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Nachts, wenn ich wach liege, denke ich übers Sterben nach. Wie es sich wohl anfühlen wird. Ich hab keine Angst davor, im Gegenteil: Ich träume von einem richtig fetten Abgang. Mit einem riesigen Knall. Der absolute Kick. Mein Blut soll gegen die Wände spritzen und meine Hirnmasse in den Gardinen kleben. Wer mich findet, der braucht einen Seelsorger. Überall Blut und Hackfleisch. Sorry, aber mit Saugen und Wischen kommt man nicht weit. Unter Komplettsanierung geht da gar nichts.

Dann denke ich oft: Wenn ich das wirklich mal durchziehen sollte, vielleicht nehme ich ein paar von euch Arschlöchern mit? Ihr denkt, ich bin feige. Ein Hund, nach dem man treten kann. Da täuscht ihr euch gewaltig. In meiner Phantasie sehe ich schon eure blöden Gesichter, wenn ihr den Sprengstoff entdeckt, den ich unterm Mantel am Körper trage. Der dumme Ausdruck in euren Fressen. Allein dafür würde es sich schon lohnen: Um euch noch ein paar Sekunden zu beobachten, das Entsetzen, die Frage in euren Augen: »Wird es geschehen? Wird es nicht geschehen?« Bevor ich den Knopf drücke – und WUMM.

Ich hasse euch für alles, was ihr mir angetan habt. Ihr habt mich von allem ausgeschlossen, was Spaß macht. Dabei hab ich alles versucht, um so zu sein wie ihr, aber irgendwas war immer falsch. Ihr wolltet mich einfach nicht. Ihr seid grausam und böse. Ihr seid es gar nicht wert, dass ich mich mit euch befasse. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, mich mit Respekt zu behandeln? Wie einen Erwachsenen? Wohl kaum, denn sonst hätte ich nicht eine solche unbändige Lust, euch die Köpfe wegzuballern.

Das Pfeifen des Regionalzugs drang durch die fortschreitende Dämmerung. Hinter den Fenstern zogen Industriehallen und schmutzige Backsteinhäuser vorüber. Regen fiel auf die Landschaft nieder. Eine von Autos verstopfte Ausfallstraße rückte ins Blickfeld, ein paar Büsche, herumliegender Müll und wieder ein Backsteingebäude.

Marie starrte regungslos hinaus. Ihr gingen zahllose Fragen durch den Kopf. Wie hatte das alles nur passieren können? An welcher Stelle hatte sie die Kontrolle verloren?

Die Abteile waren überfüllt, trotzdem herrschte im Zug gute Stimmung. Freitagabend: Die Leute waren auf dem Weg nach Münster, um sich mit Freunden zu treffen, ins Kino zu gehen oder einen draufzumachen. Überall lautes Gelächter und Gekicher. Marie verkroch sich in ihren Sitz. Wie war es möglich, dass andere so gut gelaunt und fröhlich waren? Wo doch ihre ganze Welt gerade eingestürzt war. Sie versuchte das laute Treiben um sich herum auszublenden, starrte weiterhin auf die vorbeiziehende Stadtlandschaft.

Wassertropfen rannen am Zugfenster hinunter. Sie gerieten ins Stocken, zitterten im Fahrtwind und glitten ganz plötzlich weiter. Marie legte einen Finger gegen die Scheibe. Die Tropfen sahen aus wie Tränen.

»Die weiß nicht mal, wer Lady Gaga ist! Ich mein, kann mir das mal jemand erklären?« Eine laute, durchdringende Mädchenstimme. »Wie kann man nur so hinterm Mond leben? Ist das ein Bauerntrampel!«

Im selben Abteil schräg gegenüber saßen ein paar gestylte Teenies in H&M-Kleidung. Sie kamen ihr vage bekannt vor.

»Habt ihr gehört, wie sie in Englisch versucht hat, die Songzeile vorzulesen?«, fuhr das Mädchen mit der lauten Stimme fort und leierte ohne Rhythmus und Satzmelodie: »Ei wont jur laaw änd ei wont jur rehwänsch. Die hat doch einen Knall, aber wirklich.«

»Ach komm, hör auf. Die tut dir doch nichts«, meinte eine der Freundinnen beschwichtigend.

»Natürlich tut die mir was! Mit ihrer bescheuerten Frisur und den Omaklamotten! Das muss ich mir jeden Tag angucken. Wenn du mich fragst, ist das Körperverletzung.« Das anhaltende Kichern ermunterte sie, sich weiter aufzuspielen. »Ich meine … mal im Ernst: Keiner zwingt die, so rumzulaufen. Das macht die nur, um uns zu quälen. Echt, ich hätte mal Lust, der einen Denkzettel zu verpassen.«

Plötzlich fiel Marie wieder ein, woher sie die Mädchen kannte. Sie waren Schülerinnen vom Anne-Frank-Gymnasium, daher kamen ihr die Gesichter bekannt vor. Sie hatten auf ihrer Abiturfeier ein Theaterstück aufgeführt. Drei Jahre war das her. Inzwischen mussten sie selbst dem Abiturjahrgang angehören. Marie studierte jetzt im sechsten Semester Zahnmedizin, so lange lag ihre Schulzeit noch nicht zurück.

Das Anne-Frank-Gymnasium. Jonas. Noch immer spürte sie den Schmerz. Wann war ihr die Sache aus den Händen geglitten? Warum hatte sie nichts bemerkt, als noch Zeit gewesen war?

Sie erinnerte sich an ihren ersten Schultag am Gymnasium. Das war noch ein großer Sieg gewesen. Da hatte sich das Schicksal auf ihre Seite geschlagen. In der Grundschule waren sie nämlich unzertrennlich gewesen, ein Dreiergespann: Jonas, Jule und Marie. Sie hatte gewusst, dass Jule heimlich in Jonas verliebt war, auch wenn sie nie darüber sprachen. Ob Jule wohl auch über Maries Gefühle Bescheid gewusst hatte? Bestimmt. Ein unausgesprochener Konkurrenzkampf zwischen zwei Freundinnen.

Aber dann hatte Jule keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Sie blieb in Brook und wechselte auf die Realschule, während Jonas und sie jeden Tag mit dem Bus nach Nottuln fuhren. Zwei Kinder aus Brook, die fremd waren in der neuen Schule. Da war der Weg frei für Marie. Vor ihr lagen acht Jahre, in denen sie Jonas davon überzeugen konnte, dass sie die Richtige für ihn war. Acht lange Jahre.

Damals hatte sie geglaubt, ihre Zukunft wäre bereits vorgezeichnet: Sie und Jonas würden ein Paar werden, zusammen Abitur machen, danach in Münster studieren, und irgendwann einmal würde Hochzeit gefeiert werden. Ein gemeinsames Leben in Brook, Kinder, ein Haus. Doch irgendwie hatte Marie vergessen, für diese Zukunft zu kämpfen. Sie hatte immer nur darauf gewartet, dass Jonas den ersten Schritt machte.

Und jetzt war es zu spät.

