Gerhard Schulze
Soziologie als Handwerk
Eine Gebrauchsanleitung
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn Soziologie, so seine These, ist überall. Schulze führt in den Forschungsgegenstand ein, zeigt, was die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet und wie sie sich von den Naturwissenschaften unterscheidet. Wie entstehen Erfahrungen und wie werden sie von Soziologen erhoben und interpretiert? Das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Soziologie öffentlich besser zur Geltung bringen kann.
Vita
Gerhard Schulze ist emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Im Campus Verlag erschien von ihm unter anderem Die Erlebnisgesellschaft (1992, 2005).
Einleitung
Worum es in diesem Buch geht
Teil I Das Projekt Soziologie
Leitfrage: Womit beschäftigt sich die Soziologie?
1. Kapitel: Soziologie als Handwerk
Soziologie machen
Handwerkliche Standardsituationen der Soziologie
Kommunikation: Worin besteht soziologische Professionalität?
Forschung: Integration statt Ehekrach
Fortsetzung der Fachtradition: Nomaden oder Hausmeister?
Ausblick
2. Kapitel: Forschungsgegenstand Gesellschaft
Der Ursprung soziologischen Erkenntnisinteresses
Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner
Der soziologische Blick in maximaler Verdichtung
Interaktionsmuster
Sinnwelten
Verteilungen
Normalität
Soziale Kollektive
3. Kapitel: Die jüngste Wirklichkeitsschicht
Eine Wissenschaft wie jede andere – und wie keine
Steckbrief der evolutionären Erkenntnistheorie
Die Evolution der Wirklichkeitsschichten
Zwei Wirkungsrichtungen
Isomorphie von objektiver Wirklichkeit und Erkenntnisvermögen
Einseitigkeiten und Scheinkonflikte
Soziologische Fortschreibung von Riedls Modell
Koppelung von Organismus, Bewusstsein und sozialem Handeln
Schwer zu fassen, aber real – die Wirklichkeit der Soziologie
Unschärfe und Ungenauigkeit
Teil II Wissenschaft
Leitfrage: Was macht Wissenschaftlichkeit aus und wie kann die Soziologie Wissenschaft sein?
4. Kapitel: Was heißt Wissenschaft – und was nicht?
Konstruierte Gewissheit – Die üblichen Verdächtigen
Wahrheit und Nützlichkeit: Die Verwandtschaft von Wissenschaft und Common Sense
Willkommen auf der Metaebene
Am Anfang war der Zweifel: Der lange Weg des Fallibilismus
Die Idee der Methodologie
Objektivität, Intersubjektivität und Wahrheit
Konzentration auf das Machbare
Wertneutralität: Ein notwendiges Prinzip und seine Grenzen
Institutionalisierte Ethik: Mertons Vortrag von 1937 bleibt aktuell
Was soll als »wissenschaftlich« gelten?
5. Kapitel: Soziologie als Kulturwissenschaft
Fakten und Sinngebilde. Zwei Klassen von Phänomenen
Die Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften
Zwei Wissenschaftskulturen
Zwei Formen der Wissensdynamik
Zweierlei Praxisbeziehung
Zweierlei Umgang mit Invarianzen und Einzelfällen
Naturwissenschaft Soziologie? Ein Elefant will eine Rose sein
Teil III Wirklichkeitszugang
Leitfrage: Wie informiert sich die Soziologie über ihren Forschungsgegenstand?
6. Kapitel: Daten erzeugen, beurteilen und transformieren
Was die Soziologie wissen will
Soziologische Primärinformationen
Einzelne als Zeugen sozialer Phänomene: Indirektheit
Von Symbolen zum gemeinten Sinn: Interpretationsbedürftigkeit
Wir alle spielen Theater: Reaktivität durch Interaktivität
Standardisierte oder offene Verfahren? Falsche Frage!
Zweigleisige Soziologie
Psychologie und Soziologie der Methodenwahl
Soziologische Elementarsätze und ihre Sollbruchstellen
Beobachtungstheorien
Transformation: Von Primärinformationen zu Daten und zurück
7. Kapitel: Und täglich grüßt der Stichprobenfehler
Vorsicht beim Flirten! Das Stichprobenproblem in Alltag und Wissenschaft
Soziale Normalität als Mengenlehre
Die Idee der Repräsentativität
Selektivität
Stichprobenfehler
Die Beurteilung systematischer Fehler
Was tun bei Ausfällen?
