Das Buch
Er ist eine der großen politischen Gestalten des 20. Jahrhunderts: David Grün, geboren 1886 im Russischen Reich, der sich seit seiner Ankunft in Palästina 1906 Ben Gurion nannte. Schon früh engagierte er sich für den Zionismus und die Unabhängigkeit eines jüdischen Staates in Palästina. Als er 1948 schließlich den neuen Staat ausrief, setzte er die Interessen Israels um jeden Preis durch, nicht zuletzt auf Kosten der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der renommierte Journalist und Bestsellerautor Tom Segev widmet sich in seiner großen Biographie dem Leben und Wirken des Gründers des Staates, der aus Palästina hervorgegangen ist – und erzählt zugleich eine Weltgeschichte Israels im 20. Jahrhundert.
Der Autor
Tom Segev, geboren 1945 in Jerusalem, ist Historiker und einer der bekanntesten Journalisten Israels, dessen Bücher alle weltweit große Beachtung finden. In Deutschland wurde er durch sein Buch »Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung« (1995) bekannt. Für »Es war einmal ein Palästina« (2005) wurde er mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Siedler seine viel gerühmte Geschichte des Sechstagekrieges »1967. Israels zweite Geburt« (2007), »Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates« (2008) und »Simon Wiesenthal« (2010). Segev lebt in Jerusalem.
TOM SEGEV
DAVID BEN GURION
Ein Staat um jeden Preis
Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama
Siedler
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Meinen Enkeln Liya, Ben und Lior
und ihren Eltern Shira und Itay
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Medina be col mehir: sipur hajav shel David Ben Gurion bei Keter, Jerusalem
Copyright © 2018 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildung: Ben Gurion © Ricarda Schwerin und Alfred Bernheim, 1963.
Mit freundlicher Genehmigung des Israel-Museums, Jerusalem
Lektorat und Satz: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-641-15981-8
V005
www.siedler-verlag.de
INHALT
Vorwort
TEIL I
DER WEG AN DIE MACHT
KAPITEL 1 Der Schwur
KAPITEL 2 Die Flammenrolle
KAPITEL 3 Vögel
KAPITEL 4 Fremdarbeit
KAPITEL 5 Sedschera
KAPITEL 6 Vertreibung
KAPITEL 7 Eine neue Welt
KAPITEL 8 Führungsstärke
KAPITEL 9 Skandale
KAPITEL 10 Einheit
KAPITEL 11 Gespräche
KAPITEL 12 Kriegsgefahren
KAPITEL 13 Zionistische Spannkraft
KAPITEL 14 Holocaust und Spaltung
TEIL II
GRENZEN DER MACHT
KAPITEL 15 Landkarten
KAPITEL 16 Teilung
KAPITEL 17 Krieg
KAPITEL 18 Neue Israelis
KAPITEL 19 Ängste
KAPITEL 20 Peinliche Angelegenheit
KAPITEL 21 Die zweite Runde
KAPITEL 22 Ja zum Alten
KAPITEL 23 Lavon-Affäre
KAPITEL 24 Lebensabend
KAPITEL 25 Ein anderer Jude
ANHANG
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Bildteil
VORWORT
Ein Platz in der Geschichte
An einem Wintertag des Jahres 1940 fuhr David Ben Gurion hinab zum Hotel Kalya am Toten Meer, und dort, am tiefsten besiedelten Punkt der Erde, wälzte er die Frage, wie er wohl dargestellt sein würde in dem Buch, das ein Biograf einst über seine Lebensgeschichte schreiben würde. »Ich stelle mir vor, all unsere Leute sterben plötzlich einer nach dem anderen, sagen wir innerhalb eines halben oder ganzen Jahres«, schrieb er und zählte sie namentlich auf, die Mitbegründer des zionistischen Aufbauwerks im Land Israel, die damals alle noch lebten. Eines Tages würde »ein kluger und guter junger Pionier« ihre Lebensgeschichte erforschen, träumte er weiter. Er würde die Nachrufe und Biografien, Würdigungen und Erinnerungen lesen, die nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, und sehr bald erkennen, dass diese frühen Anführer »Schwächen, Fehler und Mängel« gehabt hatten und keineswegs »Dienstengel, Seraphim und Cherubim« gewesen waren. Ben Gurion fragte sich, ob der zukünftige Biograf vielleicht bedauern würde, nicht selbst in jenen Gründerzeiten des Staates Israel gelebt zu haben: Wie schön wäre es gewesen, wenn die Gründer schon zu Lebzeiten Anerkennung gefunden hätten, dachte er, aber würden sie sie wenigstens nach ihrem Hinscheiden erhalten?1 Er beschäftigte sich häufig mit dem Tod.
