DENNY N. DWIGHT
ECONOMIC CREATURES
BUCH EINS - EINE GESCHICHTE ÜBER DIE UNTOTEN
1. Ausgabe 2022
© / Copyright: 2022 Denny N. Dwight
Verlag: Freeze Verlag
Originaltitel: Economic Creatures – Buch eins - Eine Geschichte über die Untoten
Titelfoto: Denny N. Dwight
Umschlaggestaltung, Illustration: Denny N. Dwight
Lektorat (Logikfehler): Valeska Harrer, Tim Donart, Sebastian Kroker, Isabel Hofer
Lektorat (Rechtschreibung und Grammatik): Valeska Harrer, Dieter Holubek, Michaela und Wilko Wulbrand
Dennis Nowakowski
Dinnendahlstr. 43
46145 Oberhausen
E-Mail: d.nowakowski@hotmail.de
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Der Schweiß rann mir aus allen Poren, als ich den Wald durchquerte. Die Dunkelheit erschwerte mein Vorankommen und regelmäßig peitschten mir kleine Äste durch das Gesicht, welche mir die Haut aufrissen. Langsam machten sich die Schmerzen breit, die ich von meinem ersten Kampf mit der Kreatur davon getragen hatte. Mein Gesicht schmerzte von dem schnellen Hieb, den sie mir bewusst oder auch unbewusst verpasst hatte. Wenigstens blutete ich nicht mehr aus der Nase, weil es mittlerweile angetrocknet und eingefroren war. Der verdammte Schnee fiel unablässig vom Himmel, nahm mir teilweise die Sicht, obwohl ich die Silhouetten der zahlreichen Untoten gut erkannte, an denen ich vorbeihuschte. Einige Male stolperte ich über Äste, Steine oder tote Baumstümpfe, weil da dieser verfluchte Nebel wie ein weißer Teppich über dem Boden waberte und mir die Sicht nach unten nahm. Zum Glück fing ich mich jedes Mal wieder und setzte meinen Lauf unbeschadet fort. Doch mit jedem Schritt konnte sich das Blatt zugunsten meines Gegners wenden. Wenn ich mir jetzt ein Bein brach oder mich anderweitig verletzen würde, wäre es aus mit mir. Erstaunlich welche Streiche mir das Wetter in den letzten Monaten gespielt hatte. Wovor ich davon rannte, wusste ich selbst nicht genau, auch wenn ich dieser Kreatur bereits begegnet war und einiges gehört hatte. Sie holte auf und kam Stück für Stück immer näher. Von einer gewissenlosen Bestie quer durch das Unterholz gejagt zu werden, ist eine einschneidende Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Bislang war ich stets die treibende Kraft und nicht das Opfer, weshalb mich diese Situation in doppelter Hinsicht ankotzte. Hatten sich die Leute so gefühlt, bevor ich ihnen das Leben nahm? Von der eigenen Medizin zu kosten, schmeckte mir ganz und gar nicht und irgendwie hinkte der Vergleich auch. Ich hatte nie aus Willkür oder Rache gemordet. Ich war eben ein Opfer der, sagen wir mal, Umstände, führte Befehle aus, oder musste mich einfach meiner Haut wehren. Nein, die Situation, in der ich mich befand, war das Werk skrupelloser Mächte, die nichts für die Menschheit übrig hatte. Sie schufen etwas, das an Grausamkeit kaum zu überbieten war und die Welt ins Elend stürzte. Eine Kreatur, die uns infizierte, uns verwandelte und zu etwas machte, was jedem Alptraum spottet. Sie machte uns zu etwas ohne Gewissen, ohne Furcht oder Empathie, dafür aber mit einem unablässigen Appetit auf Fleisch. Ein zunächst schleichender Prozess, dem man zu Beginn keine große Beachtung schenkte und schließlich die Quittung bekam. So etwas passiert Gott sei Dank nur den Anderen, schwirrt es seit jeher in den Köpfen der Menschen herum. Nicht nur auf die gegenwärtigen Umstände bezogen, nein, auf alles, was unser perfektes Dasein stören konnte. Kriege interessierten niemanden, wenn sie nur weit genug weg waren. Das eigene Leben wurde so ausgeschmückt, wie wir es brauchten und auch wollten. Vorgegaukelt von Leuten, denen es nie an etwas mangelte, die nie Hunger litten oder von Verlust geplagt wurden. Die, die uns erzählten, worauf es im Leben ankam, aber nicht einen Tag hart für ihren Luxus arbeiten mussten. Diejenigen, die uns mit ihrem falschen Lächeln aus der Mattscheibe angrinsten und vorgaukelten, was richtig und was falsch war. Sie waren es, die uns moralische Werte über Menschen und deren Rechte einhämmerten, aber selbst über Leichen gingen. Die, die uns erzählten, es sei alles in Ordnung, während sie die eigene Bevölkerung unterdrückten, in Kriege führten oder schlimmer noch, den Krieg, Armut und Hunger zu uns brachten. Doch das Highlight unserer systematischen Ausrottung war der „Eine“.