Repräsentativität bei kleinen Stichproben
Fazit: Ein weiteres Sonderproblem der Soziologie
8. Kapitel: Der Weg ins Unbekannte. Zeitmuster der Forschung
Was kommt zuerst?
Deduktion 1. Konfirmatorische Variante
Deduktion 2. Fallibilistische Variante
Induktion: Von Kindern lernen
Iteration: Wechsel zwischen Anschauung und Theorie
Teil IV Sprache
Leitfrage: Aus welchen Bausteinen bestehen soziologische Texte?
9. Kapitel: Begriffe fallen nicht vom Himmel
Elementare Bausteine der Sprache
Wissenschaft als Handwerk der Begriffskonstruktion
Das Grundschema empirischer Begriffe
Verständigung durch Zeichen
Bedeutungszuweisung: Prädikation und Definition
Vom Einzelnen zum Allgemeinen: Eigennamen, Prädikatoren und Variable
Wo kommen Bedeutungen her?
Wichtige Begriffsformen der empirischen Soziologie
Was heißt »extrovertiert«? Dispositionsbegriffe
Was heißt »bürokratische Herrschaft«? Typenbegriffe
Idealtypen: Begriffe mit Unschärfetoleranz
Zweckmäßigkeit: Wie man über Begriffe diskutieren kann
Kommunikative Zweckmäßigkeit
Wirklichkeitsbezogene Zweckmäßigkeit
Begriffe – ein vernachlässigtes Themengebiet der Metaebene
10. Kapitel: Aussagen. Was ist Wahrheit?
Was allen Aussagen gemeinsam ist
Drei Dimensionen der Wahrheit
Verschiedene Arten von Aussagen
Empirischer Informationsgehalt von Aussagen
Korrespondenztheorie der Wahrheit
Wahrheitskontinuum, Wahrheitsähnlichkeit, Wahrheitsannäherung
Konsenstheorie der Wahrheit
Kohärenztheorie der Wahrheit
Ist Gewissheit möglich?
Vom Nutzen einer differenzierten Sicht von Wahrheit
Teil V Argumentieren
Leitfrage: Was sind gute Begründungen?
11. Kapitel: Logik. Drei Fehlertypen
Was Logik mit Soziologie zu tun hat
Was heißt Logik?
Tautologien
Kontradiktionen
Falsche Schlussfolgerungen
Logische Neutralität
12. Kapitel: Empirie mittlerer Reichweite
Welchem Pfad folgt soziologische Empirie?
Erste Säule: Methoden der empirischen Sozialforschung – notwendig, nicht hinreichend
Zweite Säule: Inhaltliche Komplexität – die Verfahren hinter sich lassen
Dritte Säule: Lokales Optimum und Dialektik – Empirie mittlerer Reichweite
13. Kapitel: Werte – Normative Diskurse sind möglich
Zur Diagnose von Normativität: Auf den Subtext kommt es an
Wie kommt es zur Allgegenwart von Normativität?
Der methodologische Entwicklungsstand normativer Argumentation
Empirische Argumente im normativen Diskurs
Relativierung auf gemeinsame Oberziele
Diskursive Ausweichmanöver
Grenzen normativer Diskurse
Teil VI Heuristik
Leitfrage: Wie generiert die Soziologie neues Wissen?
14. Kapitel: Interpretieren heißt Riskieren
Riskant, aber unvermeidlich
Interpretative Soziologie ist kein Spezialgebiet
Theorien: Ein dreidimensionales Modell
Fundamentale versus diagnostische Theorien: Grade der Abstraktion
Statische versus dynamische Theorien: Drei Typen des Wandels
Verstehende versus erklärende Theorien. Komplementarität
Wozu Theorien?
Theoretischer Pluralismus
Für eine offene Wissenschaft
15. Kapitel: Voreinstellungen – Die Handschrift des Subjekts
Ohne Voreinstellungen keine Erkenntnis
Relevanzhorizont
Axiomatik
Theorien und Begriffsnetze
Forschungsverfahren
Denkmuster: Dimensionen soziologischer Intelligenz
Voreinstellungen sind diskutierbar
Ist alles »nur« eine Konstruktion?
Teil VII Wissensdynamik
Leitfrage: Welche Formen nimmt Wissensfortschritt in der Soziologie an?
