Über dieses Buch

In der Nähe von Tiverton, einer Kleinstadt in Australiens Nirgendwo, wird ein Mädchen tot am Straßenrand gefunden. Constable Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, übernimmt den Fall. Er glaubt nicht an einen Unfall mit Fahrerflucht. Hirsch rüttelt an der trügerischen Stille und wirbelt nicht nur den Staub der ausgedörrten Straßen auf.

Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Garry Disher

Bitter Wash Road

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ein Constable-Hirschhausen-Roman (1)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Bitter Wash Road bei The Text Publishing Company, Melbourne.

Originaltitel: Bitter Wash Road

© 2013 by Garry Disher

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30918-0

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Version vom 01.12.2021, 01:30h

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In Gedenken an Deborah Cass

1

Eines Montagmorgens im September, drei Wochen nach seinem Dienstantritt, nahm der neue Polizist in Tiverton einen Anruf seines Sergeants entgegen: Schüsse an der Bitter Wash Road.

»Wissen Sie, wo das ist?«

»Ungefähr, Sergeant«, sagte Hirsch.

»Ungefähr. Sie sollten sich doch umsehen. Oder sitzen Sie sich die ganze Zeit den Hintern platt?«

»Hab mich umgesehen, Sergeant.«

»In der Zeit müssten Sie doch schon einiges gesehen haben.«

»Jawohl, Sergeant.«

»Ich brauche keine Faulenzer, hatte ich Ihnen doch gesagt, nein?«

»Laut und deutlich, Sarge.«

»Ich dulde keine Faulenzer«, mahnte Sergeant Kropp, »und keine Klugscheißer.«

Dann schaltete er einen Gang zurück und berichtete Hirsch, dass eine Autofahrerin den Vorfall gemeldet habe. »Eine Touristin, hat keinen Namen genannt, wollte sich nur die Blümchen ansehen. Sie hat angehalten, wollte die alte Wellblechhütte fotografieren und hat Schüsse gehört.« Kropp schwieg. »Haben Sie verstanden, die alte Hütte?«

Hirsch hatte nicht die leiseste Ahnung. »Jawohl, Sarge.«

»Also bewegen Sie Ihren Hintern und melden Sie mir, was da los ist.«

»Sarge.«

»Wir sind hier auf dem Land«, fuhr der Sergeant fort, nur für den Fall, dass Hirsch noch nicht selbst draufgekommen war, »da ballern die Schafschänder gern mal auf Kaninchen. Aber man weiß ja nie.«

Hier draußen, drei Stunden nördlich von Adelaide, gab es tatsächlich nichts außer Weizen und Wolle. Hirschs neuer Posten war ein Ein-Mann-Revier in einem Kaff am Barrier Highway. Tiverton. Einmal geblinzelt, schon war man durch. Es gab noch ein paar von diesen kleinen Dienststellen im Bundesstaat South Australia, die Polizei war peinlich darauf bedacht, sie nicht Ein-Mann-Reviere zu nennen, nicht heutzutage, nicht in aller Öffentlichkeit, dennoch schickte sie keine Kolleginnen dorthin, vorgeblich aus betrieblichen und sicherheitstechnischen Gründen. Also besetzte man sie nur mit alleinstehenden Männern (die Frauen der verheirateten Kollegen hätten ohnehin sofort abgewinkt), am liebsten mit Kollegen, die Dreck am Stecken hatten.

Wie Hirsch.

Die Wache befand sich im Vorderzimmer eines kleinen Backsteinhauses direkt am Highway; Fliegen brummten, vergilbte Bekanntmachungen bewegten sich im trägen Wind. Hirsch wohnte dahinter: Bad, Wohnzimmer mit Kochnische, Schlafzimmer. Er kam zudem in den Genuss einer ausgedörrten Vorgartensteppe und einer schmalen Zufahrt für seinen eigenen klapprigen Nissan und den Dienstwagen der South Australia Police, einen Toyota HiLux mit Allradantrieb und Heckaufbau. Hinter dem Haus gab es einen Lagerraum, dessen vergittertes Fenster und verstärkte Tür aus den guten alten Tagen vor den Untersuchungen über ungeklärte Todesfälle in Haft stammten, als der Raum noch als Zelle gedient hatte. Für diese Luxusausstattung zog ihm sein Arbeitgeber eine horrende Miete vom Gehalt ab.

Nachdem Hirsch aufgelegt hatte, schaute er auf der Wandkarte nach der Bitter Wash Road, schloss ab, heftete seine Handynummer an die Vordertür und fuhr los. Kurz nach der Polizeistation, gegenüber der Grundschule mit dem verwaisten Spielplatz (es waren Ferien), kam er an dem Gemischtwarenladen vorbei. Dann kamen ein paar alte Steinhäuser, das Mechanics Institute mit der uralten Kanone und dem Gedenkstein für die Gefallenen der beiden Weltkriege, noch mehr Häuser, zwei Kirchen, ein Landwirtschaftsfachmarkt, ein Hinweisschild auf den Getreidehändler in einer Nebenstraße … das war schon ganz Tiverton. Keine Bank, keine Apotheke, kein Arzt, Anwalt, Zahnarzt oder Steuerberater und keine Highschool.

