keine echten Namen – und genau das hatte Janine auf die Idee gebracht. Gestern dürften Robert und drei seiner Kumpel ihre Post geöffnet und Fotos von sich in all ihrer natürlichen Schönheit gefunden haben, wie sie es vor einem Haufen anderer Nackter mit Frauen trieben, die nicht ihre Ehefrauen waren.
Mit einem normalen Fotoapparat oder einer kleinen Spionkamera hätte sie die Aufnahmen nicht machen können. Aber ein Handy mit Foto und Video, das war was ganz anderes. Auf diesen Partys brauchte man ja ein Handy, in ein Handtuch gewickelt, im Tanga oder Mieder versteckt, für den Notfall, dass die Babysitterin anrief.
Ein paar schnelle Schnappschüsse, ein paar Sekunden Video: Hausärzte, Geschäftsleute, Schuldirektorinnen, Anwälte und Buchhalter, die in irgendeinem hässlichen Vorortschlafzimmer mit Fremden bumsen. Sogar ein paar Schnappschüsse von Robert. Janine zitterte geradezu vor Freude. Und wenn sie die Bilder seinem Vater, dem Police Superintendent, dem Hüter der Ordnung, zeigte?
Nein, vielleicht ein andermal.
Janine hatte den vier Männern, deren Gesichter deutlich genug zu sehen waren, um erkannt zu werden, jeweils ein Foto geschickt. Keine Geldforderungen, keine Notiz. Sie wollte nur für ein wenig Unruhe innerhalb der Swingerszene sorgen. Sie musste grinsen wie ein Haifisch. Die Angst, sich auf einmal im Internet wieder zu finden, so dachte sie, dürfte wohl nicht allzu tief in dem winzig kleinen Verstand dieser Männer verborgen liegen.
Offenbar hatte Robert den Umschlag am Vortag während der Arbeit geöffnet. Als er nach Hause kam, erlaubte sie sich einen kleinen Scherz, rieb sich an ihm, fühlte nach seinem Schwanz und fragte: »Können wir nächstes Wochenende wieder auf eine Party gehen? Ich kann an nichts anderes denken. Du hattest Recht, es ist befreiend.«
Er verzog den Mund vor Entsetzen und Abscheu und wand sich aus ihren Armen. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee«, hatte er mit gepresster Stimme gesagt, bevor er wütend geworden war und sie beinahe geschlagen hätte. Janine hatte schon immer angenommen, dass er zu Gewalt neigte. Robert war genau die Art von Mann, der seine Frau umbringen und dann darauf plädieren konnte, sie habe ihn provoziert. Janine wusste, dass es eine ganze Menge Männer gab – Richter und Verteidiger –, die ihn damit durchkommen lassen würden. Schließlich schloss er sich den ganzen Abend über in sein Büro ein. Um sechs Uhr früh war er dann nach Sydney geflogen.
In diesem Augenblick riss die Stimme ihrer Tochter Janine aus den Gedanken. »Kann ich die Heizung anmachen?«
»Klar.«
Es war kalt für Anfang Juli – was wohl einen langen, trüben Winter befürchten ließ, nahm Janine an. Sie schaute zu, wie Georgia profihaft die Heizungs- und Ventilatorregler des Volvo betätigte; die Konzentration stand in dem süßen Gesicht mit seinem Kranz aus feinen blonden Locken geschrieben. Janine wunderte sich, wie Robert und sie nur so etwas Hübsches zustande gekriegt hatten. Sie fuhren weiter durch die nebelverhangene Landschaft, und nach einer Weile rutschte Georgia auf ihrem Platz nach vorn und fragte: »Ma, ist es noch weit?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Janine und klang zuversichtlicher, als sie eigentlich war.
Sie fuhren eine Kammstraße entlang, alle paar hundert Meter standen Milchkannen als Briefkästen und Tafeln, auf denen für ›Pferdemist‹ geworben wurde. Dicht stehende Bäume und Unterholz verbargen Zufahrten, die hinunter zu Häusern und Gärten führten, die in den Hügeln verstreut lagen. »Ich glaube, hier ist es«, fuhr Janine fort und wies auf niedrige Ziegelsäulen und ein offenes Holztor. Sie bremste vorsichtig, um nicht den Fahrer des Wagens hinter sich zu verschrecken, blinkte, bog von der Straße ab und fuhr in einem sanften Bogen einen Schotterweg hinab zu einem Wendeplatz neben einem Schindelhaus.