16. Kapitel: Modelle des Wissensfortschritts
Die Idee des Wissensfortschritts
Kumulative Soziologie? Drei Einschränkungen
Der Pfad fundamentaler Theorien
Der Pfad diagnostischer Theorien
Der Pfad der Methoden
17. Kapitel: Paradigmen – Zwischen Stabilisierung und Blockade
Die Ambivalenz von Paradigmen
Anmerkungen zur Begriffsgeschichte
Paradigma und Methodologie: Zur Logik der Überprüfung
Paradigmen aus wissenschaftssoziologischer Sicht: Zweierlei Rationalitäten
Paradigmen in der Wissenschaftsgeschichte
Das Paradigma des Paradigmas: Ein erkenntnistheoretischer Kommentar
Teil VIII Subversion
Leitfrage: Welchen unterschwelligen Gefährdungen ist die Soziologie ausgesetzt?
18. Kapitel: Komplexitätszunahme und Desintegration
Vermehrung des Wissens als Problem
Das Ideal des Fachwissens ist in Gefahr
Zweifelhafte Versuche der Komplexitätsbewältigung
Die Segmentierung von Theorie, Forschung und Methodologie
Fazit: Wo sind die Allrounder?
Gegenmaßnahmen
Wider die Segmentierung des Fachwissens in der Soziologie
19. Kapitel: Die wissenschaftliche Hinterbühne
Das akademische Milieu und seine offizielle Moral
Formen akademischer Camouflage
Wissenschaft als Gratwanderung
Warum Intersubjektivität in der Soziologie immer gefährdet ist
Wissenschaftliche Rationalität ist prekär: Resümee
Teil IX Herausforderungen
Leitfrage: Welche Aufgaben stellen sich der Soziologie heute?
20. Kapitel: Soziologie heute. Bestellt und nicht abgeholt
Gesellschaftsgespräche. Provinzen kollektiver Selbstdeutung
Wachsender Deutungsbedarf
Steigerung und Ankunft
Sollbruchstellen der Protosoziologie
Die unsichtbare Leitwissenschaft der fortgeschrittenen Moderne
Ein schwierige Wissenschaft oder keine Wissenschaft?
21. Kapitel: Lernziel soziologische Kommunikation
Abstraktion als Tugend
Kollektivdiagnostisches Monitoring
Verstehen – Das Implizite explizit machen
Soziologische Praxisbeziehung – diskursiv statt technologisch
Soziologische Kommunikation braucht gemeinsame Grundlagen
Bringschuld der Soziologie, Holschuld der Öffentlichkeit
Epistemische Intelligenz – Eine kommunikative Utopie?
Schluss
Der Beitrag der Soziologie zum Wandel der Moderne: Statt einer Zusammenfassung
Hat dieses Buch sein Ziel erreicht?
Anmerkungen
Was zwischen uns Menschen abläuft, ist einerseits unser eigenes Werk, andererseits verselbständigt es sich und wird zu einer Macht, die tief in unser Leben eingreift. Meist finden wir uns in Routinen verstrickt, als würden wir einem immer wieder durchgespielten gemeinsamen Drehbuch folgen, ohne uns dessen ständig bewusst zu sein. Im Normalfall bewegen wir uns sozusagen per Autopilot durch den Alltag, gesteuert durch intuitiv gespürte Regeln, die durch Ausnahmen und Improvisationen nur bestätigt werden.
Diesem Bauchgefühl will die Soziologie fundierte Beschreibungen und Erklärungen entgegensetzen. Sie will explizit machen, was sonst weitgehend implizit und unerkannt bleibt. Sie will gesellschaftliche Phänomene aus wissenschaftlicher Distanz beobachten und deuten. Und sie will darüber mit den Menschen ins Gespräch kommen. Warum? Nur wenn man halbwegs über die Spiele Bescheid weiß, in die man verwickelt ist, kann man sie mitbestimmen, statt von ihnen beherrscht zu werden.
Braucht man dazu die Soziologie? In den anschwellenden Diskursen über Gesellschaftliches – etwa in Talkshows, Blogs, Shitstorms, Parlamentsdebatten, politischen Kommentaren und Alltagsgesprächen – dominiert der Brustton der Überzeugung. Dass sich hinter solcher vermeintlicher Sicherheit oft blanke Ungewissheit verbirgt, tritt zwar in der Gegensätzlichkeit der Meinungen deutlich zutage, gerade dies lässt viele aber umso entschiedener an die Wahrheit des eigenen Standpunkts glauben.