Dieses Wesen, das mich gerade durch den nie enden wollenden Wald hetzte. Um ehrlich zu sein, ich hatte es mir so ausgesucht. Bescheuert, wenn ich so darüber nachdachte. Wer springt schon freiwillig ins Haifischbecken und ritzt sich vorher noch ins Fleisch? Warum ich mir das antue, fragte ich mich selbst. Nachdem die Welt den Bach runtergegangen war, gab es, abgesehen vom eigentlichen Überlebenskampf und der Nahrungssuche, keine wirklichen Ziele mehr, die man verfolgen konnte. Vielen fiel das Überleben schwer genug, weil es keine Einkaufszentren und Burgerketten mehr gab. Die Menschen erkannten erst jetzt ihre Abhängigkeit von den Konzernen, die sie krank und unselbstständig dahin vegetieren ließen. Da sie Medien konsumierten, die sie immer dümmer machten, sich in sozialen Netzwerken trafen, die ihnen Freundschaften suggerierten. Der Urinstinkt des Jägers, des Individuums, wurde uns schon vor sehr langer Zeit genommen. Wir wurden zu unfähigen Massenkonsumenten herangezüchtet, die nicht denken sollten und irgendwann zur Schlachtbank geführt werden. Mich schlachtet niemand ab. Ihr könnt es gerne versuchen, doch freiwillig lege ich mich nicht aufs Schafott. Schon gar nicht für diese verdammte Kreatur, die mir so dicht auf den Fersen war, dass ich glaubte, ihren Atem im Nacken zu spüren. Dieses Wesen veranlasste mich dazu, einem ruhigen und vielleicht sogar langen Leben den Rücken zu kehren, keine Rücksicht auf meine Sicherheit zu nehmen und mein neues Zuhause zu verlassen. Wie viele Seelen gehen auf dein Konto? Du magst nicht wie die sein, die du gebissen und zur Verdammnis verurteilt hast, aber du bist auch nicht so schlau wie ein Mensch. Ich erwische dich noch und dann mach ich dich fertig. Du wirst niemandem mehr dein Gift in die Adern pumpen und wehrlose Menschen in reißende Bestien verwandeln. Das Ende des Waldes lag unmittelbar vor mir. Jetzt bloß nicht stolpern. Nicht jetzt. Ich drosselte mein Tempo nach und nach, bis ich zum Stehen kam. Die Hände auf meine Oberschenkel gestützt, rang ich nach Luft und sah mich einige Sekunden aufmerksam um. Ein schauriges Szenario, wie ich es noch aus alten Gruselfilmen kannte, die mir mein Vater immer gezeigt hatte. Ich liebte diese Streifen und auch diese unnatürliche Angst, die mich dabei überkam. Die Wirklichkeit, hier und jetzt, machte mir keine Angst. Den kleinen Jungen von damals, der bei Dunkelheit nicht einschlafen konnte, gab es schon lange nicht mehr. Nur noch wenige Meter bis zum Rand des Waldes. Dahinter erstreckte sich eine Lichtung in der Größe eines Fußballfeldes, die seltsamerweise nicht so zugeschneit war wie der Rest der Gegend. Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken, ließ mich herumfahren. Nur Dunkelheit, Äste, Baumstämme und diese gespenstische Stille. Kurz huschte etwas durch den Nebel und warf einen langen Schatten quer über das glitzernde Weiß des Waldbodens. Ich machte kehrt und rannte über das Feldstück, welches ziemlich abrupt an einem steilen Abhang endete. Ich blickte hinab, konnte den Boden nicht sehen und dachte tatsächlich kurz darüber nach, den Sprung zu wagen. Doch mein Überlebenswille siegte. Selbst die Spitzen der hochgewachsenen Bäume waren allenfalls zu erahnen, da der dichte Nebel sie umschloss wie ein gigantischer Mantel. Rambo konnte wenigstens noch sehen, was ihn erwartet, als er sich von der Steinwand löste und in die Tiefe mitten in den Baum sprang.
Völlig durchnässt stützte ich mich mit den Händen auf meinen Oberschenkeln ab. Gierig schnappte ich nach Luft und atmete dampfend wieder aus. Meine Lungen brannten wie Feuer. Hoffentlich hatte der Schnee meine Spuren nicht verwischt, schoss es mir durch den Kopf. Nein, ich machte mir nichts vor. Er würde mich schneller finden, als mir lieb war. Er musste mich einfach finden. Es war etwas Persönliches, das es endgültig zu klären galt. Geräusche ertönten aus dem Wald, der wie ein riesiger drohender Schatten vor mir lag und ließen mich aufhorchen. Ich hörte auf zu atmen, blickte suchend nach rechts und nach links. Einige Sekunden herrschte eine eisige Stille. Dann sah ich ihn. Langsam schälte sich seine Gestalt aus dem dunklen Wald und blieb regungslos stehen. Die Nacht, der fallende Schnee und der nebelige Wald hinter ihm ließen ihn unwirklich erscheinen. Groß, schlaksig, lange Haare und Klauen, die einen in Stücke reißen konnten. Er stand einfach nur regungslos da, genau wie vor wenigen Minuten, als wir das erste Mal aufeinander trafen und kämpften. Auch wenn ich seine Augen nicht sah, spürte ich den kalten Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Die Arme nach vorne baumelnd, in einer leicht buckeligen Körperhaltung, so stand er da und taxierte mich eine halbe Ewigkeit. Ich entledigte mich meiner dicken Jacke und dem Rollkragenpullover, die mich bei meinem Vorhaben behindert hätten und spürte unverzüglich die eisige Kälte, die nach der Wärme meines Körpers griff. Zumindest war ich jetzt wieder wach, erfrischt und zu allem bereit. Nun gab es kein Entkommen mehr, weder für mich noch für ihn. Nach und nach tauchten weitere Silhouetten hinter ihm auf, schälten sich aus dem Nebel und taumelten direkt auf mich zu. Zunächst kamen sie noch vereinzelt, doch schnell stieg ihre Zahl auf über dreißig, soweit ich es beurteilen konnte. Seine Armee der stumpfsinnigen Untoten, die er gar nicht zu befehligen braucht. Auch wenn ich ihm lange diese Gabe unterstellt hatte, um die Welt weiterhin ins Chaos zu stürzen. Das Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals und die Speicheldrüsen versagten ihren Dienst. Übelkeit stieg in mir auf und meine Hände begannen zu zittern. Ich kam mir vor wie Arnold in Predator, als er dem Monster endlich Auge in Auge gegenüber stand und dann erst einmal mächtig Prügel bezog, bevor ihm der Zufall einen Wink gab und somit den Arsch rettete. Auf solch einen Zufall konnte ich gerade nur hoffen. Ich hatte keine Schusswaffen mehr und auch mein Messer lag weit entfernt, irgendwo im Schnee. Trotz der kleinen Überraschung, die ich versteckt in meiner Beintasche trug, kamen mir für einige Herzschläge Zweifel an meinem Vorhaben. Hatte ich mich dieses Mal vielleicht doch überschätzt? Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um die Pros und Kontras abzuwägen, in die ich mich mit meiner großen Klappe selbst hinein manövriert hatte. Er wirkte nun irgendwie größer und bedrohlicher, als noch vor einigen Minuten.