»Nein, ich hab eine bessere Idee! Wie wär’s, wenn wir Buttersäure in ihren Schulranzen kippen?«

»Buttersäure?«

»Ja, klar. Die kann man im Internet kaufen. Das kriegt doch keiner mit, wenn wir das heimlich in der Pause machen. Das Gesicht möchte ich sehen, wenn die das bemerkt. Buttersäure ist super.«

»Hör auf. Den Gestank bekommt man nie wieder weg. Das finde ich fies.«

»Wieso denn? Vielleicht merkt sie das ja nicht mal. Die stinkt doch selber nach allem Möglichen. Vielleicht denkt sie: Mhm, das riecht aber gut in meinem Ranzen.«

Marie sah sich die Mädchen genauer an. Wie gemein sie waren. Lag das am Alter? War sie selbst damals genauso gewesen? Auch sie hatte mit ihren Freundinnen rumgealbert und über andere gelästert, aber so weit wäre sie nie gegangen. Oder doch?

Sie versuchte erneut, die lauten Stimmen zu ignorieren. Sie dachte an Jonas. An ihre gemeinsame Zeit auf dem Anne-Frank-Gymnasium. In der sechsten Klasse waren sie ein Paar gewesen, wenn auch nur für einige Wochen. Händchen halten auf dem Schulhof, einmal sogar ein Kuss. Es war so schön gewesen, einfach perfekt. Aber dann kündigte sich die Pubertät an, und Jonas interessierte sich auf einmal nicht mehr dafür, Händchen haltend über den Hof zu schlendern. Stattdessen verschwand er in den Pausen heimlich mit den anderen Jungen, um verbotene Zigaretten zu paffen und über Bundesligatabellen zu diskutieren. Da war keine Zeit mehr für sie. Aber das machte ihr nichts aus. Sie wusste ja, das würde vorbeigehen. Es war eine Phase, ganz normal bei Jungen in der Pubertät. Ihm würde noch früh genug klar werden, wie sehr er sie liebte, und dann würde er beginnen, um sie zu kämpfen. Sie musste nur abwarten.

Der Zug wurde langsamer. Die Leute begannen, nach ihren Jacken und Taschen zu kramen. Einige stellten sich bereits an den Ausgang und sahen ungeduldig hinaus. Auch die Mädchen vom Anne-Frank-Gymnasium zogen ihre Jacken an.

»Das mit der Buttersäure sollten wir uns noch mal überlegen. Ich mach mich schlau, was das kosten würde. Echt, ich finde die Idee einfach super!«

»Nein, das ist zu krass. Da finde ich meinen Vorschlag schon besser.«

»Ihre Unterhose aus der Umkleide zu klauen und allen die Bremsspur zu zeigen? Das ist doch genauso krass. Außerdem werde ich die nicht anfassen, so viel ist klar.«

»Das kann ich übernehmen!«, rief eine andere. »Und dann werf ich sie dir ins Gesicht!« Sie schleuderte dem anderen Mädchen einen Schal entgegen.

»Iiiih! Wie eklig! Du bist echt …« Der Rest ging im Gelächter unter.

»Was seid ihr nur für blöde Hühner!« Es war Marie einfach herausgerutscht. »Ihr seid nicht allein im Zug. Könnt ihr nicht etwas leiser sein?«

»Hört euch die an!«, rief eines der Mädchen und äffte Marie nach: »Könnt ihr nicht etwas leiser sein?«

»Ach, die würd ich gar nicht weiter beachten!«

»Genau. Spießerin.«

Marie drehte sich weg. Schon jetzt bereute sie, damit angefangen zu haben. Sie hatte doch gar keine Kraft, sich zu streiten.

Draußen zog die Halle Münsterland vorbei. Lang gestreckte Messehallen, Flachdachbauten, Mauern und Parkplätze. Das Gelände versank in der Dämmerung. Bald würden die Laternen aufflackern. Zwischen den Sträuchern am Parkplatzrand tauchte ein Mann auf, huschte geduckt auf einen Metallzaun zu und schwang sich mit einer einzigen fließenden Bewegung hinüber. Schon war er fort. Das alles ging so schnell, dass Marie sich im nächsten Moment fragte, ob überhaupt etwas gewesen war. Sie fixierte den Zaun und seine Umgebung, doch es war nichts mehr zu erkennen. Mietshäuser rückten ins Bild, das Messegelände verschwand. Kurz darauf hatte sie den Mann vergessen.

Sie dachte wieder an Jonas. Das Schlimmste war: Sie war selbst schuld an der ganzen Sache. Sie hatte nie um Jonas gekämpft. Ihre gemeinsame Zukunft hatte immer nur in ihrer Phantasie existiert. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal von ihren Gefühlen. Woher auch, sie hatte ja nie was gesagt.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich, und die Menschen strömten hinaus. Sie blickte sich nach den Mädchen vom Anne-Frank-Gymnasium um, aber sie waren nirgends mehr zu sehen. Das Abteil leerte sich.

Langsam erhob sie sich, nahm ihren Klarinettenkoffer und die Noten und steuerte ebenfalls den Ausgang an. Auf dem Bahnsteig empfing sie leichter Sprühregen, doch nach ein paar Metern hatte sie den überdachten Gleisabschnitt erreicht.

Vor einer Stunde hatte sie es von ihrer Mutter erfahren: Jonas und Jule würden heiraten. Die Hochzeit war schon genau geplant. Ihre Mutter war ganz aus dem Häuschen deswegen. Jonas und Jule. Als wäre das die größte Sache der Welt. Sie fragte nicht, ob Jule überhaupt die Richtige für ihn war. Oder ob die beiden nicht viel zu jung fürs Heiraten waren. Ob das denn alles gut gehen konnte. Und am wenigsten fragte sie danach, wie Marie sich dabei fühlte.

Dieses Mal würde Jule nicht auf eine andere Schule geschickt werden. Sie würde am Altar neben Jonas stehen und Ja sagen. Bis dass der Tod uns scheidet. Die Zeit lief ab, Marie konnte nichts dagegen unternehmen.

Die Motoren der Lok wurden abgeschaltet. Es zischte, dann wurde alles ruhig. Die Türen blieben für die Putzkolonne geöffnet. Marie war allein auf dem Bahnsteig. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Ausgang. Ihre Absätze klackerten einsam über die Betonplatten.

Sie musste etwas tun. Dies durfte nicht das Ende sein. Sie musste um Jonas kämpfen. Sie musste alles nachholen, was sie versäumt hatte.

Diese Hochzeit durfte niemals stattfinden.

Er war bereits losgespurtet, als er den Regionalzug hinter sich bemerkte. Rumpelnde Waggons und eine Kette hell erleuchteter Fenster. Dort oben hinter den Scheiben saßen zahllose Menschen und glotzten gelangweilt heraus. Alles potenzielle Zeugen. Es hatte keinen Sinn mehr umzukehren, also rannte er weiter und schwang sich mit einem einzigen Satz über den Metallzaun. Nur schnell weg aus dem Blickfeld dieser Leute.

Auf der anderen Seite standen Müllcontainer. Er versuchte noch, ihnen im Fall auszuweichen. Doch da war es bereits zu spät. Seine Hüfte wurde von einem der Container erfasst, der Körper herumgerissen, seine Schulter knallte gegen Metall, dann rutschte er ab und landete bäuchlings auf dem Boden, mit dem Gesicht auf dem nackten Asphalt.

