Impressum

Volker Ebersbach

Die letzte Fahrt der Württemberg

Erzählungen, Erinnerungen

 

ISBN 978-3-96521-612-9 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 2012 im VentVerlag Andreas Vent-Schmidt, Leipzig

 

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Vorbetrachtungen

Indem du dich der Vergangenheit erinnerst, ist sie nicht vergangen.

Ludwig Tieck, Sternbalds Wanderungen

 

Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.

Marcel Proust

 

Jede Lebensstufe hat ihre Konstellationen und Bilder, und mit dem Beginn des Alterns kommen jene Bilder und Gestalten, die in frühester Jugend uns bedeutsam waren, unfehlbar, und auch wenn sie ganz und gar vergessen schienen, aus dem Dunkel und der Ferne wieder hervor und durchbrechen die später darüber gelagerten Bilderschichten mit einer langsamen, stillen Penetranz.

Hermann Hesse, Bilderbuch der Erinnerungen

 

Reist man noch in ihrer Nähe, liegen zwischen den Städten große Entfernungen. Je weiter man sich von ihnen entfernt, desto näher rücken sie zusammen. Ebenso geht es uns mit dem Rückblick auf Lebensdaten, Erlebnisse und Lebensstationen. Rückschau hält gern einer, der nicht mehr viel vor sich sieht. Zuzeiten gefällt mir das Leben so gut, dass es mir leid tut, einmal sterben zu müssen, dass ich es bedaure, wenn schöne Tage wie Kalenderblätter abgelegt werden. Ich hätte nie etwas geschrieben, wenn ich das Leben nicht lebenswert fände. Wie Nietzsche scheint mir „Alles viel zu werth zu sein, als dass es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für Jegliches.“ Immer habe ich dem Weltschmerz gern die Weltfreude entgegengesetzt. Sich zu erinnern macht dann Freude, löst dann innere Bedrängnisse auf, wenn man das Erinnerte aufschreibt. Wer Memoiren schreibt, nimmt das Erzählen des eigenen Lebens gern zum Vorwand, statt über sich selbst allerlei über andere zu erzählen, oft weniger Gutes als Abträgliches. Über den, der sich da erinnert, erfährt der Leser nur gerade so viel, wie der Erzähler dabei unfreiwillig über sich selbst erzählt. Das mache ich anders. Die Erinnerungen eines Unbekannten sind die eines viel weniger befangenen Zeitzeugen.

Jeder alternde Mensch macht bald die Beobachtung, dass sein Kurzzeitgedächtnis nachlässt, während ihm sein Langzeitgedächtnis immer mehr, beinahe gestochen scharfe Erinnerungsbilder liefert. Nicht selten sind es Erlebnisse, an die man jahre- oder jahrzehntelang lang nicht mehr gedacht hat. Die neuronalen Vernetzungen, die bei geringen Anlässen auf einmal wirksam werden, bereiten einem immer neue Überraschungen. Ich fragte einen Freund aus meiner Schulzeit, mit dem mich zahlreiche Erinnerungen verbinden, ob es ihm auch so gehe. Er fragte zurück: „Weißt du, wann du damit zum Arzt gehen musst?“ Ich wusste es nicht. Da sagte er: „Wenn du wieder Russisch kannst.“

Das menschliche Gedächtnis gleicht einem Palimpsest. Unsere frühesten Eindrücke wurden für spätere gleichsam wie die Tinte von einem Pergament „abgewaschen“. Unsere ersten Erlebnisse und Erfahrungen hinterlassen wie die Federn der Schreiber aus vergangenen Zeiten die tiefsten Spuren.

Viele Menschen lassen es, wenn sie in die Jahre kommen, damit bewenden, Kindern und Enkeln aus früheren Zeiten zu erzählen, bis sie Beschwerden hören, dass sie etwas zum fünften Mal erzählen, oder dass eine der Erinnerungen schon einmal anders geklungen habe. Die Schärfe unseres Gedächtnisses gehört zu den verschiedenen Überlebensstrategien, die sich mit dem Dahinschwinden unserer Instinkte durch die Jahrtausende eingespielt haben. Die beschönigende Selbsttäuschung kann also nur ein Spiel sein, das wir uns erlauben, solange es nicht so darauf ankommt. Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung, war auch die Mutter der neun Musen. Sie fordert mich auf, meine Erinnerungen nicht kunstlos hinzuwerfen.

Nicht alle Bohrkerne solcher Tiefenbohrungen eignen sich dazu, sie den Leuten zu zeigen. Mancher meint, er könne nicht nur anderen, sondern auch sich selbst etwas verschweigen und dadurch ungeschehen machen. Doch auch über Dinge, von denen man mit sich selbst nicht spricht, weiß man mehr, als man sich selber eingesteht. Auch peinliche Erinnerungen aufzuschreiben, gleicht dem Aufräumen einer Rumpelkammer. Vielleicht ist es aber ein Trugschluss, man könne die Rumpelkammer seiner Erinnerungen je ganz entrümpeln. Wer über sich selbst schreibt, der lernt zum zweiten Mal sprechen: Als Kind, als Jugendlicher und oft noch als junger Mann erlebte ich vieles unreflektiert: Zwar erlebte ich es, und ich wusste auch ungefähr, was ich erlebte. Aber ich fand nicht die Worte dafür. Es gab Worte. Aber ich fand nicht meine Worte: Zwischen meinem Fühlen und dem, was die Dichter über solch ein Gefühl geschrieben hatten, lag eine Kluft. Ich konnte einfach nicht glauben, dass es genau das nämliche – nicht etwa dasselbe – sei, bis ich es selbst sagen konnte. Woher hätte ich aber lernen können, mich zu artikulieren, wenn nicht aus der Literatur? Auch meine Verwandten, Freunde und Bekannten wussten meistens nicht, was ihnen geschah. Die Welt der Erwachsenen war in meiner Kindheit eine Welt der seelischen Erschöpfung. Als Jugendlicher noch empfand ich sie wie einen Fluch auf meinem ganzen Leben. Aber sie wussten alle nicht, was ihnen geschehen war und wie ihnen geschah. Was für eine Ahnung hatten die Menschen von der Bosheit der Spiele, die sie auch als Eltern miteinander trieben, die sie unter dem Vorwand der „Erziehung“ bei uns Kindern fortsetzten? Es war nicht nur „eine andere Zeit“, sondern auch eine andere Menschheit, wie für uns heute die Jungen eine andere Menschheit sind. Was wissen wir von der Welt? Wir leben in unseren eigenen Horizonten eingesperrt und umgeben uns mit Nachrichten, Berichten und Bildern, von denen wir nur sehr wenige mit großem Aufwand einigermaßen überprüfen können. Was wissen wir darüber, was dort geschieht, wo wir gerade nicht sind, wohin wir noch nie kamen und niemals kommen werden? Was wissen wir über das Geschehen vor unserer Geburt? Was können wir darüber wissen, was nach unserem Tod geschieht, mit uns, um uns?

