Wörterzauber statt Sprachgewalt
Achtsam sprechen in Kita, Krippe und Kindertagespflege
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
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Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal, Rohrdorf bei Rosenheim
E-Book Konvertierung: Newgen publishing
ISBN (Print) 978-3-451-39111-8
ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82611-5
ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82622-1
Einleitung
1Die Macht der Sprache
2Vorurteilsbewusstes Sprechen üben
3Von der Androhung zur Empathie
4Verbalen Adultismus reflektieren
5Geschlechtersensible Sprache nutzen
6Manipulation vermeiden
7Bewertungen vermeiden
8Vom Lob zur Wertschätzung
9Gefühlssprache entdecken
10Von der negativen zur positiven Sprache
11Klare Sprache bevorzugen
12Bitten statt Forderungen
13Verantwortung übernehmen
14Verbale Grenzüberschreitungen bewusst machen
15Sprache verändern braucht Zeit
Exkurs: Die Wörter „immer“ und „nie“
Exkurs: Das Wörtchen „aber“
Exkurs: Studie über gendergerechte Sprache
Exkurs: Warum-Fragen
Exkurs: „Sag danke!“ „Wie sagt man?“
Exkurs: Die Wörtchen „gleich“ und „bald“
Exkurs: Information statt Bitte
Literatur
Anhang
Worte können viel bewirken. Wie wir mit Kindern sprechen, nimmt Einfluss auf ihre Entwicklung. Denn Worte enthalten Botschaften, die die Kinder prägen. Pädagogische Fachkräfte haben neben den Eltern entscheidenden Einfluss darauf, welches Bild ein Kind von sich selbst entwickelt.
Insbesondere in stressigen Momenten kommen manchmal Sätze aus unserem Mund, die wir so nie zu Kindern sagen wollten. Das ist kein Drama. Es lässt sich auch nicht vermeiden, denn wir alle sind Menschen mit Erfahrungen und Prägungen. Die entscheidenden Fragen sind: Wählen wir unsere Worte bewusst? Erlauben wir uns, uns zu beobachten, reflektieren wir unsere eigene Sprache und gehen so Stück für Stück neue Wege?
Dieses Buch möchte Anstöße geben, um das eigene Kommunikationsverhalten genauer zu betrachten. Dabei kann es passieren, dass man sich an bestimmten Stellen „ertappt“ fühlt und merkt: „Oh nein, das habe ich schon so oft gesagt“. Auch das ist nicht schlimm. Es bedeutet nur, dass es an dieser Stelle Raum zur Entwicklung gibt. Ich kann die Erkenntnis als Geschenk begreifen, neue Wege einschlagen zu dürfen.
Um bewusst mit Sprache umgehen zu lernen, ist es wichtig, mit sich selbst in Kontakt zu sein – mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. So kann ich mich offenbaren und die Verantwortung für mich selbst übernehmen. Deshalb finden sich im Anhang eine Gefühls- und eine Bedürfnisliste, die im Alltag als Reflexionsstütze dienen können.
In jedem der Kapitel wird ein Sprachaspekt exemplarisch beschrieben, mit einem Praxisbeispiel anschaulich gemacht und unter fachlichen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten analysiert. Schließlich werden am Ende eines jeden Kapitels alternative Sprachimpulse vorgeschlagen.
Hierbei geht es nicht um richtig oder falsch, nicht darum, dass nun jede Fachkraft diese Worte verwendet. Menschen bevorzugen unterschiedliche Wörter, und jeder darf bzw. muss sogar seine eigene authentische Sprache finden. Alle Vorschläge und Impulse sind als Anschauungsbeispiele zu verstehen, die unterstützen sollen, Ideen für eine gewaltfreie Sprache zu finden.
„Ist doch nicht so schlimm!”, sagt Erzieherin Birgit zum dreijährigen Jonas, der gerade hingefallen ist und weint. Ein kleiner Satz, eben mal gesagt, so nebenbei, fünf aneinandergereihte Worte, wenige Silben, die über Birgits Lippen rutschen. Diese Worte zeigen Wirkung, eine größere, als man zunächst annehmen möchte. Sie senden eine Botschaft, die Jonas unter Umständen für sein Leben prägen kann.
Je nachdem, wie häufig Jonas diesen oder einen ähnlichen Satz hört, trägt die enthaltene Botschaft dazu bei, wie er über sich selbst denkt und was er von sich hält. Die Worte können also großen Einfluss darauf haben, welches Bild sich Jonas letztendlich von sich selbst macht – zum Beispiel:
•Das, was du fühlst, ist falsch!