Abrupt und mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, stürzte die dunkle Gestalt plötzlich auf mich zu. Zuerst auf zwei Beinen, mit kurzen, schnellen Schritten. Dann immer mehr auf allen Vieren, wie ein tollwütiges Tier, das sich die sicher geglaubte Beute auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Knapp dreißig Meter trennten uns noch voneinander. Mit jedem Sprung und jedem Meter wurde die Kreatur schneller, glich einem heranrasenden Wolf im Blutrausch. Nur zielstrebiger, aggressiver und unberechenbarer. Jedes Mal, wenn er den schneebedeckten Boden berührte, wich der Nebel, der dem wabernden Dampf einer mit heißem Wasser gefüllten Badewanne glich, zur Seite, als wenn selbst die Natur diese Kreatur fürchtete und freiwillig den Weg räumte. Noch fünfzehn Meter. Es schien seltsam, aber mit jedem Meter, den er sich näherte, wurde ich ruhiger. Die Hände zitterten nicht mehr, mein Puls war beinahe im Ruhezustand. Ein letzter verträumter Blick zum wolkenverhangenen Mond, der nun wie eine gigantische Glühbirne über dem Szenario hing und diese kalte Nacht in ein dunkles Grau-Blau färbte. Ich griff in meine Beintasche und holte die einzige Waffe hervor, die mir jetzt noch das Leben retten konnte. Ich hatte keine Angst. Mein Körper war vollgepumpt mit Adrenalin, die Muskeln zum Zerreißen gespannt und mein Fokus lag einzig und allein auf ihm. Ich hatte noch nie einen Kampf verloren und würde auch dieses Mal nicht scheitern. Mit diesen Gedanken startete auch ich meinen Spurt, unmittelbar auf meinen Widersacher zu.
«Komm nur, du Bastard.», entfuhr es mir.
Ich wünschte, ich könnte berichten, der Retter der Menschheit zu sein, doch leider ist dem nicht so. Ich bin weder ein kluger Wissenschaftler, der ein Gegenmittel gegen dieses, nennen wir es mal Virus, entwickelt hat, noch hatte ich irgendeine Idee wie man dieses stoppen konnte. Ich bin kein Genie, besitze keine Superkräfte und hatte auch keine speziellen Waffen. Mich erwischte dieses ganze Weltuntergans-Szenario genauso überraschend wie jeden anderen auf unserem Planeten. Oder sollte ich besser sagen, die, die es überraschen sollte. Was uns passierte war kein Zufall, auch wenn unsere Staatsoberhäupter und deren Medienvertreter uns das Glauben machen wollten. Die Illusion des Zufalls wurde den Menschen zu lange in die Köpfe gehämmert, weshalb alle an ein Unglück glaubten, dessen Ausmaße weder vorherzusehen noch zu kontrollieren waren. Die Verantwortlichen dieser Tragödie lehnten sich zurück und betrachteten das Spektakel aus sicherer Entfernung, wie sie es seit jeher taten. Wie ich es schaffte, solange in der neuen Welt zu überleben, ist kein Geheimnis und erfüllt mich auch nicht sonderlich mit Stolz. Ich war ein egoistischer Einzelgänger, dem das Wohl seiner Mitmenschen am Arsch vorbeiging. Interessierte es irgendjemanden wie es mir ging, was ich erlebt und durchgemacht hatte? Nein, das tat es nicht. Also machte ich den gleichen Fehler wie Millionen andere Menschen auch. Ich ignorierte den Rest der Welt und konzentrierte mich auf meine Probleme, die nie wirklich welche waren. Verglichen mit dem Elend in anderen Ländern ging es uns eine ganze Zeit lang sehr gut. Die Isolation vom Rest der Gesellschaft vernebelt die Wahrnehmung, wie ich bald bemerken musste. Irgendwann neigt man dazu, alles von einem Podest aus zu beurteilen und keine andere Meinung mehr zuzulassen. Es ist leicht, Richter und Henker zu spielen, wenn niemand da ist, der einem widerspricht.
Vor kurzem war ich noch Insasse Nummer 187 im Strafgefangenenlager der Kolonie 56. Sieben Autostunden fernab der nächsten Zivilisation und tief in einem Waldgebiet Russlands. Dort befand sich dieses ehemalige Hochsicherheitsgefängnis. Nur Eingeweihte kannten den exakten Standort, da sonst die Fluchtversuche überhandgenommen hätten. Es hatte den Charme eines Arbeitslagers aus dem Zweiten Weltkrieg. Doppelt gesicherte Drahtzäune, die am oberen Ende mit Stacheldraht versehen waren, schlossen das Gelände ein. Vier hohe Wachtürme mit schwer bewaffneten Wärtern rundeten das harmonische Gefängnisbild ab. Mauern waren dort nicht nötig.
