Buch

Staatsanwältin Carolin Weigert steht kurz davor, einen riesigen Bestechungsskandal aufzudecken, und stirbt plötzlich einen rätselhaften Tod. Jahre später schickt das Finanzamt dem Berliner Anwalt Vernau einen Mitarbeiter zur Betriebsprüfung. Kurz darauf liegt der Mann erschossen in Vernaus Büro. Die Polizei geht von Selbstmord aus, aber Vernau hegt Zweifel. Vor allem als er herausfindet, dass der Beamte heimlich für die tote Staatsanwältin weiter ermittelt hat. Ein Netz aus Korruption und Gewalt zieht sich bis in die höchsten Kreise Berlins, und Vernau gerät ins Visier der Schattenmänner, die jeden aus dem Weg räumen, der ihre Kreise stört ….

Weitere Informationen zu Elisabeth Herrmann sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Elisabeth Herrmann

Requiem für einen Freund

Kriminalroman

Originalausgabe

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Die Handlung und die Personen dieses Buches sind rein fiktiv.

Für Shirin

Ibi fas ubi proxima merces

Wo der Gewinn am höchsten, da ist das Recht.

Lucanus

Blick auf die Uhr: noch zwei Stunden.

Ich stehe auf der Terrasse im zweiundvierzigsten Stock des Peninsula Hotels in Hongkong. Die Luft ist feucht und heiß, eine Kombination, die ich nicht gut vertrage. Erst recht nicht nach dem Knock-out im letzten Jahr, den ich immer noch nicht ganz verwunden habe.

Livrierte Kellner bringen Drinks, irgendwo ist es immer siebzehn Uhr, aber ich halte mich an Wasser. Der Himmel ist bleigrau, die Sehnsucht nach einem Gewitter groß. Ich sollte hineingehen in die Welt hinter Glas. Klimaanlage, Pianomusik, abstrakte Kunst. Geschäftsreisende an ihren Laptops. Arabische Großfamilien. Ein paar verirrte Touristen, die irgendwo gelesen haben, dass man nicht Gast im Hotel sein muss, um hier oben einen Drink zu nehmen. Aber ich bleibe draußen, lasse mich an einem der Tische nieder und versuche, das alles zu begreifen.

Ich hier, mitten in dieser asiatischen Metropole, nach einem unüberlegten, von wilden Fantasien und Befürchtungen gedrängten Aufbruch. Nicht gerade der Ort, an dem ich mich noch vor wenigen Tagen vermutet hätte. Aber da saß ich auch noch am Schreibtisch in meinem Büro und dachte an nichts Böses, als es klingelte und dieser Mann vor mir stand, dieser Behördenmensch mit seinem Dienstausweis, und ein Drama von unfassbarem Ausmaß seinen Anfang nahm.

Stopp. Konzentration, bitte. Noch eine Stunde und vierundfünfzig Minuten. Dann werden sie kommen, und du musst Antworten parat haben, Argumente, Lösungsvorschläge. Verhandeln, Verständnis zeigen, Auswege anbieten. Am besten solche, bei denen es keine weiteren Opfer gibt. Das Leben eines Menschen hängt davon ab, was du in zwanzig Jahren als Anwalt gelernt hast. Also komm zur Sache. Geh alles noch einmal durch. Zeig ihnen, dass sie keine Chance haben. Es gibt nur die bedingungslose Kapitulation.

Und genau die werden sie nicht schlucken.

In Berlin ist es jetzt elf Uhr vormittags. Es ist bewölkt, aber es stehen andere Wolken am Himmel als hier. Ein unfreundlicher, kühler Vorfrühlingstag, an dem man überlegt, vielleicht doch noch den Wintermantel mitzunehmen. Es wird fast still sein. Nur die Verkehrsgeräusche dringen durch die geschlossenen Fenster. Ich müsste einen Schriftsatz ausarbeiten, eine Akteneinsicht anfordern, Rechnungen schreiben, Mandantengespräche führen. Stattdessen sitze ich im »duftenden Hafen« – so heißt Hongkong in der Landessprache – und warte auf einen Killer.

Reiß dich zusammen, Vernau. Du bist ein Unterhändler. Ein Mediator. Du vermittelst zwischen Justiz und Selbstjustiz, zwischen zwölf Jahren Knast in Deutschland oder der Todesstrafe in China. Er wird es einsehen. Ich muss nur gut genug argumentieren und ihm nachweisen, welche Fehler er begangen hat. Vielleicht komme ich dann lebend hier raus.

Mein Wasserglas ist beschlagen. Dicke Tropfen rinnen herab und bilden schon eine kleine, runde Lache auf dem Terrassentisch. Fokussiere dich. Geh noch mal alles durch. Mach ihm klar, dass es keine Rettung für ihn gibt. Beginne einfach mit dem ersten großen Fehler. Wenn all das hier vorüber ist, könnte ich einen Leitfaden für Mörder schreiben, eine Art Gesetzbuch der Gesetzlosen. Und der erste Paragraf trüge die Überschrift:

§ 1

Töte keine kleinen Hunde

1

Fangen wir an mit Carolin Weigert. Ihr Name ist vergessen, niemand außer denen, die sie persönlich gekannt haben, wird sich noch an sie erinnern. Das kollektive Gedächtnis ist löchrig wie ein Sieb. Dabei liegt die Sache nur ein paar Jahre zurück, sie ging durch alle Nachrichtensendungen, Zeitungen und Social-­Media-Kanäle. Mit Fotos. Einige wenige seriöse Agenturen hatten den Anstand, wenigstens Weigerts Gesicht zu pixeln. Ihr Schicksal bewegte die Stadt und das Land, wurde aber ein paar Tage später von der nächsten Skandalmeldung abgelöst. Weigert … Carolin Weigert. Vierundvierzig Jahre alt, Single. Da war doch was …

Es hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn man ein paar weitere Namen nennt: Zumwinkel, Hoeneß und Schwarzer. Schon erhellen sich die Gesichter, und eine durchaus nachvollziehbare Genugtuung knipst ein Lächeln an: Ja! Da wurden doch endlich mal die Richtigen erwischt!

Carolin Weigert arbeitete als Staatsanwältin für Wirtschaftsstrafsachen am Kriminalgericht Moabit. Dazu muss man wissen: Berlin ist, was Geldwäsche und Steuerhinterziehung im großen Stil betrifft, nur bedingt ein place to be. Ich rede nicht von den kleinen Fischen, sondern den großen Haien. Die tummeln sich lieber da, wo es warm ist und der Sozialneid nicht so groß.

Deutschland liegt zwar mit so ehrenwerten Staaten wie dem Libanon, Bahrain und natürlich der Schweiz weit vorne im Ranking der internationalen Steueroasen. Aber sein Geld versteckt man nur ungern in einer bankrotten, rot-rot-regierten Stadt. Trotzdem war Carolin Weigert eine Art stille Berühmtheit in gewissen Kreisen. Wenn sie sich in einen Fall verbissen hatte, ließ sie nicht mehr los. Sie ließ den Neuköllner Autohändler, der sein Schwarzgeld im Kofferraum spazieren fuhr, genauso einbuchten wie den Drei-Sterne-Koch. Sie ahndete gnadenlos Konzertveranstalter wie Eisverkäufer, machte weder vor Politikern noch Handwerkern halt, und jeder, der es mit ihr zu tun bekam, wusste, aus dieser Chose kam er nicht mehr heraus. Ihre Erfolgsquote war einzigartig, ihre Unbeliebtheit auch. Sie war unangreifbar, unbestechlich, gnadenlos. Doch dann geschah etwas, das diese geradlinige, in stetem Winkel nach oben weisende Karriere beendete. Gut vier Jahre ist es her, dass das Blatt sich zu ihren Ungunsten wendete. Weigert, die Unangreifbare, die in Drachenblut Gebadete – sie war verwundbar.