•Fühle anders!
•So, wie du bist, bist du falsch!
•Deinen Empfindungen kannst du nicht trauen!
•Weinen ist nicht o.k.!
Auf diese Weise lernt Jonas, dass er falsch ist und falsch empfindet, dass er seine Gefühle lieber nicht zeigen sollte und aushalten muss, was schmerzt. Die damit abgespeicherte Selbstbildkomponente kann sich in negativer Weise auf sein Selbstvertrauen, sein Selbstbewusstsein und auch auf seine sozial-emotionalen Kompetenzen auswirken. Aus der Forschung ist hinlänglich bekannt, dass wenig Selbstvertrauen sowie Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen und im sozialen Miteinander sich auf die emotionale Widerstandskraft (Resilienz) auswirken können (vgl. Wustmann 2004; Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2019; Weltzien u.a. 2016).
Wie Menschen miteinander sprechen, beeinflusst also den Selbstwert und das Selbstbild des Kommunikationspartners. Die Familientherapeutin Virginia Satir (2018, S. 39) schreibt: „Kommunikation ist der Maßstab, mit dem zwei Menschen gegenseitig den Grad ihres Selbstwerts messen, und sie ist auch das Werkzeug, mit dem dieser Grad für beide geändert werden kann.”
Pädagogische Fachkräfte haben es neben den Eltern in der Hand, Kinder in positiver wie negativer Weise durch ihre Sprache, ihre Worte zu prägen.
Während der Kita-Zeit sammeln Kinder jede Menge Erfahrungen, was die Kommunikation zwischen Menschen anbelangt. Und in genau dieser Zeit erlangen sie eine Idee darüber, wie sie sich selbst sehen, was sie von anderen erwarten können und was ihnen in der Welt als möglich oder auch als unmöglich erscheint (vgl. ebd.). Pädagogische Fachkräfte sind Teil dieser Erfahrungen, über ihre Kommunikation mit den Kindern können sie eine Spur in deren Selbstbild hinterlassen, die die Kinder fühlen und begreifen lässt: „Ich bin gut!” „Ich kann etwas erreichen!” „Ich bin wertvoll, so wie ich bin!”
Welche Gewalt Sprache ausüben kann, wird im Konzept der „Gewaltfreien Kommunikation” deutlich. Der Begründer Marshall Rosenberg zeigt auf, dass sich Gesagtes für das Gegenüber äußerst schmerzhaft und übergriffig anfühlen kann. Er spricht dabei von der sogenannten Wolfssprache, die den Anderen ängstigt, beschämt oder verärgert. Eine gewaltvolle Sprache ist von Herrschaft, Dominanz, Macht, Rechthaberei, Kleinmachen, Beschuldigung und Beschämung geprägt. Sie führt dazu, dass sich Menschen voneinander entfernen statt zueinander zu finden, dass sie sich abschirmen statt sich zu öffnen, einigeln statt weich und zugänglich zu bleiben.
Unbeherrschte Worte wie „Du wirst es nie zu etwas bringen” oder „Du bist ein furchtbares Kind!” sind wie ein Schlag ins Gesicht und führen dazu, dass das Gegenüber schlecht über sich selbst denkt, wütend wird oder sich verletzt zurückzieht. Worte haben Macht! Mit Worten ist es möglich, Grenzen massiv zu übertreten, zu verletzen, kurz: eine psychische Ohrfeige zu verpassen.
„Worte sind Mauern – oder auch Fenster”
(Marshall Rosenberg)
Es ist heute bekannt, dass psychische Gewalt genauso schmerzhaft ist wie körperliche Gewalt. Und eine entscheidende Komponente, über die psychische Gewalt ausgeübt wird, ist die Sprache. Eine Studie an der Universität Michigan konnte zeigen, dass im Gehirn von Menschen bei psychischem und körperlichem Schmerz die gleichen Hirnareale aktiv sind (vgl. Kross u.a. 2011). Auch eine groß angelegte Langzeitstudie mit 2.500 Kindern im Alter zwischen 5 und 15 Jahren der Universität Minnesota kam zu dem Schluss, dass verbale Herabwürdigung, Demütigung und Bewertung ähnliche negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder haben wie körperliche Misshandlungen (vgl. Vachon u.a. 2015).