Einst tummelten sich dort 260 verurteilte Straftäter, auf deren Konto über achthundert Morde gingen. Viele warteten lange Zeit auf ihre Hinrichtung, bis 1996 die Todesstrafe in Russland abgeschafft wurde. Somit wurden ihre Strafen in fünfundzwanzig Jahre Haft umgewandelt. Die Lebenslänglichen saßen im Hochsicherheitstrakt, in Ein- oder Zweimannzellen, der Rest lebte in einem großen Gemeinschaftstrakt. Es herrschten klare Regeln und Hierarchien unter den Gefangenen. Im Winter konnten die Temperaturen auf bis zu minus vierzig Grad Celsius sinken, was hin und wieder Opfer forderte. An eine Flucht, ohne Hilfe von außen, war nicht zu denken. Selbst wenn es jemand aus dem Lager heraus geschafft hätte, nach spätestens einer Stunde wäre er zu einem Eis am Stiel gefroren oder wilde Tiere wären der Kälte zuvor gekommen. Meine Sträflingsnummer gaben mir die Vollzugsbeamten. Es handelte sich um eine Zahl aus dem kalifornischen Strafgesetzbuch, dem Paragrafen für Mord. Sehr lange Zeit starrte ich die Mauern in Einzelhaft an, nachdem ich mich dreier Sowjets entledigt hatte, die mir unter der Dusche auflauerten. Trotz diverser Narben und Schürfwunden gelang es mir, die Angreifer auszuschalten. Keine unübliche Geschichte hinter diesen Mauern. Doch die Wärter, die gerne mal beide Augen fest zudrückten, waren verdutzt, da es sich um alteingesessene Häftlinge handelte, die skrupelloser nicht hätten sein können. Bei Ivan, ein Name der nicht typischer hätte sein können, handelte es sich um den Anführer einer dreiköpfigen Gruppe, die regelmäßig Frischlinge vergewaltigten. Ein Hüne von einem Kerl, dem man besser nichts abschlug, wenn man an seinem Leben hing. Ich hatte mich mit dem Kopf an den gelben, leicht spiegelnden Fliesen angelehnt und fühlte das wohlig warme Wasser, das mir auf den Nacken spritzte und an meinem Rücken, über die Beine, bis runter zu den Füßen lief. Der Chlorgeruch des Reinigungsmittels, womit sie täglich die Duschen und Toiletten putzten, beleidigte seit einigen Minuten meinen empfindlichen Geruchssinn. Ich hörte sie bereits auf dem Flur, der zu den Gemeinschaftsduschen führte. Ich wusste, dass sie kamen, um mich in die Mangel zu nehmen und mir ihre Regeln aufzuerlegen, um meine körperliche Unversehrtheit zu garantieren. Die Tür wurde geöffnet und meine Sinne schärften sich. Sie waren zu dritt, mit Handtüchern um ihre Hüften geschwungen und auf billigen, zerfransten Badelatschen. Sie kamen direkt auf mich zu, sprachen irgendwas auf Russisch und lachten verächtlich. Die matte Spiegelung der Fliesen war ein nützlicher Faktor. So sah ich, wie sie sich hinter mir positionierten. Ein Halbkreis, aus dem ein Entkommen unmöglich schien, wenn man so dumm war, eine direkte Flucht zu bevorzugen. Drei glatzköpfige Kerle mit langen rauschenden Bärten und jeder Menge Knast-Tattoos. Sie waren sich ihrer Sache sicher und brachten die Lässigkeit einer eingespielten Routine mit, die sie wahrscheinlich dutzende Male durchgezogen hatten. Ivan sagte irgendetwas auf Russisch, was sich nicht freundlich anhörte. Ich drehte das Wasser ab, umklammerte mein Handtuch, in dem ich zuvor ein großes Stück Seife gewickelt hatte und schlug hart zu, während ich mich zu ihnen umdrehte. Der erste Schlag, ein Bilderbuchtreffer mitten in Ivans Gesicht, nahm ihm zunächst die Orientierung. Ebenso seinen Freunden, die mit der plötzlichen Attacke nicht gerechnet hatten. Sie verloren das Gleichgewicht, rutschten aus ihren Badeschuhen und klatschten auf den harten Boden. Diese glitschigen Badelatschen gingen mir von der ersten Sekunde an auf den Geist, weshalb ich mich ihrer entledigt hatte. Diese Unachtsamkeit sollte meinen Widersachern nun zum Verhängnis werden. Dann umklammerte ich Ivans Nacken, der sich noch immer die Hände vor das Gesicht hielt, und stieß ihm mit voller Wucht mein Knie in die Weichteile. Nach einem tiefen Schrei griff er sich zwischen die Beine und kippte seitlich weg. Blut strömte aus seiner Nase und tropfte auf den Fliesenboden. Seine Schergen wollten sich gerade wieder auf die Beine rappeln, als ich ihnen abwechselnd das Handtuch mit der Kernseife um die Ohren schlug. Schnelle, harte Schläge vor den Schädel rauben auch dem zähsten Gegner irgendwann das Bewusstsein. Mit besten Grüßen von Private Paula schoss es mir dabei durch den Kopf.