Hirsch fuhr südwärts durch ein flaches Tal, links von ihm sanfte, teils bestellte Hügel, rechts eine imposantere Landschaft. Vereinzelt warfen knorrige Bäume ihre Schatten auf die zerklüftete Felslandschaft und durchbrachen das Blau der Berge, die heute in der Ferne erstrahlten, erste Vorboten auf die Flinders Ranges, drei Stunden weiter. Ganz nach einheimischer Sitte hob Hirsch einen Finger vom Lenkrad, um die entgegenkommenden Autos zu grüßen. Beide. Sonst rührte sich nichts, dabei fuhr er durch eine Landschaft, die geradezu danach lechzte, dass sich etwas bewegte. Vögel, die wie aus Blech gestanzt wirkten, beobachteten ihn von den Stromleitungen aus. Farmhäuser kauerten stumm hinter Zypressen, Landmaschinen warteten reglos auf Koppeln, bis er vorbeigefahren war.

Fünf Kilometer südlich von Tiverton bog Hirsch links in die Bitter Wash Road ein und fuhr nach Osten in die Hügel; endlich bewegte sich etwas. Steine schlugen gegen den Unterboden. Ausgemergelte Schafe flohen, an einem Zaun knurrte ein Hund, Krähen ließen aufgeschreckt von einer platt gefahrenen Eidechse ab. Die gewundene Straße führte ihn immer tiefer in das karge Hügelland, das bereits im Regenschatten lag. Hirsch fuhr an einer eingefallenen Steinmauer aus den 1880ern und einem Windrad vorbei. Entlang der Bachsenken hatte jemand zum Schutz vor Erosion Bäume gepflanzt. Hirsch schaute auf den Kilometerzähler, um zu sehen, wie weit er seit der Abbiegung schon gekommen war, und fragte sich, wie weit es noch bis zu dieser Blechhütte war.

Er bremste, um eine Senke in der Straße zu durchqueren, über die das Wasser vom Gewitter in der vorigen Nacht strömte, gab hügelauf Gas, überquerte die Kuppe und nahm eine unübersichtliche Kurve. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse. Kam in einem Schotterhagel schliddernd zum Stehen.

Der Ast eines Eukalyptusbaums von der Länge eines Strommastes lag quer über der Bitter Wash Road. Hirsch schaltete mit rasendem Herzen den Motor aus. Das war knapp gewesen. Hinter dem Ast fiel die Straße wieder bis zu der Stelle ab, wo ein Bach mit seiner schwachen, schlammigen Flut eine flache Senke in die Schotterpiste gegraben hatte, dann stieg sie wieder bis zu einer unübersichtlichen Kehre hoch. Und dort stand auf einer kleinen Lichtung jenseits des Zauns, am Rand einer Bachkehre die Hütte, von der Sergeant Kropp gesprochen hatte: Wellblechwände und -dach, ziemlich verrostet, ein windschiefer Kamin. Auf einer darüberliegenden Hochfläche entdeckte Hirsch Bäume und ein Eckchen grünen Farmhausdachs.

Hirsch stieg aus. Er wollte gerade den Ast von der Straße ziehen, als eine Kugel knapp an seinem Kopf vorbeizischte.

Sein erster Reflex ließ ihn ducken, sein zweiter, auf die abgewandte Seite des HiLux zu krabbeln und seine Dienstwaffe zu zücken, eine Smith & Wesson, Kaliber .40, Halbautomatik. Erst dachte er, Kropps anonyme Anruferin habe recht gehabt. Doch als Hirsch neben dem verdreckten Hinterrad kauerte, kamen ihm Zweifel: Vor zwei Tagen hatte ihm irgendein Arschloch eine Patrone in den Briefkasten geworfen. Erst jetzt ging ihm auf, dass es sich wohl weder um einen Scherz noch um eine Drohung gehandelt hatte, sondern um eine Ankündigung.

Hirsch wägte seine Möglichkeiten ab: Verstärkung holen; sich dem Schützen stellen; so schnell wie möglich verschwinden.

Möglichkeiten? Dort, wo sich die Straße zwischen einem Rapsfeld und einem Steinhügel senkte, hockte er in der Falle. Ließ er sich blicken – versuchte er also, sich hinters Lenkrad zu setzen, den Hügel hinaufzueilen oder über den Zaun zu steigen, um durch den Raps zu entkommen –, würden sie auf ihn schießen. Verstärkung saß in Redruth, vierzig Kilometer entfernt.

Moment mal. Nichts Verstärkung. Die Schützen, das waren genau die Beamten, die er als Verstärkung hatte holen wollen. Und die waren keine vierzig Kilometer entfernt, sondern vierzig Meter, oben auf dem Hügel, so positioniert, dass sie ihn ins Kreuzfeuer nehmen konnten, Funkgeräte natürlich ausgeschaltet. Redruth war mit drei Mann besetzt, Kropp und zwei Constables; als Hirsch vor drei Wochen dort aufgetaucht war, um sich vorzustellen, hatten sie ihn als Hund beschimpft, als Verräter. Ein stummer Knall, als sie sich einen Finger an die Schläfe hielten, ein Grinsen, während sie sich den Finger über die Kehle zogen.

Sie hatten Hirsch die Patrone in den Briefkasten geworfen, als er nicht hingeschaut hatte.