Es gibt ein Foto von ihr aus jener Zeit, das ich nicht vergessen habe. Sie verlässt die Staatsanwaltschaft durch einen Seiteneingang und versucht, das Gesicht mit einer Zeitung zu schützen. Ihre Kleidung wirkt wie von einem Stylisten für Netflix-­Anwaltsserien: teuer und perfekt. Durch die offenen, schulterlangen Haare fährt ein Windzug, sie wirkt wie Amal Clooney auf dem Weg zur nächsten Verhandlung am Europä­ischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie ist cool, man kann es nicht anders sagen. Cool und eine Augenweide, in Berlin kann das schon ein Grund sein, die Messer gegen sie zu wetzen. Den Hund hatte sie nicht dabei.

Wie aus der Boulevardpresse zu erfahren war, hatte sie ihn sich erst ein paar Tage später angeschafft. Einen reinrassigen Dobermann-Rüden, der dominanteste seines Wurfs, für knapp zweitausend Euro von einem brandenburgischen Züchter erstanden, der auch Rottweiler und Rhodesian Ridgebacks anbot. Der Hund war gerade mal acht Wochen alt, noch nicht stubenrein und brauchte »eine starke Hand«, um nicht zu einer tickenden Zeitbombe heranzuwachsen. Weitere Bedingungen, außer Barzahlung ohne Quittung, stellte der Züchter nicht. Es ist erstaunlich, dass Carolin Weigert sich darauf einließ, zweitausend Euro schwarz zu zahlen, aber vielleicht hatte sie sich den Mann auch nur still für eine spätere Sanktion vorgemerkt, zu der es nicht mehr kommen sollte.

Da war ihr Leben bereits aus den Fugen geraten. Äußerlich merkte man ihr das nicht an. Sie erledigte ihren Job, sie funktionierte, aber es gibt aus dieser Zeit zwei Anzeigen gegen unbekannt, die beide ohne Erfolg geblieben sind. Carolin Weigert fühlte sich verfolgt. Es begann mit den zerschnittenen Reifen ihres Autos, setzte sich fort mit anonymen Anrufen, dazu verschwanden wichtige Akten aus ihrem Büro. In der Tiefgarage hatte ihr ein Mann aufgelauert, aber sie konnte nicht erkennen, wie er aussah. Sie hatte ihn als bedrohlich empfunden, aber der Beamte, der die Anzeige aufnahm, konnte mit diesen Angaben keine Fahndung ausschreiben.

Mitarbeiter beschwerten sich über sie. Sie sei unkonzen­triert und aggressiv. Mehrfach suchte sie den Arzt auf, weil Schwindelattacken und Übelkeit sie plagten. Die Kantine betrat sie nicht mehr, ihr Essen nahm sie abgepackt von zu Hause mit. Als sie eines Abends nach Hause kam, musste sie feststellen, dass sich jemand Zugang zum Schlafzimmer verschafft und in ihr Bett ejakuliert hatte.

Die herbeigerufenen Beamten rieten ihr, sich eine Alarm­anlage anzuschaffen. Die Polizistin musste aufs Klo, und als sich die beiden verabschiedeten, lag etwas Unausgesprochenes in der Luft. So wie ein Vorwurf, den man nicht machen will, oder ein Hinweis auf einen Fleck, den man zwar sieht, sich aber nicht traut anzusprechen.

Erst nachdem sie gegangen waren, checkte Carolin Weigert, dass der Einbrecher auch in ihrem Badezimmer gewesen war. Er hatte nichts gestohlen, sondern etwas dagelassen. Im Waschbeckenschrank hinter dem Spiegel lagen zwei ange­brochene Packungen Psychopharmaka. Sie kannte die Medi­kamente nicht, aber die Polizistin musste sie gesehen haben. Sie konnte sich denken, was die beiden Beamten auf dem Weg zurück auf die Wache miteinander besprachen: völlig durchgeknallt, weiß nicht mehr, mit wem sie die Nacht verbracht hat …

Carolin Weigert musste da bereits ahnen, wer hinter diesen Angriffen steckte. Doch sie war noch klar – und klug – genug, um zu erkennen, dass ein reiner Verdacht nicht ausreichte. Sie musste verdeckt ermitteln und Beweise zusammentragen. Vor allem aber musste sie überleben. Sie erkannte: Die Einschüchterungsversuche erreichten von Mal zu Mal ein höheres Level. Noch nicht mal mehr der Generalstaatsanwalt glaubte ihr noch. Auf der Polizei die dämliche Frage: Haben Sie Feinde? Natürlich! Als Staatsanwältin für Wirtschaftsstrafsachen sammelte sie Feinde wie Panini-Bilder. Aber die saßen hinter Gittern oder führten ein Leben, in dem sie sich sogar für eine Kugel Eis eine Quittung geben ließen, um bloß nicht noch einmal in Carolin Weigerts Mühlen zu geraten. Es ging um etwas ganz anderes, und ich begriff erst viel später die ganze Tragweite: Sie war einer Sache auf der Spur, die sich mit Zumwinkel, Hoeneß und Schwarzer messen konnte. Die im politischen und wirtschaftlichen Berlin keinen Stein mehr auf dem anderen lassen würde. Aber irgendjemand hatte davon Wind bekommen, und die berufliche und private Demontage einer der qualifiziertesten, unbestechlichsten Fahnderinnen hatte ihren Anfang genommen.

Erzählen Sie das mal einem schlecht gelaunten Bereitschafts­polizisten nach einer harten Nacht. Er wirft einen Blick in seinen Computer und sieht auf einen Blick, dass die Frau, die ihm gegenübersitzt, seine Kollegen schon mehrmals mit falschem Alarm auf die Schippe genommen hatte. Dass sie stammelt, ab und zu verwirrt wirkt, und das Glas Wasser mit der Begründung ablehnt, sie wäre nicht dabei gewesen, als es eingegossen wurde.

»Schaffen Sie sich einen Hund an.«

Das war der einzige Rat, mit dem Carolin Weigert etwas anfangen konnte.

Sie nannte ihn Tobi. Obwohl sie wusste, dass der Name eher zu einem verspielten kleinen Wesen passen würde als zu einem muskelbepackten Rüden, der er in ein paar Monaten sein würde. Mutig, loyal und angstfrei. Sie kam wieder gerne nach Hause, und sie dachte nicht im Traum daran, ihre Ermittlungen gegen die Verdachtspersonen einzustellen. Sie war nur vorsichtiger geworden, inner- und außerhalb ihrer eigenen Behörde. Auch wenn es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Zu dieser Zeit ernährte sie sich nur noch von abgepackten Müsliriegeln, die sie jedes Mal in einem anderen Bio-Supermarkt kaufte. Es gab noch Menschen, denen sie vertrauen konnte. Nicht viele, eigentlich nur einen einzigen, den sie nie ganz ernst genommen hatte. Aber der ihr in den letzten Wochen zu einer großen Stütze geworden war. Aber der konnte ihr auch nicht mehr helfen an diesem Freitag, dem dreizehnten März vor vier Jahren.

