Claudia Eilles-Matthiessen

Es muss nicht immer
reden sein

So lösen Sie Konflikte am Arbeitsplatz

Mit Konfliktnavigator

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Konflikte am Arbeitsplatz kosten Zeit, Geld und Nerven. Was tun, wenn ein klärendes Gespräch unmöglich ist, die Emotionen hochkochen oder Angst im Spiel ist? Nehmen Sie das Steuer wieder in die Hand. Der Konfliktnavigator, eine praxiserprobte Coachingmethode, stellt die Selbstregulation in den Vordergrund. Analysieren Sie einen Konflikt mit Abstand und System:

· Wie sehr belastet Sie die Situation?

· Welche Ihrer Bedürfnisse werden verletzt?

· Was wollen Sie erreichen?

Claudia Eilles-Matthiessen führt Sie durch vier Felder der Konfliktlösung: Selbstregulation, Beziehungsregulation, Sachklärung und Lernen. Checklisten und Tools aus Psychologie und Coaching bereiten den Weg zu einem erfolgreichen Klärungsgespräch – oder machen dieses sogar überflüssig.  Denn mit dem Konfliktnavigator lösen sich manche Konflikte wie von selbst – zum Vorteil beider Seiten!

»Eine vorzügliche Verbindung von Tools und wissenschaftlicher Basis: klar, humorvoll und praxisnah. Jede Führungskraft sollte dieses Buch lesen.« Anita von Hertel, Pionierin der internationalen Wirtschaftsmediation

Mit Download-Material zur Konfliktanalyse.

Vita

Claudia Eilles-Matthiessen begleitet seit über 15 Jahren Menschen dabei, Konflikte zu lösen, Ziele zu erreichen und ihre Kompetenzen zu entfalten. Die promovierte Psychologin ist Inhaberin von Plan C Kompetenzentwicklung in Frankfurt am Main und unter anderem fortgebildet in Hypnotherapie (Milton-Erickson-Institut), PEP (Michael Bohne) sowie hypnosystemischem Coaching, Team- und Organisationsentwicklung (Gunther Schmidt). Sie ist Autorin mehrerer Fachpublikationen, zertifizierte Mediationssupervisorin (DACH) und Dozentin für Coaching und Konfliktmanagement an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Sie erreichen sie unter:

mail@claudia-eilles.de

www.plan-c-frankfurt.de

www.plan-c-konfliktnavigator.de

Inhalt

Vorwort

Von der Konflikt-Trance zur Lösung

Teil 1Neue Wege der Konfliktlösung

1. Konflikte am Arbeitsplatz

Merkmale eines Konflikts

Fakten über Konflikte

Konflikte sind normal

Auseinandersetzungen sind wichtig

Konflikte treten sehr häufig auf

Konflikte sind teuer

Konflikte sind nützlich

2. Der Konfliktnavigator: Vier Felder der Konfliktlösung

Selbstregulation

Beziehungsregulation

Sachklärung

Lernen

3. Selbstregulation mit Hirn

Wahrnehmung

Gedächtnis

Aufmerksamkeit

Das Cocktailparty-Phänomen

Unsichtbare Gorillas

Die Fokussierung der Aufmerksamkeit

Die ungerichtete Aufmerksamkeit als Lösungsquelle

Das Rationale und das Emotionale System

Das Gehirn

Die Entstehung von Emotionen

Die Merkmale des Rationalen und des Emotionalen Systems

Das Emotionale Erfahrungsgedächtnis und Somatische Marker

Neuroplastizität

Emotionales und Rationales System bei Konflikten

Motive und Bedürfnisse

Die Begriffe Motiv und Bedürfnis

Sicherheit

Zugehörigkeit

Leistung

Autonomie

Selbstwert

Emotionen

More than a feeling

Asymmetrie

Emotionen als Energielieferanten

Innere Pluralität

Die Idee der Inneren Pluralität

Innere Pluralität bei Konflikten

4. Die Peaceful Eight: Acht Statements zur Konfliktlösung

Teil 2Der Konfliktnavigator in der Praxis

5. Der Aufbau des Konfliktnavigators

6. Die Konfliktanalyse

Das Thema

Mitwirkende

Konfliktarena

Konfliktart

Ziel- und Methodenkonflikte

Verteilungskonflikte

Rollenkonflikt

Wertekonflikt

Beziehungskonflikt

Konflikttemperatur

Eskalationsgrad

Phase 1 Verstimmung: Stufe 0–3

Phase 2 Schlagabtausch: Stufe 4–6

Phase 3 Vernichtung: Stufe 7–9

Belastung

Gesundheit

Mobbing

Filmtitel

Die Konfliktskizze

Die Löungsskizze

7. Ziele

8. Vier Felder der Konfliktlösung: Analyse und Lösungswege

Selbstregulation

Emotionsregulation

Emotionsregulation bei Konflikten

Hinweise zur Regulation von Emotionen

Vorsicht bei der Suche nach Verbündeten

Besser nicht: Affektabbau über digitale Kommunikation

Top-down-Techniken

Fakten und Interpretationen trennen

Attributionen beachten

Bewertungen ändern: die ABC-Analyse

Aufmerksamkeitsfokussierung

Schreiben

Schluss mit dem Grübeln

Bottom-up-Techniken

Den Körper einbeziehen

Klopftechniken

Typische Konfliktemotionen

Ärger

Zorn

Empörung

Angst

Hilflosigkeit

Schuld

Scham

Vertrauen

Neugierde

Erleichterung

Abschließender Hinweis

Vom Wert der Selbstregulation für die Beziehung

Von der Abwertung zum gegenseitigen Respekt

Von der Unfairness zur Kette der guten Erfahrungen

Vom Affektabbau zur Regulation der Emotionen

Raus aus der Altersregression

Beziehungsregulation

Beziehungsskizze

Nähe und Distanz

Macht und Symmetrie

Abgrenzung oder Annäherung

Das Tetralemma

Wege der Beziehungsregulation

Konfliktverschärfende Kommunikation

Selbstschutz

Körpersprache und Status

Annäherung und Versöhnung

Musterunterbrechung

Perspektivwechsel

Kurskorrektur mit Gesichtswahrung

Zuschreibungen auflösen

Das Klärungsgespräch – denn manchmal muss es reden sein

Absicht und Wirkung unterscheiden

Metakommunikation

Dialog-Kultur

Zuhören

Pausen

Verzicht auf Vorwürfe

Sachklärung

Gibt es einen Sachkonflikt?