Flammender Schmerz durchfuhr ihn. Mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei. Er krümmte sich, betastete vorsichtig seine Schulter, zog das Bein an. Es schien nichts Schlimmes passiert zu sein, abgesehen von ein paar Prellungen hatte er keine Verletzungen. Mit einem Seufzer schloss er die Augen. Verfluchter Regionalzug.

Mühsam raffte er sich auf und humpelte zurück zum Metallzaun. Der Zug war gerade hinter den Mietshäusern verschwunden. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass er entdeckt worden war?

Er wandte sich ab, massierte sein Bein und huschte in den Schatten der Hallenwand. Aus der Hosentasche zog er den Sicherheitsschlüssel für den Hintereingang. Es war nicht ganz einfach gewesen, ihn nachzumachen, doch mithilfe ein paar alter Kontakte war es ihm letztlich gelungen. Der Schlüssel glitt ins Schloss wie in Butter, im nächsten Moment gab die schwere Glastür nach.

Im Innern herrschte Dunkelheit. Da war nichts außer dem Blinken der Alarmanlage. Er hatte zehn Sekunden Zeit, den Code einzugeben, danach würde sie losgehen. Lautlos schloss er die Tür, tippte die Zahlenkombination ein und drückte auf Enter. Ein leises Piepsen ertönte, das blinkende Licht erlosch. Aus seinem Rucksack holte er eine Taschenlampe. Ihm blieb nicht viel Zeit, in einer halben Stunde würde der Wachschutz seine Runde drehen.

Er musste quer durch die Halle zum Verwaltungstrakt, dort befanden sich die Büros des Managements. Er bemühte sich, die Schmerzen in seinem Bein zu ignorieren. Im Treppenhaus nahm er mit jedem Schritt zwei Stufen. Eine weitere Tür, diesmal unverschlossen. Er blieb stehen und lauschte. Alles war still.

Eilig lief er durch den dahinter liegenden Korridor und nahm vor der letzten Bürotür seinen Rucksack ab. Hierfür besaß er keinen Schlüssel, aber das Schloss dürfte ihm keine Schwierigkeiten bereiten. Er klemmte die Taschenlampe zwischen die Zähne und fummelte mit seinem Dietrich daran herum. Zwei Minuten später sprang die Tür auf. Es war lächerlich einfach gewesen. Er löschte die Lampe, um keine Aufmerksamkeit auf den Parkplätzen zu erregen, und trat in das Büro.

Draußen flammten die Laternen auf. Ein matter Lichtschein fiel in den Raum, erfasste den Tresor hinterm Schreibtisch und tauchte ihn in ein beinahe sakrales Licht. Fast ehrfürchtig ließ er die behandschuhten Finger über den Stahl gleiten. Dann kroch er unter den Schreibtisch, ertastete die lose Stelle des Teppichbodens und zog den Tresorschlüssel hervor. Aus dem Rucksack nahm er ein Metallkästchen, öffnete es und drückte den Schlüssel in die darin enthaltene Knetmasse. Hinterher legte er alles an seinen Platz zurück und verließ das Büro. Er sah auf die Uhr. Er war gerade einmal zehn Minuten im Gebäude. Sorgsam verschloss er das Büro und verließ den Verwaltungstrakt. Ihm blieben noch knapp zwanzig Minuten.

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe wippte durch die dunklen Korridore. Die Tür des Umkleideraums im Keller war unverschlossen. Es gab keine Nummerierungen an den Spinden, er zählte sie durch. Am achten setzte er das Brecheisen aus seinem Rucksack an und stemmte das Vorhängeschloss auf, das klirrend zu Boden fiel. Er zog ein neues aus dem Rucksack, hängte es an den Spind und steckte den Schlüssel zusammen mit dem alten Vorhängeschloss ein. Ihm blieben noch fünfzehn Minuten.

Er machte sich auf den Weg nach oben. Am Durchgang zur Großen Halle hörte er ein Geräusch. Augenblicklich knipste er die Taschenlampe aus und blieb lauschend stehen. Doch alles war still. Lautlos bewegte er sich zur Tür und schlüpfte hindurch. In der Halle tat sich nichts. Kein Schatten, kein Rascheln, nichts. Doch dann hörte er es wieder. Ein verhaltenes Rumpeln, draußen im Foyer. Nun hatte er Gewissheit: Er war nicht allein.

Geräuschlos schlich er an den Sitzrängen vorbei zum Ausgang. An den Schwingtüren spähte er ins Foyer. Der Lichtschein einer Taschenlampe irrte über die Wände. Das war kein Wachschutz. Jemand anders hatte sich hier Zugang verschafft.

Seine Brust verengte sich. Wut überrollte ihn. Tim. Hatte er es doch gewusst! Dieses kleine Dreckschwein! Der dachte tatsächlich, er konnte ihn hintergehen!

Von Anfang an hatte es ihm missfallen, mit Tim zusammenzuarbeiten. Doch der war der Einzige gewesen, der sich gut genug in der Halle auskannte. Sie brauchten ihn, um das Ding durchzuziehen. Er hatte Tim vorsorglich in die Mangel genommen und ihm ordentlich Angst eingejagt. Doch wie es aussah, hatte das nicht gereicht, um ihn von solchen Spielchen abzuhalten.

Das Licht der anderen Taschenlampe bewegte sich oben auf der Balustrade. Er schlich zur Freitreppe und glitt lautlos die Stufen hinauf. Ich werde dir zeigen, was ich mit Verrätern mache, dachte er.

Die Gestalt war knapp zehn Meter entfernt. Er sah die Silhouette und das Licht der Taschenlampe, das ins Foyer hinableuchtete. Noch fünf Meter. Er zog das Messer aus dem Gürtel und ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten. Dann brachte er sich in Stellung und griff an.

Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Der Rasen und die Blätter der Bäume glitzerten im Licht der Lampions. Das Fest war während des Schauers nicht abgebrochen worden, stattdessen hatten sich die Menschen in die Weinzelte verkrochen und dort dicht gedrängt weitergefeiert.

Im Zentrum des Schlossgartens stand ein alter Pavillon, auch dort herrschte schreckliches Geschiebe. Fünfzig Musiker, beinahe die Vollbesetzung der Brooker Jazzband, hatten sich auf der überdachten Bühne untergestellt. Trotz des Wetters herrschte gute Stimmung. Im Gedränge hatte jemand angefangen, den Mädchen an den Po zu fassen, woraufhin ziemliche Hektik ausgebrochen war. Erst als sich herausstellte, dass es keiner der Jungs war, sondern Lea, eine Flötistin, die nur so zum Spaß ein bisschen Panik verbreiten wollte, beruhigten sich die Gemüter wieder.

Das ist mal wieder typisch, dachte Jule, die mit ihrer Klarinette gegen das Geländer gedrückt stand. Sobald alle auf einem Haufen sind, wird herumgealbert. Sie wunderte sich, dass über sie und ihre Hochzeitspläne keine Scherze gemacht wurden. Dafür konnte es nur einen Grund geben: In der Band wusste noch keiner davon. Jonas hatte dichtgehalten, wie versprochen. Günter Ehlers, der Leiter der Jazzband, hätte sich bestimmt was einfallen lassen, das sich ihnen zur Ehre spontan ins Programm einbauen ließe. Mitten auf dem Münsteraner Weinfest. Sie hätte sich auf eine peinliche Situation gefasst machen können. Dabei hasste sie es, im Mittelpunkt zu stehen.

