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Volker Ebersbach

Der Wille der Götter

Mythos, Priester und Macht, Legitimationsfragen

 

ISBN 978-3-96521-610-5 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1997 als Sonderdruck aus

Kultur und Mythos, Beiträge zum Projekt „Dichtung und Erfahrung - Mythen als Mittel der Verständigung“

Herausgegeben von Georg Schuppener und Reiner Tetzner

Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e.V. Leipzig

 

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Der Wille der Götter

Mythos, Priester und Macht, Legitimationsfragen

I.

Dem Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. sage ich zu allererst Dank für die Gelegenheit, hier über ein Thema zu sprechen, das mich seit langem beschäftigt.

Was ich heute vortrage, sind Grundzüge eines geschichtsphilosophischen Problems, thesenartige Vorstellungen über die Rolle, die Mythen und deren Priester für die Ausübung von Macht in allen Zeiten gespielt haben. Sie selbst werden Synapsen zu denkbaren anderen Vorträgen bemerken. Ich möchte Sie mit diesen umrisshaften Thesen, deren genaue Ausführung ein Buch ergeben würde, in ein Gespräch führen, in das jeder von Ihnen seine Kenntnisse und seine Sicht des Mythischen – erweiternd oder korrigierend – einbringen möge.

Es ist in diesen Überlegungen unumgänglich, alles Konfessionelle beiseitezulassen, jegliche Religion als Mythos zu behandeln, unabhängig davon, ob Sie oder ich bestimmte, heute von Glaubensgemeinschaften anerkannte Glaubensinhalte akzeptieren oder nicht. Jeder Mythos ist ein Gebilde des Glaubens, unabhängig vom Glauben oder Nichtglauben einzelner Personen und Gruppen. Wir sind gewohnt, nur das als Mythos gelten zu lassen, was keine praktizierende Gemeinde mehr hat, oder die jeweils andere Religion als Mythos zu verunglimpfen. An die olympischen Götter der Antike glaubt heute so wenig noch jemand wie an die altorientalischen oder ägyptischen oder an die indianischen – abgesehen von synkretistischen Bestrebungen in Lateinamerika. Aber da haben wir es schon: Der Siegeszug der monotheistischen Religionen ist keineswegs eine ausgemachte Sache. Juden werfen den Christen mit einigem Recht vor, mit der Lehre von der Dreifaltigkeit gegen das monotheistische Prinzip zu verstoßen, der Islam wie der Protestantismus haben mit ebenso viel Recht im Marienkult und in der Schar katholischer Heiliger eine heimliche Auferstehung des heidnischen Olymp erkannt, und im Hinduismus ist ein heute noch lebendiger Polytheismus zu beobachten, wie man ihn sich bunter im Altertum nicht vorstellen kann. Bedenken wir, wie viel antike Religiosität ins Christentum eingeflossen ist! Christus ist ja nicht der einzige Göttersohn. Auch Herakles, Theseus, Perseus, Aeneas, Dionysos sind Göttersöhne. Die frühchristlichen Gemeinden in der hellenistischen Welt bekamen Zulauf von Leuten, die schon an Göttersöhne geglaubt hatten, aber an ihrer Aushöhlung durch eine korrupte und gewalttätige Gesellschaft und ihren Missbrauch durch den römischen Kaiserkult irregeworden waren.

Einzigartig wird Christus nur durch die Einzigkeit seines göttlichen Vaters. Als Erlöser von irdischen Sorgen, als sanfter Sieger, mit der Symbolik des Weines und der blutigen Marter, die seiner Apotheose vorangeht, ist gerade Dionysos eine Gestalt, deren Verwandtschaft mit Christus nicht unterschätzt werden darf. Der nackte, fette, trunkene Bacchus ist nur das, was von ihm übrig blieb, nachdem sympathischere Erscheinungsbilder in die Christusgestalt eingeflossen sind. (Doch dem gilt eine andere Untersuchung.) Bedenken wir auch, wie viel platonische Philosophie das Christentum übernommen hat! Ein wirklich religiös empfindender und denkender Mensch wird niemals auf den Dogmen einer einzigen institutionalisierten Religion bestehen. Er wird die Gottesvorstellungen, die von Menschen hervorgebracht worden sind, als verschiedene Fenster betrachten, aus denen jedes Zeitalter, jedes Volk, jede Religionsgemeinschaft ihren Blick aus dieser Welt in eine andere geworfen hat. Darin waren die Menschen der Antike Meister: Sie nahmen, wenn sie andere Völker und Kulturkreise kennenlernten, neugierig jede neue Gottheit in ihre Kulte auf und errichteten, um ganz sicher zu gehen, in Rom auch „dem unbekannten Gott“ einen Altar, ohne damit, wie es eine christliche Interpretation gern sähe, den eifersüchtigen und „einzig wahren Gott“ der Bibel zu meinen. Das eigene Fenster – die Religion, womöglich die einzig wahre – und alle anderen nur Mythen? Ein wahrhaft religöser Mensch wird versuchen, auch durch andere Fenster zu schauen. Lessings Ringparabel lässt grüßen! Tief empfundene Religiosität macht tolerant. Intolerant sind nur Frömmler und Atheisten.

II.

Denken Sie sich zwei Menschen in vorgeschichtlicher Zeit, voll des Erstaunens über das Wirken der Natur und den gestirnten Himmel. Dieses Erstaunen nennt schon Aristoteles den Ursprung religiösen Empfindens. Der eine staunt und empfindet, der andere, intellektuell überlegen, staunt und empfindet auch, beobachtet aber seinen Nachbarn und erkennt, dass mit solchen Anwandlungen etwas anzufangen ist. Er kann ihn – zunächst gewaltlos – zu einem nützlichen Glauben führen, der dem Gemeinwohl zugutekommt.

Es gibt aber auch einen Häuptling oder Stammesfürsten, Inhaber des Gewaltmonopols wie heute der Staat, der die notwendige Disziplin unter Umständen mit Gewalt durchsetzt. Keiner erleidet gern Gewalt. Jede Ausübung von Gewalt bedarf einer Legitimation. Derjenige der beiden Erstaunten, der seine Ergriffenheit reflektieren und instrumentieren kann, erkennt die Chance, das Handeln des Mächtigen durch Erklärungen, aus denen Vorschriften werden, als Willen der Götter zu interpretieren. Er hat auch ein Interesse daran: Sein Angebot, das Gewaltmonopol des Herrschenden zu legitimieren, verschafft ihm selber Schutz vor Gewalt und andere Privilegien.

Hier beginnt ein Vertragsverhältnis zwischen Priester und Häuptling, in dem der Glaube selbst zweitrangig wird. Von hier an ist die Priesterbrust gespalten in den Glauben und die intellektuellen Strategien seiner Instrumentalisierung. Am Ende der Entwicklung steht der zynische Ideologe, der selbst nichts mehr glaubt und die Massen in Bann schlägt. Jede Betrachtung von Mythos und Religion muss den Glauben von seiner Institutionalisierung trennen. Denn mit der Institutionalisierung beginnt die Möglichkeit zur Instrumentalisierung.