Konfliktursachen

Wege der Sachklärung

Positionen und Interessen trennen

Lösungsorientierung

Kreatives Denken

Lernen

9. Hilfe vom Profi

Konflikt-Coaching

Mediation und Konfliktmoderation

Abschließende Bemerkungen

Anhang 

Konfliktnavigator Analysetools

Anmerkungen

Literatur

Glossar

Danksagung

Vorwort

Wer einen Konflikt am Arbeitsplatz erlebt, kennt die damit verbundenen unangenehmen Gefühle wie Ärger oder Ohnmacht. Anspannung, Schlafstörungen und das »ungute Gefühl am Montagmorgen« gesellen sich gerne als unangenehme Wegbegleiter dazu.

Konflikte am Arbeitsplatz sind störend, nervig und frustrierend. Begleitet werden sie von dem Wunsch, dass sich die Situation verändert oder der Konflikt schlicht verschwindet.

Es ist verständlich, dass sich die Aufmerksamkeit bei einem Konflikt zunächst auf den Konfliktpartner und dessen Verhalten richtet. Wer jedoch die Lösung eines Konflikts nur darin sieht, dass der andere sich verändern möge, schränkt seinen Lösungsspielraum erheblich ein. Außerdem gibt er die Kontrolle für die Konfliktlösung aus der Hand und macht sich vom anderen abhängig.

Wer bei der Reflexion eines Konflikts dagegen bei sich selbst ansetzt, wer seinen eigenen Reaktionen mit einer selbstwertschätzenden Haltung begegnet und seine Bedürfnisse und Emotionen ernst nimmt – ohne sich blind von ihnen lenken zu lassen –, tut sich selbst etwas Gutes und stärkt seine Autonomie.

Die Idee, eine Methode zur Analyse und Lösung von Konflikten am Arbeitsplatz zu entwickeln, die jeder selbstständig umsetzen kann, entstand im Zuge vieler Konflikt-Coachings, Workshops und Beratungen. Denn immer wieder konnte ich bei meiner praktischen Arbeit feststellen, wie sehr es Betroffene entlastet, wenn sie einen Konflikt mit Abstand betrachten, systematisch analysieren und im Zuge der Strategieentwicklung einen Weg finden, mit dem Konflikt umzugehen. Dabei geht es oft weniger darum, was am Arbeitsplatz oder im Umgang mit dem Konfliktpartner gesagt werden sollte. Vielmehr ist es wichtiger, belastende Erfahrungen zu verarbeiten, eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen, Ziele zu klären und einen Plan zu entwickeln, der das Gefühl beendet, vom Verhalten Dritter abhängig zu sein. Kurz, es geht um innere Klarheit, Selbstwirksamkeit und die Sicherheit, mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht um Selbstregulation.

Innere Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstwertschätzung wiederum machen stark. Und erhöhen die Wahrscheinlichkeit dafür, Konflikte konstruktiv und kreativ zu lösen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, neue Erkenntnisse und Freude beim Lesen und Lösen.

Claudia Eilles-Matthiessen

Frankfurt am Main, im Oktober 2018

Von der Konflikt-Trance zur Lösung

Haben Sie gerade einen nervenaufreibenden Konflikt mit Kollegen, Vorgesetzten oder Mitarbeitern? Haben Sie Stress im Team? Streit im Büro? Auseinandersetzungen mit Kunden?

Ein Konflikt am Arbeitsplatz erscheint meist unübersichtlich, kompliziert und erdrückend. Aber keine Sorge, wir bezwingen dieses Ungeheuer. Zwar können wir kein niedliches Haustier daraus machen, aber wir werden es zähmen, bis es als freundliches Nutztier daherkommt.

Mit diesem Buch möchte ich Sie begleiten, wenn Sie gerade mitten in einem Konflikt stecken und nach Lösungen suchen. Dazu habe ich eine Methode entwickelt: den Konfliktnavigator. Dieser strukturierte Prozess unterstützt Sie dabei, Ihren Konflikt am Arbeitsplatz zu analysieren, Ihre Ziele zu klären und eine Lösungsstrategie zu entwickeln.

Durch die systematische Analyse des Konflikts anhand der Fragen und Checklisten gewinnen Sie Abstand zum Geschehen und stärken Ihren eigenen Einfluss und Gestaltungsspielraum. Sie distanzieren sich und stärken das, was man Selbststeuerung oder Beobachterposition nennen kann. Das quälende Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen, das einen Konflikt oft begleitet, weicht der Erfahrung, sich selbstverantwortlich für die eigenen Bedürfnisse, Interessen und eine Verbesserung der Situation einzusetzen.

Jeder, der sich gerade durch eine schwierige Beziehung am Arbeitsplatz, durch einen Konflikt oder eine Krise manövriert, kennt das: Alles scheint schiefzugehen, man fühlt sich schlecht, der Körper macht sich unangenehm bemerkbar, und aus irgendeinem Grund scheint es allen anderen Beteiligten besser zu gehen. Die Gedanken kreisen ständig um den Konflikt, die Aufmerksamkeit ist eingeengt und auf die Disharmonie fokussiert. Wie aufdringliche, unhöfliche und viel zu laute Partygäste machen sich die belastenden Gedanken und Gefühle im Bewusstsein breit. Andere Themen treten in den Hintergrund. Das eigene Erleben wird vom Konflikt beherrscht. Man erlebt eine Konflikt-Trance1, fühlt sich im Konflikt regelrecht gefangen.