Es gibt keine Zeugen, und die Überwachungskameras hatte sie ausgeschaltet, als sie nach Hause gekommen war. Eindeutig in den Akten belegt ist, dass sie gegen neunzehn Uhr noch einmal die Wohnung verließ, sich hinters Steuer setzte und den Motor startete, noch bevor das Garagentor hochgefahren war. Dass Tobi vermutlich auf dem Rücksitz lag und später zu ihr gekrochen sein musste, als klar war, dass keiner von beiden das Auto mehr lebend verlassen würde. Dass die Zentralverriegelung zuschnappte und die Abgase über einen umfunktionierten Staubsaugerschlauch ins Wageninnere gelangten. Dass es ein Selbstmord war, so steht es in den Akten. Heute noch. Vermutlich psychische Probleme. Im Haus fand man Psychopharmaka und einen Abschiedsbrief. Im Wagen, am nächsten Morgen, Carolin Weigerts Leiche und einen toten Hundewelpen.


Es sagt eigentlich eine ganze Menge über unsere Gesellschaft, dass der grausame Tod des kleinen Hundes in den kommenden Tagen mehr Gemüter bewegte als eine tote Staatsanwältin. Ich erinnere mich noch, dass ich die Schlagzeilen las und mich fragte, wer so etwas durchgehen ließ: »Musste Tobi leiden?« Mein alter Kumpel Marquardt, der mittlerweile alle Delikte, auch solche, die es noch gar nicht gab, in seiner Kudamm-Kanzlei bearbeitete, hatte sie gekannt. Wir unterhielten uns darüber, ein paar Tage, ein paarmal, dann wurde Carolin Weigerts einsamer Tod vom Alltag eingeholt, an den Rand gedrängt und schließlich vergessen. Aber ich erinnere mich noch an eine U-Bahn-Fahrt kurz nach dem Bekanntwerden der Tragödie. Zwei ältere Damen, wahrscheinlich auf dem Weg zum Konditor, unterhielten sich über die Schlagzeile.

»Wer schafft sich denn erst einen Hund an und bringt sich dann um?«

»Das arme Tier.«

»Ja. Das arme Tier.«

Ich denke, Tobi hat seine Treue und Loyalität auch posthum noch unter Beweis gestellt. Er war, meine Freunde, euer erster großer Fehler. Und ihm sollten weitere folgen. Denn wenn eine Tat nur um der Vertuschung willen geschieht, dann darf das Motiv niemals mehr das Licht des Tages sehen. Ihr dachtet, es wäre mit Carolin Weigerts Tod ausgestanden. Ihr hattet vier Jahre lang Ruhe und Zeit zum Vergessen. Nie hättet ihr geglaubt, dass jemand wie ein Maulwurf beharrlich in der Dunkelheit gräbt und gräbt und gräbt.

Und damit meine ich nicht mich. Vorläufig wenigstens.

§ 2

Hüte dich vor goldenen Löwen

1

Alttay klebte den ganzen Weg hinaus an uns wie ein Kaugummi am Schuh. Mit fliegenden Schößen überholte er mich sogar auf der Treppe und stellte sich mir in den Weg.

»Wisst ihr, an was ihr da grade dran seid? Das könnt ihr doch gar nicht überblicken. Wenn ihr einen Mörder deckt …«

Ich schob ihn ärgerlich zur Seite. Das hatte man davon, wenn man einen Gerichtsreporter ins Boot holte, der vom Pulitzerpreis träumte.

»Erst mal müssen wir uns anhören, was er zu sagen hat. Das kann alles auch einen ganz harmlosen Grund haben.«

»Jemand eliminiert alle Hinweise darauf, dass ihr an dem Abend zusammen wart! Ein Betriebsprüfer musste deshalb sterben! Weigert war Mord! Kapiert ihr das nicht? Sagt mir den Namen!«

»Ruhig, Brauner«, sagte Marie-Luise. »Ganz tief durchatmen.«

Wir passierten die Sicherheitsschleuse. Draußen zog Alttay hastig eine zerdrückte Kappe aus den Taschen seiner Jacke und setzte sie sich auf. Sie kleidete ihn definitiv nicht, aber er hatte ja andere Vorzüge.

»Jetzt rückt schon raus damit! Ihr wisst doch, alles wird streng vertraulich behandelt.«

»Dann machen wir einen Deal. Quid pro quo. Wer ist dein Passmann bei der WK?«

Ich trat sehr nahe an ihn heran. Marie-Luise kam auch dazu, steckte sich allerdings sofort ihre Zigarette an. Alttay warf einen vorsichtigen Blick zurück zum Gerichtseingang.

»Das … das geht nicht.«

»Wer versorgt dich aus dem Dezernat Wirtschaftskriminalität und Korruption mit Informationen?«

»Ich kann versuchen, ein Treffen zu arrangieren. Versuchen, okay? Was wollt ihr denn von ihm?«

Marie-Luise pustete den Qualm gegen den Wind. »Er soll sich umhören, woher der Tipp mit der Razzia an die Presse kam.«

»Oh. Er soll. Und natürlich tut er, was er soll.«

»Er soll uns alle Unterlagen von Weigert zur Verfügung stellen. Vor allem die Sache mit der CD interessiert mich.«

»Uns«, verbesserte ich sie.

»Uns, klar.«

»Welche CD?«, fragte Alttay. Und als wir nicht antworteten: »Welche CD?«

»Weigert wurden Informationen über Schwarzgeldkonten angeboten«, sagte Marie-Luise. »Auf einer Daten-CD. Aus der Schweiz. Ihr Verdacht war also nicht ganz so aus der Luft gegriffen, wie das manche Leute dargestellt haben.«

»Meinst du vielleicht mich damit?«

»Nein. Nein! Aber es muss eine undichte Stelle gegeben haben. In der Staatsanwaltschaft oder der WK. Wir brauchen den Namen.«

Alttay schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Er hakte. Vielleicht war er auch einfach nur nervös und sorgte sich um seine Quelle.

»Das geht nicht, das wisst ihr doch ganz genau.«

»Dann hör dich um!«, bohrte ich.

Er ratschte den Verschluss hoch und klemmte sich dabei den Schal ein. Fluchend versuchte er mehrmals, irgendetwas zu retten, bis Marie-Luise ihm zur Hilfe kam.

Der Schal war erlöst. Er fuhr mit der Hand unter den Kragen, um alles etwas zu lockern. »Ich tu, was ich kann. In Ordnung? Ich melde mich. Und dann will ich den Namen von deinem Kumpel haben, der in der Tatnacht mit dir gesoffen hat.«

Er hob die Hand zum Gruß und trottete die Straße entlang. Irgendwie erschien mir das alles wie ein drittklassiger Menschenhandel.

»Wenn du das tust, ist Marquardt erledigt«, sagte Marie-Luise.

»Das ist er doch jetzt schon. Er ist der geheimnisvolle Unbekannte, der Schweiger und Hartmann aus der Klemme geholfen hat. Das bricht ihm das Genick.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die beiden Carolin Weigert zum Selbstmord gezwungen und Fischer in deinem Büro erschossen haben? Wir sind in Berlin, nicht in Chicago.«

»Er hat mir zweihunderttausend geboten.«

»Wer?«

»Hartmann.«

Sie rauchte, kniff die Augen zusammen und beobachtete Alttays Abgang über die Kreuzung, der schon lange außer Hörweite war.