Mehr und mehr drehen sich öffentliche Diskurse um genuin soziologische Themen, allerdings meist unter Abwesenheit der Soziologie. Einerseits drängt die weit vorangeschrittene Moderne den Menschen weltweit die soziologische Perspektive förmlich auf. Andererseits führen die darauf antwortenden Deutungsanstrengungen oft zu mehr Verwirrung als Klarheit.
Doch der kollektive Selbstreflexionsbedarf wird im Lauf des 21. Jahrhunderts weiter steigen. Ludger Pries nennt eine ganze Reihe neuer Themen, auf die er die Soziologie »nur halbwegs vorbereitet« sieht, unter anderem: Gen-Schere, Künstliche Intelligenz, neuronale Netze, Grenzauflösung im Verhältnis von Mensch, Natur und Artefakten, Re-Nationalisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten und Identitäten, Sozialbeziehungen zwischen Digitalisierung und neuer Erdung in der analogen Welt, zwischen Verdinglichung und Versinnlichung.1 Soweit ein Ausschnitt aus dem Panorama des Jahres 2018 – Fortsetzung folgt.
Unter diesen Umständen wäre es nur konsequent, würde sich der kollektive Selbstreflexionsbedarf schließlich auch auf sich selbst richten: Warum ändert sich nichts an unserer babylonischen Situation fruchtloser Deutungskonkurrenz, die immer wieder auch in der Soziologie selbst aufbricht, zuletzt im Jahr 2017 mit der Gründung der »Akademie für Soziologie«? In dieser Frage könnte der Keim einer geistigen Entwicklung liegen, die mit zwei Aufgaben beginnt: erstens mit einer klaren Ortsbestimmung der Soziologie als empirischer Wissenschaft, zweitens mit der Integration ihrer grundlegenden Denkformen in den Kanon der Allgemeinbildung.
(1) Ortsbestimmung der Soziologie als empirische Wissenschaft: Wenn diese Aufgabe liegen bleibt, droht die Chance verspielt zu werden, die in der Soziologie steckt. Paradoxerweise ist dies genau dann zu befürchten, wenn Soziologie so zu werden versucht wie andere etablierte Wissenschaften auch, etwa Physik, Chemie oder Biologie. Doch als verstehende Wissenschaft muss die Soziologie Mut zur Unschärfe, zur Interpretation und zur Ungewissheit aufbringen, sonst erreicht sie ihren Forschungsgegenstand nicht. Dies ist jedoch keineswegs als Einladung zur Willkür gemeint. Wissenschaftlichkeit entsteht durch Intersubjektivität, das heißt durch nachvollziehbareres, an gemeinsamen Regeln ausgerichtetes Argumentieren, worauf es gerade dann besonders ankommt, wenn die höchste Stufe von Objektivität (im Sinn völliger Ent-Subjektivierung) nicht erreichbar ist, sondern »nur« Plausibilität und vorläufiger Konsens.
Den Initiatoren der »Akademie für Soziologie« kommt das Verdienst zu, die Debatte über die Wissenschaftlichkeit der Soziologie neu belebt zu haben. Immerhin geht es dabei um den Kern soziologischer Professionalität, um den eigenen Standort. Seit der letzten großen innersoziologischen Debatte, dem Positivismusstreit in den 60er Jahren, war die Erörterung dieser Grundsatzfrage vom Zentrum an die Peripherie der Soziologie gerückt. Die Wissenschaftlichkeit der Soziologie war kein leidenschaftlich diskutiertes Thema der soziologischen Öffentlichkeit mehr. Nicht in großen Diskursen, sondern in vielen unverbundenen Episoden trat eher implizit zutage, was man für »wissenschaftliche Soziologie« hielt. Die jeweilige persönliche Position äußerte sich als Gefühl von Nähe oder Distanz in der Kollegenschaft, als Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Klassen von Methoden, als Kooperation oder Abgrenzung im Forschungsbetrieb, als Entscheidung für oder gegen bestimmte Inhalte in Studien- und Prüfungsordnungen. In dieser Situation kam die Gründung der »Akademie für Soziologie« im Jahr 2017 zur rechten Zeit. Endlich wurde die Frage der Wissenschaftlichkeit in der Soziologie wieder zu einem die ganze Disziplin erfassenden Kristallisationskern von Auseinandersetzung und Selbstbefragung: Wo genau stehe ich eigentlich?