Das erste Ziel im Umgang mit einem Konflikt ist es daher, sich vom Konflikt zu distanzieren, die Selbststeuerung zu stärken und die eigenen Kompetenzen und Ressourcen zu aktivieren (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Von der Konflikt-Trance zur Lösung

Gelingt es Ihnen, dem Konflikt eine konstruktive Wendung zu geben, dann verhindern Sie destruktive Eskalationen, reduzieren emotionale Belastungen sowie die finanziellen Kosten eines Konflikts. Außerdem können Sie eine Menge lernen – vor allem über sich selbst.

Wer gerne auch mal querdenkt, Dinge hinterfragt und keine Scheu hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen, findet in diesem Buch neue Wege der Konfliktlösung. Manche der Ideen und Methoden, die ich Ihnen vorstellen werde, sind einfach, andere komplex. Einheitliche Rezepte und Handlungsanleitungen wird es jedoch nicht geben. Es kann sie nicht geben, da jeder Konflikt anders ist.

Wer neugierig ist und sich auch für den wissenschaftlichen Hintergrund der hier vorgestellten Methoden interessiert, findet in diesem Buch statt seitenlanger Abhandlungen eine klare fachliche und wissenschaftliche Fundierung. Wer praxisorientierte Hinweise und nützliche Tools sucht, wird in diesem Buch ebenfalls fündig werden. Wer die Psychologie für eine der wichtigsten Wissenschaften des 21. Jahrhunderts hält und sie für sich nutzen möchte, ist herzlich willkommen. Und wer der Psychologie skeptisch gegenübersteht, ist als kritischer Leser ebenso herzlich eingeladen. Wer unter Konfliktlösung nicht nur weichgespülte Harmonie versteht, sondern berechtigte Interessen durchsetzen möchte, findet hier Anregungen und Ermutigung zum klaren Auftritt. Wer aber eine Anleitung dazu sucht, wie man einen Konflikt »gewinnt«, oder der Meinung ist, am Konflikt seien immer nur die anderen schuld, mag sich gerne nach einem Buch umschauen, das dieses Weltbild bestätigt.

Ich wünsche meinen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre, rasche Entlastung und innere Klarheit im Umgang mit aktuellen, vergangenen und künftigen Konflikten.

Teil 1

Neue Wege der Konfliktlösung

»Sei dir einer Sache niemals absolut sicher.«

Bertrand Russell, britischer Philosoph

1. Konflikte am Arbeitsplatz

Julia ärgert sich. Die 48-jährige Abteilungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie ist in ihrem Team für die jährlichen Mitarbeitergespräche verantwortlich. Leider erbringt einer ihrer Mitarbeiter, Theo (33), nicht die erwarteten Leistungen. Theo hatte sich zunächst auf eine andere Stelle innerhalb des Unternehmens beworben, wurde aber dann für die Position eines Gruppenleiters in Julias Abteilung vorgeschlagen. Die Zusammenarbeit hat sich von Anfang an schwierig gestaltet. Theo äußert sich gegenüber seinen Kollegen und Mitarbeitern kritisch über die Abteilung, die Unternehmenskultur und die Geschäftsführung. Gleichzeitig gehört er nicht gerade zu den Leistungsträgern, jedenfalls aus Julias Sicht. Er hält Termine nicht ein, ist langsam und arbeitet umständlich. Julia reagiert nach einigen erfolglos verlaufenen Gesprächen zunehmend ungehalten, erhöht den Druck und fordert Theo wiederholt per E-Mail dazu auf, seine Ergebnisse termingerecht abzuliefern. Ohne Erfolg. Das jährliche Gespräch zur Mitarbeiterbeurteilung verläuft wie erwartet kontrovers. Theo fühlt sich unfair beurteilt, Julia ist nicht bereit, ihre kritische Leistungsbeurteilung zu verändern. Das Gespräch eskaliert derart, dass Theo lauter wird und – in der Wahrnehmung von Julia – bedrohlich auftritt, während Julia umgekehrt mit »arbeitsrechtlichen Konsequenzen« droht. Nach diesem Gespräch gehen sich beide zunächst aus dem Weg. Julia berichtet ihrem Vorgesetzten, dem Bereichsleiter Wolfgang, von dem Vorfall, während sich Theo an den Betriebsrat wendet.

Lassen wir zunächst Julia zu Wort kommen: »Ich bin total genervt. Theo ist einfach zu langsam und viel zu umständlich. Alles muss ich ihm dreimal erklären. Außerdem lässt er sich nicht führen. Ich habe den Verdacht, dass er mich als Vorgesetzte gar nicht ernst nimmt. Vermutlich ist er generell nicht in der Lage, sich in die Hierarchie eines Unternehmens einzufügen. Er war einfach zu lange an der Uni. Dort mag seine Arbeitsweise ja in Ordnung sein, dieses langsame und detaillierte Vorgehen. Aber bei uns? Ich habe Zielvorgaben und muss Ergebnisse liefern. Aber dafür hat Theo kein Verständnis. Das Schlimmste jedoch ist sein ständiges Kritisieren: Die Geschäftsführung, die Kultur, das IT-System – an allem mäkelt er rum. Und gleichzeitig ist er gut darin, Forderungen zu stellen: Weiterbildung, Home-Office-Tage, das volle Programm. Und dazu seine ständigen Launen. Mal ist er charmant und witzig, dann wieder schlecht gelaunt und aggressiv. Eine echte Diva. Er nervt! Und dann sein Verhalten bei unserem Mitarbeitergespräch: keinerlei Selbstreflexion, keine Kritikfähigkeit. Er war einfach nur beleidigt und fühlte sich ungerecht behandelt. Soll er einen besseren Job machen, dann wird auch die Beurteilung besser. Ich kann ihm keine gute Bewertung geben. Schließlich muss ich auch den anderen Mitarbeitern gegenüber fair sein. Und die sind allesamt zuverlässiger und – vor allem – weniger launenhaft!« Soweit Julias Einschätzung. Und was sagt Theo? Er wird an späterer Stelle zu Wort kommen. Vorerst wollen wir für ein zweites Beispiel von der Pharma- in die Finanzbranche wechseln, wo Luis und Katharina arbeiten.