»Schau mal, Schätzchen«, sagte sie und zeigte nach vorn, wo der Nebel sich teilte und einen atemberaubenden Blick auf ein Tal, das Meer und Phillip Island freigab. Doch Georgia ging nicht darauf ein. »Hier ist es unheimlich«, sagte sie und meinte damit das schmutzige alte Schindelhaus. »Muss ich im Auto warten?«
»Du darfst bestimmt fernsehen oder so, da bin ich sicher«, antwortete Janine.
Sie war so durcheinander, dass sie lieber noch mal auf der Straßenkarte nachschaute, ob sie auch richtig war, und atmete erleichtert auf, als sie einen Wagen mit knirschenden Reifen kommen hörte.
Sie waren zu zweit, Fahrer und harter Bursche. Sie rollten die Einfahrt entlang in einem Holden Commodore, Modell 1983, aber immer noch häufig auf den Straßen anzutreffen, wenn auch nicht in schmutzigem Weiß mit einer hellgelben Tür.
Eine Frau, mehr wusste Gent nicht. Er wusste auch nicht, was sie angestellt hatte, nur, dass Vyner ihr mal die Meinung geigen, sie warnen, vielleicht ein paar Ohrfeigen verpassen sollte. Dafür war Vyner zuständig, nicht er. Er war der Fahrer, er lieferte nur den Wagen und die Ortskenntnisse für die gewundenen Straßen in dieser Gegend der Halbinsel, in der es kleine Städtchen, Obstplantagen und Weingärten gab. Vom Meer her zog Nebel auf, verdeckte Straßen und Schiffsrouten und bot gute Deckung für ihren Job.
Die Einfahrt fiel steil von der Hauptstraße ab, und die Bremsen des Commodore waren abgefahren. »Scheißkarre«, sagte Vyner, sein Beifahrer.
Gent rutschte unbehaglich hinter dem Steuer herum. Vyner hatte ihm gesagt, er solle einen vernünftigen Wagen klauen mit ausreichend PS, aber nichts Ausgefallenes.
»Was Besseres hab ich nicht gefunden«, murmelte Gent und trat schuldbewusst mehrmals auf die Bremse des Wagens, der seiner Cousine gehörte.
Der Typ ist ’ne Pfeife, dachte Vyner auf dem Beifahrersitz, zog mit der einen behandschuhten Hand eine Pistole aus der Tasche und schraubte mit der anderen den Schalldämpfer auf. Er wartete mit kaum verhohlener Ungeduld darauf, dass Gent endlich anhielt, dann stieg er aus und ging auf den Wagen der Frau zu, einen silberfarbenen Volvo Kombi. Die Frau stieg entschuldigend lächelnd aus. Vyner hasste das. Wo er herkam, da handelte man erst und stellte dann Fragen. Jugendstrafgericht mit dreizehn, staatliche Fürsorgeanstalt mit vierzehn, Verurteilung zu einer Strafe in einer Jugendstrafanstalt mit fünfzehn. Dann die Navy, wo er ein paar Jahre lang alles daransetzte, um so nützliche Dinge wie technologisch hochentwickelte Tötungstechniken aus größerer Entfernung zu erlernen. 2003 wurde er nach einem Zwischenfall am Persischen Golf entlassen. Der Seelenklempner, der ihn beurteilen sollte, beschied: Leading Seaman Vyner besitzt einen scharfen Verstand, doch ist er manipulativ, lügt zwanghaft und hat einen ausgeprägten Sinn für Grausamkeit bewiesen.
Na ja, wie Vyner an diesem Morgen in sein Tagebuch geschrieben hatte: Kein Komet hat Funken von Freude und Licht über mich verstreut. Das hundsgewöhnliche Leben war ihm auf den Fersen, doch er strebte nach den höheren Bewusstseinsebenen der Weisheit.
Wie zum Beispiel jetzt, als es darum ging, eine Frau vor den Augen ihres Kindes niederzuschießen – denn auf dem Beifahrersitz saß ein Kind, das eigentlich in der Schule hätte sein müssen, wo doch Dienstag war. Das Kind hatte keine Angst, sondern war nur neugierig, doch die Frau schon. Sie hatte die Waffe bemerkt.