Wie wichtig und produktiv dieser Impuls zu grundsätzlicher soziologischer Selbstreflexion war und ist, zeigt sich gerade auch in den kritischen Stellungahmen.2 In der Dialektik der Debatte gewann das scheinbar Selbstverständliche wieder Profil. Der Titel dieses Buchs, Soziologie als Handwerk, zielt explizit auf Professionalität ab. Wie macht man gute Soziologie? Wie kann man sich einerseits auf die zahlreichen Sonderprobleme einlassen, die der Forschungsgegenstand Gesellschaft nun einmal unweigerlich mit sich bringt, und andererseits den Anspruch erheben, Wissenschaft im strengen Sinn zu sein?
Genau darum ging es auch den Gründungsmitgliedern der »Akademie für Soziologie«. Sie fordern eine »empirisch-analytische« Soziologie, deren Programmatik an die Naturwissenschaften erinnert: Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, theorieorientierte Forschung, standarisierte Messung, maximale Objektivität, kumulativer Wissensfortschritt. Meine eigene Position dazu wird an vielen Stellen in diesem Buch deutlich werden: Einerseits gehört diese Forschungslogik durchaus zum Handwerk der Soziologie dazu, andererseits darf sie nicht zum Käfig werden. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft in seiner Gesamtheit ist allein damit keinesfalls zu erreichen. Wie aber kann dann Soziologie noch beanspruchen, eine empirische Wissenschaft zu sein? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch meine folgenden Überlegungen.
(2) Soziologische Allgemeinbildung: Dieses Vorhaben klingt zunächst utopisch. Wie aber soll soziologische Aufklärung jemals gelingen, wenn Soziologie und Öffentlichkeit aneinander vorbeireden? Ohne populäres soziologisches Allgemeinwissen wird sich am weitgehenden Fehlen eines Dialogs zwischen Soziologie und Öffentlichkeit nichts ändern.3 Aber ist das nicht normal? Die meisten Wissenschaften sind nur studierten Experten zugänglich. Spezialisierte Vermittler und akademische Berufe übersetzen neue Forschungsergebnisse in die Praxis, und alle sind zufrieden. Sollte sich nicht auch die Soziologie an diesem Modell orientieren? Nein: Hier gilt das genaue Gegenteil. Die Soziologie verfehlt ihren Daseinszweck, wenn sie für sich bleibt, statt den Diskurs mit der Öffentlichkeit zu suchen.
Soziologie ist eine Wissenschaft, die verstehen, aber auch verstanden werden will. Darin gleicht sie der Psychotherapie. Diese ist heute so fest in der Gesellschaft verankert, dass sie zu einem der größten Etatposten im Budget der Krankenkassen wurde. Im Lauf des 20. Jahrhunderts konnte die Psychotherapie den Menschen begreiflich machen, worin ihr Beitrag zum Gelingen des Lebens besteht: in mehr Klarheit über sich selbst. Der Fokus der Psychotherapie liegt auf dem Innenleben, derjenige der Soziologie auf dem Zusammenleben. Der Soziologie ist es jedoch bis heute nicht gelungen, ihr Potenzial den Menschen nahezubringen. Man weiß zwar, dass es die Soziologie gibt, was sie aber konkret will und nützt, wird auch innerhalb der Disziplin kaum einmal auf den Punkt gebracht.
Dieses Buch soll Soziologie als ein Handwerk vermitteln, das auf mehr Klarheit und Explizitheit abzielt. Klarheit im Zusammenleben kann sich im Blick auf weithin geleugnete Konflikte zeigen. Sie kann im Bezweifeln dessen zutage treten, was so gut wie alle für unumstößlich wahr halten. Sie kann auch die sokratische Form des Eingeständnisses von Ungewissheit und Unschärfe annehmen, wo Sicherheit und Exaktheit auf Selbsttäuschung hinauslaufen würden. Soziologie ist ein unbequemes Projekt.
Aber kann man sich auf soziologische Erkenntnisse verlassen? Ein Arzt, der sich seiner Diagnose nicht sicher war, verblüffte mich einmal mit einem Vergleich: »Wenn das potenzielle medizinische Wissen das Universum darstellt, dann sind wir gerade erst beim Mond angekommen.« So alltäglich Ungewissheit ist, so rar bleibt ihr Eingeständnis, nicht nur in der Medizin. Welche Therapie ist die richtige? Was wäre gegenwärtig die beste Geldanlage? Wie soll es mit Europa weitergehen? Was macht einen guten Unterricht, eine gute Schule, ein gutes Bildungssystem aus?