Hirsch dachte noch etwas länger darüber nach. Selbst wenn er es schaffte, wieder in den HiLux zu steigen, lag der Ast immer noch auf der Straße, und wenden konnte er nirgendwo. Sie würden ihn durch die Scheibe erschießen. Einen direkten Angriff den Hügel aufwärts konnte er streichen, blieb nur noch die wilde Flucht ins Rapsfeld, ein strahlend gelber Streifen, der sich bis zu den dunstigen Hügeln auf der anderen Seite des Tals erstreckte – doch um dorthin zu gelangen, musste er die Böschung hinaufsteigen und sich durch einen Drahtzaun zwängen. Und wie viel Deckung würde der Raps ihm bieten?

Hirsch wurde von einer unruhigen Dissonanz ergriffen. Es hätte Angst sein können, doch er wusste, wie Angst sich anfühlte. Kam das von dem Windpark? Hirsch war nicht weit von einer der Turbinen entfernt. Der Mast stand auf dem Hügel, auf dem sich der Schütze versteckte, der erste in einer ganzen zackigen Reihe, die sich diesseits des Tals erstreckte; die Rotorblätter schnitten mit einem steten, rhythmischen Rauschen durch die Luft, das einem tief in die Eingeweide drang. Es schien Hirsch mehr als passend, dass er hier, wo die Welt so lieblos war, sein Leben aushauchen sollte, am Fuße eines ungepflegten, mit Grasbüscheln bestandenen Hangs voller Kaninchenlöcher und flechtenbewachsener Steinklippen.

Hirsch sah sich vorsichtig in beide Richtungen der Straße um. Er wusste nicht, wo die nächsten Farmhäuser lagen oder wie viele Autos hier wohl entlangfuhren oder …

Himmel, Autos. Hirsch spitzte die Ohren, lauschte, ob er Fahrzeuge hörte, die er warnen, vor einem Unfall bewahren, von denen er womöglich das Blut abwischen musste. Oder vor denen er um sein Leben rennen musste.

Das führte ihn zu der Frage: Warum legten sich die Mistkerle hier auf die Lauer, in Rufweite der Ansiedlung? Warum nicht irgendwo weit draußen? »Draußen im Osten«, nannten das die Ortsansässigen. Nach dem Kalender über Hirschs Schreibtisch zu urteilen, gab es draußen im Osten nur dürres Zypressengestrüpp, roten Staub, blanke geziegelte Kamine, Minenschächte und herbstliche Wildblumen. Dazu kam noch ein zerklüfteter Hügel namens Razorback.

Schulferien im September, Wildblumenblüte … Hirsch lauschte weiter, bildete sich schon ein, eine Busladung Touristen die Bitter Wash Road entlangrollen zu hören.

Er riskierte einen kurzen Blick über die Fensterkante der Beifahrerseite. Auf dem Armaturenbrett steckte das Funkgerät. Sein Handy lag in der Getränkehalterung zwischen den Vordersitzen. Er war ja nicht verpflichtet, das Revier in Redruth anzufunken. Er könnte sich ja auch in Peterborough, Clare, selbst Adelaide melden …

Hirsch hörte einen zweiten Schuss.

Er erstarrte mit den Fingern am Türgriff.

Dann entspannte er sich vorsichtig. Was genau hatte er da gehört?

Keinen mächtigen Knall, sondern etwas anderes, schwach, kümmerlich. Kleinkaliber, noch gedämpft durch den weiten Himmel und das Rauschen der Windturbine. Nicht gerade die Waffe eines Heckenschützen. Es hatte auch ein schwaches Aufjaulen gegeben, als die Kugel abprallte – an einem Stein? – und über den Bach davonschwirrte.

Nicht in der Nähe.

Ein zweiter Querschläger. Wieder erstarrte Hirsch, wieder entspannte er sich. Das war überhaupt kein Querschläger. Eine Kinderstimme machte piiuuhh.

Hirsch tat, was er schon von Anfang an hätte tun sollen, er prüfte den abgefallenen Ast. Keine Schleifspuren im Schotter, keine Spuren einer Säge oder Axt, keine abgerissenen Blätter. Er besah sich den Baum und entdeckte die Bruchstelle auf halber Höhe. Hirsch erinnerte sich an Campingausflüge in seiner Jugend, auf denen die Lehrer die Kinder davor warnten, ihre Zelte unter Eukalyptusbäumen aufzustellen. Äußerlich kräftig und gesund, doch drinnen lauerte stiller Verfall.

Ein wenig so wie bei der Polizei, eigentlich.

Er steckte die Dienstwaffe ein, entspannte die Schultern, trat mitten auf die Straße und zog den Ast in den Graben. Dann stellte er den HiLux am schmalen Straßenrand ab, damit andere Fahrzeuge passieren konnten, und stieg auf den dürren Hügel, um zu sehen, wer ihn ins Grab geschickt hätte, wenn er nicht solches Glück gehabt hätte.

Der Junge und das Mädchen hörten ihn nicht: Der Wind, das rhythmische Rauschen der Turbine über ihren Köpfen, ihre völlige Versunkenheit. Ein Kind zielte mit einer .22er auf eine Blechbüchse auf einem Felsbrocken, das andere stand daneben und schaute zu.