Wie sollte ein Mensch im Laufe seiner Jahre nicht sich selbst zum Mythos werden?

Geschichte

Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gutgemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.

Friedrich Hölderlin, Hyperion

 

Meine Mutter erzählte mir, ich habe sie, gleich nachdem ich auf die Welt gekommen war, böse und vorwurfsvoll angeschaut. Gewiss habe ich damit nicht sie gemeint, und von der Welt wusste ich ja noch nichts. Aber vielleicht deutete sie in der Besorgnis darüber, dass sie in solch einer Zeit, in solch einer Welt einen Jungen geboren hatte, meinen Blick so. Ich stelle mir vor, im Jenseits hätte mir der Herrgott die Welt des Jahres 1942 gezeigt und mich gefragte: „Möchtest du?“ – „Nein, danke!“ wäre meine Antwort gewesen. Außer seiner Tochter, meiner älteren Schwester, wollte mein Vater eigentlich kein Kind mehr. Ich war das ihm abgetrotzte Wunschkind meiner Mutter. Sie hatte es für die allerhöchste Zeit gehalten, als das Radio meldete, die deutsche Wehrmacht sei in Russland einmarschiert. Habe ich mein Leben etwa auch einem Beschluss des „Führers“ zu verdanken, des schlimmsten Unholds aller Zeiten? Bei dieser Überlegung ging mir der folgende Gedanke auf: 1929 trat ein internationales Abkommen zur Ächtung des Krieges in Kraft. Wäre es eingehalten worden, hätte die Welt vielleicht anders ausgesehen, und meine Antwort wäre ein Ja gewesen. Aber meine Eltern hätten zu einem anderen Zeitpunkt ein Kind gezeugt, und mich gäbe es nicht. Kein Mensch verfügt darüber, ob er zur Welt kommt oder nicht. Jedes einzelne Schicksal ist das Ergebnis aller anderen Schicksale vor ihm. Solange ein Mensch lebt, können seine Entscheidungen allerdings einen Einfluss aufs Künftige haben. Darum hat es Sinn, die Geschichte zu studieren. Darum hat es Sinn, sich erinnernd das eigene Leben vor Augen zu führen. Jeder Mensch, der auf diese Welt kommt, verdankt sein Dasein in einer für unseren Alltag unvorstellbaren „Feinabstimmung“ genau dem Verlauf der Menschheitsgeschichte, wie sie nun einmal war, also allen Ereignissen, die bis dahin geschahen. Betrachtet man die Geschichte seines „Vaterlandes“, Europas und der Welt näher, findet man immer wieder Ereignisse, die so schrecklich sind, dass man den Menschen andere Schicksale gewünscht hätte. Über Fehlentscheidungen der Mächtigen wird gesagt: „Die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn …“ Aber wie sähe die Welt heute aus, hätte die Geschichte diesen anderen Verlauf genommen? Die geschichtlichen Ereignisse lenken die Schritte und Entschlüsse der Menschen. Wäre nur an einem einzigen Punkt die Weltgeschichte anders verlaufen, es gäbe die heute lebenden Menschen nicht, es gäbe mich nicht, es gäbe uns alle nicht, es gäbe eine völlig andere Menschheit. Unsere Eltern, unsere Großeltern, Urgroßeltern und deren Vorfahren wären einander nie begegnet, und sie hätten sich nicht ineinander verliebt und hätten nicht unsere Vorfahren werden können. Andere Menschen hätten immer wieder ganz andere Nachkommen gezeugt. Je weiter wir in die Geschichte zurückblicken, desto zahlreicher werden diese meist zufälligen und doch von geschichtlichen Entscheidungen beeinflussten Begegnungen, ohne die keine Fortpflanzungskette zu mir, zu uns allen geführt hätte. Das ist die Geschichte: Wäre irgendetwas unterblieben, anders verlaufen oder, nach unserem Urteil, „besser“ ausgegangen, wäre irgendein anderer an die Macht gekommen, wäre irgendetwas von anderen entschieden worden –, es gäbe uns alle, die wir hier sitzen, stehen, gehen, nicht. So ist jeder Mensch, der heute lebt, das Resultat der gesamten Weltgeschichte, so wie sie geschah. Wer aus der Weltgeschichte nur eine einzige Begebenheit fortwünscht, wer sich einen anderen Verlauf der Geschichte vorzustellen versucht, verwünscht sein eigenes Dasein.

Vieles von dem aber, was noch in Zukunft geschieht, wird seine Ursache allein schon darin haben, dass es mich, dich, uns gegeben hat, und alles, was wir tun, wird mitbestimmen, wer nach uns kommt und was andere nach uns tun werden.

Als ich geboren wurde

Im Anfang war der Mythus. Wie der große Gott in den Seelen der Inder, Griechen und Germanen dichtete und nach Ausdruck rang, so dichtet er in jedes Kindes Seele täglich wieder.

Hermann Hesse, Peter Camenzind

 

Als ich geboren wurde, schloss sich der Kessel um Stalingrad. Viele, sehr viele Deutsche ahnten noch nicht, dass die Weltherrschaftspläne ihres „Führers“ zum Scheitern verurteilt waren. Er selbst war wohl von dieser Ahnung noch am weitesten entfernt. Noch mehr als zweieinhalb Jahre lang starben, während ich gut behütet heranwuchs, in der Welt täglich, stündlich, jede Minute und Sekunde Menschen den gewaltsamen Tod. Es starben Kinder, die im selben Jahr wie ich, am selben Tag, zur selben Stunde geboren worden waren. Manche holte der Tod, kaum dass ihre Mütter sie geboren hatten. Aber meinetwegen musste Doktor Lengerke, Chef der Klinik in der Sedanstraße, aus dem Kino geholt werden. Die Schwester sagte an den folgenden Tagen, um mich müsse sie sich immer zuerst kümmern, ich wäre der lauteste Schreier. Vermutlich bin ich dann auch ein ungeduldiges Kind geblieben, denn meine Mutter hörte ich oft mich zur Geduld ermahnen.