Ich war bereits auf dem Weg zur Tür, glaubte, meinen Standpunkt unmissverständlich vertreten zu haben, als die drei wieder aufstanden und mich hasserfüllt ansahen. Allen tropfte Blut aus der Nase und ihre Gesichter sahen schon ziemlich ramponiert aus. Dann gingen sie brüllend auf mich los. Aus Glasscherben gefertigte Messer, weiß der Teufel woher sie die plötzlich hatten, gehörten in diesen Gemäuern zum guten Ton. Diese sollte ich nun zu spüren bekommen. Es waren unkoordinierte Hiebe, von denen die meisten ihr Ziel verfehlten. Die, die mich erwischten, fügten mir nur unbedeutende Schnittwunden zu. Dennoch, sie brachten mich in Rage. Dem ersten, den ich zu fassen bekam, drückte ich die faustgroße Seife in den Mund und schlug mit der Handfläche so hart nach, dass sie sich in seinem Hals verkeilte. Mit weit geöffneten Augen starrte er mich an, während er verzweifelt versuchte, die Seife wieder herauszupressen. Ivans zweitem Lakaien trat ich das Schienbein durch und schlug ihn mit dem Kopf so hart an die Wand, dass die Fliesen brachen. Blutüberströmt sackte er zu Boden. Kurz blickte ich über die Schulter und sah noch wie sein Kumpel umfiel, dem beim Aufprall Seifenblasen aus dem Mund strömten. Übrig blieb der glatzköpfige Ivan, der sich erneut vor mir aufbäumte und noch immer glaubte, mich mit seinen Muskelbergen beeindrucken zu können. Weit holte er mit der rechten Faust aus, um sie mir am Kinn zu platzieren. Während er ausholte hätte ich locker eine Zigarette rauchen können. Die Muskeln machten ihn so langsam, dass ich mir in Ruhe überlegen konnte, wie ich ihn zur Strecke bringe. Ein weiterer Tritt in die Weichteile beendete auch diese Attacke und er ging vor mir in die Knie.
«Nächstes Mal mache ich Ernst.», entfuhr es mir überheblich, als ich ihm mein Knie in die Visage hämmerte und somit endgültig ausknockte. Sie überlebten, mussten jedoch in eine spezielle Klinik ausgeflogen werden. Die Wachen und auch der Gefängnisdirektor taten die Angelegenheit als eine gewöhnliche Schlägerei ab, da sie sich keinen unangenehmen Fragen aussetzten wollten, die eine eventuelle Vergewaltigung durch drei Insassen beinhaltete. Erstaunlich, was eine solche Aktion bei den Mithäftlingen und den Wärtern bewirkte. Niemand kam mir mehr krumm, bis auf den einen Bengel, der meinte mich hinterrücks beim Abendessen attackieren zu müssen. Mit einem Würgedraht wollte er mir den Garaus machen. Die Wahl seiner Waffe war mehr als dumm. Inmitten von anderen Häftlingen und den Wachen wollte er mich langsam strangulieren. Keine wirkliche Zugkraft, keinen festen Stand. Mit einem Schwamm hätte er mehr Schaden angerichtet. Noch bevor jemand eingreifen konnte, lag der Bursche tot am Boden. Vielleicht hätte ich ihn verschont, wenn er mich nicht so feige von hinten angegriffen hätte. Ein Essenstablett, das bevorzugte Mordinstrument in zahlreichen Knastfilmen, ist vielseitig verwendbar und hinterlässt böse Verletzungen. Man konnte die Angst der anderen Insassen förmlich riechen, als ich in Seelenruhe versuchte, mir eine neue Portion zu holen. Die Wachen streckten mich mit Elektroschockern nieder. Später, in Einzelhaft, erfuhr ich, dass es sich bei dem Angreifer um Ivans Sohn handelte, der gemeinsam mit seinem Vater eingefahren war und nun Rache für seinen Vater üben wollte. Ein ungeschickter Bengel, der nur wegen seines alten Herrn so lange überlebt hatte. Mörder in der zweiten Generation, in ein und demselben Knast. Was für eine verkorkste Welt. Niemanden interessierte es, was sich hinter diesen Mauern abspielte. Die Genfer Konvention hatte in der Kolonie 56 keine Gültigkeit. Über Amnesty International wurde laut gelacht. Der perfekte Ort um Menschen verschwinden zu lassen. Die Zeit würde ihr Übriges tun, damit sie in Vergessenheit gerieten.
Mein Vater kam ursprünglich aus Detroit, Michigan und lernte auf einer Geschäftsreise in Berlin meine Mutter kennen. Er holte sie schnell von meinem Großvater weg, der ein übler Säufer und Tyrann gewesen war, und flog mit ihr in die Vereinigten Staaten. Natürlich nicht, ohne meinem Großvater ein Andenken, in Form einer gehörigen Abreibung, dazulassen. Kurz darauf, im August 1998 erblickte ich das Licht der Welt und wurde auf den Namen Hartmuth Edward Mora getauft. Doch seit ich denken kann, nannte mich alle Welt nur Hardy. Mein Vater war ein fürsorglicher Mann, dem das Wohl der Familie am Herzen lag. Er war ständig unterwegs, um Geld zu verdienen. Manchmal war er für mehrere Monate wie vom Erdboden verschluckt, was meine Mutter an den Rand des Wahnsinns trieb. Sie weinte regelmäßig, aus Sorge um ihren verschollenen Mann. Von Handys hielt mein Vater nichts und war dementsprechend schwer zu erreichen. Meine Eltern fielen sich jedes Mal überglücklich in die Arme, wenn er wieder nach Hause kam. Als ich älter wurde, fragte ich meine Mutter, welcher Arbeit mein Vater nachging, die ihn regelmäßig und so lange von seiner Familie trennte. Sie zuckte stets mit den Schultern und meinte, dass er irgendwas mit Wasserrädern zur Energiegewinnung zu tun hatte und er deshalb auf der ganzen Welt unterwegs sei. Wenn ich etwas Positives über meinen alten Herrn berichten soll, wenn er denn mal Zuhause war, dann, dass er mir das Verständnis für Filme näher brachte. Speziell die Actionfilme der achtziger Jahre, wie „Stirb langsam“ oder „Lethal Weapon“, hatten es ihm angetan. Ebenso die schwarz-weiß Monster Gruselfilme der frühen fünfziger Jahre. Jack Arnold, ein brillanter Regisseur seiner Zeit, war der persönliche Held meines Vaters. Etwas wofür ich ihn tatsächlich bewunderte, war die Tatsache, dass er vor nichts und niemandem Angst hatte. Er war einsachtzig groß, drahtig und machte den Eindruck eines Kämpfers, der sich von niemandem unterkriegen ließ. Keiner wagte es, sich mit meinem Vater anzulegen. Wenn doch, sah es schlecht für ihn aus. Es schien so, als würde er über den Dingen stehen, sich von nichts aus der Ruhe bringen lassen und alles meistern, was er sich vornahm.