Wie viele andere Staatsmänner auch verwandte er viel Mühe auf die Gestaltung der historischen Erzählung seiner Epoche und seiner selbst. Beim zehnten Jubiläum des Staates Israel sah er im Geist einen Archäologen 3000 Jahre später Ausgrabungen auf dem Territorium des Landes vornehmen. Er fände vielleicht ein Buch von Jigael Jadin, der den erkrankten Generalstabschef Jaakow Dori von 1947 an im Feld ersetzte, und erführe daraus vom Sieg Israels im ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948/49. Aber er könnte auch Zeitungsfetzen aus Ägypten und Syrien, Jordanien und Irak freilegen, die ihm vom Sieg der Araber berichteten. Wem würde der Archäologe im Jahr 4958 Glauben schenken?, überlegte der Ministerpräsident.2
Ben Gurions Tagebücher, Aufsätze, Bücher, Briefe und Reden enthalten Millionen von Wörtern; fast täglich schrieb er mehrere Stunden lang. »Zuweilen staune ich selbst, dass ich so viel geschrieben habe«, bemerkte er einmal.3 Vieles zielte darauf, künftige Generationen für sich zu gewinnen, weshalb er auch versuchte, die Schriften anderer zu beeinflussen. Einmal mischte er sich ein, als das Verteidigungsministerium eine Publikation zum Unabhängigkeitskrieg vorbereitete. Ben Gurion wollte seine Bemühungen um die Waffenbeschaffung, die den Sieg erst ermöglicht hatte, hervorgehoben wissen. »Waffen fallen nicht vom Himmel«, erklärte er dem Autor. Über ein Buch von Militärs, die nicht zu seinen Verehrern zählten, schrieb er: »Die Herausgeber haben den Unabhängigkeitskrieg und den Tod von Tausenden Gefallenen entweiht.«4
Er las gern Biografien und versuchte, die Motive der Verfasser zu entschlüsseln: »Plutarch scheint Marius nicht gemocht zu haben«, schrieb er über ein Buch, das er in jenem Winter nach Kalya mitgenommen hatte, »er hat keine Mühe gescheut, ihn zu erniedrigen und zu schmähen, und doch konnte er dessen ehrwürdige Männlichkeit nicht verhehlen«.5 Gaius Marius war ein römischer Feldherr und Staatsmann, der Ben Gurions Interesse vor allem wegen der Widersprüche in seinem Wesen und der Höhen und Tiefen in seiner Karriere wecken konnte.
Zu Lebzeiten kooperierte Ben Gurion verschiedentlich mit Biografen, die ihn als Staatsgründer feierten. Aber es gab auch andere. Anfang 1967 entbrannte ein Streit um das Stichwort »Ben Gurion« in der Hebräischen Enzyklopädie. Der Verfasser war deren Chefredakteur Jeschajahu Leibowitz, Professor an der Hebräischen Universität und ein alter Gegner Ben Gurions. »Ich denke, Ben Gurion ist das größte Unheil, das dem Volk und Staat Israel widerfahren ist«, erklärte der Professor der Abendzeitung Maariv, und diese Auffassung fand Eingang in die Enzyklopädie. Ben Gurion gab sich gelassen: »Mich schert nicht, was Professor Leibowitz schreibt, aber mich schert, ob es gut ist oder nicht, was ich tue.« In Wahrheit wurmte der Beitrag ihn sehr. »Leibowitz steckt voller Hass«, schrieb er an den Verlag, in dem die Enzyklopädie erschien. Hier war er Gaius Marius, und Leibowitz war Plutarch. Verständlicherweise freute er sich, als einige Jahre später ein Bildhauer bei ihm vorsprach und den Plan unterbreitete, in Haifa ein »Pantheon« mit Büsten der »Großen der Nation« zu errichten: Staatsmänner, Schriftsteller, Künstler, Militärs, Wissenschaftler, Sportler und andere. »Ich habe gesagt, die Idee gefiele mir«, notierte Ben Gurion, »aber mehr werde ich ihm nicht sagen.«6
Golda Meir schrieb einmal: »Man betete inbrünstig, der Mann möge in all seinem Glanz in die Geschichte eingehen, alles andere würde einem im Herzen wehtun. Es wäre schade um ihn und schade um uns.«7 Sie gehörte zu den Staatsgründern, über deren Nachruhm Ben Gurion sich Gedanken machte. Doch als sie sich über sein Bild in der Geschichte äußerte, waren bereits Unstimmigkeiten zwischen den beiden aufgetreten. Ben Gurions Biograf findet also eine immense Fülle an Archivmaterial vor, das sein Urteil in positiver wie negativer Richtung zu beeinflussen vermag, denn es beleuchtet Ben Gurions Stärken, Vorzüge und Leistungen, aber auch seine Fehler, Schwächen und Misserfolge.