Nach und nach kletterten die Musiker über die wacklige Treppe hinab in den Schlossgarten und begannen damit, Stühle und Notenständer trocken zu wischen. Jule stand etwas verloren herum. Die Klarinettenreihe war noch immer unvollständig, und das, obwohl sie den Soundcheck bereits hinter sich hatten. Von der ersten Stimme war nur sie da, ihre beiden besten Freundinnen Marie und Uli fehlten noch. Normalerweise riefen die beiden an, wenn sie sich verspäteten. Gerade bei einem Auftritt. Sie hatte keine Ahnung, was passiert sein konnte. Den Gedanken, Uli und Marie könnten von ihrer Hochzeit erfahren haben und deshalb fehlen, erstickte Jule im Ansatz.

Plötzlich wurde ihr Name gerufen. Sie wandte sich zum Schotterweg, und da sah sie Marie zwischen den Rhododendronbüschen auf sie zueilen. Sie war also doch noch gekommen, gerade rechtzeitig.

»Marie! Da bist du ja! Wir warten alle auf dich!«

»Der Zug hatte Verspätung, tut mir leid.«

Jule musterte das Gesicht ihrer Freundin. Wusste sie schon etwas von ihren Plänen?

Tatsächlich grinste Marie und sagte: »Du und Jonas, ihr heiratet?«

»Oh nein! Das wollte ich dir selbst sagen. Du solltest das nicht von jemand anders erfahren. Mist.«

»Macht doch nichts. Meine Mutter hat’s von deiner Mutter. Hast du deshalb die nächsten zwei Wochen Urlaub genommen, ohne wegzufahren? Weil du die Hochzeit vorbereiten willst?«

Jule arbeitete als Rechtsanwaltsgehilfin in Nottuln, und nicht nur ihr Chef hatte sich gewundert, weshalb es für sie so wichtig war, Urlaub zu nehmen, wenn sie doch gar keine Reise plante.

»Ja, schon. Aber glaub mir, wir haben das erst heute öffentlich gemacht. Ich wollte es dir nach unserm Auftritt sagen. Dass das jetzt so gelaufen ist, tut mir echt leid.«

»Ach, komm runter, ist doch kein Drama.« Marie nahm sie in den Arm. »Ich freu mich für dich. Wirklich.« Dann lachte sie. »Auch wenn ich das ziemlich schräg finde. Heiraten, mit dreiundzwanzig!«

Jule lachte erleichtert mit. Womöglich waren ihre Sorgen tatsächlich unberechtigt gewesen.

Günter Ehlers rief von Weitem: »Marie, da bist du ja endlich! Beeil dich, es geht gleich los.«

Marie zwinkerte ihr zu und lief weiter zum Anhänger der Band, wo während des Auftritts die Jacken und Taschen verstaut wurden. Sie pellte sich aus ihrem Mantel. Darunter trug sie bereits ein weißes Hemd mit schwarzer Weste, die Standardkleidung für die Bühne.

Am Pavillon herrschte aufgeregtes Durcheinander. Tonleitern und Melodiefragmente schwirrten herüber. Es wurde eilig in Noten herumgeblättert, Weingläser wanderten über Köpfe hinweg.

Marie stieß ihr in die Seite. »Jetzt sag schon: Wie kommt ihr auf so eine Idee? Heiraten!«

»Na ja.« Jule war klar, wie sich das für Außenstehende anhören würde. Als wären Jonas und sie ein bisschen aus dem Jahrhundert gefallen. »Wir wollen doch im Winter zusammenziehen. Und da dachten wir … du weißt schon … es wäre halt schöner, wenn man … dann auch richtig zusammen ist, ganz offiziell. Außerdem wollen wir ja irgendwann Kinder haben, mindestens vier. Versteh mich bitte nicht falsch, da ist nichts unterwegs. Wir dachten nur, wenn man schon mal verheiratet ist …« Sie geriet ins Stocken. Es klang tatsächlich ein bisschen merkwürdig.

Marie begann zu lachen. »Ist schon okay. Du musst dich nicht entschuldigen. Heiratet einfach, ganz egal, was die anderen davon halten.«

»Dann hast du nichts dagegen?« Es war Jule einfach herausgerutscht. Zu spät, um es ungesagt zu machen.

Marie runzelte die Stirn. »Warum sollte ich denn was dagegen haben?«

Jule wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu blicken.

»Mein Gott, Jule! Das war in der sechsten Klasse! Denkst du etwa, ich bin immer noch in ihn verliebt? Da wäre ich ja schön blöd. Nein, nein. Du kannst ihn haben, wirklich. Ich wünsche euch Glück.«

Es klang ganz aufrichtig. Sie schien es ernst zu meinen.

»Jetzt komm.« Marie schnappte sich ihren Klarinettenkoffer. »Wir sind spät dran.«

Die letzten fünf Minuten vor dem Auftritt: Während Marie eilig ihre Klarinette zusammenbaute, breitete Jule die Noten aus. Sie sah sich um. Die Posaunenreihe war verwaist, von Jonas nichts zu sehen. Da war nur sein Instrument, das verloren in dem Ständer hing.

Jules Bruder Niklas tauchte auf. Er schlurfte allein zu seinem Platz, hielt wie immer Abstand zu den anderen. Ein schmächtiger blasser Teenager mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. Auch diesmal verwendete er viel Sorgfalt darauf, seine Verachtung für die ganze Welt demonstrativ zur Schau zu stellen. Jule erinnerte sich, wie er als kleiner Junge Einmachgummis an seiner Posaune befestigen musste, um mit seinem kurzen Arm an den Zug zu gelangen. Damals konnte er sich nichts Aufregenderes vorstellen, als eines Tages in der Jazzband mitzuspielen. Diese Zeiten waren lange vorbei, und Jule hatte keine Ahnung, weshalb er überhaupt noch dabei war. Spaß schien ihm das Ganze jedenfalls nicht zu machen.

In diesem Moment kletterte Jonas mit zwei randvoll gefüllten Pappbechern zur Posaunenreihe hinauf. Weißwein schwappte dabei über die Stuhlreihen. Jule beobachtete ihn. Es war schon seltsam. Obwohl sie Jonas seit dem Kindergarten kannte, passierte es immer wieder, besonders wenn sie ihn ganz plötzlich auftauchen sah, dass sie ganz irritiert und benommen war von seinem guten Aussehen. Er setzte sich zu ihrem Bruder in die Reihe, reichte ihm einen Becher und plauderte einfach drauflos, ohne sich an dessen Gleichgültigkeit zu stören. Jonas tat alles, um ihren Bruder in die Gruppe einzubinden, und das war einer der Gründe, weshalb sie ihn liebte.

Sie verlor sich in Phantasien über ihre gemeinsame Zukunft auf dem Bauernhof, der Jonas’ Eltern gehörte und den sie einmal übernehmen würden. Dort würden sie eine Familie gründen. Vier Kinder, mindestens. Alles Jungen, ein quirliger Haufen wäre das … Sie stockte. Und Mädchen natürlich. Sie schämte sich, nur an Jungen zu denken, anstatt: Hauptsache, gesund. Vergiss, was du gesehen hast. Jonas vorm Pausenhof der Grundschule. Der hungrige Blick, den er den kleinen Mädchen zugeworfen hatte. Sie hatte schon diese dunkle Ahnung gehabt, doch in diesem Moment war ihr Herz stehen geblieben.