Hirsch hätte sich sofort auf sie stürzen müssen, bevor sie noch einen Querschläger über die Straße schwirren lassen konnten, doch er hielt inne. Das Panorama vom Fuß der Turbine aus war atemberaubend. Die Bitter Wash Road war in beiden Richtungen frei, deshalb nahm er sich einen Augenblick Zeit und sah sich um. Das breite Tal, die üppigen Felder, die Straße, die den Erdfalten folgte. Und der kakifarbene Fleck dort hinten, wo sich die blassgrauen Getreidesilos in den Dunst erhoben, das war Tiverton.

Oberhalb der Blechhütte lag eine Farm, das grüne Dach war jetzt gut zu sehen; auf der anderen Straßenseite stand ein Haus mit rotem Dach. Beide waren von Zypressen umgeben, von Strauchwerk, Gartenbeeten und umzäunten Rasenflächen: die übliche Landschaftsgestaltung hier in dieser Weizen- und Wollgegend. Die Farm mit dem grünen Dach war recht ausgedehnt, eine Reihe von Schuppen, Viehhöfen, auf einem staubigen Platz neben einem Heuhaufen stand landwirtschaftliches Gerät. Die Farm mit dem rot gedeckten Haus war kleiner, verblasster, wies nur einen Carport und einen kleinen Gartenschuppen auf. Hirsch fragte sich, in welcher Beziehung die beiden Besitzungen standen. Vielleicht wohnte in dem kleinen Haus ein Vorarbeiter. Oder ein Paar, er kümmerte sich um den Garten, sie kochte und machte sauber. Die Drecksarbeit eben. Falls es solche Feudalverhältnisse überhaupt noch gab.

Hirsch beschirmte sich die Augen. Immer wieder tauchte die Sonne hinter den Wolkenfetzen auf, und ein paar Schafe trotteten eins hinter dem anderen über eine nahe Hügelflanke.

Ansonsten rührten sich nur die Kinder; Hirsch schätzte, dass sie zu einem der beiden Häuser gehörten. Zwei Wochen keine Schule, also hatten sie sich, ob nun mit oder ohne die Erlaubnis der Eltern, die .22er geholt, um auf Ziele zu schießen. Der Ort war einfach perfekt: Nichts als Gras und Stein, der Hügel senkte sich zum Bach, weit und breit nichts, das Blut in den Adern hatte. Man konnte so tun, als würde man sich mit Bösewichten duellieren, und wenn das Gewehr zu schwer wurde, konnte man den Lauf auf einen Stein legen.

Doch die Kugeln prallten auch unkontrolliert ab. Oder man vergaß, wo man war, und schoss einfach mal so auf eine Krähe oder ein Kaninchen, wenn gerade ein Polizist aus seinem Dienstwagen stieg, um einen umgestürzten Baum wegzuziehen.

Na toll! Mit ein paar Erwachsenen konnte Hirsch umgehen: Es gab klare Bestimmungen, klare Vergehen und Strafen. Aber bei Kindern … er würde mit den Eltern reden müssen; vielleicht musste er ihnen sogar mit Strafe drohen. Himmel.

Die Kinder nahmen ihn erst wahr, als er auf dem Hang ausrutschte und hinfiel. Dann hörten sie ihn fluchen, hörten die Steine purzeln. Hirsch schimpfte, weil er sich erschrocken, die Hose zerrissen und die Haut an Händen und Ellbogen abgeschürft hatte.

Die Kinder drehten sich erschrocken um, rissen Münder und Augen auf. Sie waren ertappt worden, und das wussten sie, interessant war nur, wie sie damit umgingen. Hirsch vergaß den Schmerz und schaute genau hin. Der Junge senkte den Blick wie ein geprügelter Hund, gab schon auf, aber das Mädchen wirkte angespannt. Ihr Blick schoss zu dem leeren Hügel hinüber, zu dem Jungen neben sich, suchte mögliche Fluchtwege. Sie rannte nicht los, aber das hieß nicht, dass sie es nicht versuchen würde. All das lag in dem Blick, den sie Hirsch nun zuwarf.

Er streckte die Handfläche hoch, keine richtige Warnung, kein richtiger Gruß. »Tu es nicht«, sagte er sanft.

Das Mädchen entspannte sich ein wenig. Sie war etwa zwölf, dürr, gefasst, ernst, blinzelte kaum; ihre nackten Arme und Beine in T-Shirt und Shorts waren zerkratzt, die dunklen Haare, in der Stirn kurz geschnitten, reichten ihr bis zu den Schultern. Ein wenig ungepflegt, doch eines Tages würde sie eine strahlende Erscheinung sein.

Verdutzt betrachtete Hirsch den Jungen. Dünn, ähnlich gekleidet, hätte ihr Bruder sein können, doch seine Haare waren strohblond, wuschlig und verfilzt, und seine blasse Haut war rot und sommersprossig. Das Mädchen schien nach Auswegen zu suchen, er ließ sich anscheinend gern sagen, was er zu tun hatte. Aber er hielt die Waffe in der Hand, und er konnte damit umgehen, hielt den Lauf nach unten gerichtet, ließ ihn in der Armbeuge aufliegen und hatte den Verschluss geöffnet. Hirsch zählte fünf Patronenhülsen, die matt im Gras glänzten.