»Ben Gurion war ein Mann, der sich nicht änderte«, befand einer seiner Weggefährten: Von Jugend an verfolgte er ideologische Ziele und erwarb sich Respekt bei seinen Mitmenschen.8 All sein Sehnen, Streben und Trachten galt dem zionistischen Traum. »Die Auferstehung verlangt uns Menschenopfer ab«, schrieb Ben Gurion mit achtzehn Jahren auf Hebräisch, »und wenn nicht wir jungen Menschen, die das Leiden unseres Volkes schmerzlich empfinden, unser Leben opfern, dann sind wir verloren.«9 Das glaubte er bis zu seinem letzten Atemzug. In seinen Augen verkörperte vor allem er selbst die Geschichte – und viele andere sahen das ebenso. Er dachte systematisch und zielstrebig, und selbst wenn er sich widersprach, hatte man den Eindruck, seine Worte beruhten auf langen, tiefschürfenden, folgerichtigen Überlegungen ohne Zaudern und Zweifel. Es schien, als wisse er in jeder Lage, was zu tun ist.
Er wollte gerne Anführer sein und erstrebte alles, was eine Führungsstellung zu bieten hat: Erfüllung des Traums, den er träumte, was für ihn auch Selbsterfüllung bedeutete, Verantwortung, Macht und ein Platz in der Geschichte. Er berief sich oft auf die Bibel und auf das jüdische Schicksal, aber die nationale Vision tatsächlich zu verwirklichen bedeutete vor allem ermüdende Kleinarbeit und winzige, teils nervenaufreibende Schritte. Viele teilten seine Vision, aber nur wenige waren von Jugend an so politikversessen, wenige so eifrig und detailbewandert wie er. All das machte ihn zum unersetzbaren, aber nicht allmächtigen Anführer.
Es gab aufwühlende Momente in seinem Leben, etwa als er in seiner polnischen Geburtsstadt jüdische Kapitalisten mit der Pistole bedrohte, oder als er über Stunden im Keller einer Oxforder Buchhandlung herumstöberte; er hütete Schafe und Ziegen in der Wüste, genoss den Hauch der Macht im Weißen Haus und erwartete Lenins Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau; er machte Politik und traf schicksalhafte Entscheidungen; er schickte Menschen in den Krieg und stand vor den Leichen gefallener Fallschirmjäger; er war gebannt vom grandiosen Zauber der Niagarafälle und suchte Frieden unter der ältesten Eiche Palästinas. All dies und mehr hat er eindringlich beschrieben, zuweilen mit lyrischen Anwandlungen, die kaum einer bei ihm vermuten würde.
Aber unter den Tausenden von Bildern, die ihn über die Jahre zeigen, ist keines, das seine Lebensgeschichte besser auf den Punkt und seine Persönlichkeit präziser zum Ausdruck bringen würde als die kurze Filmszene vom Freitagnachmittag, dem 14. Mai 1948, in der Tel Aviver Rothschild-Allee: Ein untersetzter Mann mit weißer Haarmähne springt aus einer schwarzen amerikanischen Limousine vom Typ Lincoln. Seine Frau Paula ist bereits ausgestiegen und steuert auf das städtische Kunstmuseum zu. Eine große Menschenmenge umringt das Gebäude. Ben Gurion trägt einen dunklen Anzug, die Krawatte ist mit einer silbernen Nadel befestigt, in der linken Hand hält er einen Hut und unter dem rechten Arm trägt er eine dünne Aktenmappe. Er wirkt eher wie ein gewiefter Rechtsanwalt und nicht wie ein kühner Revolutionär. Beim Aussteigen wirft er den Wagenschlag heftig zu. Neben der Limousine steht ein junger Mann in der Uniform eines noch nicht existenten Staates stramm, sichtlich unsicher, was er zu tun hat. Ben Gurion bleibt spontan vor ihm stehen, biegt das Rückgrat durch und legt die rechte Hand zu einem formvollendeten staatsmännischen Salut an die Stirn. Für einen Moment scheint er in dem verlegenen jungen Mann die Helden des jüdischen Volkes aller Zeiten zu erblicken.