Jule schüttelte energisch den Kopf. Das bildest du dir nur ein, sagte sie sich. Jonas wäre auch den Mädchen ein guter Vater. Alles andere war reinster Unsinn.

Eine durchdringende Stimme ließ sie zusammenfahren.

»Du willst wirklich heiraten? Ich glaub es ja nicht!«

Sie wirbelte herum. Uli war aufgetaucht, Jule hatte ihr Kommen gar nicht bemerkt. Marie stand neben ihr und lächelte schuldbewusst, offenbar hatte sie die Neuigkeit gleich weitererzählt.

»In jedem Supermarkt gehst du als Zwölfjährige durch«, fuhr Uli fort. »Ich habe noch nie erlebt, dass du mit einer Flasche Bier keinen Ausweis an der Kasse vorzeigen musstest. Und jetzt heiratest du! Der Standesbeamte wird dich für das Blumenmädchen halten.«

»Nicht so laut«, zischte Jule. »Wir wollen es den anderen erst nach dem Konzert sagen.«

Uli setzte sich und ließ ihren Klarinettenkasten aufspringen. Sie machte weiter Witze über die Hochzeit, doch Jule achtete gar nicht darauf. Die Posaunenreihe war jetzt vollständig. Jonas hatte es tatsächlich geschafft, ihren Bruder in ein Gespräch zu verwickeln. Der lachte sogar ab und zu und wirkte gar nicht mehr so gelangweilt.

Natürlich musste Jule überall den Ausweis vorzeigen. In jeder Disco, im Supermarkt, manchmal sogar in einer Kneipe. Trotzdem war sie eine erwachsene Frau. Sie hatte den Körper einer Frau, daran gab es keinen Zweifel. Jonas liebte sie als Frau.

Das Quietschen einer Rückkopplung ertönte, dann war die Stimme von Günter Ehlers klar und deutlich im ganzen Park zu hören: »Guten Abend, meine Damen und Herren! Herzlich willkommen zur Jazznight auf dem Weinfest im Schlosspark.« Er stand auf der Bühne, mit seinem schlohweißen Haar und dem Anzug aus den Siebzigern, und strahlte wie immer glücklich ins Publikum.

Jule konzentrierte sich auf ihre Noten. Es ging los. »Spanish Fever«. Ein lauter Auftakt der Blechbläser, danach ein schneller Rhythmus auf dem Schlagzeug, und es brauchte nur wenige Takte, um Jule völlig eintauchen zu lassen in die Musik. Das Spiel in der Gruppe war für sie berauschend. Es war, als würde sie gar nicht selbst spielen. Als würde sie mit ihrer Klarinette von den anderen getragen. Da waren so viel Kraft und Bewegung und Stärke zu spüren, dass sie glaubte, sich darin aufzulösen. Die Präsenz der Jazzband war in jedem Winkel des Parks zu spüren. Sie fühlte sich beschützt, alles war sicher und voller Liebe.

Sie war so in die Musik versunken, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie Günter Ehlers sich zwischen zwei Stücken erneut ans Publikum wandte. Erst nach Sekunden begriff sie, was passierte.

»Sie werden bemerkt haben, dass heute eine gewisse Magie in der Luft liegt. Meine Damen und Herren, das ist die Magie der Liebe. Amor hat seine Pfeile in unserer Band verschossen, und ich freue mich ganz besonders, verkünden zu dürfen, dass hier und heute eine Verlobung gefeiert wird.«

Jule und Jonas mussten aufstehen. Der Schlosspark wurde erfüllt von tosendem Applaus. Jonas zwinkerte ihr zu und grinste. Dann reckten sie sich über die Saxofone hinweg und gaben sich einen Kuss. Jule ließ sich dabei vom Applaus tragen. Und plötzlich fand sie es gar nicht mehr schlimm, im Mittelpunkt zu stehen, ganz im Gegenteil. Dies war der Ort, an dem sie glücklich war. Sie blickte auf eine wunderbare Zukunft, gemeinsam mit dem Mann, den sie liebte. Neben ihr Marie und Uli, ihre besten Freundinnen, die immer für sie da waren. Und dazu die Jazzband, die sich wie eine große Familie anfühlte.

Dann war der Moment vorüber, Günter Ehlers gab den Takt vor, und es ging weiter: »Fly Me to the Moon«. Ein Schlagzeug setzte ein, und schon warfen sich die Blechbläser darüber, in einem ohrenbetäubenden Mollakkord, der Jule mit der ganzen Schönheit und Traurigkeit des Liedes direkt ins Herz fuhr.

Alles war perfekt, ihr ganzes Leben. Und eine Sekunde lang – während sie mit erhitzten Wangen dasaß, erfasst von grenzenloser Dankbarkeit – glaubte sie, ihre eigene Zukunft vorhersehen zu können. Es war wie ein nicht endender, beglückender Rausch: Alles, was sie sah, war gut. Wie es jetzt war, würde es immer weitergehen. Ihr stand ein wunderbares Leben bevor.

Dichter Zigarettenqualm vernebelte die Luft. Das verdreckte Fenster stand auf Kipp, dennoch zog kaum frische Luft herein. Nur klamme Kälte, die den Rauch schal und abgestanden wirken ließ. Das Zimmer war vom bläulichen Licht des Computerbildschirms erhellt. Ben hockte konzentriert davor. Seine Schultern schmerzten, und die Augen brannten höllisch. Wenn er mit anderen im Internet über Programmierungsprobleme diskutierte, verging die Zeit, ohne dass er es bemerkte. Er lehnte sich zurück und massierte sich die Schultern.

Sein Handy klingelte. Mit gerunzelter Stirn zog er das Gerät unter einem leeren Pizzakarton hervor. Es war Jule, die beste Freundin seiner Schwester Uli. Was konnte die von ihm wollen? Er zögerte, doch schließlich siegte seine Neugier.

Jule war auf einem Fest. Im Hintergrund ein Durcheinander von Stimmen, dazu Tanzmusik und das plötzliche Auflachen einer Frau.

»Wahrscheinlich weißt du noch nichts davon«, sagte sie, »aber Jonas und ich werden heiraten. Ist das nicht unglaublich?«

Jonas war sein Kumpel auf dem Anne-Frank-Gymnasium gewesen. Sie stammten beide aus Brook, hatten einige Kurse zusammen belegt, und da war es nur folgerichtig gewesen, dass sie sich angefreundet hatten. Seit Ben jedoch in Münster wohnte, hatte er den Kontakt zu Jonas vernachlässigt. Inzwischen sahen sie sich kaum noch, und Ben hätte nicht einmal sagen können, wann sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten.

»Wir heiraten erst mal nur standesamtlich. Das aber schon bald. In knapp zwei Wochen nämlich!«

»In zwei Wochen?«, fragte er lahm.