Andererseits sind wir immerhin »bis zum Mond« gekommen – in der Medizin. Wie aber steht es im Vergleich dazu in der Soziologie? Hat sie, ihrem Image einer »weichen«, ihrer selbst unsicheren Wissenschaft entsprechend, vielleicht noch nicht einmal die Wolkendecke durchstoßen? Dann wundert es umso weniger, dass sich in den allgegenwärtigen Streitgesprächen über die Gesellschaft, in der wir leben, so viel Rechthaberei und illusionäre Gewissheit findet.
Vielleicht gäbe es mehr Konsens, und dies auf besserer Grundlage, wenn es der Soziologie gelänge, zu einer Instanz zu werden, die gefragt, gehört und verstanden wird. Mit diesem Buch versuche ich, dazu einen Beitrag zu leisten. Die neun Hauptteile mit jeweils zwei bis drei Kapiteln schreiten einen Themenhorizont ab, dem man üblicherweise nur in getrennten Publikationen und Lehrveranstaltungen begegnet. In diesem Buch dagegen kommt es auf die Zusammenschau aller Anforderungen des Denk-Handwerks der Soziologie an. Um eine Gebrauchsanleitung, wie der Untertitel besagt, handelt es sich insofern, als es vor allem um die operative Umsetzung der Leitideen der Soziologie geht. Diese scheinen nach mehr als 150 Jahren Geschichte der Soziologie als akademischer Disziplin4 weitgehend ausbuchstabiert – wie aber »macht« man Soziologie?
Welche Teilfragen ich hier aus dieser Hauptfrage ableite und bearbeite, zeigt der folgende Überblick über die neun Hauptteile dieses Buchs:
Das Projekt Soziologie: Womit beschäftigt sich die Soziologie?
Wissenschaft: Was macht Wissenschaftlichkeit aus und wie kann die Soziologie Wissenschaft sein?
Wirklichkeitszugang: Wie informiert sich die Soziologie über ihren Forschungsgegenstand?
Sprache: Aus welchen Bausteinen bestehen soziologische Texte?
Argumentieren: Was sind gute Begründungen?
Heuristik: Wie generiert die Soziologie neues Wissen?
Wissensdynamik: Welche Formen nimmt Wissensfortschritt in der Soziologie an?
Subversion: Welchen unterschwelligen Gefährdungen ist die Soziologie ausgesetzt?
Herausforderungen: Welche Aufgaben stellen sich der Soziologie heute?
Weil der Begriff der Erkenntnis in diesem Buch hervorgehobene Bedeutung hat, will ich gleich zu Beginn klarstellen, wie ich ihn im Kontext der Soziologie nicht meine: Er soll nicht etwa das Offenbarwerden einer absoluten und unbestreitbaren Wahrheit bedeuten. Wie könnte man auch hoffen, diesen Anspruch verbindlich zu begründen? Der Begriff der Erkenntnis bezeichnet im Folgenden lediglich ein vorläufiges, hypothetisches Für-Wahr-Halten, begründet durch anerkannte Methoden und plausible Argumente. Sie sind nachvollziehbar, aber ohne Ermessensentscheidungen geht es dabei nicht zu. Mehr als ein begrenzter und vorläufiger Konsens ist meist nicht zu haben (es sei denn, es geht um logische oder mathematische Richtigkeit). Im Begriff der Erkenntnis, so wie ich ihn hier in Anlehnung vor allem an Karl Popper verwende,5 wie er aber auch schon im Skeptizismus der griechischen Philosophie aufscheint,6 schwingt immer das Eingeständnis von Ungewissheit, Zweifel und Revisionsbedürftigkeit mit. Das Handwerk der Soziologie kann immer nur Vorläufiges zustande bringen.