Welchen Film hätte der Doktor gesehen? Was hätte die Wochenschau ihm gezeigt? In meiner Vorschulzeit war immer von so vielen Toten die Rede. In den Fördertürmen des Schachtes Wintershall hörte ich sie heulen, ich hörte sie im Holz der Telegrafenmasten wimmern. Die Medien haben für das, was damals geschah, heute nur die glatten Worte „Schutt und Asche“, wie ein Etikett, endlos oft zu vervielfältigen. Und so etwas geschieht noch immer: Sooft ich in die Zeitungen oder auf den Bildschirm schaue, sooft ich Radio höre, finde ich immer wieder die Weltlage bedrohlich. Manchmal besuchen die Schatten der Heulenden und Wimmernden mich nachts und fragen mich: Warum bist du am Leben? Wofür hast du überlebt? Wozu lebst du?

Meine Heimatstadt Bernburg sollte am 16. April 1945 ebenso bombardiert werden wie eine Woche zuvor Halberstadt, das sich nicht ergab, oder wie Zerbst aus demselben Grund. An allen Zufahrtsstraßen waren Panzersperren errichtet worden, an denen Männer des „Volkssturms“ die Stadt „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigen sollten. Aber in dem eingemeindeten Dorf Waldau räumten die Frauen alles wieder weg, Bäuerinnen von walkürischem Körperbau, und niemand wagte es, sie daran zu hindern. Ein Schuhmacher namens Willy Baldewein, der am Anfang der Hallischen Straße wohnte, wurde von den anrückenden Amerikanern dazu bestimmt, mit einem Schrubber über der Schulter, an dessen Ende ein weißes Tuch befestigt war, in die Stadt zu ziehen, zum Oberbürgermeister und zum „Kampfkommandanten“ der Wehrmacht, ein Kapitulationsschreiben von den Bonzen zu verlangen und es dem „Ami“ zu überbringen. Man hielt ihn hin, gab den US-Truppen zu bedenken, Bernburg sei eine Lazarettstadt. Das entsprach der Wahrheit. Das Kurhaus und andere öffentliche Einrichtungen dienten als Lazarette. Ich selbst wäre Monate zuvor, noch kein Jahr alt, beinahe an Paratyphus gestorben, weil das Mädchen, das mich im Kinderwagen ausfuhr, dort einen Freund besuchte. Herr Baldewein zog zwischen der Panzersperre und den Nazigewaltigen hin und her, den Schrubber mit dem weißen Tuch auf der Schulter, immer in Gefahr, von einem Fanatiker abgeknallt zu werden. Seine Wege zogen sich mehr und mehr in die Länge, denn die braunen „Herren“ setzten sich allmählich in nordöstlicher Richtung ab. Mit den Befreiern kam er zurecht, mit den sowjetischen Besatzern nicht. 1947 zog er fort. Wann und wo er starb, ist nicht bekannt. Ich habe als Stadtschreiber seine Spur nicht wiedergefunden. Aber er hatte die Stadt gerettet.

An diesem Tag starben in Bernburg dennoch vierzehn Menschen, darunter zwei Schüler. Einer hatte, noch immer fanatisiert, aus einem Kellerloch geschossen. Ferner: ein Volkssturmmann, ein Zugabfertiger, ein Buchhalter, ein Schlosser, ein Bergwerksdirektor, ein Werkschutzmann, ein Pförtner, ein Lokomotivführer, ein Mechaniker, ein Installateur und – so nennt sie das Papier im Stadtarchiv – zwei „Ehefrauen“. Alle waren angeblich die Opfer von Missverständnissen.

Oft weiß man nicht genau, ob man sich an etwas selbst erinnert, oder ob man sich zu erinnern glaubt, weil einem oft davon erzählt wurde. Ich verfüge aber über ungewöhnlich weit zurückreichende Erinnerungen. Eine Probe, ob es wirklich eigene Erinnerungen sind, hatte ich ebenfalls in frühen Jahren. Ich erzählte, woran ich mich erinnerte, und weckte damit Erstaunen bei meinen Eltern und bei meiner älteren Schwester: Ich wusste später noch, dass ich als Kleinkind abends einmal in einen hellblauen und ein andermal in einen grauen Strampelsack gesteckt wurde, als die beiden Strampelsäcke längst in den Lumpen verschwunden waren. Dass das „Kutscherhaus“ hinter dem Rathaus einmal die Wohnung des Gefängnisdirektors gewesen war, eines guten Kunden meiner Eltern, dämmerte mir allmählich, als ich es selbst bewohnte und als Stadtschreiber darin eine neue Geschichte der Stadt Bernburg erarbeitete: Sooft ich aus dem seltsam geräumigen Bad, das leicht auch einmal eine Küche gewesen sein konnte, durch das Fenster schaute, erblickte ich den Eulenspiegelturm des Schlosses im selben Winkel wie damals, wenn mir die Frau des Direktors bei einem Besuch in ihrer Küche eine Kelle Erbensuppe auftat und mich danach mit Walnüssen fütterte. Das nächtliche Schlafzimmerfenster ist eine meiner allerfrühesten Erinnerungen: Meine Mutter zeigte mir Lichter am Himmel, die man „Christbäume“ nannte. Dann sah ich fremde Leute in einem Luftschutzkeller sitzen und hörte es donnern. Ein Güterzug sollte bombardiert werden, aber drei Wohnhäuser in der Bahnhofstraße wurden getroffen. Ein anderes Mal war es das Finanzamt, was die Bernburger freute. Ich erinnere mich auch daran, wie sich ältere Kinder stritten, wie herum mit Kreide auf dem Asphalt ein Hakenkreuz zu malen sei, und weiß nicht einmal: War das vor oder nach dem Ende der Nazis?