»Ja, und die kirchliche Hochzeit wird im Sommer stattfinden. Mit großem Fest und allem Drum und Dran. Die standesamtliche feiern wir nur im kleinen Rahmen. Trotzdem wollen wir eine Verlobungsparty geben. Na ja, deshalb rufe ich an.« Bevor Ben einen Kommentar loswerden konnte, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Ich weiß ja, was du davon hältst. Aber willst du nicht trotzdem kommen? Alle werden kommen. Die Hälfte deines Jahrgangs vom Anne-Frank-Gymnasium. Und natürlich die Leute von der Jazzband. Komm schon, da gehörst du doch dazu.«

Ben konnte nicht anders: Er musste lächeln. Das war typisch für Jule. Wäre man böswillig, könnte man es Harmoniesucht nennen. Jule war in der Lage, sich eine Parallelwelt zu erschaffen, in der alle Menschen nett waren und sich mochten. An ihren allerbesten Tagen gelang es ihr, so mitreißend an das Gute zu glauben, dass alle um sie herum davon angesteckt wurden.

Dabei war das, was sie jetzt sagte, völliger Unsinn. Er wusste das, und sie wusste es auch. Ben hatte nie irgendwo dazugehört. Ganz im Gegenteil. Er war das ideale Opfer gewesen, immer schon. Im Kindergarten, in der Schule und bei den Jungs in seiner Straße. Sie hatten ihn in Mülltonnen gestopft, sein Taschengeld abkassiert und ihm das Leben auch sonst zur Hölle gemacht. Die anderen Kinder hatten instinktiv begriffen: Ben wehrte sich nicht. Vor ihm brauchte keiner Angst zu haben.

Sein Vater hatte ihm abgewöhnt, sich zu wehren. Er duldete nichts als Unterwerfung, und so lernte Ben stattdessen, sich zu ducken und unsichtbar zu werden. Wenn das nichts half, musste er geduldig ausharren, bis es vorüber war. So ging das bis zum Beginn seiner Pubertät. Da wurde er für die anderen einfach zum Sonderling, den man besser in Ruhe ließ.

»Komm schon, Ben. Tu es mir zuliebe. Morgen Abend im Probenraum der Jazzband. Du weißt doch, wo das ist? Im Festsaal der Gaststätte Lütke-Zumbrink in Brook.«

»Also gut«, sagte er. »Mal sehen, ob ich es schaffe. Versprechen will ich lieber nichts.«

»Super! Dann sehen wir uns! Ich freu mich drauf!«

Die Partygeräusche im Hintergrund standen in seltsamem Kontrast zu der Einsamkeit in seinem WG-Zimmer. Um ihn herum bewegten sich lautlos die Rauchschwaden.

»Ich soll dich übrigens von Uli grüßen«, meinte Jule. »Sie steht hier neben mir.«

Er schnaubte. Natürlich. Das konnte er sich lebhaft vorstellen. Uli würde im Leben nicht auf die Idee kommen, ihm Grüße auszurichten. Stattdessen stand sie bestimmt sichtlich genervt herum und wartete ungeduldig darauf, dass Jule endlich das Gespräch mit ihrem bescheuerten Bruder beendete und sie weiterfeiern konnten.

»Möchtest du mit ihr sprechen?«, fragte Jule.

»Nein. Grüß sie zurück. Schönen Abend noch.«

Er beendete das Gespräch und warf das Handy zurück ins Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Nie im Leben würde er zu dieser lächerlichen Verlobung gehen. Das fehlte gerade noch.

Nebenan hörte er seine Mitbewohnerin aufs Klo schleichen. Wenn sie kotzte, machte sie das inzwischen beinahe lautlos. Doch die Wände waren aus Pappe, und er hatte gelernt, seine Ohren zu spitzen, daher konnte sie ihm nichts mehr vormachen. Die Spülung ertönte, dann verschwand sie wieder in ihrem Zimmer.

Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete den Computerbildschirm. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Jule, Jonas, seine Schwester und all die anderen. Sie hatten keine Ahnung, was passieren würde. Schon bald würde alles anders sein. Sein Plan würde aufgehen. Keiner traute ihm etwas Derartiges zu, und genau deshalb würde alles reibungslos funktionieren.

Das Lächeln wurde breiter. Seine Rache war perfekt. Nur noch wenige Tage, dann war es so weit.

2

Bernhard Hambrock stand vor dem hübschen Einfamilienhaus inmitten eines bürgerlichen Münsteraner Vororts, in der Linken einen Blumenstrauß, in der Rechten eine gute Flasche Wein. Er trug einen Anzug, obwohl er damit wahrscheinlich etwas overdressed war, und fühlte sich, als wäre er bei entfernten Verwandten zu einem Höflichkeitsbesuch eingeladen. Irgendwie förmlich und gezwungen. Dabei war das völliger Unsinn. Dies war kein Anstandsbesuch, und die Einladung dazu war auch nicht höflich gemeint.

Er beugte sich vor und drückte die Klingel. Ihm wurde bewusst, dass er das Haus seiner Kollegin noch niemals betreten hatte. Er war zwar schon einige Male hier gewesen, um sie mit dem Wagen abzuholen oder ihr ein paar Unterlagen vorbeizubringen, die sie übers Wochenende durchsehen wollte. Dabei hatte er auch ihren Ehemann kennengelernt, einen netten, wenn auch für seinen Geschmack etwas zu farblosen Mann. Es war aber immer bei einem kurzen Gespräch auf der Schwelle geblieben.

Es war schon seltsam: Seit Jahren verbrachte er beinahe jeden Tag mit ihr, viel mehr Zeit als mit seiner Ehefrau oder sonst jemandem. Er wusste, er konnte sich blind auf sie verlassen. Sie hatten schon einige schwierige Situationen gemeistert – draußen bei gefährlichen Ermittlungen, aber auch innerhalb des Präsidiums, wenn es Schwierigkeiten mit Vorgesetzten oder mit der Staatsanwaltschaft gab. Eigentlich müsste sie ihm näher stehen als manch anderer. Und doch hatte er noch kein einziges Mal ihr Haus betreten.

Die Tür flog auf, und Heike stand mit einem strahlenden Lächeln vor ihm. Sie trug weite Hosen und eine enge rote Bluse, die gerade weit genug aufgeknöpft war, um ihr Dekolleté erahnen zu lassen.

»Gehst du später noch auf eine Beerdigung?«, fragte sie mit Blick auf seinen dunklen Anzug.

Diese Begrüßung vertrieb seine Unsicherheit.

»Auf deine, wenn du noch mehr von solchen Sprüchen auf Lager hast.« Er drückte ihr die Blumen in die Hand. »Bin ich zu spät?«

Sie ließ ihn hinein. »Eher zu früh, Martin steht noch am Herd.«

»Martin kocht?«

»Sei froh, dass er das macht, sonst wäre das Essen ungenießbar. Du kennst doch meine Kochkünste.«

»Ehrlich gesagt nein. Aber ich war schon gespannt darauf.«

Martin, ihr Ehemann, erschien hinter ihr im Flur. Er trocknete sich die Hände an der Schürze und kam Hambrock entgegen. »Bernhard! Schön, dass du kommen konntest.«

Heike ging ins Obergeschoss, um nach den Kindern zu sehen, während Hambrock Martin in die Küche folgte. Es war ein großer und freundlicher Raum mit dunklem Parkett und Holzmöbeln. Ein cremefarben eingedeckter Tisch mit Kerzenständern, Weingläsern und indirekter Beleuchtung. Alles strahlte Wärme und Behaglichkeit aus. Ein richtiges Zuhause eben.