Sie reckte ihm ihre Hände entgegen und flehte ihn an: »Nein, bitte nicht, das war nur ein Scherz, ich wollte sie niemandem zeigen, ich wollte kein Geld.« Dann schlug sie die Autotür zu und wich vor Vyner zurück, sagte noch ein paar andere Dinge wie: »Ich bin die falsche Person« und »Was hab ich Ihnen denn getan?« und »Tun Sie meiner Tochter nichts«, aber Vyner hatte einen Job zu erledigen.
Er ging weiter, und als die Frau kehrtmachte und zur Frontseite des Volvo eilte, änderte Vyner sein Schritttempo nicht, sondern hob die Pistole und zielte. Sie umrundete die Motorhaube des Wagens, lief geduckt an der anderen Seite zum Wagenende, also machte Vyner geduldig kehrt und ging ihr entgegen. Ein Katz-und-Maus-Spiel, die Frau wimmerte, Vyner achtete auf seinen ruhigen Puls und langsamen Atem. Ein Eintrag in seinem Tagebuch: Heute standen mir die Engel zur Seite.
Nathan Gent, der hinter dem Steuer des Commodore saß, überkam die Wahrheit wie ein Schock. Er saß offenmäulig da, der Commodore schüttelte sich unrhythmisch auf vielleicht vier von sechs Zylindern, und Gent erkannte, dass er für einen Mord angeheuert worden war. Er schloss den Mund, seine fauligen Zähne schlugen aufeinander, und er gab ein wenig Gas, bis er den Motor gleichmäßiger laufen hörte. »Ein kleines Geschäft«, hatte Vyner gesagt. »Dauert nicht lange.« Vyner – hart, dürr und agil wie eine Peitsche – war schon immer ein harter Hund gewesen, aber Gent hatte nicht gewusst, dass er Leute umgebracht hatte, mal abgesehen von vielleicht ein paar irakischen Kameltreibern. Gent spürte, wie er langsam die Nerven verlor. Er schaute zu, kniff den Hintern zusammen, und sah, wie Vyner und die Frau von beiden Seiten des Wagens gleichzeitig die hintere Stoßstange des Volvo erreichten. Die Frau zuckte zusammen und rannte geduckt den Weg zurück. Vyner hatte alle Zeit der Welt und folgte ihr.
Dann verließ die Frau ihre Deckung. Sie wusste, das Ende war gekommen, und sie hatte vor, Vyner von dem Kind fortzulocken, das im Wagen gefangen war – zumindest hoffte Gent das, und eine alte Verbitterung überkam ihn, als er an seine eigene Mutter denken musste, die ihm zuliebe nie auch nur das kleinste bisschen geopfert hatte. Er sah, wie die Frau vom Carport weg zu einem kleinen Gartenschuppen huschte, einem Durcheinander aus Rechen, Schaufeln, Zaunpfählen, Rasenkantenschneider und Rasenmäher – in Nathan Gents Augen sah er wie ein Victa aus, er sollte mit dem Pick-up eines Kumpels noch mal herkommen, den Kram aufladen und den Mäher für fünfzig Mäuse im Hinterzimmer des Fiddler’s Creek Pub verscherbeln.
Na, besser nicht. Tatort, mit Polizeiband abgesperrt, die Bullen würden bestimmt wissen wollen, was er auf dem Grundstück zu suchen hatte.
Aber Mord. Verdammt, Mittäter bei einem Mord. Um sich zu beruhigen, rieb sich Gent den Stumpf, wo früher sein rechter Ringfinger gewesen war. Eine Schiffskette irgendwo im Persischen Golf hatte ihn abgerissen.
Dann fiel ihm wieder ein, was Vyner wegen des Diebstahls eines Wagens gesagt hatte, und insgeheim dankte er Gott für den Nebel. Und für den Ort: Das Haus lag unter Straßenniveau, die Straße selbst schlängelte sich an einem Kamm entlang, und das Gelände fiel zu beiden Seiten steil ab. Vorbeifahrende mussten schon anhalten, aussteigen und sich an das oberste Ende der Zufahrt stellen, um zu Wendeplatz und Carport hinunterschauen und Augenzeuge werden zu können. Nachbarn gab es auch keine. Aber verdammt noch mal, warum hatte er keinen Wagen geklaut, wie Vyner gesagt hatte?