Ich hingegen, wurde auf dem Schulhof herumgeschubst, kam regelmäßig mit Schürfwunden oder Blutergüssen nach Hause. Meine Mutter war eine sehr gleichmütige Frau und sah nur das Gute in den Menschen, was meinen Vater hin und wieder aus der Fassung brachte. Doch er machte keine große Sache daraus und hoffte, dass ich eines Tages lernen würde, mich meiner Haut zu wehren. In vielen Gesprächen, die Väter ab einem bestimmten Zeitpunkt mit ihren Söhnen führen, wies er mich darauf hin, mir nie etwas gefallen oder wegnehmen zu lassen. Ich sei schließlich sein Sohn, der von seinen Fähigkeiten noch nichts ahnte. Sein Blut würde in meinen Adern fließen und mich zu etwas Besonderen machen. Zu jemandem, der seine Ziele mit aller Härte verfolgte und sich von niemanden aufhalten ließ, genau wie er. Es waren aufbauende Worte, denen ich als Kind und Heranwachsender nicht viel Bedeutung schenkte, obwohl sie ihre Wirkung nicht verfehlten. Kurz darauf wehrte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben und verprügelte vier Mitschüler, die mir zum wiederholten Mal an die Wäsche wollten. Die Tatsache, dass sie alle wesentlich älter waren, juckte mich nicht. Meine Mutter machte ein Riesentheater aus der Angelegenheit, beschuldigte meinen Vater, mir diese Flausen in den Kopf gesetzt zu haben und dass dies nicht der richtige Weg sei, um Konflikte aus der Welt zu schaffen. Es war das erste Mal, dass ich meine Eltern streiten hörte. Kurz darauf kam mein Vater zu mir ins Zimmer, setzte sich zu mir auf das Bett und lächelte mich an.
«Was war das für ein Gefühl, als du dich endlich gewehrt und es diesen kleinen Ärschen gezeigt hast?», flüsterte er mir zu. Einen Augenblick lang dachte ich über die Antwort nach, wusste nicht, ob ich lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Ehrlichkeit war ein weiteres Steckenpferd meines Vaters, wenngleich ich schon damals vermutete, dass sein angeblicher Job nur vorgeschoben und somit auch eine Lüge war. Ich entschied mich für die Wahrheit.
«Unbeschreiblich. Ich fühlte mich befreit.»
Er lächelte, streichelte mir über den Kopf und ging wieder. Am darauf folgenden Tag brach er zu einer weiteren Geschäftsreise auf, von der er nie zurückkehrte. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre. Meine Mutter war untröstlich und entfernte sich immer mehr von der Realität, während uns die Schulden langsam das Genick brachen. Wir sahen uns gezwungen, nach Berlin zurückzukehren, da es in Amerika keine Zukunft für uns gab. Sie arbeitete in einer Wäscherei, während ich mich herumtrieb, Streit suchte und immer weiter in die Kriminalität abdriftete. Ich fühlte mich unantastbar, unbesiegbar, was ich auch nach außen spiegelte.
Meine Mutter sagte mal, dass ich diese Arroganz von meinem Vater geerbt hätte. Die Gewalt lauerte an jeder Ecke und die Aussicht dort jemals herauszukommen lag praktisch bei null. Jenes schöne Bild von Berlin, welches die Hochglanz-Prospekte und Medien präsentierten, lernte ich nie kennen. Organisiertes Verbrechen, Drogenhandel und Prostitution waren an der Tagesordnung. Daneben korrupte Polizisten, machtlose Behörden und unfähige Politiker, die allesamt die Augen vor der Realität verschlossen. Dann kam die Diagnose meiner Mutter und die Welt brach über mir zusammen. Ein Jahr der Hoffnungslosigkeit stand uns bevor. Das Ableben meiner Mutter, nach einem langen und schweren Kampf gegen den Krebs, veranlasste mich dazu, meiner Heimat den Rücken zu kehren. Ich vermisse die Gespräche mit ihr. Bei einer gelegentlichen Tasse Kaffee klärte sie mich über das Leben, ihre Sicht der Dinge und unsere ungerechte Welt auf. Sie machte mir auf subtile Art klar, wo ich im Leben stand und dass niemand kommen und mich aus dieser Misere herausholen würde. Bei rassistischen Bemerkungen, die mir damals häufig über die Lippen kamen, sah sie mich immer enttäuscht an, was mehr schmerzte als jede Ohrfeige. Beurteile den Menschen und nicht seine Herkunft, trichterte sie mir jedes Mal ein und sie hatte recht. Ein herzensguter Mensch, der niemandem jemals etwas Böses wollte, gefangen in einer Welt, die sie am Ende mit Füßen getreten hatte. Sie war der Grund, warum ich nicht zu einem gewissenlosen Verbrecher mutierte und schärfte meinen Sinn für Anstand und Gerechtigkeit. Mehr noch, sie brachte mir bei, nicht einfach alles blind zu glauben, sondern zu hinterfragen und der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