Auch Luis ist verärgert. Nach einem Umstrukturierungsprozess hat der 39-jährige Finanzwirt gemeinsam mit einer Kollegin die Führungsverantwortung für das zehnköpfige Team in einer Großbank übernommen. Schon bei den ersten Gesprächen mit Katharina (35), der neuen Kollegin, spürt er Vorbehalte und latente Spannungen. Die weitere Aufteilung von Rollen, Verantwortung und Aufgaben zwischen beiden gestaltet sich schwierig. Luis vermutet, dass sie ihm nicht vertraut und Sorge hat, er könne zu dominant auftreten und sie damit in »die zweite Reihe« drängen. Formal sind beide als gleichberechtigte Doppelspitze angetreten, sie teilen sich eine Stelle, um mehr Zeit für die Familie zu haben (Luis) beziehungsweise ein Fernstudium zu absolvieren (Katharina). Luis bemerkt, dass seine anfangs unbefangene Haltung Katharina gegenüber einer spürbaren Anspannung weicht. Er denkt immer häufiger darüber nach, wie er sich ihr gegenüber positionieren soll. Gleichzeitig hat er das Bedürfnis, ihr aus dem Weg zu gehen und Gespräche, die zur Klärung der anstehenden Themen nötig wären, zu vermeiden.

Ich werde später auch auf diesen Fall zurückkommen. Lassen Sie uns an dieser Stelle zunächst ein letztes Mal die Szene wechseln: In einer Werbeagentur treffen wir auf Sabine.

Die 43-jährige Sabine ist nach ihrer Elternzeit und einigen Jahren als Freiberuflerin wieder in ihre alte Agentur als Kundenbetreuerin zurückgekehrt. Die Arbeit macht ihr nach wie vor Spaß, sie schätzt den Umgang mit den Kollegen und das dynamische Umfeld. Leider hat zwischenzeitlich der Geschäftsführer gewechselt. Der neue Chef, Bernd, ist angetreten, um die Agentur »auf Wachstumskurs zu bringen« und auf künftige Herausforderungen vorzubereiten. Sabine hat eine Vollzeitstelle, ist aber als alleinerziehende Mutter für ihre inzwischen 14-jährige Tochter Sarah verantwortlich. Beim Einstellungsgespräch wurde die Agentur Sabine gegenüber als familienfreundliches Unternehmen dargestellt. Sie könne »selbstverständlich« einen Tag Home-Office pro Woche nutzen und müsse »im Wesentlichen« nicht an Meetings nach 18 Uhr oder an Abendveranstaltungen teilnehmen. Schon bald aber merkt sie, dass Bernd ihre ständige Anwesenheit erwartet, sie zu Abendveranstaltungen schickt und regelmäßig nach 20 Uhr und morgens vor 8 Uhr E-Mails versendet, auf die er eine umgehende Antwort erwartet. Zunehmend merkt sie, wie sehr die Anforderungen ihres Chefs an ihren Kräften zehren. In ihr wächst der Impuls, dem Vorgesetzten Grenzen zu setzen und einfach mal Nein zu sagen, gleichzeitig sorgt sie sich um das Arbeitsklima und möchte keinen dauerhaften und kräftezehrenden Konflikt mit ihrem Vorgesetzten riskieren.

Bei einem Konflikt am Arbeitsplatz kennen wir die persönlichen Hintergründe des anderen oft nicht. Sabine aus der Werbeagentur ahnt nicht, dass der 55-jährige Bernd seinen Job als Geschäftsführer als letzte Chance sieht und Angst vor drohender Arbeitslosigkeit hat. Katharina kennt Luis’ Vorgeschichte nicht und weiß daher nicht, dass er durch die schwierigen Erfahrungen in seiner ersten Führungsrolle an Selbstzweifeln leidet. Julia, die Abteilungsleiterin aus dem Pharmakonzern, rechnet nicht damit, dass Theo noch mit seiner Entscheidung gegen eine Karriere in der Wissenschaft hadert.

Die drei Fallbeispiele sind wie alle Beispiele in diesem Buch Fiktionen, Geschichten, inspiriert von realen Konflikten aus meiner Coaching- und Beratungspraxis und so verändert, dass ein Rückschluss auf real existierende Personen oder Unternehmen nicht möglich ist. Belassen wir es hier erst einmal dabei und fragen uns, was einen Konflikt am Arbeitsplatz kennzeichnet. Welche Zutaten sind nötig, um einen Konflikt zu erschaffen?

Merkmale eines Konflikts

Angenommen, Sie wären Drehbuchautor und sollen den Plot für einen Konflikt am Arbeitsplatz schaffen, was bräuchten Sie dazu?

Zunächst sollten Sie festlegen, worum es geht. Geht es um eine Sachfrage? Um die schwierige Beziehung zweier Kollegen, die sich nicht leiden können? Um einen cholerischen oder rücksichtslosen Mitarbeiter, Vorgesetzten, Kunden? Um die Verteilung knapper Ressourcen? Um unterschiedliche Ziele oder Vorstellungen davon, wie ein Ziel zu erreichen ist?