Eine andere Erinnerung zeigt mir den mittäglich grell besonnten Waisenhausplatz. Vor dem Haus, in dem wir wohnen, steht ein amerikanischer Panzer. Aus der Luke ist gerade ein Soldat gestiegen und hat meiner großen Schwester Schokolade geschenkt. Ich sehe zum ersten Mal, wie Schokolade aussieht, und so verwundert, dass es sich mir eingeprägt hat, stelle ich fest, dass auch der Soldat wie Schokolade aussieht. Zu dieser Erinnerung gehört, dass ich mit etwas kämpfen musste. Die Aufregung der Leute teilte sich mir mit, das ist leicht hingesagt. Die Leute waren so aufgeregt, weil sie Angst hatten, und ich verstand das nicht, weil ich keine Angst empfand, und ich empfand keine Angst, weil ich nicht verstand, was um mich geschah. An meinen Enkeln konnte ich es beobachten, als sie in demselben Alter waren wie ich damals: Ich verstand nicht alles, was geredet wurde, aber die allgemeine Stimmung gab mir zu verstehen, dass es sehr wichtig sei. Ich wollte auch etwas sagen, hatte nicht genug Worte, um mich verständlich zu machen und nachzufragen, und die Erwachsenen brachten nicht die Geduld auf, meinem Gestammel zuzuhören. Später lernte ich das Wort für das, was allen Angst machte: Zusammenbruch.

Meine Mutter erzählte mir, genau der schokoladenfarbene Ami habe in der Stube die Beine auf den Tisch gelegt und sie unzweideutig bedrängt. Wir flüchteten aufs Land, auf einen Bauernhof, zu guten Kunden unserer Drogerie. Als wir zurückkehrten, sagte der Buchhändler nebenan: „Na, Sie werden sich wundern!“ Unsere Wohnung und der Laden glichen, wie meine Mutter es ausdrückte, einem „Tobowabobo“. Vielleicht war das eine afrikanisierte Entstellung des Wortes Tohuwabohu, das im Hebräischen etwas Ähnliches bedeutet wie im Griechischen das Chaos. Das Chaos stellt man sich als etwas Tobendes vor, und so sagte meine Mutter mit ihrer Entstellung ahnungslos etwas, das ja schon beinahe richtig war. Alle Wertsachen, von der Kamera bis zum Schmuck, waren verschwunden, sogar die eingekochten Erdbeeren aus Großvaters Garten, die im Keller gewartet hatten. Um die tat es meiner Mutter noch leid, als sie neunzig Jahre alt war.

Solche Momente wirken im Gedächtnis wie einmalig. Meistens war es auch nur ein blitzartiges einziges Mal, was da geschah. Dass ich mit einem Strampelsack ins Kinderbett gelegt wurde, muss lange vor jenem Apriltag gewesen sein, an dem der Ami kam. Als zweieinhalb Monate später der Russe kam, schon die Ankündigung flößte jedem Angst ein, gab es für ihn bei uns nichts mehr zu holen. Alles, was Uniform trug, war für mich fortan ein Russe. Als mein Vater, aus der Gefangenschaft heimkehrend, in einer Landseruniform ohne alles wehrmachtliche Beiwerk die Wohnung betrat, lag ich gerade in seinem Bett. Erschrocken versteckte ich mich hinter meiner Mutter und rief: „Ein Russe!“

Ich fing an zu verstehen, weshalb in den Gesichtern der Menschen erst soviel Angst gestanden hatte und dann so viel Hoffnungslosigkeit. Nach und nach gewann ich den Eindruck: Böse Menschen haben böse Menschen besiegt. Dass nicht jeder einzelne böse war und selbst die Befehlshaber ein gewisses Verständnis in Anspruch nehmen durften, lernte ich in dem Hin und Her der Schuldzuweisungen nur langsam und unter großen Schwierigkeiten. Wir wandern aus einer Welt, die wir noch nicht verstehen, durch eine Welt, die wir zu verstehen glauben, in eine Welt, die wir nicht mehr verstehen.

Gibt es jene vorgeburtliche Welt, von der wir in Platons Phaidros erfahren? Haben wir eine getrübte Erinnerung, als hätte unsere Seele, bevor wir geboren wurden, das Wahre, Lichte, Schöne und Gerechte erlebt? Mir kam es bisweilen so vor, als wäre ich aus einer Sphäre, in der alles angenehm, richtig und in Ordnung war, in eine andere gekommen, wo nichts mehr stimmte. Vielleicht ist es die Geborgenheit im Uterus, die einen so etwas wähnen lässt. Feine Facetten meines Erinnerns zeigen, dass eine beschwichtigende, defensive Richtung in meinem Verhalten, die zu meiner bis an den Jähzorn ungeduldigen, energischen Natur gar nicht passt, von einem allmählichen kindlichen Verstehen dessen mitgeprägt wurde, was damals gerade geschehen war, von der Einsicht, dass jeder Angriff letztlich sinnlos ist.

Alete

Auch ich war ein Kind gewesen und hatte nichts davon gewusst.

Hermann Hesse, Bilderbuch der Erinnerungen

 

Zucker, Mehl, Salz, Mohn, auch Erbsen, Bohnen und Linsen bewahrte meine Mutter in alten Büchsen aus der Vorkriegszeit auf, die das Konterfei eines hübschen und gesunden Kleinkindes zeigten, und die Aufschrift lautete: Alete. Später lernte ich, das Gegenteil von historisch und politisch nenne man ahistorisch und apolitisch. Apolitisch und ahistorisch zu denken, heiße die Geschichte vergessen. Da dachte ich: Lethe trinken heißt vergessen können. Ich bin mit Alete großgeworden. Das ist von Lethe das Gegenteil. Darum muss ich erzählen.

Wie ich den Zweiten Weltkrieg verlor

Was ich erwarte und erhoffe ist: Deutschland als Kriegsschauplatz beim Kampf zwischen Russland u. dem Westen, kommunistische Revolution und Untergang Hitlers darin. Der Untergang des Regimes unter schwerer Heimsuchung des schuldigen Landes ist im Grunde alles, was ich wünsche.

Thomas Mann am 19. September 1939 in seinem Tagebuch

 

Als ich geboren wurde, stand meine Lebenswaage zwischen der Versklavung durch die Nazis und der durch die Siegermächte. Die einzige Chance der Freiheit, lernte ich, lag in mir selbst, und ich hatte sie zu finden, und so habe ich bis 1990 alle meine Entscheidungen getroffen. Bis 1990 lebte ich, als hätte ich zwei Leben. Danach hatte ich nur noch eines.

Meine Schwester sang das Weltjugendlied, das sie nach 1945 in der Schule gelernt hatte. Ich lernte es von ihr. Aber ich hörte ihr nicht richtig zu und sah Entsetzen in den Augen der Familie, die mir zuhörte: Statt „Freundschaft siegt“ sang ich völlig unbefangen: „Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt, Deutschland siegt, Deutschland siegt.“ Hastig wurde ich belehrt: Deutschland hat doch den Krieg verloren!