»Wann?«

»Freitagabend. Im Waterside Club.«

Sie musste Rauch verschluckt haben, denn dieser Erklärung folgte erst einmal ein Hustenanfall.

»Im Waterside Club«, keuchte sie mit Tränen in den Augen, als sie wieder atmen konnte. »Du?«

»Ich wurde eingeladen. Von Hartmann. Marquardt war auch da.« Wir liefen gemeinsam auf die nächste Haltestelle zu. Am Landgericht einen Parkplatz zu finden war aussichtslos, weshalb man sich auf die vagen Absichtserklärungen der Berliner Verkehrsbetriebe verlassen musste, hier irgendwann einmal einen Bus vorbeizuschicken. »Er ist Hartmanns Anwalt und hat sich ziemlich in internationales Steuerrecht eingefuchst. Die beiden wollten was von mir, und Hartmann rückte auch schnell damit heraus. Zweihunderttausend. Und ein Büro in der Orangerie.«

»Vergiss das Geld, nimm das Büro.«

»Im Ernst?«

Sie suchte in den Tiefen ihres Rucksacks nach ihrer Monatskarte. Ich kaufe immer Einzeltickets. Lassen sich besser absetzen.

»Natürlich nicht. Wie hast du reagiert?«

»Ich habe meinen Teller mit Flusskrebsen stehen lassen und bin gegangen. Heute rief seine Sekretärin an und erneuerte das Angebot.«

»Er lässt seine Bestechungsversuche übers Sekretariat laufen?«

»Nein. Es ging nur um sein Angebot, ob ich es mir noch mal überlegt hätte. Und dann eine Einladung zu irgendwas. Ich habe klargemacht, dass ich nicht mehr von ihm belästigt werden möchte. Am meisten bereue ich die Flusskrebse. Sie sind sensationell.«

»Hättest du nicht mit deinem Nein bis nach dem Essen warten können?« Sie hatte die Monatskarte gefunden und trat nun an den Aushang, um die obligatorische Verspätung mit dem Fahrplan abzugleichen. »Oder die Sache einfach hinauszögern? Das wäre doch was für Alttay gewesen. Schwarzgeldübergabe, zweihunderttausend in bar, in flagranti. Du hättest Hartmann das Handwerk legen können, ein für alle Mal.«

»Nicht mit Peanuts. Das lügt er weg. Und Marquardt hätte auf der Stelle den Spieß umgedreht und mich wegen Erpressung angezeigt.«

»Hätte er nicht.«

Noch vor einer Viertelstunde wäre ich mit ihr einer Meinung gewesen.

»Du glaubst also allen Ernstes an Hartmanns Verstrickung in zwei Morde?«

Ich dachte nach. »Nein. Aber bei Marquardt bin ich mir nicht sicher.«

»Er soll ein Killer sein? Vernau. Wir kennen uns schon so lange.«

Es war seltsam, mit ihr in der Kälte zu stehen und dieses uns zu hören. Irgendwie wie Heimkommen, die Tür aufschließen und dann feststellen, dass die Möbel verschwunden sind.

»Klar.« Das klang ziemlich lahm. Ich setzte schnell noch hinzu: »Ich glaube es auch nicht. Aber er ist da in was hineingeraten …«

Sie nickte zögernd.

»Warum tust du das?«, fragte ich. »Warum hilfst du mir?«

Sie nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe dann in einer Blechbox aus, die sie anschließend wieder in ihrer Tasche versenkte.

»Ich stehe auf der Restaurantrechnung.«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Egal, welchen Dreck Marquardt am Stecken hatte, egal, welchen Schlamassel ich damit am Hals hatte – Marie-Luise war durch uns mit hineingezogen worden. Sogar Fischer, im Nachhinein betrachtet noch die freundlichste unserer Heimsuchungen, hatte sie auf dem Radar gehabt.

»Wer auch immer die Beweise dieser Nacht vernichtet, der glaubt, dass ich dabei gewesen bin. Ich möchte heute Abend nach Hause kommen, ohne Angst vorm Dunkeln zu haben. Und ich glaube, dass mit Fischer und Weigert zwei Menschen sterben mussten, die ihren Beruf ernst genommen haben. Vielleicht sollten wir deine neue Betriebsprüferin auch mal in die Spur schicken.«

»Unsere.«

Sie grinste. »Unsere. Sie hat Fischer gekannt, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Wilmersdorf ist zwar ein großes Finanzamt, aber sie laufen sich da über den Weg. Im Flur. In der Kantine. Egal wo: Weigerts Tod muss ein Thema gewesen sein. Und der von Fischer erst recht. Wie lange braucht sie noch bei dir?«

»Sie wollte heute fertig sein.«

»Dann hoffen wir mal, dass wir sie noch erwischen.«

Der Bus bog mit Ächzen und Stöhnen um die Ecke. Wir stiegen hinein und erreichten eine halbe Stunde später unsere Interimskanzlei, in der niemand mehr auf uns wartete.


»Sie ist weg.«

Ich lief in die Küche, ins Bad, aufs Klo – Marianne Wolgast hatte sich in Luft aufgelöst. Als wäre sie nie dagewesen. Ihr Stuhl stand ordentlich vor meinem Schreibtisch, alle Unter­lagen befanden sich wieder dort, wo sie gewesen waren. Bis auf …

»Der eine Schuhkarton!« Marie-Luise ging in die Knie und prüfte den Haufen Altpapier. »Es fehlt ein Schuhkarton!«

»Was war denn drin?«

»Bestimmt keine Schuhe.«

Sie stand wieder auf und sah sich um, ratlos, auf der Suche nach einer Erklärung. »Das war der Karton mit den Unter­lagen von 2015, in dem Fischer die Quittung gefunden hat.«

»Ihr ist die Zeit davongerannt.« Ich legte meine Aktenmappe ab und schälte mich aus dem Mantel. Nicht, dass es kein erfreulicher Anblick war. Leere Ablage, Gesetzessammlungen in Reih und Glied in den Regalen, die Kartons mit meinen Ordnern aus dem gekündigten Büro ordentlich an der Wand gestapelt. »Sie hätte deinen Mist niemals bis heute Abend durcharbeiten können.«

»Aber warum?« Marie-Luise fuhr sich durch die Locken, die von der frischen, feuchten Luft draußen noch krauser waren als sonst. »Es war deine Betriebsprüfung, nicht meine. Wieso haut sie dann mit meinen Sachen ab? Das war doch eine Außenprüfung, oder?«

Sie strich mit den Fingerspitzen über die Schreibtischplatte. Dann beugte sie sich herab und konzentrierte sich auf die Spiegelung des Lacks. »Sie hat alles abgewischt. Keine Fingerabdrücke, nichts. Wer macht denn so was?«

Das war in der Tat sehr außergewöhnlich. Ich griff nach meinem Handy, suchte die Nummer des Finanzamts Wilmersdorf und wählte. Schon nach dem ersten Klingeln war ein Herr am Apparat.