Als Nächstes erschaffen Sie die Figuren. Es sollten mindestens zwei sein. Je mehr Personen oder Gruppen beteiligt sind, desto komplexer wird das Geschehen. Neben Einzelpersonen eignen sich auch Teams, Gruppen oder ganze Unternehmen als Akteure für das Konfliktdrehbuch. Man kann die Personen dann charakterlich ausgestalten, ihnen eine Biografie, charakterliche Merkmale, Temperament, Vorlieben und Abneigungen, Stärken und Schwächen und ein passendes Äußeres geben. Gut für einen Konflikt ist auch ein kompliziertes Privatleben, das in die Situation am Arbeitsplatz hineinschwappt, wie das Privatleben der Tatort-Kommissare in die Bearbeitung ihres Falles. Hilfreich für das Konfliktgeschehen sind ebenso Kontraste: ältere und jüngere Mitarbeiter, unterschiedliche Kulturen und natürlich Frauen und Männer. Einer ist vielleicht besonders zwanghaft und penibel, während seine Kollegin im Laissez-faire-Modus arbeitet. Der Eine ist sehr ambitioniert und möchte Karriere machen, während der Andere seinen Lebensmittelpunkt im Privatleben sieht. Einer ist gesellig und kontaktorientiert, der andere verschlossen und zurückgezogen.

Die eine oder andere Figur sollte dann ein paar Eigenarten bekommen, die üblicherweise als nervig oder anstrengend empfunden werden: ein auffallendes Aftershave, das durch die Gänge wabert, lautes Telefonieren, die Eigenart, mittags etwas unangenehm Riechendes am Schreibtisch zu essen, unstrukturierte, langatmige E-Mails schreiben, unpünktlich zu Meetings kommen, weitschweifige Ausführungen machen, den Raum anderer einschränken, alles besser wissen, ständig von besseren »alten Zeiten« erzählen oder Ähnliches.

Wie ist die Beziehung der Akteure zueinander? Gab es schon bei der ersten Begegnung eine spontane Antipathie? Hat sich der eine aus Sicht des anderen einfach grob danebenbenommen? Wurde bei einer der Figuren ungewollt ein »roter Knopf« gedrückt, also eine persönliche Empfindlichkeit berührt? Es ist wichtig für einen glaubwürdigen Plot, die eine Figur etwas tun zu lassen, das Ziele, Werte oder Bedürfnisse der anderen Figur verletzt. Das funktioniert besonders gut, wenn es sich um etwas handelt, das dieser anderen Figur wiederum besonders wichtig ist: ein persönlicher Wert wie Gerechtigkeit, ein elementares Bedürfnis wie Sicherheit oder ein wichtiges Ziel wie die Fertigstellung eines Projektes.

Konflikte gedeihen gut, wenn in dem Unternehmen Aufgaben und Verantwortlichkeiten nicht klar definiert sind, wenn Führungskräfte ihre Rolle nicht wahrnehmen, wenn unrealistische Ziele vorgegeben werden oder – noch besser – Zielvorgaben miteinander im Konflikt stehen, sodass die Mitarbeiter in einem permanenten inneren Dilemma agieren. Zeitdruck, eine ständige Fokussierung auf Fehler und knappe Ressourcen tragen ebenfalls dazu bei, dass Konflikte gedeihen; Sie können daher gerne auch diese Punkte in Ihr Konfliktdrehbuch einbauen.

Weiterhin hilft es, wenn die eine Figur die Ursache des Konflikts ausschließlich in der anderen Figur sieht, dieser die Schuld gibt und sich selbst als Opfer betrachtet. Soll der Konflikt in Ihrem Drehbuch richtig eskalieren, sorgen Sie dafür, dass einer Ihrer Akteure mit möglichst vielen Menschen im Unternehmen über den Konflikt spricht, sich selbst dabei gut und den anderen schlecht aussehen lässt.

Zur Eskalation trägt außerdem bei, in der Gruppe Koalitionen zu bilden und sich gegenseitig darin zu bestärken, wie schlimm der Schuldige und wie unzumutbar die ganze Situation ist. Lassen Sie Ihre Akteure möglichst viele emotionsgeladene E-Mails schreiben und die Zuschauer auf CC setzen!

Mit diesem Gedankenausflug sind die wichtigsten Merkmale eines Konflikts zusammengetragen:

Konflikte, die sich zwischen zwei oder mehreren Beteiligten abspielen, werden als soziale Konflikte bezeichnet. Im Gegensatz dazu sind Konflikte, die vorrangig oder ausschließlich innerhalb einer Person stattfinden, innere Konflikte. Bei einem inneren Konflikt ringen widersprüchliche Bedürfnisse, Ziele und Gefühlen miteinander. Wer gerade einen solchen inneren Kampf erlebt, ist manchmal angespannt, gereizt und erscheint unzufrieden. Er ruht nicht in seiner Mitte, bis die widersprüchlichen Bedürfnisse, Motive und Wünsche wieder miteinander koordiniert sind und eine halbwegs harmonische Melodie im inneren Orchester spielen. Innere Konflikte erhöhen die Wahrscheinlichkeit, auch in der Außenwelt mit anderen aneinanderzugeraten. Innere Ambivalenzen, der Kampf zwischen zwei oder mehreren Zielen, Bedürfnissen oder Handlungsoptionen, macht sich etwa in widersprüchlicher oder verwässerter Kommunikation bemerkbar.

Die meisten sozialen Konflikte sind mit inneren Konflikten verbunden, da man darüber nachdenkt, wie man sich in einem aktuellen Konflikt positionieren soll. Der Klassiker hier ist der innere Konflikt zwischen dem Wunsch, die eigenen Interessen durchzusetzen, und der Sorge, die Arbeitsbeziehung zum Konfliktpartner könne darunter leiden. So ergeht es beispielsweise Sabine in der Werbeagentur, die sich einerseits gegenüber den Forderungen ihres Vorgesetzten abgrenzen möchte, dabei aber keine dauerhafte Verschlechterung der Beziehung riskieren möchte.

Die Idee der Inneren Pluralität, die dieser inneren Zerrissenheit zugrunde liegt, wird Ihnen in Kapitel 3 wieder begegnen. Eine hilfreiche Methode, um innere Widersprüche aufzulösen oder zu integrieren, lernen Sie in Kapitel 8 mit dem Tetralemma kennen.