Er war damals 62 Jahre, wirkte älter und etwas pummelig. Gleich würde er im Museum den Staat Israel ausrufen und die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnen. Er würde der erste Ministerpräsident des neuen Staates werden und diesen fast fünfzehn Jahre lang durch seine schwierigen Anfänge führen. Fast im Laufschritt stürmte er die Stufen des Kunstmuseums hoch, als fürchte er, den historischen Augenblick zu verpassen.
*
Er hatte eine anstrengende Woche hinter sich; er arbeitete schwer, sorgte sich viel und schlief wenig. Die meiste Zeit verbrachte er mit den Truppenführern, von denen einige unzufrieden waren, zum Teil so sehr, dass sie sogar politische Einwände äußerten. Der Krieg um Palästina hatte vor einem halben Jahr begonnen und stellte eine große Herausforderung dar. Jerusalem stand unter anhaltender Belagerung, der Zugang zur Stadt war blockiert; einige jüdische Ortschaften hatten sich den arabischen Streitkräften ergeben müssen. Manche Feldzüge waren gescheitert; es gab bereits über 1500 jüdische Todesopfer, zumeist Truppenangehörige, aber auch zahlreiche Zivilisten.10 Ben Gurion notierte eine lange Liste von Fragen, die zu entscheiden waren. »Araber vertreiben?«, war eine von ihnen.11 Einige Städte waren bereits von Hunderttausenden arabischen Einwohnern geräumt, darunter Haifa und Jaffa. Es war das erste Stadium der Nakba, der arabischen Katastrophe. Noch nie war Ben Gurion seinem Ziel so nahe gewesen wie jetzt – eine jüdische Mehrheit in einem unabhängigen Staat im Land Israel.
In der Nacht zuvor hatte er an der Endfassung der Unabhängigkeitserklärung gefeilt. Mehrere Entwürfe lagen vor; Mosche Scharet, der damals noch Mosche Schertok hieß und Außenminister des neuen Staates werden sollte, hatte daraus eine Vorlage erstellt. »Ich habe einen perfekten Entwurf ausgearbeitet«, erzählte Schertok später. »Ich habe ihn im Stil von ›angesichts dessen und dessen und dessen‹ formuliert, und dann kommt die Schlussfolgerung: ›deshalb!‹« Er tat das in der Überzeugung, dieser dem englischen Vertragsrecht entlehnte Aufbau schaffe »eine innere Spannung«. Aber Ben Gurion wollte keinen Mietvertrag, sondern eine sprachgewaltige historische Deklaration, die Generationen begeistern würde. Er nahm den Entwurf mit nach Hause und schrieb ihn vollkommen um. Scharet verzieh ihm das nie.12
Ben Gurions Fassung unterstrich die zionistische Erzählung der jüdischen Geschichte: Der erste Satz – »Im Land Israel entstand das jüdische Volk; hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen« – spielte den Beitrag der Diasporajuden herab. Scharets Fassung hatte mit dem Auszug in die Verbannung begonnen; Ben Gurions Text betonte die staatliche Unabhängigkeit, die der Zerstörung des Tempels vorausgegangen war. Die Juden, die sich – wie er selbst – seit Beginn des Jahrhunderts im Land Israel angesiedelt hatten, bezeichnete er als »Pioniere, Verteidiger und Einwanderer«, womit er zugleich die Verbindung des zionistischen Aufbauwerks zur Arbeiterbewegung herstellte. Und während Scharets Entwurf den UNO-Teilungsbeschluss vom 29. November 1947 als solchen erwähnte, unterschlug Ben Gurion, dass dieser Beschluss die Aufteilung des Landes zwischen Juden und Arabern vorsah. Seine Unabhängigkeitserklärung versprach Gleichberechtigung für alle und eine Verfassung. Es sollte sich um einen » jüdischen Staat« handeln, aber kein Mensch wusste so recht, was das bedeutete, auch Ben Gurion nicht.