Heike hatte ihn eingeladen, damit er nicht allein in seiner Wohnung herumhockte und sich am Ende noch einsam fühlte. Seine Frau Erlend war seit einer Woche bei ihren Eltern in den Niederlanden. Ihre Mutter lag nach einem Sturz mit einem komplizierten Beinbruch im Krankenhaus, und weil ihr Vater sich allein nicht einmal ein Spiegelei zubereiten konnte, war sie kurzerhand nach Groningen gefahren.

Anfangs hatten ihm seine Freiheiten gefallen. Ein bisschen Abstand war nicht schlecht gewesen. Das Gefühl, ungebunden zu sein und auf keinen Rücksicht nehmen zu müssen. Als wäre er wieder zwanzig. Einfach sein eigenes Ding durchziehen. Doch lange hatte dieses gute Gefühl nicht angehalten. Immer häufiger landete er abends nach der Arbeit in seiner Kneipe, so wie früher, nur dass er nicht mit Kumpeln einen draufmachte, sondern allein am Tresen hockte und in sein Bier starrte. Hauptsache, nicht zu Hause sein und die menschenleere Wohnung ertragen müssen.

Heike trat in die Küche und schloss mit einem Seufzer die Tür. »So, die Kinder schlafen. Und ich sterbe langsam vor Hunger.«

Hambrock begann, Wein einzuschenken. Er beobachtete Heike und Martin, wie sie die Töpfe vom Herd nahmen. Es war schon seltsam: Im Präsidium war Heike seine Arbeitskollegin, sonst nichts. Hier aber verwandelte sie sich in eine Frau. Sie wirkte auf eine unvermutete Art weiblich, und er erwischte sich dabei, wie er seinen Blick auf ihrem Körper ruhen ließ, was er zuvor noch nie getan hatte. Alles verschob sich und bekam andere Konturen. Als hätte er die ganze Zeit im 3-D-Kino gesessen und erst jetzt die Brille aufgesetzt.

»Keinen Wein für mich«, rief Heike, als er mit der Flasche auf ihr Glas zusteuerte. »Ich bleibe lieber nüchtern. Schließlich haben wir Bereitschaft, vergiss das nicht.«

»Ein Gläschen kann doch nicht schaden?« Er runzelte die Stirn. Sonst war ihr so etwas immer egal.

»Lieber nicht.«

Sie setzten sich. Hambrock war erstaunt, wie gut das Essen schmeckte. Vor allem aber wunderte er sich, dass sie es tatsächlich schafften, während des Essens nicht ein einziges Mal über die Arbeit zu reden. Es gab also doch genügend anderes, das sie miteinander verband.

Nach dem Essen stand Heike auf und begann die Teller zusammenzustellen. Als sie einen schweren Topf nehmen wollte, sprang Martin auf und nahm ihn ihr ab.

»Lass mich das doch tragen«, ermahnte er sie. »Das ist zu schwer für dich.«

Heike warf ihm einen warnenden Blick zu, doch da war es schon zu spät. Hambrock begriff sofort, was los war.

»Du bist schwanger«, stellte er fest.

Heike setzte sich. Martin blickte schuldbewusst zu Boden und zupfte an seiner Serviette herum.

»Eigentlich solltest du das nicht heute erfahren«, sagte sie. »Ich wollte, dass wir uns einen schönen Abend machen, mehr nicht.«

»Aber ein Kind ist doch etwas Gutes, oder?«, erwiderte er. »Das sollten wir feiern.« Doch er ahnte schon, dass es hier um mehr ging als nur um eine Schwangerschaft.

»Was bedeutet das für die Arbeit?«, fragte er dann. »Der Polizeiärztliche Dienst wird darauf bestehen, dass du ab jetzt im Präsidium bleibst. Außeneinsätze sind fürs Erste passé. Zumindest, bis du aus der Elternzeit wiederkommst.« Da sie zögerte, schob er hinterher: »Du kommst danach doch wieder, oder?«

»Ich … also, ich habe gründlich darüber nachgedacht.« Sie seufzte. »Hambrock, ich werde einen Versetzungsantrag stellen, um ins Kommissariat Vorbeugung zu wechseln, mit einer halben Stelle.«

»Zu den Beratungsstellen?« Hambrock lachte auf. »Du arbeitest bei der Mordkommission. So etwas hängt man doch nicht einfach an den Nagel. Da lässt sich bestimmt etwas drehen, lass mich das nur machen. Das kriegen wir schon hin.«

Doch ihr Entschluss stand fest. Es ging gar nicht darum, alles unter einen Hut zu bringen.

»Mein Gott, Heike. Willst du etwa Infoveranstaltungen in Schulen abhalten? Oder in Seniorengruppen zum Thema Einbruchsprävention?«

»Ich …« Der Blick, den sie mit Martin wechselte, brachte viel zum Ausdruck: lange Diskussionen, spätabends, wenn die Kinder im Bett waren, viel zu vertraute Streitereien, die immer wieder aufflammten, und gegenseitige Beschuldigungen, die keiner mehr ertragen konnte. Und schließlich eine Entscheidung, die getroffen werden musste.

»Der Job ist zu gefährlich«, stellte sie fest. »Ich habe zwei kleine Kinder, und jetzt bin ich schon wieder schwanger. Da trage ich Verantwortung. Ich muss einer Arbeit nachgehen, bei der meine Familie sicher sein kann, dass mir nichts passiert.«

»Aber was soll denn passieren? Wir arbeiten doch nicht in der Bronx. Ich meine …«

»Es ist entschieden. Tut mir leid, ich wollte es dir wirklich nicht heute Abend sagen.«

Hambrock verspürte einen Stich, aber das wollte er sich nicht anmerken lassen. Er nickte bedächtig.

»Also gut«, sagte er. »Dann ist es so.«

Sie lächelte gequält. »Jetzt hab ich wohl unseren Abend versaut.«

»Wie lange willst du denn noch bleiben? Gilt der Entschluss ab sofort, oder wartest du bis nach der Geburt?«

»Ich habe mir gedacht …«

Weiter kam sie nicht. Hambrocks Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display und lächelte bitter: Es war die Einsatzleitung. Die hatten wahrlich ein Gespür für Timing. Er blickte auf und sagte: »Arbeit.« Dann nahm er das Gespräch entgegen.

Die Kongresshalle bot bei Nacht ein völlig verändertes Bild. Lichtsäulen ließen die Front erstrahlen, da waren leuchtende Springbrunnen und überall spiegelndes Glas. Keine Spur von dem grauen Industriegelände, das tagsüber das Bild prägte. Parkplätze, Produktionshallen, Speditionsgebäude, das alles wurde von der Dunkelheit geschluckt, und übrig blieb nur das Lichtspiel vor der Halle, das Schönheit und Prunk vorgaukelte.

Vor dem Haupteingang standen Streifenwagen, der Widerschein ihrer Blaulichter huschte lautlos über das regennasse Pflaster. Absperrbänder waren angebracht, die Spurensicherung und der Notarztwagen schon vor Ort. Eben der ganze fahrende Zirkus, der überall dort seine Zelte aufschlug, wo ein Mensch gewaltsam ums Leben gekommen war.