»Vernau, guten Tag. Ich hatte eine Betriebsprüfung durch eine Frau Marianne Wolgast. Jetzt fehlen Unterlagen. Könnten Sie mich mit der Dame verbinden?«

»Wie war der Name?«

»Marianne Wolgast.«

Kurzer Moment des Wartens, dann:

»Das tut mir leid. Hier arbeitet niemand, der so heißt.«

»Wol-gast«, wiederholte ich. »Marianne. Sie hat mir ihren Dienstausweis gezeigt.«

»Das muss ein Irrtum sein. Wie ich schon sagte: Hier arbeitet niemand mit diesem Namen.«

Marie-Luise hatte das Gespräch mitbekommen und sah mich an, Unglauben und Verständnislosigkeit im Blick. Ich bedankte mich und legte auf.

»Das kann doch nicht wahr sein. Es gibt sie nicht?«, fragte sie.

»Sie wusste von meinem Umzug, sie kannte Fischer, sie hat von ihren Kollegen erzählt, als ob sie tatsächlich dort arbeiten würde. Was zum Teufel …«

»Ruf diese Gärtner an.«

»Die Kripo?«

Marie-Luise zog jetzt auch ihre Jacke aus und pfefferte alles achtlos über die Lehne des verwaisten Stuhls. Ich sah sie noch da sitzen, unsere falsche Betriebsprüferin. So brav, so freundlich, so fleißig. Wie sie meine Fahrscheine unter die Lupe genommen hatte, die Stromrechnung, jeden Eingang auf meinem Konto. Das alles sollte ein Scherz gewesen sein? Marie-Luise konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

»Jemand hat sich unter falschem Namen Zugang zu deinen Unterlagen erschlichen. Das gibt es doch nicht! Eine gefakte Betriebsprüfung?«

»Sie war vom Finanzamt. Definitiv.« Ich setzte mich hinter den Schreibtisch. Ihre Akribie, die Genauigkeit, mit der sie meine Belege geprüft hatte. Ihr leises Schnaufen, das runde Gesicht, die flinken Finger auf der Tastatur. »Das kann man nicht faken. Aber wenn sie nicht für Wilmersdorf arbeitet …«

»Bei welchem Finanzamt sind Hartmann und Schreiber?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich langsam. »Es gibt einundzwanzig Finanzämter in Berlin. Sollen wir die alle durchtelefonieren?«

»Hast du eine bessere Idee? Jemand wie Hartmann wohnt bestimmt nicht in Marzahn. Eher Dahlem, Grunewald, Nikolassee.«

Einen Versuch war es wert. Ich suchte die Nummer heraus. Zehlendorf, der wohlhabendste, reichste Bezirk Berlins. Hier dauerte es etwas länger, bis jemand ans Telefon ging. Auch dort gab es keine Marianne Wolgast, aber dieses Mal stellte ich es schlauer an.

»Ich bin ihr Cousin. Wir haben uns vor Jahren aus den Augen verloren. Ich weiß nur, dass sie bei Ihnen gearbeitet hat.«

Es war eine Frau am Apparat, nicht mehr ganz jung, wie ich an der Stimme zu erkennen glaubte. Ein minimales Zögern vor ihrer Antwort verriet mir, dass ich auf der richtigen Fährte war.

»Es tut mir leid. Aber zu ehemaligen Mitarbeitern geben wir keine Auskunft.«

»Sie arbeitet nicht mehr bei Ihnen? Seit wann?«

»Bitte verstehen Sie, wir geben keine Auskunft.«

»Natürlich.« Ich versuchte, so enttäuscht wie möglich zu klingen. »Dann bin ich wohl zu spät gekommen. Familiengeschichten, das kennen Sie bestimmt.«

»O ja.«

»Vielen herzlichen Dank.« Ich legte auf und sah zu Marie-Luise, die ihre Ohren wie Satellitenschüsseln in meine Richtung geschwenkt hatte. »Wolgast war Mitarbeiterin beim Finanzamt Zehlendorf. Nicht Wilmersdorf, Zehlendorf.«

»Ich hab’s verstanden.«

»Das heißt, sie hätte nie, niemals meine Betriebsprüfung machen dürfen! Was ist das denn für ein Saustall! Drei Tage lang hat sie mich an der Nase herumgeführt! Mit einem falschen Dienstausweis!«

»Sie muss Fischer gekannt haben. Sie wusste, an was er arbeitete.«

»Und wahrscheinlich auch, warum er sterben musste.«

Es hielt mich nicht mehr auf dem Stuhl. Ich sprang auf und tigerte nervös im Raum herum.

»Wir müssen die Kripo informieren. Jemand hat sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und Amtsanmaßung Zugang zu meinem Büro verschafft und auch noch einen Karton Unterlagen mitgehen lassen.«

»Meine Unterlagen«, ergänzte Marie-Luise, nicht minder besorgt. »Was auch immer sie glaubt, darin zu finden. Ruf an.« Sie nahm das Telefon hoch und hielt es mir entgegen. »Ruf diese Gärtner in der Mordkommission an. Egal, was dieser Vorfall zu bedeuten hat – Marianne Wolgast glaubt bestimmt auch nicht an einen Suizid ihres ehemaligen Kollegen. Das war eine coole Nummer, die sie hier abgezogen hat. Aber wenn sie quasi Fischers Vermächtnis fortsetzt, dann ist auch sie in Gefahr.«

Ich blieb vor ihr stehen und nahm ihr das Telefon ab. Wog es in meiner Hand. Ließ die Finger über die Tasten streichen. Steckte es schließlich zurück auf sein Netzteil.

»Ich vertraue dieser Kriminalkommissarin nicht. Was käme dabei heraus? Wolgasts Tarnung fliegt auf. Und jemand im Präsidium erfährt, dass sie in Fischers Namen weitergräbt. Von der Kripo zur WK ist es nicht weit. Solange wir nicht wissen, wer dort der Maulwurf ist, bringt das die falschen Leute in Gefahr. Ich würde lieber mit Frau Wolgast zusammenarbeiten.«

»Dafür musst du sie erst einmal finden.«

Ich nickte. »Das habe ich vor. Hast du Lust auf Flusskrebse heute Abend?«

§ 3

Das Seppl-Prinzip

1

»Hongkong?«

Marie-Luise stand vor meinem Schreibtisch und beobachtete argwöhnisch, wie ich meine Unterlagen ordnete. Es war Freitag. Für diesen Tag standen nur noch Mandantengespräche und Schriftverkehr in meinem digitalen Terminkalender. Die wenigen wichtigen, sprich: geldbringenden Dinge ließen sich problemlos auf kommende Woche legen. Das war der Vorteil, wenn man selbstständig war und die Dinge nicht ganz so gut liefen.

Mein Flug – Business Class, über Hartmanns persönliche Assistentin gebucht – würde um kurz vor neun an diesem Abend in Frankfurt starten. Ankunft in Singapur am nächsten Tag siebzehn Uhr, kurzer Zwischenstopp auf dem Airport Changi bis zum Weiterflug nach Hongkong. Schlappe sechstausend Euro. Portokasse. Gleich von der lieblichen Lena als Spesen verbucht, genau wie das Hotel: Fünf Sterne plus irgendwas. Rückflug am Samstagabend, dank der Zeitverschiebung Ankunft in Tegel via Frankfurt am Sonntag kurz vor acht Uhr morgens. Noch nicht mal ein Jetlag lohnte sich.