«Lass dich nicht vom Geschehen ablenken, sondern finde die Ursache dafür heraus. Nichts geschieht zufällig», pflegte sie stets zu sagen. Eine Weisheit, die sich mir unauslöschlich ins Hirn brannte. Sie hatte meinen Vater bedingungslos geliebt, ohne jeden Zweifel. Dennoch war es eine Liebe, die aus Feuer und Wasser geboren wurde. Sie wurde an einem grauen, verregneten Tag beerdigt. Ich stand allein, mit einer Rose in der Hand vor ihrem Grab und weinte bittere Tränen. Es waren wahrscheinlich auch Tränen der Angst. Angst davor, nun ganz allein zu sein. Niemanden mehr an meiner Seite zu wissen, der die vielen Fragen des Lebens beantworten konnte, die mir auf der Seele brannten. Mein Vater erschien nicht zur Beerdigung seiner verstorbenen Frau. Ich hörte nie wieder etwas von ihm und sprach von diesem Tage an auch nie wieder über ihn. Es war besser so. Viele vergeudete Jahre, in denen ich mehr und mehr auf die schiefe Bahn geriet, machten mir klar, dass ich irgendetwas ändern musste. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich meinen ersten Mord begehen würde. Meine hitzige Art und der unseriöse Umgang mit zwielichtigen Individuen waren nicht förderlich für meinen weiteren Werdegang. So ließ ich dieses Leben hinter mir. Ich versuchte es zumindest. Doch meine Vergangenheit klopfte regelmäßig an die Tür, zog mich wieder und wieder runter in diesen Sumpf aus Gewalt und Hass, den ich einfach nicht verstand. Nach zahlreichen Jobs, die mich nicht glücklich, sondern krank machten, schien mir die Bundeswehr das Ticket aus diesem Höllenloch zu sein. So verpflichtete ich mich kurzerhand auf Lebenszeit. Hauptsache schnell weg und die Vergangenheit endgültig begraben. Die militärischen Strukturen waren klar definiert und gingen mir schnell gegen den Strich. Zumal ich nicht wirklich viel von Regierungen und deren Führungsstilen hielt, da diese sich kaum voneinander unterschieden. Trotz allem ging es 2016, direkt nach meiner Grundausbildung, zum Nahkampftraining, welches mich psychisch auslaugte und an die Grenzen meiner Kraft brachte. Dennoch hielten mich alle für ein Naturtalent, das so schnell wie möglich an die Front sollte. Rettungseinsätze im Iran, Irak und Syrien zeigten mir das wahre Gesicht des Krieges und ich hasste es. Neben der glühenden Hitze, die uns alle fertig machte, waren es die zerfetzten Leichen von Frauen und Kindern, die mich nachts um den Schlaf brachten. Gefallene Kameraden von Tretminen in Stücke gerissen oder hinterrücks erschossen, verfolgten mich lange Zeit in meinen Träumen. Viele hielten diesem psychischen Druck nicht stand und reichten ihre Papiere ein. Viele andere wurden in Zinksärgen nach Hause geschickt, fanden aber keinerlei Beachtung in den Medien. Es waren Bilder und unzumutbare Umstände, die sich für immer in meinen Kopf brannten. Unsere Mission im Nahen Osten wurde zu einem immer größeren Bruch des Völkerrechts, was die westliche Politik gekonnt ignorierte.
Wofür zum Teufel kämpften wir eigentlich hier unten? Für Frieden oder gegen den Terror? Gegen das, von den Vereinigten Staaten so häufig personifizierte Böse. Natürlich nicht. Diese Aussagen waren reinste Propaganda für die Bevölkerung, welche auch immer. Es ging immer nur um Profit und Macht. Nur deswegen waren wir hier, als Handlanger unserer Regierungen. Genau wie unsere Feinde, die auch nur Marionetten des Systems waren. Niemand war gut oder böse. Es gab nur wohlhabende Menschen und den Abschaum. Schon bevor sich 2015 die Grenzen Europas öffneten, waren Einheiten der Vereinigten Staaten im Nahen Osten zugegen, um die Machtverhältnisse dort zu sichern. Natürlich ging es ihnen nicht um die Öl- oder Gasvorkommen, welche es dort in rauen Mengen gab. Es ging ihnen seit jeher um die Freiheit der Menschen, die aus einem diktatorischen Regime befreit werden mussten. Eine Philosophie, die an Absurdität schwer zu überbieten war. Ich weiß nicht, wie oft ich mir diesen Schwachsinn während meiner Laufbahn anhören musste. Das Vertrauen in mein Geburtsland, das Land, aus dem mein Vater stammte und von dem er mit Stolz berichtete, war an einem Tiefpunkt angelangt, den ich nicht mehr unterstützen wollte.