Gent schaute zu, wie Vyner auf die Frau, die sich nun neben die Scheune kauerte, zielte und zweimal schoss. Es knallte nur leise, gedämpft von Nebel und Schalldämpfer. Dann kehrte Vyner eilig zum Wagen der Frau zurück.
Das Kind wusste, was los war. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben, sprang in seinem roten Parka aus dem Wagen, rannte los, die Locken hüpften, Vyner verfolgte sie mit der Pistole. Gent sah, wie er schoss und sie verfehlte. Sie rannte auf den Commodore zu, Gent dachte: Nein, verpiss dich, ich kann dir nicht helfen. Er streckte die Hand aus dem Fenster und scheuchte sie davon. Sie starrte ihn lange mit offenem Mund an und rannte dann in Richtung einer Reihe von Pappeln davon, die am Rande des Gartens standen. Gent sah, wie Vyner zielte und abdrückte. Nichts. Vyner glotzte die Waffe angewidert an und kehrte dann auf der Suche nach den ausgeworfenen Patronenhülsen zum Schuppen zurück. Einen Augenblick später stieg er in den Commodore und brüllte: »Na los.«
Ich muss das Arschloch bei Laune halten, dachte Vyner. Gent hatte zu lange da rumgesessen – aber eigentlich waren es höchstens zwei Minuten gewesen. Er hoffte, dass sich der Typ nicht als Risiko herausstellte. Gent war erst Anfang zwanzig, aber er ging vor lauter Bier und Drogen schnell vor die Hunde. Ein aufgeschwemmter Kerl mit Hängeschultern, der behauptete, jede Seitenstraße auf der Halbinsel zu kennen – und wahrscheinlich auch jeden Hinterhof und jede Hintertür, dachte Vyner.
Gent kriegte fünftausend Dollar für seinen Job und wusste, was ihn erwartete, wenn er die Schnauze nicht hielt.
Sie kamen ans obere Ende der Zufahrt, Vyner zog das Magazin aus seiner Browning und verfluchte die Waffe. Man sollte doch annehmen, dass die Navy zuverlässige Handfeuerwaffen besitzt, schon aus Gründen der Landesverteidigung und all dem. Nicht, dass er vorgehabt hätte, diese Waffe zu behalten und als Beweisstück mit sich herumzuschleppen. Er würde das tun, was er immer getan hatte, er würde sie in einen Betonblock eingießen und ihn auf den Müllplatz einer Baustelle werfen. In dem Wandsafe in seiner Wohnung in Melbourne lagen noch zwei Browning-Pistolen von der Navy, die würde er sich heute Abend erst einmal genau anschauen und reinigen. Er wollte nicht, dass sie wieder versagten, vor allem nicht, wenn er sich selbst verteidigen musste. Beschissene Waffe. Unglücklicherweise war es zu spät, sich seine fünfhundert Dollar pro Stück zurückzuholen, der Waffenmeister bei der Navy, der sie ihm verkauft hatte, war nämlich tot. Hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.
Vyner schraubte den Schalldämpfer ab – wenigstens der hatte funktioniert – und ließ ihn in die Innentasche seiner Jacke gleiten, dann stopfte er die Browning in eine andere Tasche, der Abzugshahn verfing sich im Stoff und riss ein Loch. Beschissenes nutzloses Teil. Vyner hatte etwas Ausgefeilteres haben wollen, eine Glock Automatik oder einen kurzläufigen Steyr-Karabiner und ein hochmodernes Nachtzielgerät, aber alles, was der Kerl von der Navy ihm verkaufen wollte, waren drei alte Brownings aus dem Lager, die zum Kadettentraining verwendet und nun nach und nach ausgemustert wurden. »Die kann ich im Papierkram untergehen lassen«, hatte sein Kumpel gesagt, »aber der neue Kram, keine Chance.«
Vyner zog die Handschuhe aus und klappte die Sonnenblende runter, um sich im Schminkspiegel zu betrachten. Er hatte nichts zwischen den Zähnen hängen. Sein altvertrautes Gesicht sah ihn an. Er steckte seine Kappe ein und strich sich die Haare nach hinten.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte Gent und trat hart auf die Bremse, als der Commodore am oberen Ende der Zufahrt an die Straße kam. Der Wagen kam abrupt zum Halt, als plötzlich ein Taxi aus dem Nebel herangeschossen kam und im Bruchteil einer Sekunde wieder darin verschwand.