»Du fliegst im Auftrag von Schweiger, Hartmann und Bromberg?«

»Ja. Hör zu, ich muss noch ein paar Telefonate erledigen. Ich erklär es dir gleich.«

Ich griff zum Telefon, aber sie schnappte es sich schneller als ich.

»Nichts da. Was sollst du da?«

»Marquardt in Sicherheit bringen und die CD retten.«

»Vor dem Chinesen? Der wird dich nicht mit einem freundlichen Handschlag ziehen lassen.«

»Ich weiß.«

»Wenn es nur um diese Steuersünder-CD geht – warum bittet man nicht einfach die Ruetli Bank um Herausgabe der Daten?«

»Weil sie es nicht tun wird. Die verschanzen sich immer noch hinter dem Bankgeheimnis. Und Bromberg arbeitet nicht mehr dort, er kann also nichts mehr zur Seite schaffen.«

Ich hatte sie schon über die wichtigsten Erkenntnisse des gestrigen Abends informiert. Dass Schweiger und Hartmann dafür gesorgt hatten, dass Weigert auf der Abschussliste stand. Dass Bromberg die tote Weigert gefunden und sich verpisst hatte. Dass der Mörder ihn beobachtet und verfolgt hatte und dass Marquardt wenig später im Auftrag von Hartmann und Schweiger Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, als die Ermittlungen um Weigerts Tod begannen.

»Dann läuft hier also ein chinesischer Mörder herum, der seinen Auftrag aus Hongkong erhält?«

»Von Zhang.«

»Das geht nicht«, sagte sie.

»Was?«

»Das kannst du nicht. Du wirst nichts erreichen, gar nichts. Wie willst du Marquardt finden? Wie willst du jemandem wie diesem Zhang begegnen? Ihm mit einer Ohrfeige drohen?«

»Wir haben die CD. Und alles Weitere wird sich finden.«

»Mit wir meinst du Marquardt. Wie stellst du dir das vor? In Hongkong? Einer Millionenstadt?«

»Über Biggi. Sie stellt den Kontakt her.«

»Weiß sie das?«

»Noch nicht. Aber ich werde sie schon noch davon über­zeugen.«

»Und wo willst du ihn dann treffen?«

Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Offenbar hatte mir mein Unterbewusstsein suggeriert, dass in der Mitte von Hongkong eine Dorflinde stand, unter die man sich mittags setzte. Dann würden schon alle vorbeikommen. Auch Marquardt. Die Hände in den Hosentaschen, nackte Füße in Segelschuhen. Teure Zigarre im Mundwinkel. Alter, was machst du denn hier?

»Keine Ahnung.«

Marie-Luise seufzte und trat an meinen Laptop. Wenig später scrollten wir uns durch die unübersichtliche Zahl von Hotels, Restaurants, Bars und öffentlichen Plätzen.

»In einer Glasgondel vielleicht?«, fragte sie und deutete auf eine Seilbahn zur Insel Lantau, von der aus man einen spek­takulären Blick auf die Skyline hatte. Mir wurde bewusst, was ich alles verpassen würde in meinen vierundzwanzig Stunden Hongkong. Die Versuchung war groß, meine Mission mit einem Minimum an Sightseeing zu verbinden. »Wurde da nicht mal ein James Bond gedreht?«

»Ist zu kompliziert«, sagte ich ärgerlich. Bei ihr wusste man nie, wann sie einen auf den Arm nahm.

»Hier, Ocean Park. Irgendwo bei den Affen vielleicht.«

War das ihr Ernst?

»Oder am Panda-Gehege.«

»Zu viele Leute«, erwiderte ich. »Es muss etwas sein, das jeder findet.«

»Ein Hotel. Was ist das berühmteste Hotel Hongkongs?«

»Das Langham«, sagte ich. »Und das Peninsula.«

»Was du alles weißt.«

Sie gab sich Mühe, große Mühe sogar. Wahrscheinlich war es ihr selbst gar nicht bewusst. Immer wieder tauchte ich in ihrem Leben auf, meistens in bemitleidenswerten Zuständen. Sie reichte mir die Hand, und kaum stand ich wieder sicher auf beiden Beinen, ging es nach Hongkong. Oder in die Orangerie (was ich selbstredend nie in Erwägung ziehen würde, aber das Angebot lag auf dem Tisch). Oder in eine Kanzlei im Grunewald, in der mir drei Steuerhinterzieher ein Mandat antrugen, das mich finanziell über die nächsten Jahre retten könnte, sofern sie mein Deal mit der Staatsanwaltschaft nicht in den Bankrott treiben würde.

»Nur secondhand. Ich war noch nie da. Willst du mit?«

»Ich?« Überrascht schüttelte sie den Kopf. »Was soll ich denn da?«

»Glasgondel fahren. Beispielsweise.«

»Nicht auf Hartmanns Kosten.« Sie rief das Peninsula auf und klickte sich durch die Fotos. »Grande Dame of the Far East …«

Ein riesiges Ungetüm mit gewaltigen Flügeln, die ein bestimmt dreißig Stockwerke zählendes Hochhaus flankierten. Innen eine Orgie aus Marmor, Granit und sahneweißen Säulen. Blattgold, Kronleuchter, Pool.

»Hier. Felix. Im achtundzwanzigsten Stock mit Blick auf Victoria Harbour. Bar und Restaurant. Die Herrentoiletten sollen den atemberaubendsten Blick der Welt haben.«

Sie präsentierte mir ein Foto von drei stählernen Boden­vasen, die sich erst bei näherem Hinsehen als Pissoirs entpuppten. Einmal in Vasen pinkeln. Bodentiefe Fenster, dahinter die Skyline. »Wär doch ein Treffpunkt, oder?«

Ich grinste. »Auf dem Klo im achtundzwanzigsten Stock? Komm mit.«

Sie schloss die Seite und stand auf. »Herrentoiletten sind nicht so ganz meins.«

»Dann wenigstens zum Essen.«

Es war Mittagszeit, mein Magen knurrte, und Biggi hatte sich dazu herabgelassen, sich von uns in einem Restaurant ihres Vertrauens zum Lunch einladen zu lassen. Wir landeten in einem panasiatischen Gasthaus unweit des Kurfürstendamms, eine Art Freiwildgehege für Personen des öffentlichen Lebens, die sich vor allem durch besorgniserregende chirurgische Eingriffe vom Rest der Gäste abhoben. Die Karte war überteuert, die Drinks auch. Marie-Luise allerdings zog mit ihrem Strickmantel und ihrer halben Skinhead-Frisur mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es jede missratene Schönheitsoperation vermocht hätte. In dieser Umgebung hielt man sie weniger für eine exzentrische Millionärin, eher für die Chefin einer Casting-Agentur für Freaks. Biggi, die den Anblick schon kannte, segelte herein. Am Arm mehrere große Tüten von Baby-Dior, Baby-Chanel, Baby-Versace oder ähnlich. Sie waren pastellbonbonfarben und mit Satinschleifen und Seidenpapier aufgerüscht, passten also auch zu Biggis Verpackung an diesem Tag, die sich – it’s a boy! – in himmelblauen Tweed gezwängt hatte. Sie grüßte einige Damen und Herren in der Gäste­schar und deutete erst auf ihre Einkäufe, dann entschuldigend auf uns.