Der Festakt wurde hastig abgewickelt, denn er sollte noch vor Anbruch des Sabbats beendet sein. Im letzten Moment wäre beinah alles an der Frage gescheitert, ob Gott im Text erwähnt werden sollte oder nicht. Die Vertreter der religiösen Parteien bestanden darauf, einige Linke lehnten es ab. Ben Gurion überredete alle, sich auf die biblische Wendung Zur Israel (Fels Israels) zu einigen. Da die Kalligrafie nicht rechtzeitig fertiggeworden war, unterschrieben alle auf dem unteren Teil eines leeren Streifens Pergament.13 Ben Gurion sah in der Erklärung einen Schritt auf dem Weg, von dem das jüdische Volk 2000 Jahre zuvor abgekommen war. Die hebräische Unabhängigkeit sollte erneuert werden, und er hätte guten Grund gehabt, die Deklaration in optimistischer Stimmung zu unterzeichnen. Aber in seinem Tagebuch notierte er, er fühle sich wie ein »Trauernder« unter Feiernden: Die Existenz des Staates war noch nicht gesichert. »Staaten werden den Völkern nicht auf einem goldenen Teller dargereicht«, sagte er einmal mit Bezug auf einen talmudischen Begriff; einen Monat später erklärte Chaim Weizmann, sie würden nicht auf einem »Silbertablett« serviert.14 Ben Gurion konnte es auch schlichter ausdrücken: »Der Staat Israel wird kein Picknick werden.«15 Sein Pessimismus schützte ihn vor Illusionen. »Ich muss das Schlimmste, was geschehen kann, vor mir sehen«, meinte er einmal. »Das tue ich seit jeher. Wenn es nicht eintritt, umso besser, aber man muss auf den schlimmsten Fall gefasst sein. Der Mensch ist kein rationales Wesen; man weiß nicht, welche Kräfte wirken, was in gewissen Momenten erwacht.«16 Damals, im Jahr 1947, fürchtete er, arabische Streitkräfte könnten ins Land eindringen und es zerstören. Ben Gurion glaubte, dass die Israelis sie besiegen würden; er glaubte auch an seine Fähigkeit, sie zum Sieg zu führen. Und er glaubte, dass es den hohen Preis lohnte. Er sah in der Staatsgründung nicht zuletzt »eine Kompensation für den millionenfachen Mord« im Holocaust.17
Nach dem Festakt kehrte er zurück in das nahe am Meer gelegene »Rote Haus«, wie das Hauptquartier genannt wurde, und fand dort beunruhigende Nachrichten von den Fronten vor. In der Nacht weckte man ihn zweimal: das erste Mal, um ihm mitzuteilen, dass Präsident Truman den Staat Israel anerkannt hatte, das zweite Mal, um ihn zum Rundfunkstudio zu fahren, wo man eine Rede für die Vereinigten Staaten ausstrahlen wollte. Während der Sendung tauchten ägyptische Flugzeuge am Himmel auf, und man hörte Explosionen. »In diesem Moment wird Tel Aviv bombardiert«, erklärte Ben Gurion den amerikanischen Hörern, und zu Hause schrieb er in sein Tagebuch: »Aus allen Häusern spähten Menschen in Pyjamas und Nachthemden, aber es war keine übermäßige Angst zu spüren.« Er erinnerte sich an seinen Aufenthalt in London zu Zeiten des »Blitz« und erwartete wohl auch in Tel Aviv »seine schönste Stunde« zu erleben. Wohl wissend, dass Worte Geschichte machen können, wollte er zwanzig Jahre später den Eindruck korrigieren, die Tel Aviver seien nicht tapfer genug gewesen, und fügte dem ursprünglichen Tagebucheintrag hinzu: »Ich spürte: Sie würden standhalten.«18
Er rechnete sich die Staatsgründung nicht selber zu, und das zu Recht: Der Staat Israel entstand nach einer dreißig Jahre währenden Entwicklung, beginnend mit der Entscheidung der Briten, die zionistische Bewegung bei der Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu unterstützen. Ben Gurion lenkte diese Entwicklung über die Dauer einer Generation, besonders in den letzten zehn Jahren vor der Unabhängigkeit. Seine Position verdankte er auch seiner langen Erfahrung: Vierzig Jahre hatte er sich mit Politik beschäftigt, beinah vom ersten Tag seiner Ansiedlung in Palästina an. Er hatte sich vielen Lebensbereichen zugewandt, doch bereits sein erster Aufsatz, den er im Alter von 24 Jahren verfasste, hatte dem Ringen um den Staat gegolten; von da an strebte er danach, die nationale Führung zu übernehmen. Führende Köpfe der Arbeiterbewegung – allen voran Berl Katznelson – und andere mögliche Konkurrenten starben im Verlauf der Jahre. Der Tod Zeev Jabotinskys, seines großen Widersachers auf der politischen Rechten, und der Niedergang Chaim Weizmanns, dessen Position als größter jüdischer Staatsmann er erben wollte, ließen ihn schließlich sogar in der Zionistischen Weltorganisation konkurrenzlos erscheinen.