»Ich bin Constable Hirschhausen«, sagte er. »Von der Polizeistation in Tiverton.«

Das Mädchen blieb reglos, doch Hirsch spürte Feindseligkeit, und er strengte sein Gehirn an, um nach dem bestmöglichen Weg zu suchen, wie er fortfahren konnte. »Und wie heißt ihr?«

Das Mädchen erhob ihre Stimme über das Rauschen der Turbinen. »Ich bin Katie, und er ist Jack.«

Katie Street und Jackson Latimer; Katie wohnte mit ihrer Mutter in dem kleineren, rot gedeckten Haus, das Hirsch gesehen hatte, Jackson mit seinen Eltern und einem älteren Bruder in dem größeren Haus mit grünem Dach. Opa Latimer wohnte auch auf dem Grundstück, in einem Haus einen halben Kilometer von der Straße entfernt. »Das kann man vor hier aus nicht sehen.«

Hirsch hatte schon von den Latimers gehört. »Ist das euer Land?«, fragte er und wies auf den Hügel, auf dem sie standen, auf das Windrad über ihnen und die anderen Masten, die sich über die Hügelkette erstreckten.

Jack schüttelte den Kopf. »Mrs Armstrong.«

»Wo wohnt sie?«

Der Junge deutete auf die Stelle, wo die Bitter Wash Road hinter einer weit entfernten Kehre verschwand.

»Ist sie nicht wütend, wenn sie mitkriegt, dass ihr einfach hier herumspaziert?«

Die beiden Kinder waren überrascht, so als habe diese Vorstellung hier draußen nichts zu sagen. »Das ist die beste Stelle dafür«, erklärte Katie.

Stimmt, dachte Hirsch. »Hört mal, die Sache ist nur die, einer eurer Schüsse ist gefährlich abgeprallt und hätte mich beinahe getroffen.«

Er wies in Richtung der Straße. Er ließ seine Stimme etwas härter klingen und fügte hinzu: »Es ist gefährlich, so nahe an einer Straße zu schießen. Ihr könntet jemanden verletzen.«

Er sagte nicht, jemanden töten. Er war nicht sicher, ob so viel Härte noch gewirkt hätte. Er wusste nicht, ob er sanft, streng, stinkig, einfühlsam oder rundheraus tyrannisch sein sollte. Er ging es leicht an: »Wissen eure Eltern, dass ihr hier oben mit einem Gewehr herumschießt?«

Keine Antwort. Hirsch fuhr fort: »Ich fürchte, ich werde mit euren …«

Das Mädchen unterbrach ihn. »Sagen Sie Mr Latimer nichts.«

Hirsch legte den Kopf schräg.

»Bitte«, beharrte sie.

»Warum?«

»Mein Dad bringt mich um«, murmelte der Junge. »Er ist eh nicht zu Hause.«

»Okay, dann spreche ich mit euren Müttern.«

»Die sind auch nicht da.«

»Meine Ma ist mit Jacks Ma einkaufen«, erklärte Katie.

Hirsch schaute auf die Uhr: gleich Mittag. »Wo?«

»Redruth«, antwortete sie zögerlich.

Das hieß, dass sie nicht nach Adelaide gefahren waren und wahrscheinlich zur Essenszeit wieder zu Hause waren. »Okay, gehen wir.«

»Müssen wir jetzt ins Gefängnis?«

Hirsch lachte, erkannte, dass das Mädchen es ernst meinte, und wurde selbst ernst. »Nein, nichts dergleichen. Ich fahre euch nach Hause, und wir warten, bis jemand kommt.«

Er machte nicht viel Aufhebens darum, bewegte sich langsam, als er Jack die Waffe – eine Ruger – abnahm. Er hatte schon zuvor Menschen die Waffen abgenommen, aber noch niemals auf diese Weise. Er fragte sich, ob hier draußen in der Mitte von Nirgendwo die Polizeieinsätze jemals riskant werden konnten. Er ging mit den Kindern zurück über den Kamm und hinunter zum HiLux. Das Mädchen bewegte sich schnell, energisch; der Junge stapfte hinterher, Wirbelsäule, dürre Arme und Beine bewegten sich in einem merkwürdigen Widerspruch zueinander, wie mit angezogenen Zügeln. Hirsch bemerkte, dass der linke Schuh des Jungen klobiger war als der rechte, Sohle und Absatz waren höher.

Das Mädchen bemerkte Hirschs Blick. Ihre Augen blitzten. »Sie haben ein Loch in der Hose.«

Als die Kinder angeschnallt waren, Katie auf dem Beifahrersitz, Jack hinten, fragte Hirsch: »Also, warten wir bei Jacksons Haus?«

»Mir egal«, meinte Katie und fügte hinzu: »Statt uns zu belästigen, sollten Sie lieber nach diesem schwarzen Auto suchen.«

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt suchte die Polizei nach Hunderten, Tausenden Wagen. Aber Hirsch wusste genau, welchen Wagen sie meinte: den Chrysler von Pullar und Hanson, der das letzte Mal gesehen wurde, als er in Richtung Longreach fuhr, über zweitausend Kilometer entfernt. »Ich bezweifle, dass er sich in unserer Gegend herumtreibt«, sagte er.