Umgekehrt kann ein Satz, ja sogar ein einziges kleines Wort dazu beitragen, einander die Hand zu reichen, das Herz zu öffnen, sich zu erfreuen, zu stärken, sich gegenseitig aufzumuntern und zu motivieren. Ein einziger Satz kann wie ein Pfeil schießen oder aber Wunden heilen, wie ein Filter oder wie ein Spiegel der Seele wirken, Kooperation fördern oder Widerstand hervorrufen. Sprache kann so schmerzhaft sein und so heilsam.
In der Gewaltfreien Kommunikation verwendet Marshall Rosenberg im Gegensatz zur Wolfssprache für die gewaltfreie, friedvolle Sprache das Bild der Giraffe – nicht ohne Grund, denn es handelt sich dabei um das Landtier mit dem größten Herzen. Dieses Tier soll die Sprache des Herzens repräsentieren, die geprägt ist von Freundlichkeit, Mitgefühl und Verbindung. Es handelt sich um eine sanfte Sprache, die von Herzen kommt, die etwas über den Sprechenden preisgibt anstatt den anderen zu verurteilen. Sie ist kraftvoll und drückt aus: „Ich verstehe und sehe dich!”
Das gesprochene Wort macht nur einen Teil der Kommunikation des Menschen aus. Weitere Komponenten sind im Tonfall, der Tonhöhe, der Mimik, Gestik und im Sprachtempo zu verorten. Neben der rein verbalen Kommunikation gibt es auch die paraverbale Kommunikation und die non-verbale Kommunikation (vgl. Watzlawick u.a. 2003; Maletzke 1996).
Egal, was wir sagen, die Haltung ist entscheidend, so heißt es oft. Das stimmt auch zu weiten Teilen. Wenn ich zu einem Kind liebevoll „Du Dummi!” sage und dabei zugewandt und freundlich bleibe, so kann ich hoffen, dass es den Spaß versteht und meine Worte richtig interpretiert. Und dennoch sollte das gesprochene Wort in seiner Wirkweise nicht unterschätzt werden. Ein Kind wird trotzdem unterschwellig hören: „Ich bin dumm!” Auch hier gilt die altbekannte Weisheit: Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte, achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen …
Bereits seit den 1930er Jahren wurden die Sprache und ihre Auswirkung auf unser Denken untersucht. Die amerikanischen Linguisten Edward Sapir (1884–1939) und Benjamin Lee Whorf (1897–1941) stellten die These auf: Wenn Menschen in unterschiedlichen Ländern grundverschieden sprechen, dann denken sie auch unterschiedlich. Wenngleich ihre Behauptung zunächst ohne Nachweis blieb, kann heute belegt werden, dass ihre Annahme stimmt und Sprache das Denken formt (vgl. Boroditsky 2012). Wie wir sprechen beeinflusst unser Denken, und wie wir denken prägt unsere Wirklichkeit. Unsere Sprache konstruiert also auch unsere Wirklichkeit.
Der Psychologe Lew Wygotski hat sich in den 1970er Jahren der Frage gewidmet, welchen Zusammenhang Sprache und Denken haben (vgl. Wygotski 1974). Er stellte die Behauptung auf, dass das Denken sich nicht nur im Wort wiederfindet, sondern sogar durch das Wort erfolgt (vgl. ebd., S. 303). Sprache kann also als Werkzeug des Denkens verstanden werden. „Sprache ist die Kleidung der Gedanken”, so formulierte es einst der englische Sprachforscher und Journalist Samuel Johnson (1709–1784).
Jeder Satz, der gesprochen wird, macht deutlich, welche Haltung dahintersteht und welches Bild vom Anderen – in diesem Fall, was der jeweilige Erwachsene über das Kind denkt. Wygotski vergleicht Gedanken mit einer hängenden Wolke, die sich erst durch einen Regen von Wörtern entleert (1974, S. 353).
Jedes Wort sendet eine Botschaft, das stellte bereits der Psychologe Friedemann Schulz von Thun mit seinem berühmten Vier-Ohren-Modell fest (vgl. Thun 2009). Die Botschaft kann Informationen enthalten, etwas über den Sprecher selbst offenbaren, einen Appell beinhalten oder etwas über die Beziehung zum Gegenüber aussagen. Mit jedem gesprochenen Wort senden pädagogische Fachkräfte also, bewusst oder unbewusst, bestimmte Botschaften an das Kind, die dessen Bild von sich selbst und von der Welt prägen.