»Du solltest Hut tragen«, sagte sie zwischen zwei gefakten Wangenküssen, gegen die Marie-Luise sich nicht wehren konnte. »Oder alles ab. Dann wächst es wenigstens gleich­mäßig nach. Das tut mir so leid. Wenn das mit meinen Haaren passiert wäre … und tu was gegen die Narbe! Ich kenne da einen ganz wunderbaren plastischen Chirurgen.«

»Danke.« Marie-Luise tastete über ihre Stirn.

»Wie geht es dem Kleinen?«, fragte ich.

»Gut. Ganz wunderbar. Er entwickelt sich prächtig. Tiffy ist wieder wach, aber immer noch schlapp wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Habt ihr schon bestellt? Das Mittagsmenü ist fantastisch.«

Biggi stellte die Tüten auf dem freien Stuhl neben sich ab. Wir bestellten bei einer sehr charmanten jungen Dame, die mich an Xuehua, die Lotusblüte, erinnerte, dreimal das Menü, dann seufzte Biggi und lehnte sich zurück.

»Meine Güte, welch eine Aufregung.«

Ich fragte: »Hat Sebastian sich wieder gemeldet?«

»Ja. Er ruft ständig an, aber er kann nicht weg im Moment.«

»Warum nicht?«

Eine minimale Unsicherheit überschattete ihre Züge. »Irgendwelche Probleme mit den Behörden dort.«

»Und das glaubst du ihm?«

»Warum denn nicht?«

»Hat er gesagt, wann er zurückkommt?«

»Nächste Woche irgendwann.«

Ihr Handy klingelte. Sie sah auf das Display, sprang auf und verließ das Restaurant, um draußen zu telefonieren.

»Glaubst du ihr?«, fragte Marie-Luise und äugte noch einmal in die Karte, ob es nicht doch noch eine vegetarische Variante gab. »Sie sieht tatsächlich so aus, als ob sie fest mit ihm rechnet.«

»Oder zumindest damit, dass er einen Plan hat. Gib mir eine Zigarette.«

»Nicht dein Ernst. Willst du raus?«

Ich nickte.

»Ich mach das. Ist glaubwürdiger.«

Sie holte ihr Tabakpäckchen hervor und ging ebenfalls vor die Tür. Biggi stand links neben dem Eingang und war völlig in ihr Gespräch vertieft. Sie bekam gar nicht mit, dass Marie-Luise nur zwei Meter hinter ihr stand, verträumt an ihrer Selbstgedrehten zog und dabei ihre Ohren wie Antennen ausgefahren hatte.

»Bitte sehr.«

Das lächelnde asiatische Fräulein servierte eine Suppe als Vorspeise. Ich ließ die beiden Damen auf dem Trottoir nicht aus den Augen. Endlich legte Biggi auf, drehte sich um und erkannte Marie-Luise, die so tat, als hätte sie nichts gehört. Biggi kam zuerst zurück an den Tisch.

»Tut mir leid. Du hättest doch schon anfangen können!«

»Gibt es Probleme?«

»Nein. Alles in Ordnung.«

Aber das stimmte nicht. Ich beschloss, die Gelegenheit von Marie-Luises Raucherpause zu nutzen und direkt mit der Sprache herauszurücken. »Ich muss zu ihm.«

»Zu Sebastian? Warum denn? Es ist doch alles in Ordnung. Wenn du ihm schon wieder etwas in die Schuhe schieben willst, ohne mich.«

»Er muss sich stellen.«

»Stellen?« Sie sah mich verständnislos an. »Wie meinst du das?«

Biggi war nicht dumm. Obwohl sie alles Menschenmögliche daransetzte, damit andere das glaubten. Vielleicht war sie neben einer Meisterin im Vorspiegeln von Einfalt auch eine in der Disziplin Verdrängung.

»Biggi«, sagte ich, »es kann sein, dass dein Leben und das deiner Familie sich rigoros ändern wird. Egal ob mit oder ohne deinen Mann. Mit ihm wäre uns allen natürlich lieber.«

»Was willst du eigentlich?«

»Er muss sofort mit den Behörden zusammenarbeiten. Gib mir seine neue Telefonnummer.«

»Die habe ich nicht!«, log sie. »Die ist immer unterdrückt.«

»Dein Handy.«

»Was?«

»Gib mir dein Handy.«

»Nie im Leben! Sebastian ist in Hongkong und wickelt dort ein Geschäft ab. Danach kehrt er zurück nach Berlin, zu mir, seiner Tochter und seinem Enkelsohn.«

»Ich werde auch da sein. Sag ihm das.«

Sie tastete nach dem Löffel, behielt ihn aber in der Hand, als hätte sie vergessen, zu was er zu gebrauchen war.

»Du … bist in Hongkong?«

Es sollte neugierig klingen, überrascht. Aber ich hörte die Angst heraus. Bevor ich nachsetzen konnte, kehrte Marie-Luise zurück.

»Das geht ja fix hier«, sagte sie mit Blick auf die drei Suppenschalen, die unberührt vor sich hin dampften.

Biggi legte den Löffel ab und griff nach ihren Tüten. »Ich hab keinen Hunger mehr«, sagte sie und stand auf. Ich erhob mich ebenfalls.

»Biggi«, sagte ich. »Bitte. Es ist seine einzige Chance.«

»Ich weiß nicht, von was du redest. Ich muss jetzt auch los.«

»Das Peninsula. Sonntagmittag. Sag es ihm.«

Sie verließ das Lokal so hastig, als wäre sie auf der Flucht.

»Mit wem hat sie telefoniert?«, fragte ich Marie-Luise und setzte mich wieder.

»Jedenfalls nicht mit Marquardt. Eine Überweisung via Western Union, die wohl zurückgekommen ist.«

»Sie hat ihm Geld geschickt.«

»Offenbar.« Marie-Luise hob die Schale an die Lippen und kostete einen Schluck. »Und er hat es nicht abgeholt. Ich weiß nicht, Joe. Er wird nicht kommen. Er hockt irgendwo in einem Loch und traut sich nicht mehr raus.«

»Na ja, ein dunkles Loch ist nicht die erste Assoziation, die mir bei Marquardt in den Kopf kommt. Es hat einen Grund, weshalb er in Hongkong ist. Jeder andere wäre irgendwo in Europa abgetaucht. Aber doch nicht buchstäblich in der Höhle des Löwen.«

Über den Rand ihrer Suppenschale sah sie mich fragend an.

»Shi«, erklärte ich. »Der Löwe. Zhangs und Hartmanns größtes Bauprojekt in China.«

»Verdammt. Verdammt!« Sie stellte die Schale so heftig ab, dass die Hälfte überschwappte. »Warum haben wir in Fischers Wohnung nicht besser aufgepasst? Dort war die Lösung. Ich weiß es. Er hatte doch alles zusammengetragen!«

Wir schwiegen, jeder verärgert von der eigenen Unfähigkeit, zur rechten Zeit nicht auf die Dinge zu achten, die wirklich wichtig gewesen wären.

»Wie geht es Frau Wolgasts Nichte?«, fragte ich.

Marie-Luise zuckte mit den Schultern. »Am Telefon sagen sie mir nichts. Ich glaube aber, es geht ihr besser. Du hast die Nummer.«

Ich suchte in meinem Portemonnaie nach dem Zettel, auf die ich sie in Fischers Wohnung notiert hatte. Niemand meldete sich, nur leeres Tuten im Raum.