Katie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schaute dann weg. »Das denken Sie!«

Hirsch war fasziniert von dem Mädchen. Staubig olivfarbene Haut, ein winziger Goldreif in jedem Ohr, eine Haarsträhne, die ihr am Nacken klebte, völlig eigenständig. Eines von diesen entschlossenen, nimmermüden Kindern, die meist recht haben und einem häufig auf die Nerven gehen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie er in diesem Alter gewesen war. Als klar wurde, dass Katie sich nicht weiter darüber auslassen wollte, schob er den Schlüssel ins Zündschloss.

»Wir haben ihn an der Schule vorbeifahren sehen«, sagte Jack auf der Rückbank.

Langsam nahm Hirsch die Hand vom Schlüssel. Hatte irgendjemand den Kindern seinen Pimmel gezeigt oder versucht, sie zu entführen? »An der Grundschule im Ort?«

»Ja.«

»Wann denn?«

»Gestern.«

»Ein schwarzer Chrysler?«

»Ja.«

»Was habt ihr denn am Sonntag in der Schule gemacht?«

»Ein Arbeitseinsatz. Wir haben aufgeräumt und Bäume gepflanzt.«

»Hat der Wagen angehalten?«

Katie schüttelte den Kopf. »Ist einfach weitergefahren.«

»Wann war das?«

»Kurz vor Mittag.«

Hirsch stellte sich die Szene vor. Die kleine Schule lag gegenüber der Polizeistation, ein großer Spielplatz grenzte an den Barrier Highway. Eingang, Parkplatz und Klassenzimmer gingen zu einer Seitenstraße hinaus. Die Geschwindigkeitsbegrenzung im Ort lag bei 50 km/h, da hatte ein aufmerksames Kind durchaus Gelegenheit, Einzelheiten zu erkennen. Aber welche Einzelheiten hatten denn dieses Fahrzeug von den anderen unterschieden, die sonst jeden Tag an der Schule vorbeikamen, die Farmer-Pick-ups, Familienkutschen, Getreidelaster, Interstate-Busse? Es hatte sich um einen schwarzen Chrysler gehandelt, das war der Unterschied gewesen. Ein Auto, von dem in den Nachrichten die Rede war und das von zwei Mördern gefahren wurde.

Kein gewöhnliches Auto – aber auch nicht sonderlich selten, und das sagte Hirsch auch. »Schätze, die Männer sind immer noch in Queensland.«

»Egal. Können wir einfach fahren?«

Hirsch schaute in den Rückspiegel und suchte nach dem Gesicht des Jungen. Jack rutschte weg.

»Wie ihr wollt«, meinte Hirsch, schaute in den Außenspiegel und fuhr auf die Straße.

Wo wir gerade von aufmerksamen Kindern sprachen …

»Habt ihr zufällig letzte Woche jemanden gesehen, der vor der Polizeistation rumlungerte? Und vielleicht etwas in den Briefkasten geworfen hat?«

Die beiden starrten ihn an, und gerade, als er dachte, er habe sie verschreckt, meinte das Mädchen: »Da war eine Frau.«

»Eine Frau.«

»Aber ich hab nicht gesehen, ob sie was in den Briefkasten geworfen hat.«

»Meinst du, sie hat auf mich gewartet?«

»Sie hat in Ihren Wagen geschaut.«

Hirsch wurde ganz still und hielt an. Leichthin fragte er: »Wann war denn das?«

»In der großen Pause.«

Hirsch ging jeden Morgen auf Streife, das war bekannt. »An welchem Tag?«

Katie besprach sich mit Jack und antwortete: »An unserem letzten Tag.«

»Am letzten Schultag? Freitag?«

»Ja.«

Hirsch nickte bedächtig, nahm seinen Fuß von der Bremse und lenkte langsam an dem abgebrochenen Ast vorbei. Er bemerkte, wie Katie Street ihn beobachtete, spürte, wie ihr Verstand arbeitete und sie sich die Geschichte zurechtreimte – wie er den HiLux angehalten hatte, ausgestiegen war und gehört hatte, wie ein Querschläger an seinem Kopf vorbeischwirrte. Sie sah ihn an, so als wolle sie sich vergewissern, dass er nicht doch eine Schusswunde aufwies. Er lächelte. Sie runzelte die Stirn und sah weg.

Dann meinte sie angespannt: »Wir lügen nicht.«

»Ihr habt eine Frau an meinem Wagen gesehen.«

Sie wurde nervös. »Nein. Ich meine, ja. Ich meine, wir haben den schwarzen Wagen gesehen.«

»Ich glaube euch.«

Das hatte sie schon mal gehört. »Es stimmt!«

»In welche Richtung?«

Katie orientierte sich und deutete mit dem Finger. »Da lang.«

Nach Norden. Was nicht viel Sinn ergab, falls Pullar und Hanson wirklich in dem Wagen gesessen waren – was Hirsch nicht glauben konnte; zwei Psychopathen, die aus der Deckung gekommen und den ganzen Weg bis hierher, nach Schafsmist City, South Australia, gefahren waren.