Was Fachkräfte heute zu Kindern sagen, wird morgen ihre innere Stimme sein, die ihre Wahrnehmung und ihr Bild von der Welt mit bestimmt. Um es mit den Worten der Familientherapeutin Peggy O’ Mara auszudrücken: „Die Art, wie wir mit unseren Kindern sprechen, wird zu ihrer inneren Stimme.”
Es gibt nicht die eine Wahrheit und ein klares Abbild von der Welt. Jeder Mensch erschafft sich im Laufe seines Lebens seine eigene Sichtweise auf die Welt. Wahrnehmung ist also immer subjektiv. Aber Erwachsene prägen diese Wahrnehmung mit, indem sie mit den Kindern oder in ihrem Beisein über Kinder sprechen. Die darin enthaltenen Botschaften werden als Wahrheit abgespeichert. Wird einem Kind also immer wieder gesagt, es würde nerven, speichert es diese Botschaft als Wahrheit in seinem Gedächtnis ab. Die Botschaft, dass gut ist, wie es ist, es alles schaffen kann und liebenswert ist, verfestigt sich ebenso.
Lange Zeit war intuitives pädagogisches Handeln gefragt, also aus dem Bauchgefühl heraus zu handeln und zu sprechen. Manchmal führt jedoch genau diese unmittelbare, vermeintlich authentische Reaktion dazu, dass spontan Botschaften übermittelt werden, die die Kinder in negativer Weise prägen. Deshalb ist es wichtig, Sprache bewusst zu wählen, sich immer wieder die Botschaften unserer Worte zu vergegenwärtigen und zu reflektieren, in welcher Weise unsere Sprache den Selbstwert und die Wahrnehmung des Kindes beeinflusst.
Viel häufiger als Erwachsene mit Kindern sprechen, sprechen sie mit sich selbst. Denn ist nicht alles, was wir denken, in gewisser Weise immer auch ein Gespräch mit uns selbst?! Die britische Psychotherapeutin Philippa Perry (2020, S. 33) stellt fest: „Wir haben fast alle eine Art kontinuierliches Geplapper im Kopf, einen Kommentar, an den wir so gewöhnt sind, dass wir ihn gar nicht mehr richtig wahrnehmen.”
Wer sich selbst beobachtet, merkt schnell, dass er selbst sein stärkster Kritiker ist und mit sich nur selten freundlich spricht. Dieser häufig kritische innere Dialog beeinflusst unsere Gedanken, die eigenen Gefühle und schließlich auch die subjektive Wirklichkeit. In der Hypnotherapie wird zum Beispiel durch anerkannte Verfahren über Suggestionen (verbale seelische Beeinflussung) die Wirklichkeit eines Menschen beeinflusst (vgl. Peter 2015, S. 58ff.). Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine eigene subjektive Wirklichkeit, die sich aus seinen Erfahrungen im Umfeld und aus Suggestionen, die er gelernt hat, bildet. Ähnlich ist es mit Glaubenssätzen. Glaubenssätze sind innere Sätze, die einem Glaubenssystem entspringen und sich aus (Kindheits-)Prägungen entwickelt haben.
Es gibt einerseits Glaubenssätze, die schwächen, bewerten, verurteilen und hemmen. Auf der anderen Seite gibt es Glaubenssätze, die motivieren, stärken, zufrieden und dankbar machen, kurz: ein positives Selbstbild fördern.
Bei Glaubenssätzen handelt es sich um innere Überzeugungen, Interpretationen und Verallgemeinerungen, die sich aus (Kindheits-)Erfahrungen entwickelt haben, mit bestimmten Emotionen verbunden und sprachlich gefasst sind. Sie dienen dazu, die Welt zu verstehen und zu strukturieren. Mehrere Glaubenssätze bilden zusammen ein Glaubenssystem, das die subjektive Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägt. Glaubenssätze können für die eigene Entwicklung hinderlich, aber auch förderlich sein (vgl. Stahl 2015).
Eigene Glaubenssätze bleiben oft im Hintergrund und sind uns nicht bewusst. Manchmal treten sie jedoch zutage, wenn Situationen nicht so funktionieren, wie wir es uns vorgestellt haben; wenn Dinge schiefgehen, Momente stressig und konfliktreich sind oder wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Dann schimpfen wir innerlich mit uns: Schon wieder habe ich das nicht geschafft! Ich bin schlecht! Ich kann das nicht! Alle lassen mich alleine! In manchen Situationen sprechen wir diese Kritik an uns selbst auch laut aus: „Oh, ich Dussel!”