Zumeist hielt er sich an die politischen Spielregeln und bemühte sich um eine mittlere Position. Da er für die Umsetzung des Zionismus fast jeden Preis zu zahlen bereit war, zeigte er sich zumeist nachgiebig in taktischen Dingen und pragmatisch, wo Kompromisse nötig waren. Von Opposition wie Koalition erntete er nicht selten Kritik, und gelegentlich wurden seine Forderungen und Vorschläge sogar rundweg abgelehnt. Meistens akzeptierte man seine Führung jedoch. In der Partei betrachtete man ihn als politische und nationale Bereicherung; manchmal benahmen sich seine Kollegen allerdings wie Schulkinder, die hinter dem Rücken des Lehrers frech werden: »Ich rede dagegen, stimme aber dafür, weil ich Ben Gurion vertraue und keine Verantwortung übernehmen möchte«, wurde einer seiner Minister einmal zitiert.19
Er trat häufig in der Öffentlichkeit auf, beantwortete fleißig seine Post und empfing viele, die ihn zu sehen wünschten, darunter auch allerlei Querulanten und Sonderlinge.20 Seine Reden verfasste er schriftlich, trug sie aber vor, ohne sichtbar vom Blatt abzulesen. Manche dauerten Stunden; seine Sätze waren lang und verschachtelt, mehr fürs Auge als fürs Ohr gedacht; seine schrille Stimme und sein kurzer Wuchs schränkten seine Publikumswirksamkeit zunächst ein, aber je weißer seine Haarmähne im Alter wurde, desto mehr wurde er selbst zum Inbegriff des richtigen und machbaren Zionismus.
»Wenn ich auf eine konkrete Frage stoße – was heute oder morgen zu tun ist –, verwandele ich mich in eine Denkmaschine […]«, sagte er einmal, und bei anderer Gelegenheit erklärte er: »Jedes zionistische Problem gehe ich wissenschaftlich an. Ich frage stets, was man rational tun kann.«21 Er verglich sich mit einem Bauingenieur, der einen Neubau plant: Das Motiv fürs Bauen ist »ästhetisch, religiös, transzendent«, sagte er, aber bei der praktischen Ausführung »muss man abwägen und abmessen […], und das gilt auch für das politische Handeln«.22 Tatsächlich ließ er sich jedoch häufig von den starken Gefühlen mitreißen, die ihn leiteten und seine Entscheidungen bestimmten. Zuweilen verblüffte er seine Zuhörer mit rechthaberischen Ausbrüchen und eiserner Sturheit.23 Einige dieser Anwandlungen entsprangen Seelenqualen und ließen ihn manchmal sogar ausrasten; andere hatte er eingeplant. Angriffe auf seine Führung wertete er häufig als Verletzung des nationalen Interesses und als persönliche Beleidigung: Zionismus und Ego verschmolzen bei ihm zu einer Einheit. Es lebte sich nicht leicht in dem Staat, den er führte; die Bürger sollten das Gemeinwohl über ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche stellen. Sie galten allesamt als Soldaten im Dienst der Geschichte, und er war ihr Oberbefehlshaber.