Katie, die Hirschs Zweifel spürte, wurde bissig: »Das Auto war schwarz, es war ein Kombi, und es hatte gelb-schwarze Nummernschilder aus New South Wales, genau wie in den Nachrichten.«

Hirsch musste wegschauen. »Okay.«

»Und es war ein Chrysler«, setzte Jack hinzu.

Wenig überzeugend meinte Hirsch: »Na, jetzt ist er schon lange fort.«

Vielleicht aber auch nicht, wenn es denn der Wagen von Pullar und Hanson gewesen war. Die Männer konzentrierten sich gern auf abgelegene Farmen an Schotterpisten. Plötzlich verstand Hirsch, was die Kinder mit der Waffe gemacht hatten: Sie hatten auf Pullar und Hanson geschossen.

Langsam fuhr er durch die Senke und wieder hinauf zur nächsten Kehre, wo die Bitter Wash Road eine Weile flach und gerade verlief; die Kinder waren stumm und angespannt. Aber als sie sich dem roten und dem grünen Dach näherten, wurde Katie wach und rief: »Das ist Jacks Zuhause.«

Ein paar Steinsäulen, auf der einen der Name Vimy Ridge, auf der anderen die Jahreszahl 1919, die geölten Torflügel standen offen. Imposant. Hirsch nahm an, dass seit 1919 einiges passiert sein musste, denn alles wirkte recht verwittert, so als sei auch das Geld ausgetrocknet. Eine geschwungene Schotterzufahrt, deren Straßenstaub durch den nächtlichen Regen gebunden war, führte ihn an mit Rosen gesäumten Grasflächen und einer Palme vorbei zu einem hübschen, steinernen Haus. Honigfarbenes Gestein aus der Gegend, ein steiles grünes Dach, das sich bis über breite Veranden zog, alles in diesem nördlichen Regionalstil, der nirgendwo sonst im Land nachgeahmt wurde; das Haus wirkte, als gehöre es genau hier hin. Hirsch betrachtete es anerkennend. Er hatte seine frühen Jahre in einem winzigen Reihenhaus in einer der sonnendurchglühten Straßen von Brompton verbracht – nicht, dass die jämmerliche kleine Vorstadt heute noch so jämmerlich war, dafür hatte schon die Gentrifizierung durch die jungen Städter gesorgt.

Er steckte sein Handy ein, stieg aus, reckte sich und betrachtete das Haus. Aus der Nähe wirkte es nicht mehr so hübsch. Verhärmt, die Farben verblasst und abgeblättert, ein Salzrand von der Feuchtigkeit in den Wänden, Rost entlang der Kanten des Wellblechdachs. In den Spalten der Veranda wuchs Unkraut. Hirsch hielt das nicht für ein Zeichen von Nachlässigkeit. Eher so, als ob die Bewohner abgelenkt seien; sie bemerkten die Schäden nicht mehr, oder sie schauten nur kurz hin und meinten: »Darum kümmere ich mich nächste Woche.«

Die Kinder schlossen sich ihm an, Jack wirkte leicht aufgeregt, so als sei er nicht sicher, wie man sich in einer solchen Situation verhielt. Hirsch dachte erst daran, eine der Mütter anzurufen, aber der Handyempfang war schlecht. Außerdem mochte niemand einen Anruf von der Polizei, und die Frauen würden eh bald zurückkommen. Also, wie die Zeit totschlagen … Hirsch hielt es nicht für angebracht, das Haus uneingeladen zu betreten, aber auf dem Hof und in den Schuppen herumstreichen wollte er auch nicht. Außerdem musste er ein Auge auf die Kinder haben.

Er trat auf die Veranda und deutete auf eine Gruppe von Regiestühlen. »Warten wir hier.«

Sie setzten sich, und Hirsch fragte: »Wem gehört denn die .22er?«

»Meinem Dad«, flüsterte der Junge.

»Wozu braucht er die?«

»Kaninchen und so.«

»Hat er noch andere Waffen?«

»Noch eine .22er, eine .303er und eine Schrotflinte.«

»Wo sind sie denn?«

»In seinem Arbeitszimmer.«

Hirsch stellte seine Fragen ganz nebenbei, sprach leise und freundlich, gleichzeitig aber suchte er den staubigen Hof ab, schaute zu den Schuppen hinüber, sah einen Stapel Benzinfässer, einen leeren Hundezwinger, Viehhöfe, auf einer Nebenkoppel einen Ackersilo. Ein Nutzfahrzeug, ein Laster, kein Auto. Pflug und Egge standen im Gras neben einem Traktorschuppen. Eine bewirtschaftete Farm, doch heute arbeitete hier keiner, zumindest nicht rings ums Haus.

»Es kann also jeder an die Waffen und damit schießen?«

»Er schließt sie in einem Schrank ein.«

Hirsch zwinkerte Jack zu. »Und ich wette, du weißt, wo der Schlüssel ist, richtig?«

Jack schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ehrlich nicht.«

»Er lügt nicht«, betonte Katie. »Wir haben das Gewehr genommen, das im Pick-up liegt. Ist doch nur ein kleines Gewehr für die Kaninchenjagd.«

Klein, übersehen und vergessen, dachte Hirsch. Manche halten es noch nicht mal für ein richtiges Gewehr.