Hätte ich das Talent, Cartoons zu zeichnen, würde ich diese Einleitung mit zwei Bildern abschließen. Das erste Bild würde ein Kind auf einem Dreirad zeigen, das in die Pedale tritt und mit dem Lenker steuert – aber nur vermeintlich, denn hinter dem Dreirad gehen Mutter und Vater einher, die über eine mit dem Dreirad verbundene Stange abwechselnd den Kurs bestimmen. Beide symbolisieren die zwei schweigenden Mächte, mit denen sich dieses Buch durchgängig beschäftigt: zum einen soziale Normalität, zum anderen Voreinstellungen des Denkens und der Wahrnehmung. Diese »Eltern« steuern uns unbemerkt, ob im Alltag oder in der Wissenschaft, bis wir uns dies bewusst machen und selbst die Herrschaft übernehmen.
Auf dem zweiten Cartoon würde das Kind immer noch auf dem Dreirad sitzen, aber es würde selbst steuern; die Eltern hätten die Stange losgelassen.
Wie jede andere Wissenschaft will auch die Soziologie einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit erschließen, dessen Besonderheit ihr Vorgehen prägt. Sie ist ein Handwerk, ein Bündel von Fähigkeiten und gedanklichen Werkzeugen, vergleichbar den Leitbegriffen, Methoden und Messgeräten von Physik, Chemie, Medizin und anderen empirischen Wissenschaften. Im Unterschied zu diesen Disziplinen hat das Projekt Soziologie jedoch einen physisch ungreifbaren, wenn auch ständig präsenten und fühlbaren Gegenstand im Auge.
Was »ist« der Forschungsgegenstand Gesellschaft? Wer so fragt, befindet sich bereits auf dem Holzweg. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft wird erst im Rahmen einer selbst konstruierten Perspektive sichtbar, einer Art Optik, über die zu reflektieren bereits zum Handwerk dazugehört: Worum geht es konkret? Was genau meinen Begriffe wie Struktur, System, Feld usw. im jeweiligen Kontext von Studien, Texten, Forschungsprojekten eigentlich? In anderen Wissenschaften, etwa Physik, Chemie oder Medizin, kann man über solche Vorfragen pragmatisch hinweggehen, in der Soziologie nicht.
Im 1. Kapitel geht es zunächst um den spezifischen Zugang dieses Buchs zur Soziologie: um den Aspekt des Handwerks. Soziologie als Handwerk lässt sich nicht, wie es oft geschieht, auf die Methoden der empirischen Sozialforschung reduzieren, als wäre es genug, sich darauf zu verstehen, Daten zu erheben und auszuwerten; die Interpretation wäre dann eine Art Kunst. Nein: Soziologie ist als Denk-Handwerk zu sehen, das mit dem Nachdenken über die Perspektive beginnt und am Ende einer Studie Überlegungen einschließt, was diese für den Fortschritt soziologischen Wissens bedeutet und wie sie sich zur Praxis verhält.
Das 2. Kapitel begibt sich auf die Suche nach einem Konsens über den Forschungsgegenstand Gesellschaft, allen Dissonanzen und Richtungskämpfen in der Soziologie zum Trotz. Um mehr als einen gemeinsamen Nenner kann es dabei nicht gehen. Soziologie ist die Wissenschaft von Menschen in Mehrzahl, von sozialen Kollektiven. Drei Hauptaspekte haben sich als immer wieder aufscheinende Bezugspunkte wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Interesses herauskristallisiert: Interaktionsmuster, Sinnwelten und Verteilungen. Um nicht essentialistisch missverstanden zu werden: Dies »ist« nicht der Forschungsgegenstand Gesellschaft, vielmehr handelt es sich lediglich um immer wieder als relevant empfundene Sichtweisen. Über mehr kann man in den empirischen Wissenschaften auch gar nicht sprechen.
Das 3. Kapitel schlägt dann einen im Rahmen soziologischer Grundlagenliteratur ungewöhnlichen Kurs ein. Es verortet den Forschungsgegenstand Gesellschaft in einem evolutionstheoretischen Modell von Wirklichkeitsschichten, die sukzessiv im Verlauf der Geschichte des Universums entstanden. Worauf es dabei ankommt, ist die Verbindung dieses Modells mit wissenschaftssystematischen Überlegungen: Jede dieser Wirklichkeitsschichten steht in besonderen kausalen Beziehungen zu den angrenzenden Schichten, und in jeder Schicht gelten bestimmte Eigengesetzlichkeiten, auf die sich die jeweils zuständigen Wissenschaften einstellen müssen. Mit welchen Wirklichkeitsschichten hat es die Soziologie zu tun und auf welche Eigengesetzlichkeiten muss sie sich einlassen?