Fakten über Konflikte

Konflikte fühlen sich zumeist unangenehm an und nur allzu oft würden wir sie gern vermeiden. Umso wichtiger ist es, sich ein paar Fakten über Konflikte vor Augen zu führen.

Konflikte sind normal

Konflikte sind keine Ausnahme, sondern normal. Sie treten auf, wenn Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Biografien, Arbeitsstilen, Rollen, Interessen und Zielen aufeinander treffen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Konflikt steigt:

  • bei Zeitdruck und Arbeitsüberlastung;

  • wenn Menschen in Organisationen zu viele Veränderungsprozesse pro Zeiteinheit managen und verarbeiten müssen;

  • wenn Wertschätzung, Transparenz und Zielklarheit fehlen;

  • wenn Führungskräfte ihre Rolle unzureichend wahrnehmen.

Auseinandersetzungen sind wichtig

Es ist nicht nur normal, sondern auch wichtig, dass Menschen in Unternehmen unterschiedliche Sichtweisen haben. Auseinandersetzungen um Sachfragen, das Ringen um die beste Lösung oder ein faires Verhandlungsergebnis – all dies zeugt von Engagement. Wer seinen Job ernst nimmt, will etwas. Wer seine Rolle professionell ausfüllt, muss auch mal unbequem sein. Entscheidungen brauchen Vielfalt, und Veränderungen brauchen Energie – auch Energie, die aus Unzufriedenheit mit dem Bestehenden erwächst. Wenn sich ein System weiterentwickeln will, braucht es einen guten Umgang mit Unterschieden. Das gilt übrigens nicht nur für Teams, Abteilungen und Organisationen, sondern auch für das eigene Innenleben. Ein guter Umgang mit der inneren Pluralität ist hilfreich und kann Konfliktpotenzial in der Außenwelt reduzieren. Doch dazu mehr in Kapitel 3, im Abschnitt »Innere Pluralität«.

Doch auch wenn Meinungsverschiedenheiten wichtig sind, so können aus ihnen handfeste Konflikte erwachsen. Dem lässt sich vorbeugen, indem man auch bei sachlichen Meinungsverschiedenheiten darauf achtet, dass keiner der Beteiligten als Verlierer aus der Situation hervorgeht.

Konflikte treten sehr häufig auf

Was die Alltagserfahrung lehrt, kann wissenschaftlich bestätigt und präzisiert werden: Konflikte am Arbeitsplatz sind sehr häufig. Nach einer umfangreichen Tagebuchstudie, in der 62 Arbeitnehmer über mehrere Wochen hinweg ein Tagebuch zu ihren Konflikterfahrungen ausfüllten – auf diese Art und Weise wurden über 2 000 Tagebuchprotokolle erhoben –, erleben Mitarbeiter im Durchschnitt alle sechs Tage einen Konflikt am Arbeitsplatz.2

Weitere Zahlen zur Häufigkeit von Konflikten liefert eine internationale Studie der in Kalifornien ansässigen Unternehmensberatung CPP Incorporated aus dem Jahr 2008.3 Nach einer Befragung von 5 000 Beschäftigten aus den USA und Europa gaben 85 Prozent der Untersuchungsteilnehmer an, mit Konflikten jeglicher Stärke konfrontiert zu werden. 29 Prozent sehen sich »ständig« oder »häufig« Konflikten ausgesetzt. Unter den deutschen Befragten waren dies sogar 56 Prozent.

Konflikte sind teuer

Konflikte fordern Aufmerksamkeit, sie kosten Zeit und Energie – und damit Geld. Es wird immer wieder versucht, zu beziffern, wie teuer ein Konflikt für ein Unternehmen werden kann. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, aber interessant. Was macht einen Konflikt teuer?

Zunächst ist da die Arbeitszeit, die die am Konflikt beteiligten Personen für den Konflikt aufbringen, anstatt produktiv zu arbeiten.

Die Schätzungen darüber, wie viel Arbeitszeit durch die Versuche, einen Konflikt zu bearbeiten, gebunden wird, schwanken zwischen 15 und 50 Prozent. Führungskräfte sind sogar zwischen 30 und 50 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Konflikten, Konfliktfolgen und Reibungsverlusten durch Konflikte befasst. Nach einer Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens KPMG aus dem Jahr 2009 entstehen Konfliktkosten vor allem durch entgangene Aufträge, unbesetzte Stellen, Fluktuation und Probleme bei der Projektarbeit.4

Bei Konflikten ist die Kommunikation zwischen den Beteiligten gestört, Informationen werden nicht mehr weitergegeben, weil man dem anderen schaden möchte oder den Kontakt zu ihm meidet. Damit gehen Informationen verloren, Arbeitsprozesse werden beeinträchtigt. Auch das kostet Geld.

Sind Kündigung, Abfindung oder Vertragsauflösung die Folgen eines Konflikts, entstehen weitere Kosten. Schließlich entstehen Kosten dadurch, dass Entwicklungen und Potenziale von Organisationen durch einen ungelösten Konflikt unterbleiben oder verzögert werden. Was könnte nicht alles Produktives, Sinnstiftendes oder Wertschöpfendes geschaffen werden – wenn nur Konflikte nicht so viel Zeit und Geld kosten würden! Doch Konflikte haben auch gute Seiten, vor allem dann, wenn man sie rechtzeitig bemerkt und beachtet.

Konflikte sind nützlich

Sie kennen sicher die Geschichte vom Trojanischen Pferd, einem überdimensionalen Holzpferd, das Odysseus bauen ließ, um es den Trojanern zum Geschenk zu machen. Tatsächlich aber waren im Bauch des Pferdes Krieger versteckt, die so als Geschenk getarnt in die Stadt Troja gelangen und diese erobern konnten. Das Trojanische Pferd gilt seitdem als Bild für eine Täuschung: die schöne Verpackung – mit kriegerischem Inhalt. Mit Konflikten verhält es sich umgekehrt. Sie kommen als ungeliebte Gestalten einher, werden ignoriert und abgelehnt – und bergen doch wertvolle Schätze.