Die Kinder hatten das wohl schon ein paarmal gemacht, nahm Hirsch an; sie hatten gewartet, bis die Erwachsenen außer Haus waren, dann hatten sie sich die Ruger geschnappt und waren den Bach entlang verschwunden, um ein wenig zu schießen. Munition? Kein Problem. Das Zeug klapperte ebenfalls übersehen und vergessen in einem Handschuhfach herum, in einer Manteltasche, einer Schublade.

Um die Situation ein wenig zu entspannen, fragte Hirsch: »Na, zwei Wochen Ferien?«

»Ja.«

Schweigen drohte. Hirsch sagte: »Kann ich den Schrank mal sehen?«

Jack führte ihn ins Arbeitszimmer; dort gab es einen schweren Holzschreibtisch mit Bürostuhl, einen Sessel, über dem ein Overall lag, einen Aktenschrank, Computer und Drucker, Bücherregale. Es roch nach Möbelpolitur und Waffenöl. Der Waffenschrank hatte eine Glastür, war an die Wand geschraubt, abgesperrt. Eine glänzende Brno .22, eine .303er mit Zielfernrohr, eine Schrotflinte, ein paar Schachteln Munition und ein Umschlag mit der Aufschrift Waffenscheine.

Hirsch bedankte sich bei dem Jungen; als sie auf die Veranda zurückkehrten, hörten sie den Schotter knirschen. Ein kastenförmiger weißer Volvo kam aufs Haus zugekrochen, als sei er misstrauisch, dort ein Polizeifahrzeug parken zu sehen. Katies Mutter saß am Steuer, nahm Hirsch an, Jacks Mutter auf dem Beifahrersitz; er hatte nicht die geringste Ahnung, was er den beiden sagen sollte. Er nahm das Handy aus der Tasche. Das Verschlussgeräusch der Handykamera hatte er bereits ausgeschaltet, und er machte sich bereit, die beiden zu fotografieren. Reine Gewohnheit, nach allem, was passiert war.

2

Als er sich die Bilder auf dem Handy später ansah, hatte er zwei Frauen in seinem Alter vor sich, also Mitte dreißig, die sich ebenso sehr voneinander unterschieden wie ihre Kinder. Katies Mutter tauchte als Erste auf, warf die Fahrertür zu und kam aufs Haus zu. Sie trug Jeans, T-Shirt, abgewetzte Sportschuhe; sie baute sich vor Hirsch auf und warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als sie sich der Veranda näherte. Sie war so zierlich wie die Tochter; dunkel, unbeeindruckt.

Jacks Mutter folgte ihr, stieg in mehreren Etappen aus dem Wagen, schloss sanft die Tür, drückte dagegen, bis das Schloss einrastete, glitt um die Vorderseite des Wagens herum, so als zögere sie, Luft aufzuwirbeln. Hirsch fragte sich, ob sie sich wohl die rechte Hand verletzt hatte. Sie hielt sie mit gekrümmten Fingern unter die Brust gedrückt.

Katies Mutter war kurz vor den Verandastufen stehen geblieben und warf ihrer Tochter einen Blick zu. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

»Alles bestens.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet.«

Hirsch nahm die volle Wucht eines bösen Blicks wahr, dachte, scheiß drauf, und streckte ihr seine Hand hin. »Hi. Paul Hirschhausen, Polizeistation Tiverton.« Grinsend fügte er hinzu: »Nennen Sie mich Hirsch.«

Die Frau starrte ihn an, seine Hand, wieder sein Gesicht; dann ließ ihr Zorn urplötzlich nach. Er war zwar noch nicht auf sicherem Boden, aber er bekam die Hand geschüttelt. »Wendy Street«, sagte sie, »und das ist Alison Latimer.«

Hirsch nickte zur Begrüßung; Latimer reagierte darauf mit einem Lächeln, das versuchte, nicht so kalt zu wirken. Sie war groß und hellhäutig; auf zurückhaltende Art hübsch, so als hege sie keine Erwartungen und kenne sich mit Enttäuschungen aus. Aber was weiß ich denn schon?, dachte Hirsch. Er hatte zu oft Leute falsch gedeutet und konnte die Narben vorweisen, um das zu belegen.

»Stimmt was nicht?«, platzte Alison heraus.

»Nichts allzu Schlimmes, aber etwas, worüber wir reden müssen.«

Bevor er weiter ausholen konnte, meinte Wendy Street: »Sie sind neu in Tiverton?«

»Ja.«

»Und Sie stehen in Redruth unter Kropps Kommando.«

»Ja.«

»Ist ja toll«, meinte sie trocken.

»Gibt es ein Problem?«

Er hatte vielleicht ein kurzes Schulterzucken wahrgenommen, dann grinste sie über seine zerrissene Hose, und ihre braunen Augen blitzten kurz warm auf. »Haben die Kinder Sie vermöbelt?«

»Ganz allein meine Schuld«, sagte Hirsch.

»Aha. Also, Sie wollten etwas bereden?«

Hirsch verharmloste die Sache ein wenig und beschloss, Kropps Anruf nicht zu erwähnen; er erklärte, dass er im Vorbeifahren Schüsse gehört und die Kinder dabei ertappt hatte, wie sie mit einem Gewehr ballerten.

Alison Latimer machte ein entsetztes Gesicht. »Ach, Jack.«