Statt der viel älteren Schwester hätte ich gern einen Bruder gehabt. Der Bruder hätte ja noch kommen können. Ich wäre dann der Ältere gewesen. Auch meine Mutter wünschte sich noch ein drittes Kind. Aber mein Vater war anderer Meinung. „Kommt nicht in Frage! Noch ein Kind für die Russen!“, soll er gesagt haben. Schon ich war ihm abgelistet worden. Der Krieg hatte meine Eltern über die Familienplanung entzweit.

Gehörte ich also zu den Verlierern? Ich gehörte, das musste ich verstehen lernen, nicht nur zu einem geschlagenen, sondern auch zu einem verführten, schuldbeladenen, in der ganzen Welt verhassten oder zumindest unbeliebten Volk. Ich saß auf den Trümmern eines zum dritten Mal untergegangenen Reiches. Unablässig wurde mir die Schuld der Deutschen vorgehalten, und ich fühlte mich allmählich auch als Opfer, als ein Opfer dieser Schuld. Ich lebte in meiner Kindheit mit dem Gefühl, fremde Mächte könnten mit uns machen, was sie wollen. Gerade hatte ich begonnen zu verstehen, was ein Krieg ist. Da musste ich lernen, mir vorzustellen, welche Verwüstungen die Atombomben anrichten, deren Zerstörungskraft in den Nachrichten von Jahr zu Jahr stieg. Deutschland wurde oft als der mögliche Schauplatz genannt. Wie hätte mir nicht bange werden sollen, dass ich immer zu den Verlierern gehören würde? Ich habe dagegen angekämpft, wo und sooft ich konnte. Und ich erfuhr, dass auch die größten Sieger einmal Verlierer werden. Es gibt ein Bild von René Magritte: Der Sieg. Es zeigt einen Sandstrand, ein Meer, einen Himmel; eine Tür steht in der Luft, wo sie nicht nötig wäre, offen; und eine Wolke tritt hindurch. Es wurde 1939 gemalt. Wir wissen, wer da auszog und angriff, um zu siegen. Wären sie umgekehrt, wenn sie das Bild gesehen hätten?

Es gibt sprunghafte Erkenntnisse, die einen triumphierenden Schreck auslösen – oder ist es ein schrecklicher Triumph? Ich hatte solch ein Gefühl, als ich in der Mitte meines Lebens bei dem ungarischen Erzähler Gyula Krúdy den Satz las: „Worüber kann sich ein Mensch noch freuen, wenn er als Ungar auf die Welt kommt?“ Worüber, fragte ich mich sofort, konnte der Junge, an den ich mich erinnere, sich noch freuen, der begriff, dass er als Deutscher auf die Welt gekommen war? Inzwischen habe ich Enkel. Deutsche.

Schwarze Augenhöhlen

Wenn meine Eltern Besuch bekamen, wurden aus Schubläden und Schrankfächern alte Fotos hervorgeholt, und am längsten unterhielt man sich über solche, auf denen sich viele Menschen zusammengefunden hatten, um abgelichtet zu werden. „Der ist schon tot“, sagte jemand. Er zeigte auf ein Gesicht, dessen Augenhöhlen mir sofort besonders schwarz erschienen. „Die ist auch schon tot“, versetzte jemand anderes und schob den Zeigefinger auf ein anderes Gesicht, das zwar noch lächelte, aber gleichfalls mit ziemlich schwarzen Augenhöhlen. Sofort beeilte sich wieder jemand, den Finger auf ein Gesicht zu legen und zu verkünden: „Der auch.“ Gefragt wurde: „Was, der auch?“ Woran sah man, ob jemand schon tot war? Ich erkannte es an den trotz des Lächelns schwarzen Augenhöhlen. Denn auf Verpackungen giftiger Waren, die es in unserer Drogerie gab, war immer ein Totenkopf mit schwarzen Augenhöhlen abgebildet.

Aber je länger ich mir das Gruppenfoto anschaute, desto mehr Leute schauten aus so schwarzen Augenhöhlen den Betrachter an. Warum nur greifen, dachte ich, der Besuch und meine Eltern Einzelne heraus? Die sind doch alle schon tot! Aber ich äußerte mich nicht dazu und fragte nichts, weil es mich gruselte. Wenn ich ins Bett zu gehen hatte, entdeckte meine Mutter bei mir erschrocken Augenringe und rief erschrocken aus: „Höchste Zeit!“ Aha, dachte ich, wenn ich nicht schlafe, muss ich bald sterben. Und heute sind die Leute auf den Fotos wirklich alle tot. Aber ich weiß noch immer nicht, was das ist, wie das ist: tot zu sein.

Ein Invalide

Ein guter Freund meines Vaters humpelte noch jahrelang nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Ein Bein war steif. Im Lauf der Jahre verlor sich das. Doch als er noch sehr stark humpelte, hörte ich, in einer Ecke hinter dem Ladentisch, wo ich mich gern aufhielt, neugierig lauschend, wie er meinen Vater fragte, ob er Knochenleim habe. Kaum war er gegangen, fragte ich meinen Vater: „Braucht er den Leim, um seine Knochen wieder zusammenzuleimen?“

Sprachprobleme

Man lernt das Sprechen über das Hören, aber auch das Hören über das Sprechen. Hört man nur, stellen sich wunderliche Missverständnisse ein. Ich hörte die Erwachsenen oft das Sprichwort sagen: Abendrot – Gut’-Wetter-Bot’. Die Verkürzungen verstand ich nicht. Ich wunderte mich, dass das gute Wetter in einem Boot kommen sollte. Auch das schlechte Wetter kam nach dem Morgenrot angeblich in einem Boot, allerdings nicht immer, denn mancher sagte auch: Schlecht’ Wetter droht. Das verstand ich gleich richtig. Meine Mutter sang mir das Lied von den Gänsen vor, die barfuß gehen müssen: „Der Schuster hat Leder, keinen Leisten dazu …“ Niemand in der Familie konnte dem kleinen Jungen erklären, was ein Leisten sei. Manchmal nannte meine Mutter mich neunmalklug. Sie sagte „neumaklug“. Ich sah aber nicht ein, was an meiner Klugheit neu sein sollte, wollte ich doch von ihr etwas Neues erfahren. Eine ihrer Drohungen lautete: „Sonst gibt’s was aus der Armkasse!“ Dass sie den zur Ohrfeige ausholenden Arm meinte, verstand ich schon, doch die Kasse an oder in ihrem Arm blieb mir ein Rätsel, bis ich die spaßhafte Anspielung auf den Begriff Armenkasse erkannte.