*
Seine Vertrauten, darunter auch seine Frau Paula, waren sich weitgehend darin einig, dass er »nichts von Menschen verstand«; vielleicht war das nur eine höfliche Umschreibung für seine anmaßende Egozentrik und seine Neigung, Leute vor den Kopf zu stoßen oder ungeduldig abzufertigen. Er konnte kleinlich, boshaft, durchtrieben sein, und manchmal log er rundheraus. Er hatte keinen Humor. Er war ein schlechter Verlierer und bat nur selten um Verzeihung. Einer seiner Bekannten sagte, Ben Gurion habe sich nicht wirklich für Menschen interessiert, sondern nur dafür, wie sie einsetzbar waren.24
Seine Schriften vermitteln schnell den Eindruck, er habe auch nichts für die leichten Seiten des Lebens übriggehabt, aber wie es so geht: Rachel Janait Ben Zvi, die ebenfalls zu den Gründern Israels zählt, hinterließ der Geschichte ein intimes Geheimnis, das sie viele Jahre für sich behalten hatte und erst nach seinem Tod den Forschern des Ben-Gurion-Instituts anvertraute: In jenem Winter 1940 hatte sie ihn in Kalya in Gesellschaft einer jungen Frau gesehen. Janait kannte ihn gut; er verliebte sich häufig, berichtete sie.25 Oft schien er mehr in die Liebe verliebt zu sein als in diese oder jene Frau.
Auf seine ganz eigene Weise war er auch in seinen Traum verliebt und hatte Angst, sich von ihm zu verabschieden. »Die messianischen Zeiten sind wichtiger als der Messias«, sagte er. »Sobald der Messias da ist, hört er auf, Messias zu sein. Wenn man die Anschrift des Messias im Telefonbuch findet, ist er kein Messias mehr.« Und so erhoffte er dessen Ankunft – und auch wieder nicht: Er wollte seinen zionistischen Traum verwirklicht sehen, fürchtete jedoch das profane Erwachen am nächsten Morgen.26 Diese Gedanken an den Messias teilte er einmal einer Runde von Schriftstellern mit, die er einberufen hatte. Überhaupt brachte er seinen Lebenstraum gern in Diskussionen über die großen Daseinsfragen der Menschheit ein.
Im September 1948 gönnte Ben Gurion sich eine kurze Auszeit von der Kriegführung, um Platon zu verteidigen. Er antwortete auf einen Aufsatz des Schriftstellers und Journalisten Jechiel Halperin, der behauptete, Platon habe »in der Beibehaltung der Sklaverei kein Unrecht gesehen«. In Platons Staat finde sich »keine Spur« von Sklaverei und Sklaven, korrigierte ihn Ben Gurion: »Platon war zwar ein Aristokrat, und seine politische Auffassung war aristokratisch«, schrieb er, »aber Platon meinte die Aristokratie im einfachen und richtigen Wortsinn, das heißt als die Herrschaft der Hervorragenden und Guten oder, wie er es selbst auslegte, die Herrschaft der Philosophen, das heißt der Menschen, die für die absolute Wahrheit und die absolute Gerechtigkeit eintreten, ohne jeden Vorteil für sich selbst oder ihre Herrschaft anzustreben. Ja sie besitzen nicht einmal den Willen zur Herrschaft, sondern müssen sie nur aus menschlicher Pflicht übernehmen.«
Drei Wochen später – die letzten Gefechte des Krieges standen ihm noch bevor – schickte er Halperin einen zweiten Brief, und zwar über Platons Gesetze. Er habe die Gesetze immer für eine Fälschung halten wollen, aber zu seinem großen Leidwesen erfahren, dass das Werk doch von Platon stamme, denn im Gegensatz zu dem humanistischen Geist, der den Staat beseele, sei Platons Lebensauffassung in den Gesetzen fast die eines Inquisitors. Er versuchte sich zu erklären, wie das sein konnte: »Beide Bücher wurden zu verschiedenen Lebenszeiten verfasst«, schrieb er. »Der Staat entstand, als Platon um die fünfzig war, voll literarischer und denkerischer Kraft, die in diesem Buch im philosophischen wie im künstlerischen Sinn ihren Höhepunkt erreichte. Das Buch über die Gesetze entstand in seinen alten Tagen, als Platon bereits achtzig Jahre zählte, sein Herz hart, sein Geist grausam und seine Haltung zornig wurde.