Konflikte informieren über notwendige Veränderungen und stellen praktischerweise gleich die dafür erforderliche Handlungsenergie bereit. Konflikte decken Missstände auf, sie signalisieren, dass Strukturen oder Prozesse überprüft werden sollten, dass Führungskräfte und Mitarbeiter Zeit, Entschleunigung, Informationen oder Feedback brauchen, sie liefern den Treibstoff dafür, dass Menschen, Teams und Organisationen sich weiterentwickeln. Ohne Konflikte gäbe es keine gesellschaftlichen Veränderungen. Wenn es gelingt, Konflikte frühzeitig zu erkennen und konstruktiv zu lösen, dann können daraus Impulse für die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit, des Teams oder der ganzen Organisation erwachsen. Konfliktmanagement heißt daher nicht, Konflikte zu vermeiden, sondern sie so zu bearbeiten, dass ihr Informationsgehalt genutzt werden kann, destruktive Eskalationen aber verhindert werden. Und das so früh wie möglich. Je früher ein Konflikt bearbeitet wird, umso leichter ist es. Dabei beginnt man am besten bei sich selbst.

2. Der Konfliktnavigator: Vier Felder der Konfliktlösung

Exkurs

Begegnung mit dem Konflikt: erste Szene

Eine beliebige Kaffeeküche in einem beliebigen Unternehmen an einem ganz normalen Montagmorgen. Ein Mitarbeiter kommt herein, sieht sich um und ist erleichtert, allein zu sein. Er geht zur Kaffeemaschine.

Ein Konflikt taucht aus dem Hintergrund auf und macht sich mit einem Räuspern bemerkbar.

Mitarbeiter (genervt): Oh nein, du schon wieder.

Konflikt (etwas beleidigt): Ja, ich, was dagegen?

Mitarbeiter: Allerdings, du hast mich heute Nacht schon genervt mit deinem Lärm, ich fühl mich müde und erschöpft. Kannst du mich nicht wenigstens nachts in Ruhe lassen?

Konflikt (überlegt, nach kurzem Zögern): Gib mir einen Kaffee!

Mitarbeiter: Nein!

Konflikt (schmeichelnd): Bitte, wir könnten uns doch hinsetzen und einen Kaffee zusammen trinken.

Mitarbeiter (mit verschränkten Armen): Warum sollte ich mit dir einen Kaffee trinken? Du machst doch eh, was du willst, nervst mich, störst mich beim Schlafen, beim Arbeiten, sogar am Wochenende bei meiner Gartenparty bist du aufgetaucht …

Konflikt (leicht boshaft): Na, du hättest mich ja wohl kaum eingeladen. Zu deiner Party, oder?

Mitarbeiter (macht dem Konflikt resigniert einen Kaffee): Okay, hier ist dein Kaffee. Was willst du?

Konflikt: Milch und Zucker.

Mitarbeiter: Haha, sehr witzig!

Konflikt (setzt sich an den Tisch, nimmt einen Schluck Kaffee): Okay, hör zu. Ich weiß, dass ich dir und deinen Kollegen manchmal ganz schön auf die Nerven gehe. Das ist eben so. Wir Konflikte können nicht anders, wir sind so aufgewachsen (grinst kurz). Vermutlich ist unsere Mutter schuld. Nein, jetzt im Ernst. Es gefällt mir nicht, dass wir Konflikte so ein schlechtes Image haben. Alle hacken auf uns rum. Wollen uns bekämpfen, lösen, klären, verhindern oder – ganz schlimm – managen! Es gibt Institute, die sich mit uns befassen, wir werden beforscht, kategorisiert, quantifiziert. Es gibt sogar Menschen, die sich den ganzen Tag mit uns beschäftigen: Mediatoren, die Kinderbetreuung für Konflikte … bevor es dann vor Gericht geht. Hihi.

Mitarbeiter (unterkühlt): Und? Soll ich jetzt Mitleid mit dir haben? Sei doch froh, dass man sich mit euch befasst. Und: Ihr nervt ja auch wirklich! Schlaflose Nächte sind da noch harmlos. Ständig muss man über euch nachgrübeln, ärgert sich, ist wütend, fühlt sich hilflos. Oft leidet auch der Job darunter, manche Menschen werden sogar krank wegen euch. Und: Ihr belasst es ja oft nicht bei der harmlosen Variante. Denk doch mal an Mobbing, Gewalt, gesellschaftliche Konflikte, Waffen, Kriege, Zerstörung …

Konflikt (steht auf, wird ärgerlich und lauter): Moment! So geht das nicht. Du kannst das doch nicht alles in einen Topf werfen. Das ist diskriminierend und unfair! Ich sage ja auch nicht, dass alle blassen, schlecht gelaunten Büroangestellten am Montagmorgen gleich sind. Es gibt große Unterschiede zwischen uns. Außerdem sind wir keinesfalls immer nur die Bösen. Manchmal müsstet ihr einfach etwas früher zuhören, worum es eigentlich geht.

Stell dir vor, es gäbe uns nicht. Wäre das nicht auch etwas langweilig? Den ganzen Tag schwülstige Harmonie. Alle haben sich lieb. Gruselig, oder? Und überhaupt: Dass wir euch im Job gelegentlich begegnen, zeigt doch nur, dass da noch Leben in der Hütte ist. Wo wir sind, haben Menschen noch Interessen, Bedürfnisse, Ziele, Dinge, die ihnen wichtig sind und für die sie vielleicht auch kämpfen wollen. Das ist doch erst mal nichts Schlechtes. Ihr müsst euch nur etwas Zeit nehmen, uns zuhören, über euch nachdenken, vielleicht auch mal über euch lachen, mal über den eigenen Schatten springen und …

Mitarbeiter (beschwichtigend): Okay, okay, setzt dich wieder. Die Message ist angekommen.