Heike steuerte ihren Wagen auf den Vorplatz und stellte den Motor ab. Hambrock war froh, der Enge des Autos zu entkommen. Während der Fahrt hatten sie kaum ein Wort gesprochen, zu viel hing ungesagt in der Luft. Laut Vorschrift hätte er sie gar nicht mitnehmen dürfen. Er war immer noch ihr Vorgesetzter, und mit Kenntnis ihrer Schwangerschaft hätte er sie erst einmal vom Dienst befreien müssen, so lange, bis der Polizeiärztliche Dienst Stellung genommen hätte. Aber sie hatte darauf bestanden mitzukommen, und er war schließlich einverstanden gewesen.

Eine Streifenpolizistin empfing sie auf dem Vorplatz. Es war eine junge schlanke Frau – eine dieser typischen Tussis, dachte Hambrock, die im mittleren Dienst überall zu finden waren. Geschminkt bis zum Gehtnichtmehr und die blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Er hatte nie verstanden, was solche Frauen dazu bewog, zur Polizei zu gehen. Sie mussten doch wissen, dass es hauptsächlich um Kneipenschlägereien und häusliche Gewalt ging. Darum, sich durchzusetzen und nicht klein beizugeben.

»Herr Hambrock?«, fragte sie mit erwartet piepsiger Stimme. Er nickte. »Kommen Sie mit, ich bringe Sie zum Fundort.«

Sie führte Heike und ihn ins hell erleuchtete Foyer, einen riesigen Bereich, der sich über zwei Ebenen erstreckte. Alles in hellen Farben gehalten, perfekt für einen Sektempfang. Der Tote lag im Zentrum des Foyers unterhalb einer Empore. Als wäre ihm im Sterben klar geworden, dass er hier bald die Hauptattraktion sein würde und sich deshalb auch entsprechend zu platzieren hatte.

Hambrock blickte zur Empore hinauf. Offenbar war er von dort oben herabgestürzt und hatte sich dabei die Schulter ausgekugelt. Sein Arm lag unnatürlich abgewinkelt da, das Gesicht war abgewandt und nicht zu erkennen. Eine Blutlache hatte sich um seinen Kopf ausgebreitet, die an einen düsteren Heiligenschein erinnerte.

Guido Gratczek, Mitglied von Hambrocks Ermittlungsgruppe, verabschiedete gerade den Notarzt, als Heike und er den Fundort erreichten. Trotz des unerwarteten Einsatzes war er perfekt gekleidet. Hambrock hatte ihn noch nie in Freizeitkleidung gesehen. Ob der so etwas überhaupt besaß? Vielleicht war Gratczek ja auch von einer Abendveranstaltung hergeholt worden und nicht wie die meisten von der häuslichen Couch.

»Was haben wir?«, begrüßte Hambrock ihn.

»Einer der Wachleute hat ihn gefunden. Die drehen hier mehrmals am Abend die Runde. Wie es aussieht, ist er von dort oben heruntergestürzt. Die vorläufige Diagnose ist Genickbruch. Mal sehen, was die Obduktion ergibt.«

»Fremdeinwirken?«

»Möglich.«

»Haben wir seine Identität?«

»Nein. Er trug nichts bei sich.«

»Wie kommt der überhaupt hier rein?«, wollte Heike wissen. »Gehört der zum Personal?«

Bevor Gratczek antworten konnte, trat die blonde Streifenpolizistin auf Hambrock zu. »Entschuldigen Sie, aber ich denke, ich kann Ihnen die Identität des Toten nennen. Er heißt Matthis Röhrig.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Hambrock.

»Reiner Zufall. Die Alarmanlage war ausgeschaltet. Wir vermuten, dass er den Code gekannt hat. Die Wachmänner meinten, er sei keiner der festen Mitarbeiter der Kongresshalle. Deshalb habe ich mir beim Pförtner die Liste mit den Externen angesehen, den Leuten vom Cateringservice und vom Sicherheitsdienst, und habe die Namen per Funk durchgegeben, nur für alle Fälle. Die Kollegen sollten sie mal durchs Vorstrafenregister laufen lassen. Na ja, es gab einen Treffer.« Sie zog ein paar Papiere hervor. »Sie haben mir dieses Foto in den Streifenwagen gefaxt. Es muss der Tote sein: Matthis Röhrig.«

Sie reichte Hambrock die Blätter. Obenauf das ausgedruckte Polizeifoto, dahinter die Kurzfassung seiner Akte. Hambrock blickte die Polizistin verwundert an.

»Wir waren als Erste vor Ort«, sagte sie. »Das habe ich gemacht, bevor Sie eingetroffen sind. Wie gesagt, reiner Zufall.«

»Das war kein Zufall«, sagte er. »Das war methodische Polizeiarbeit. Vielen Dank.«

Sie nickte und kehrte zurück zu ihren Kollegen. Der blonde Pferdeschwanz wippte dabei über ihrer Uniform.

Hambrock huschte ein Lächeln übers Gesicht, dann wandte er sich seinen Kollegen zu. »Matthis Röhrig also. Das wissen wir schon mal. Die Alarmanlage war abgestellt?«

»Richtig. Allerdings sind wir noch nicht ganz sicher, wie er das gemacht hat. Dazu müsste er nicht nur den Code für den Alarm gehabt haben, sondern auch noch einen Schlüssel. Denn sobald gewaltsam eingedrungen wird, geht die Anlage los. Dann ist es zu spät, sie abzuschalten.«

»Und ihr habt keinen Schlüssel bei ihm gefunden?«

»Wir haben gar nichts bei ihm gefunden. Nicht einmal eine Taschenlampe. Ganz so, als hätte einer ihm alles abgenommen.«

»Du meinst, ein zweiter Einbrecher? Ein Komplize?«

Gratczek hob die Schultern. »Ob das ein Komplize war, sei dahingestellt. Ein Kellerfenster ist eingeschlagen worden. Wenn Matthis Röhrig durch den Keller eingedrungen ist, hätte er damit den Alarm ausgelöst. Also gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder hat er mit dem Pförtner oder sonst jemandem aus der Halle zusammengearbeitet, der den Alarm ausgeschaltet hat. Dann wäre allerdings die Frage, warum dieser Pförtner ihn nicht gleich zur Tür reingelassen hat. Oder …«

»… ein zweiter Einbrecher ist eingestiegen, als Röhrig den Alarm bereits abgestellt hatte.«

Gratczek nickte. »Sieht ganz so aus.«

»Wir sollten uns das Personal näher ansehen. Wer hätte die Möglichkeit gehabt, den Alarm abzustellen, um Matthis Röhrig den Weg zu bahnen? Vielleicht kommen wir so weiter.«

Heike mischte sich ins Gespräch. »Aber hier gibt’s doch eigentlich gar nichts zu holen, oder?«

»Im Grunde nein«, meinte Gratczek. »In der Verwaltung liegt wohl ein bisschen Bargeld, aber das ist kaum der Rede wert. Außerdem scheint nichts zu fehlen. Wenn das zerschlagene Kellerfenster nicht wäre, sähe alles aus wie immer.«

»Was ist mit Fingerspuren?«, fragte Heike.

»Am Geländer oben haben wir schon welche gefunden. Mal abwarten, was sich daraus ergibt.«