Mein Großvater fiedelte gern auf einer alten Geige, und wenn er sein Stück zu Ende gekratzt hatte, hob er den Bogen von den Saiten und sagte lächelnd: „So ungefähr.“ Schien in die Stubenfenster der Staßfurter Proletarierwohnung an der Weißenburger Straße die sinkende Sonne, sang er mit zittriger Greisenstimme: „Gold’ne Abendsonne! Wie bist du so schön! Nieeee kanohne Wonne deinen Glahanz ich seh’n.“ Die Zusammenziehung stellte mich, sooft sie wiederkehrte, vor die unlösbare Frage, was denn die Abendsonne mit einer Kanone zu tun habe. Nicht weit, jenseits des Hofes, donnerten Tag für Tag von morgens bis abends die Niethämmer einer Kesselschmiede; vielleicht kam ich deshalb darauf. Wenn ein Kriegskamerad meinen Vater besuchte, wenn die beiden lachend oder den harschen Befehlston von Offizieren nachäffend ihre Kriegserlebnisse austauschten, stand ich stumm lauschend daneben. Ich hörte etwas von einem, der bei der „Luftwaffel“ gewesen war, versuchte mir vorzustellen, wie er auf einer Waffel, die wie ein fliegender Teppich aussah und wohl nicht besonders lecker geschmeckt hätte, durch die Luft flog.

„Derhalben jauchzt, mit Freunden singt!“ sangen die Leute zu Heiligabend in der Schlosskirche. Bezog sich das auf die Weihnachtsgeschichte, die da verlesen worden war? Warum nur der halben? Warum nicht der ganzen? Da die Fichte, unser Weihnachtsbaum, sehr rasch nadelte und ich meine Mutter oft darüber seufzen hörte, setzte sich das Lied „O du fröhliche, o du selige“ fort mit „nadelnbringende Weihnachtszeit“. Von der Gnade des Herrgotts hatte ich ja noch keine Ahnung. Dass die „Christenheit“ sich freuen sollte, fand ich seltsam: Das Wort zerfiel in meinem Ohr zu Christen und Heiden. Nachdem ich mich lange gefragt hatte, ob nun die Christen oder die Heiden sich freuen sollten, oder ob denn die Christen womöglich zugleich auch Heiden seien, fand ich einen toleranten Kompromiss: Die Heiden sollten sich ebenso freuen wie die Christen, nannte sich doch mein Vater, der nie mit in die Kirche kam und lieber zu Hause die Bescherung vorbereitete, was ja sehr nützlich war, freundlich lächelnd einen Heiden.

Ich wunderte mich meistens still. Warum fragte ich niemanden? Vielleicht lachte man mich, wenn ich fragte, aus, vielleicht bekam ich eine dieser dummen Antworten, die Kinder bekommen, wenn die Großen sie nicht ernstnehmen. Ich weiß nicht mehr, wann und wie meine Irrtümer sich klärten. Man nimmt vieles hin, weil man nicht weiter fragt, wenn man nicht weiß, dass es sich anders verhalten könnte.

Wechsel der Perspektive

Das Kind lebt im Jetzt. Es meint, wie es jetzt sei, bleibe es immer. Darin liegt der Grund sowohl für seine Unbesorgtheit als auch für seine Verzweiflung. Das Vergehen der Zeit, den Wechsel der Jahreszeiten, nimmt es gedankenlos hin. Eine Fülle erster Erfahrungen und immer neuer Eindrücke streckt ihm die Zeit mehr noch als dem Erwachsenen, der auf Reisen durch unbekannte Länder fährt. Sie verläuft so allmählich, dass man sie nicht mehr wahrnimmt. Aber eine überraschende Beobachtung, ein Ereignis, das ihm sein Leben in eine Zeit davor und eine andere danach teilt, eröffnet dem Kind die Zeit selbst: Ich erinnere mich sehr genau des Augenblicks, in dem ich entdeckte, dass die Kante des Küchentisches nicht mehr meinen Blick nach oben begrenzte. Meine Augen konnten plötzlich sehen, was auf dem Tisch stand, und auch die Fläche, auf der es stand. Ich brauchte einen Atemzug, um zu begreifen, dass ich gewachsen war. Oder hat es meine Mutter mir gesagt, weil sie mein Erstaunen bemerkte? Darüber freute ich mich so inbrünstig wie danach im Leben selten, und alles, was ich vor diesem Augenblick erlebt hatte, sank in ein tiefes Vergessen, weil es nicht mehr in Betracht kam. Erst später, als ich bewusst nach Erinnerungen suchte, gelang es mir wieder, in meine Welt unter der Tischkante zu schauen.

Das Gelobte Land

Meine Mutter pflegte, wenn ich ins Bett gehen sollte, aber auch, wenn sie selbst nach einem anstrengenden Tag im Geschäft endlich ins Bett gehen wollte, zu sagen, nun gehe es „in den Kahn“. Ich behielt davon eine Vorstellung, der Schlaf sei ein sanftes Dahingleiten in einem mit weichen Polstern ausgelegten Kahn auf einem ruhigen Gewässer. Sie erweiterte aber den Kahn auch gern in „Kanaan“ und sagte dann: „Auf nach Kanaan, in das Gelobte Land!“ War sie sehr müde, ich aber lange nicht zu bewegen gewesen, ins Bett zu gehen, drängte sie mich zur Eile und sagte: „Auf nach Matkabuja!“ Manchmal war folglich auch Matkabuja das Gelobte Land. Ich habe ein Land dieses Namens nicht gefunden. Wenn ich dann in mein Bett stieg, flüsterte sie manchmal, bevor sie die Decke glattstrich: „Husch husch, die Waldfee!“ Werde ich sie treffen, fragte ich mich, wenn ich im Schlaf mit meinem weichen Kahn nach Kanaan komme, in das Gelobte Land, oder nach Matkabuja?

Sonntagmorgen

„Alle Tage ist kein Sonntag!“ So begann ein Lied, das meine Mutter sang. Meine Schwester begleitete sie dabei am Klavier. Es klang in meinen Ohren traurig, denn ich kannte, so sehr ich es mir wünschte, keinen Menschen, der „alle Tage recht lieb“ zu mir war.