»Ich versuche es später noch mal«, sagte Marie-Luise. »Sie wird auch nicht mehr wissen, sie war ja wie wir zum ersten Mal in dieser Wohnung.«

»Aber vielleicht ist ihr etwas aufgefallen, das wir nicht gesehen haben?«

Unwahrscheinlich, sagte Marie-Luises Blick. Die Suppe wurde abgetragen, der Hauptgang kam, irgendetwas Curry­artiges, das ich kaum schmeckte. Marie-Luise ging es ebenso.

»Glaubst du, Biggi richtet es ihm aus?«

Ich orderte die Rechnung und ließ Biggis Portion für Marie-Luise einpacken. Mutter und Hüthchen warteten noch mit einem frühen Abendessen auf mich, bevor es nach Tegel Richtung Frankfurt ging. Sie wussten nichts von meiner Blitzdienstreise, und das sollte auch so bleiben.

»Hoffentlich. Es ist unsere einzige Chance. Ohne ihn haben wir nichts gegen Zhang in der Hand. Und der wird sich das nicht lange gefallen lassen, dass Marquardt all das besitzt, was hier zu drei Morden geführt hat. Ganz zu schweigen davon, wenn Hartmann und Schweiger wirklich auspacken. Dann sind sie die Nächsten.«

Wir verließen das Restaurant und waren erst ein paar Meter Richtung Kudamm gegangen, als uns eine helle Stimme aufhielt.

»Hallo!«

Wir drehten uns um. Die nette junge Dame, die für unseren Tisch zuständig gewesen war, lief, einen Zettel in der Hand, auf uns zu.

»Das haben Sie vergessen.«

Die Telefonnummer von Wolgast II. Achtlos auf einen der Wäscheleinenzettel in Fischers Wohnung geschrieben. Sie reichte ihn Marie-Luise.

»Danke«, sagte ich und holte mein Portemonnaie heraus.

Sie lächelte schüchtern. »Nein, bitte nicht. Das habe ich gerne getan.«

»Wie heißen Sie?«

»Xuehua.«

»Xuehua?«, fragte ich verblüfft. »Sie kommen aus Korea?«

»Nein. Aus China. Xuehua ist ein chinesischer Name.«

Ich nickte. »Xuehua. Ich kenne jemanden, der auch so heißt, aber ich dachte, sie käme aus Korea. Es heißt Lotusblüte, nicht wahr?«

Wieder dieses entzückende Lächeln. »Xuehua stammt aus dem Mandarin und bedeutet ›Schneeflocke‹.«

Sie huschte davon.

»Kannst du die Namen der Frauen nicht mehr auseinanderhalten?« Marie-Luise grinste. »Lotusblüte und Schneeflocke. Ist doch easy.«

»Ja«, sagte ich, immer noch etwas verwirrt. Warum hatte mich Xuehua, also die Xuehua, die ich aus unseren gemeinsamen Bürotagen kannte, angelogen? Wir legten einen Zahn zu, weil unser Bus schon an der Kreuzung Uhlandstraße auftauchte.

»Pass bloß auf dich auf.«

»Klar.«

Sie berührte meinen Arm. »Ich meine das ernst. Willst du nicht doch mit der Polizei sprechen?«

Wir erreichten die Haltestelle und enterten keine Sekunde zu spät den Bus.

»Damit ich meinen Pass abgeben darf?«

Wir drängelten uns durch Touristen und Kudamm-Bummler zur hinteren Plattform.

»Weder Büchner noch Gärtner sind für mich vertrauenswürdige Ansprechpartner. Außerdem enden ihre Kompetenzen an der Landesgrenze. Selbst wenn Interpol eingeschaltet wird, heißt das, ich komme nicht an Marquardt heran. Ich muss allein mit ihm reden.«

»Ich weiß nicht.«

Sie sah zu Boden, auf ihre Winterstiefel. Wann wurde es endlich Frühling in dieser Stadt? Die Scheiben waren beschlagen, zu viele Menschen auf zu engem Raum.

»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache. Was, wenn Zhang dich schon längst auf dem Radar hat? Ich hab ihn gegoogelt. Warte.« Sie kramte nach ihrem Handy und rief unter einigen Verrenkungen, um ihrem Nebenmann nicht den Ellenbogen in den Magen zur rammen, eine Seite auf.

»Das ist er.«

Ein breitflächiges, hartes Gesicht. Dunkle kurze Haare, schmale Augen. Kantiges Kinn. Mitte fünfzig, würde ich sagen.

»In China ist er das, was die Russen einen Oligarchen nennen. Ganze Stadtteile werden nach ihm benannt, weil er sie hochgezogen hat. Außerdem ist er hierzulande ziemlich umtriebig. Man sagt, halb Leipzig gehört ihm, dazu Anteile an deutschen Energieversorgungsunternehmen und Automobilherstellern. Privat gibt es nichts über ihn. Sein Firmenimperium ist verflochten wie ein chinesischer Seidenteppich. Du kannst dich nicht mit ihm anlegen.«

»Das habe ich auch nicht vor.«

»Wirst du aber.« Sie sah sich um. Niemand achtete auf uns. Der Bus näherte sich dem Adenauerplatz, wo wir in die U-Bahn steigen würden. »Vielleicht arbeitet Marquardt schon längst für ihn?«

»Blödsinn.«

»Er wäre nicht der Erste, der Haus und Hof auf Nimmer­wiedersehen verlässt. Vor allem, wenn man ihm ein Angebot macht, das er nicht ablehnen kann.«

»Und das wäre?«

Sie senkte die Stimme. »Er bietet Zhang die CD an.«

»Niemals. Zhang zahlt nicht ein zweites Mal.«

Der Bus bremste scharf und schlingerte an die Haltestelle. Nachdem wir unser Gleichgewicht wiedergefunden hatten, stiegen wir aus und strebten auf die Rolltreppe zu.

»Warum sonst sollte Marquardt untertauchen?«

»Weil er genau das nicht getan hat? Weil er diese Wohnung als eine Art Unterschlupf gekauft hat? Weil er sich nicht mehr auf die Straße traut?«

»Gäbe es da nicht tausend bessere Möglichkeiten als ausgerechnet in der Stadt seines größten Feindes?«

Wir erreichten die B-Ebene und strebten auf die nächste Rolltreppe zu, die uns hinunter zur U-Bahn bringen sollte. Es roch nach Croissants, Curry und Urin.

»Und wenn Marquardt sich weigert? Wenn er nicht mit dir reden will?«

»Dann habe ich es wenigstens versucht. Ich lege das Mandat nieder und mache eine Aussage.«

»Bei wem?«, fragte sie scharf. Ich drehte mich zu ihr um. Sie stand hinter mir, damit Menschen schneller nach unten gelangen konnten. »Bei Gärtner oder Büchner? Oder gleich bei der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Steuersachen?«

Sie hatte recht. Es gab niemanden, dem wir trauen konnten.

»Marquardt ist unsere einzige Chance«, fuhr sie etwas sanfter fort. »Wir werden sonst nie wieder ruhig schlafen können, solange der Mörder unerkannt herumläuft. Aber du kannst doch nicht Kopf und Kragen für ihn riskieren.«

Nicht für ihn, dachte ich. Marie-Luise hatte keine Ahnung, und das sollte auch so bleiben. Aber ich verbot mir weiterzudenken.