« Das sollte Ben Gurion im Alter selbst passieren. In seiner enthusiastischen Verteidigung Platons fügte er jedoch hinzu: »Ich weiß nicht, ob die Sklaverei seinerzeit das himmelschreiendste Unrecht war – mir scheint, Kriege waren schlimmer als Sklaverei (und verursachten sie auch), und dieses Unrecht besteht bis in unsere Tage.« Das sei auch Platons Meinung gewesen, fügte er hinzu; er habe Dank verdient.27 Mit den Fakten hatte Ben Gurion es bei diesen Ausführungen nicht so genau genommen: Die Sklaverei wird auch im Staat erwähnt. Wie dem auch sei: Das Buch diente ihm als eine Art Ratgeber beim Aufbau des Staates; in seinem Arbeitszimmer stand eine Platon-Büste neben Büsten von Buddha und Mose.28
Ben Gurion gründete einen Bibelkundekreis in seinem Haus und benutzte gern zwei biblische Begriffe, um den Staat Israel in moralischer Hinsicht zu charakterisieren, seine Bestimmung zu definieren und außerdem aufzuzeigen, welche Verpflichtung der Staat nach innen und der Welt gegenüber hatte: »Auserwähltes Volk« – im Sinn des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel (Exodus 19,5-6) – sowie »ein Licht für die Völker« im Sinn des Propheten Jesaja (49,6) und anderer, also die Verpflichtung des Volkes auf die Grundsätze von Gerechtigkeit und Frieden, die es dazu befähigten, dieses Licht zu sein. Er sprach und schrieb viel darüber; im Wesentlichen meinte er damit das, was die Überschrift einer seiner einschlägigen Aufsätze ausdrückt: »Adel verpflichtet«.29 Fast ebenso oft äußerte er sich umgekehrt: »Wichtig ist nicht so sehr, was die Gojim sagen, sondern was die Juden tun.«30 Zumeist maß er den Völkern der Welt jedoch große Bedeutung bei. Im Zusammenhang mit »auserwähltes Volk« und »Licht für die Völker« entlarvte dieser beliebte Ausspruch ihn allerdings als einen Mann der Widersprüche – womit er den meisten Israelis glich. Er beschrieb diese mit einem Zitat aus dem Babylonischen Talmud: »Diese Nation gleicht sowohl dem Staub als auch den Sternen; wenn sie sinkt, sinkt sie bis zum Staub. Und wenn sie steigt, steigt sie bis zu den Sternen.«31 Das war die Gemütslage, in der er selbst sich überwiegend befand, und dessen war er sich durchaus bewusst: »Wenn du mein Tagebuch mit den Methoden der Bibelkritik untersuchst«, schrieb er an Scharet, »[…] kannst du beweisen, dass dieses Tagebuch eigentlich von zwei verschiedenen Männern geschrieben wurde, die zu verschiedenen Epochen gelebt haben.« Hier zeigt sich seine Fähigkeit und Bereitschaft zu sensibler und mutiger Selbsterkenntnis; auch das hat ihn zu einer so fesselnden Persönlichkeit gemacht.32
*
Dieses Buch wurde mit der Hilfe vieler Menschen geschrieben, deren Namen später aufgeführt werden. Über fünf Jahre hat die Arbeit daran gedauert, und in dieser Zeit verging kaum eine Woche, in der Ben Gurions Name nicht wenigstens einmal in den israelischen Medien auftauchte. Außerdem entstanden in diesem Zeitraum weitere vier Biografien über ihn sowie eine Reihe von Büchern, bei denen er im Mittelpunkt steht.33 Darin zeigt sich einerseits die Sehnsucht der Israelis nach ehrlicher Führung und andererseits ihr Wunsch, die Geheimnisse von Ben Gurions dramatischer Lebensgeschichte zu ergründen.
TEIL I
DER WEG AN DIE MACHT
Ben Gurion (1947), wie Joseph Bas ihn sah
© Mit freundlicher Genehmigung von Familie Bas
Ben Gurion in einem Zeitungsinterview:
BEN GURION: Als Kind von drei Jahren wusste ich, dass ich nicht an meinem Geburtsort bleiben würde. Ich wollte auch nicht die Sprache dieses Landes lernen.
FRAGE: Herr Ben Gurion, mit drei Jahren wussten Sie das bereits?!
BEN GURION: Als Dreijähriger wusste ich, dass ich nicht in jenem Land wohnen würde! Mit drei Jahren! (…) Und so waren alle Juden. Wir wussten, dass unser Land nicht das sein würde, wo wir jetzt wohnten, sondern das Land Israel.1