Meine Eltern hätten nach einer mühseligen Woche in der Drogerie sonntags gern ausgeschlafen. Sehr selten kamen sie dazu. Der Ruhestörer war am Sonntagmorgen zuerst ich. Dann kamen die Katholiken. Katholiken waren sehr arm. Die Umsiedler begegneten sich bei ihrem Kirchgang an der Ecke vor unserer Drogerie und blieben lange stehen, um einander in ihren sonderbaren Dialekten zu begrüßen und Neuigkeiten auszutauschen. Sie waren aus dem Sudetengau gekommen, und mein Vater nannte sie manchmal verächtlich „Sudetengauner“. Oder sie kamen aus Ungarn, und alle Leute nannten sie Ungarn, obwohl sie Deutsche waren, vertriebene, „ausgesiedelte“ Deutsche. Weil manche Frauen noch die schwarze Tracht ihrer Heimat anlegten, von der sie sich nicht hatten trennen wollen, wirkten sie in der Saalestadt besonders fremd. Bernburg, um 1900 wie heute auch eine Stadt mit rund 35 000 Einwohnern, hatte damals 25 000 Einwohner mehr. Eine Familie aber war wohlhabend, und sie nahte mit Hufgetrappel: Der katholische Bauer Schwinhorst aus Gröna, der aus dem Rheinland stammte, fuhr mit seiner Frau und seinen Söhnen in einer Pferdekutsche zweispännig zur Messe in der kleinen backsteingotischen Kirche Sankt Bonifatius. Über das Hufgetrappel beklagten meine längst geweckten Eltern sich nie.

Ich war von allen zuerst erwacht und hatte mich gelangweilt. Später bekam ich zu hören: „Der Junge war wieder um fümwe wach!“ Mein Zeitvertreib hatte die Eltern noch vor den Katholiken aus dem Schlaf gerissen. Zuerst machte ich nur sehr leise von einer Entdeckung Gebrauch: Ich hatte herausgefunden, dass die weiß lackierten Holzstäbe des Kinderbettes, dem ich noch nicht entwachsen war, unterschiedlich klangen, sobald ich mit einem Finger oder mit der Handfläche der Reihe nach an ihnen entlangstrich, als wäre das Gitter, das mich vor dem Herausfallen schützte, eine Harfe mit hölzernen Saiten. Die Töne blieben sehr leise und klangen ganz fein, und ich hätte niemanden damit geweckt, wäre ich nicht darauf gekommen, selbst solche Töne in gleicher Höhe zu erzeugen. Zwar sang ich nicht richtig, sondern flüsterte nur, indem ich die Tonhöhe durch sich wandelnde Lippenstellungen zu treffen versuchte, aber das klang doch schon vernehmlicher als das gestreichelte Holz und wurde durch Stöhnen beantwortet.

Werktags weckten uns die Werksirenen der Schächte und Fabriken. Bei Ostwind waren auch die Geräusche des Güterbahnhofs, das schnaubende Anfahren eines langen Güterzuges oder der Rangierlärm zu hören. Am Sonntagmorgen war ich die Eisenbahn. Seit dem ersten Pfiff einer Dampflokomotive in dieser Gegend waren gerade hundert Jahre vergangen, jetzt ist solch ein Morgen schon mehr als sechzig Jahre her. Die Bahnschranken machten Bing-bing-bing-bing! Nicht die Bahnschranken, lernte das Kind, das mit den Eltern über Land gegangen war, sondern eine Glocke. Schlossen sich die Schranken, war damit zu rechnen, dass sich auf den Gleisen ein Zug näherte. Gerade wenn meine Eltern länger zu schlafen hofften, vertrieb ich mir die Zeit damit, die Geräusche der Eisenbahn nachzuahmen. Eine Szenenanweisung für das, was ich nach dem Erwachen mit meinem Atem, meinen Lippen und meinen Zähnen fast stimmlos spielte, könnte so lauten: Ein einsamer beschrankter Bahnübergang. Stille. Ein Wind faucht und heult manchmal in den Telegrafendrähten, summt im Holz der Masten. Ein Motorradfahrer nähert sich, muss seine Knatterkiste anhalten und den Motor abstellen, denn gerade schließen sich langsam die Schranken: Bing-bing-bing-bing. Ein Zug, von einer Dampflokomotive gezogen, nähert sich aus der Ferne, anfangs leise keuchend, dann immer näher, also lauter stampfend und mit Schnauben vorübertobend; die Achsen der Wagen schlagen mit den rollenden Rädern hart auf den Stoß zwischen den Schienen – nannann-nannann-nannann-nannann, Stahl auf Stahl. Eine Radachse, die vielleicht kaputt ist oder bald kaputtgeht, klingt dunkler – tong-tong-tong-tong-tong, eine andere macht kapumm-kapumm-kapumm, als hinke sie. Am Anfang spielte ich die Szene leise, dann lauter, dann wieder leise, weil sich der Zug entfernte. Der Zuglärm verlor sich. Bing-bing-bing-bing: die Schranken stiegen wieder in die Höhe. Der Mann trat sein Motorrad an. Auch sein Knattern entfernte sich. Der Wind wehte und fauchte und heulte auffrischend in den Drähten.

Ich spielte auch Gewitter mit mir selber, wenn es morgens zeitig hell geworden war: Indem ich schnell und heftig mit den Lidern blinzelte, erzeugte ich meinen Augen den Eindruck zuckender Blitze. Dann ließ ich nach Belieben die Zeitspanne vergehen, während der ich meinen Vater bei wirklichem Gewitter oft hatte zählen hören, weil, wie er sagte, so die Entfernung des Blitzschlages zu ermitteln war. Dabei holte ich durch die Nase tief Luft. Mit dieser Luft erzeugte ich ein je nach Ferne oder Nähe leiser oder lauter grummelndes Fauchen, das den Donner wiedergab.