Konflikt (enttäuscht): Wie, so schnell gibst du klein bei? (Grinst ein wenig teuflisch.) Ich wollte mich doch gerade ein bisschen streiten.

Der Mitarbeiter lacht, steht auf und geht.

Ein Kollege, zu dem Sie derzeit ein angespanntes Verhältnis haben, fragt Sie Freitagmittag unvermittelt: »Hast du am Montag mal eine halbe Stunde Zeit?« Sie antworten spontan: »Ja, so ab 14:30 Uhr müsste es gehen.« »Gut, ich würde nämlich gerne etwas mit dir klären. Ein schönes Wochenende noch.«

Je nachdem, wie konfliktfreudig Sie sind, wird Ihnen diese Ankündigung mehr oder weniger Freude bereiten. Die wenigsten Menschen sind so konfliktfreudig, dass sie sich tatsächlich auf ein Klärungsgespräch freuen oder dem Gespräch gelassen entgegensehen. Bei den meisten dürfte eine derartige Ankündigung vor dem Wochenende eher leichte Anspannung, Ärger oder ein »ungutes Gefühl« verursachen.

Ein angekündigtes Gespräch zur Konfliktklärung wird meist als unangenehm empfunden. Viele Menschen verbinden damit ungute Erfahrungen, die von »Das bringt doch eh nichts« über Druck, Stress, einer Verschärfung der Situationen bis hin zu Eskalation reichen. Trotz dieser verbreiteten Alltagserfahrung ist das Klärungsgespräch der am häufigsten empfohlene Zugang zur Konfliktklärung. Reden Sie miteinander, so lautet die Aufforderung. Eine Fülle von Büchern rankt sich um die Frage, wie man Konfliktklärungsgespräche gut vorbereiten und gestalten kann – sei es als Vorgesetzte oder als betroffener Kollege. Und in der Tat: Das Gespräch ist eines der wichtigsten Klärungsinstrumente. Ohne Kommunikation funktioniert gar nichts.

Der bekannte Konfliktforscher Professor Friedrich Glasl wurde in einem Interview mit der Zeitschrift managerSeminare5 2017 danach gefragt, was für ihn die ungewöhnlichste Erkenntnis sei, die er in den 55 Jahren, in denen er sich nun schon mit Konflikten befasst, gewonnen hat. Seine Antwort war: »Die ungewöhnlichste oder vielleicht besser gesagt erstaunlichste Erkenntnis ist eigentlich die, dass die meisten Konflikte sich leicht vermeiden ließen, wenn man nach einer Eskalation kurz miteinander sprechen würde.« Damit könne man, so Glasl weiter, Unterstellungen und Zuschreibungen rasch auflösen.

Nehmen Sie diese wertvolle Erkenntnis ernst, denn ungeklärte Irritationen, kurze, emotionalisierte Auseinandersetzungen, Erfahrungen von Unfairness oder Abwertungen sind Saatkörner, aus denen leicht massive Konflikte erwachsen können.

Was aber, wenn ein Gespräch mit dem Konfliktpartner im Moment nicht möglich ist? Wenn er oder sie das Unternehmen bereits verlassen hat, der Konflikt Sie aber immer noch belastet? Wenn der andere sich einem Gespräch verweigert? Wenn Sie schon mehrfach versucht haben, ein Gespräch zu führen, aber immer wieder die Erfahrung machen, dass es »nichts bringt« oder Sie als »Verlierer« aus der Situation herausgehen und sich hinterher noch schlechter fühlen? Was, wenn jemand durch einen Konflikt psychisch schon so beeinträchtigt ist, dass ein Gespräch im Moment nicht sinnvoll wäre? Was, wenn der andere sich wiederholt als unfair, verletzend oder gar bedrohlich erwiesen hat?

Es gibt zahlreiche gute Gründe, ein Gespräch im Moment (noch) nicht zu führen. Aber bedeutet das, den oft belastenden Konflikt oder eine schwierige Situation ertragen zu müssen?

Nein, natürlich nicht. Sie können – auch unabhängig vom Konfliktpartner – einiges für sich tun, um sich wieder besser zu fühlen, sich zu stärken und ihre Ziele zu erreichen. Denn das Gespräch ist bei weitem nicht das einzige Klärungsinstrument.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Es geht darum, Störgefühle, Ärger, Irritationen oder Missverständnisse so früh wie möglich aufzulösen. Das können Sie wie gesagt erreichen, indem Sie das Thema einfach kurz ansprechen. Es gibt aber noch einen anderen Weg: die Auflösung der Störgefühle durch Selbstreflexion und Selbstregulation. Das bedeutet konkret, erst einmal Abstand zu gewinnen, eine Nacht drüber zu schlafen und darüber nachzudenken, ob der Ärger, der durch eine Begegnung mit dem Kollegen oder Vorgesetzten entstanden ist, sich nicht auch anders auflösen lässt – nämlich dadurch, dass man seine Wahrnehmung kritisch hinterfragt, Zuschreibungen auflöst, den eigenen Anteil erkennt, humorvollen Abstand gewinnt oder das Thema angesichts der Endlichkeit unseres Daseins großzügig loslässt. Sie werden in diesem Buch einige dieser Wege der Selbstregulation kennen lernen.

Störgefühle lassen sich also durch ein Gespräch oder durch Selbstregulation auflösen – oder durch eine Verknüpfung dieser beiden Wege. Ich habe ein Modell entwickelt, das vier Felder unterscheidet, in denen Klärungsschritte und Lösungen stattfinden können: das Modell der vier Lösungsfelder (siehe Abbildung 2). Es unterscheidet Selbstregulation, Beziehungsregulation, Sachklärung sowie Lernen und Prävention.6

Abbildung 2: Der Konfliktnavigator: Modell der vier Lösungsfelder

Selbstregulation