So gedämpft ich meine Laute zu halten versuchte, früher oder später erwachten die Eltern davon, und sie beschwerten sich seufzend. Da sie nun aber einmal erwacht waren und es doch nicht nötig hatten, sonntags so zeitig aufzustehen wie katholische Umsiedler oder der Bauer Schwinhorst, blieben sie liegen und luden mich ein, mich zwischen sie in die „Besuchsritze“ zu kuscheln. Meine Schwester kam aus ihrem Zimmerchen dazu, und nun fuhren wir nach Italien, wo mein Vater im Krieg gewesen war. Ich durfte weiter Geräusche imitieren, hatte mich aber auf das Motorbrummen eines Autos zu beschränken, das uns mein Vater gekauft hätte, wäre der Krieg gewonnen worden. Mutter und Schwester mussten die Augen schließen, sich still verhalten und zuhören. Allenfalls Laute der Bewunderung waren ihnen erlaubt. Mein Vater schilderte nun die Alpen und den Brenner, den wir bei Schnee und Eis auf einer Passstraße zu überqueren hatten, über die manchmal auch Wolken spazierten. Die Hänge zu beiden Seiten waren kahl. Aber sobald die Fahrt wieder talwärts ging, nahmen die Bäume zu, Nadelbäume zuerst, dann Laubbäume und Wiesen, auf denen weiß die Obstbäume blühten, die Mandelbäumchen rosa. Das Tal weitete sich, die Berge ragten in die Wolken. Über die unteren Hänge zogen sich Weinberge. Immergrüne Gewächse, die ihre Blüten und ihre Früchte, Zitronen und Apfelsinen, zu gleicher Zeit trugen, säumten die Straße, Pinien und Zypressen tauchten auf, die Zypressen glichen einem geschlossenen Regenschirm, die Pinien einem aufgespannten, das merkte man sich leicht. Und dann tat sich unseren staunenden Blicken ein herrlich tiefblauer See auf, der Gardasee.

Zauberkräftige Herzen

Meine Mutter sang mir, um mich zu warnen, das bekannte Lied vor: Gefroren hat es heuer, noch gar kein festes Eis. Ich hatte ein Paar Filzstiefel bekommen und durfte mit anderen Jungs herumziehen. Eines ließ sich nicht vermeiden, das war meinen Eltern klar: Ich würde mit ihnen auch hinunter an die Saale gehen. Damals waren die Winter bitterkalt, und 1947 war der kälteste. Sogar das Wehr neben der Saalmühle gefror. Ich erinnere mich, dass mein Vater mit mir auf dem Rodelschlitten hinunterfuhr, eine gewagte Fahrt: Es lag viel Brennholz herum, das aussah, als hätte es einmal zu einem Schlitten gehört.

„Das Büblein stampft und hacket“, sang meine Mutter weiter, „das Eis auf einmal knacket“. Ich hatte gesehen, dass es gerade nahe an den Ufern Stellen gab, an denen die Strömung des Flusses das Eis sehr dünn hielt, oder wo das Wasser nicht zufror. „Wär nicht“, sang meine Mutter, „ein Mann gekommen, hätt’ sich ein Herz genommen …“ Diese Redewendung war mir unbekannt. Lange, bis ich darüber eines anderen belehrt wurde, sah ich immer einen kahlen, verschneiten Strauch an einem Uferstück mit zu dünnem Eis, und der Mann, der mich gleich aus dem kalten Wasser ziehen würde, musste, damit er nicht selbst ertrank, erst eines der vielen roten Herzen aus dem Strauch pflücken, die darin hingen und wahrscheinlich mit Zauberkraft gesegnet waren. Wenn ich die Augen schließe, kann ich den winterlichen Strauch mit seinen rot schimmernden Zauberherzen heute noch sehen.

Beinahe

Beinahe gäbe es ihn gar nicht, den alten Mann und seine Erinnerungen an den Jungen, der er gewesen ist. Der Tod durch Ertrinken ist sehr leicht. Ob er der leichteste ist, kann ich nicht sagen. Dafür fehlt mir der Vergleich. Aber dass der Tod durch Ertrinken sehr leicht ist, kann ich bei meinem Leben bezeugen. Er muss allerdings unverhofft kommen.

Die Leuna-Werke und andere Industriebetriebe, die giftige Abwässer in die Flüsse zu leiten pflegten, waren im Krieg von Bomben zerstört worden. Die Saale führte in den Nachkriegsjahren ein klares, sauberes Flusswasser, in dem die Leute badeten, nicht nur in Hoffmanns Badeanstalt an der Töpferwiese, sondern auch an anderen Ufern, an Buhnen, in „toten Armen“ oder in den flachen Kehlen ihrer Windungen in den Auenwäldern. An der Stelle, zu der meine Eltern und meine Schwester mit befreundeten Ehepaaren und deren Kindern sonntags radelten, steckte noch ein verrosteter Panzerspähwagen zur Hälfte schief in der Strömung. Gegenüber schauten die beiden Turmspitzen der Aderstedter Kirche durch die Eichenwipfel, die nicht nur von Maikäfern halb kahl gefressen, sondern auch stark ausgelichtet worden waren, weil die Leute aus der Stadt und den Dörfern im Herbst und im Winter nachts Bäume gefällt hatten, um sich mit Brennholz zu versorgen. Ich weiß nicht, ob damals jemand dafür bestraft wurde. Die Leute taten nur, was ihnen die Russen aus den nicht weit gelegenen Kasernen vormachten; Kasernen, kurz vor Kriegsbeginn für die Wehrmacht gebaut.

An dieser Stelle blieb das Saaleufer, das kantige Bruchsteine befestigten, mit etwas angeschwemmtem Sand flach genug, dass man auch Kinder, die noch nicht schwimmen konnten, planschen ließ. Zu denen gehörte ich. Mehr wüsste ich eigentlich nicht davon, wäre da nicht an einem sommerlichen Sonntagnachmittag etwas vorgefallen, das ich mir lange Zeit nicht erklären konnte. Allen Warnungen zuwider war ich ein Stück weiter ins Wasser gegangen. Da mich niemand zurückrief, um mir schon wieder einzuschärfen, wie leicht man in der Saale ertrank, tat ich noch einen Schritt. Ich hatte unter den Füßen keinen Sand mehr, sondern einen dieser schlüpfrigen Bruchsteine, und der Stein bewegte sich und wälzte sich in tieferes Wasser. Ich erschrak. Ich hatte außer Wasser gar nichts mehr unter den Füßen. Aber wie genau ich beobachtete, was geschah! Ich sah die beiden Turmspitzen der Aderstedter Kirche, erkannte einen Atemzug lang die Linie der Wasseroberfläche, die über meinen Augen aufwärts stieg – dann war alles aus.

Es war ein einziger Atemzug gewesen, der alles hätte entscheiden können. In der warmen Sonne fand ich mich wieder, blinzelnd auf einer Filzdecke ausgestreckt, und der ältere Junge aus einer befreundeten Familie schwenkte mit hartem Griff meine Arme auf und nieder, schaute mich prüfend an, freute sich über das Wasser, das mir aus Hals und Nase sprudelte und sagte irgendein Wort der Erleichterung.