Unsere Einheit beschloss diesem Irrsinn die Stirn zu bieten, nach dem Warum zu fragen. Sie brandmarkten vier Soldaten, mich eingeschlossen, als Deserteure und drohten mit dem Militärgericht, als wir unsere Waffen für immer streckten. Da wir Hand in Hand mit den Vereinigten Staaten operierten, wurde der Druck umso größer. Ein durchgeknallter Colonel namens Shaw, der von allen aber nur Tombstone genannt wurde, drohte uns sogar mit dem Erschießungskommando. Tombstone führte jeden Befehl unverzüglich und extrem präzise aus, egal wie er lautete. Trotz seines hohen Ranges liebte er den Einsatz an der Front und ließ sich dieses Privileg nicht nehmen. Außerdem hielt er großartige Reden, ähnlich einem Footballtrainer, der sein Team anspornt, um den ruhmreichen Sieg zu ernten. Ein vorbildlicher Soldat, der nicht zu viele Fragen stellte. So bombardierte er regelmäßig kleinere Dörfer, tötete unzählige Zivilisten und grinste noch überheblich aus seiner schicken Uniform. Wahrscheinlich warteten, nach diesem offenkundigen Bruch des Völkerrechtes, weitere Orden auf ihn, die er sich voller Stolz an die Brust heften konnte. Eine unhaltbare Situation, mit der sich die Meisten abfanden, da mit Tombstone nicht zu spaßen war und er eindeutig am längeren Hebel saß. Meine Einheit, Team Rescue Storm, bestand aus vier Soldaten, die für spezielle Rettungseinsätze ausgebildet waren. John B. Reilly, ein durchgeknallter Mechaniker aus Kansas, der in seiner Freizeit immer einen Cowboyhut trug und obendrein ununterbrochen Katy Perry hörte, was uns beinahe in den Wahnsinn trieb. Killian O´Brien, ein nicht weniger verrückter Ire, der sich ständig mit Reilly in den Haaren hatte, obwohl sie die besten Freunde waren. Ein ansonsten recht ruhiger Zeitgenosse, der sehr besonnen mit Problemen umging und viele Bücher las. Jaques le Fleur, ein schwarzer Riese von zwei Metern, der vor einigen Jahren aus Amerika nach Frankreich geflohen war, da die Franzosen bekanntlich niemanden auslieferten. Die genaueren Umstände legte er uns nicht dar, wenngleich man raushören konnte, dass es sich um einen Akt der Gewalt gehandelt haben musste. Wenn man ihn näher kannte, wusste man, dass er keiner Menschenseele etwas zu leide tun konnte. Im Gegenteil, er war ein wirklich witziger Zeitgenosse, der es immer wieder schaffte, die Stimmung zu heben, wenn die Kacke wieder am Dampfen war.
Ich galt lange Zeit als hitziger Einzelgänger, der sich von niemandem etwas vorschreiben ließ und auch gerne mal Befehle missachtete. Diese Einstellung brachte mich sehr häufig in unangenehme Situationen, aus der mich die Jungs einige Male rausboxten, damit ich nicht meinen Hut nehmen musste. Meist ging es um gewalttätige Übergriffe an anderen Soldaten, die es wagten, meine deutsche Herkunft durch den Dreck zu ziehen. Sie nannten meine Mutter eine Nazi-Hure, die von allen Alliierten durchgevögelt worden war. Es waren Äußerungen, die sie sich lieber hätten verkneifen sollen. Das geistige Niveau meiner Peiniger lag weit unter dem Durchschnitt der Kacke einer Küchenschabe. Und wenn ich so etwas sage, hat es schon was zu bedeuten. Einmal habe ich es mit vier Männern gleichzeitig aufgenommen und kaum einen Kratzer abbekommen. Wieder war es ein tolles Gefühl, meine gesamte Energie und die angestaute Wut herauszulassen. Es waren meine Kameraden, vor allem O´Brien, die mir den Kopf wuschen und klarmachten, dass es so nicht weiter gehen konnte. Sie trieben mir die hitzige Art aus, die meine Mutter schon bemängelt hatte. Mit großem Erfolg. In den darauf folgenden Wochen wurde ich ruhiger, joggte viel, um meine überschüssige Energie loszuwerden und meine Aggressionen nach unten zu schrauben. Ich las viele Bücher und schaute mir mit den Jungs Actionfilme an, die mich an meine Kindheit und die, leider wenigen, Stunden mit meinem Vater erinnerten. Wir wurden ein eingeschworener Haufen, der sich blind aufeinander verlassen konnten. Zahllose Einsätze und dutzende geretteter Soldaten, die endlich nach Hause durften, gingen auf unser Konto. Dennoch riss Tombstones Terrorfeldzug nicht ab. Unter falscher Flagge gab es immer mehr Rettungseinsätze, die sich als reine Angriffsszenarien entpuppten, bei denen unsere Einheit nicht mitspielte und unverrichteter Dinge wieder abzog. Wir waren schließlich dort, um Menschen zu retten und nicht hinterrücks abzuknallen.
Eines Tages stellte Jaques Colonel Shaw vor versammelter Mannschaft zur Rede. Es gab seit Monaten keine Gegenwehr, geschweige denn Gegenangriffe vom Feind mehr. Weshalb wir noch immer dort waren und gegen unbewaffnete Zivilisten kämpften. Wir rieten Tombstone es langsam gut sein zu lassen, bevor man ihm vor dem Weltgerichtshof, in Den Haag, den Prozess machen würde. Tombstone sah Jaques einige Sekunden lächelnd an. Er bezeichnete ihn abfällig als Nigger mit Hirn und fragte sich, wie das denn passiert sei. Dann lachte Tombstone laut auf, zog nebenbei seine Pistole und schoss Jaques aus kurzer Distanz in den Kopf. Der zwei Meter Mann klappte zusammen und blieb regungslos liegen, während ihm das Blut pulsierend aus dem Kopf spritzte. Wir waren von so viel Kaltblütigkeit wie gelähmt. Jaques Blut tropfte mir vom Gesicht, während ich auf den leblosen Körper meines Freundes starrte. Dann legte Shaw auf Reilly an, der neben Jaques Leiche stand, und ebenfalls ungläubig den Körper unseres Freundes zu seinen Füßen ansah. Ein weiterer, lauter Knall ließ Reilly ebenfalls zu Boden sacken, wobei eine dicke Blutfontäne aus seinem Kopf schoss. O´Brien, der hinter Reilly stand, hob beschwichtigend die Hände, wollte auf Tombstone einreden.
«Hören sie auf mit dem Wahn …»
Ein erneuter Knall beendete den Satz und auch O´Briens Leben. Ich hörte meinen Herzschlag laut in den Ohren pochen. Um mich herum bewegte sich mit einem Mal alles wie in Zeitlupe, als Tombstone auf mich anlegte. Ich trat einen Schritt nach vorn, griff Tombstones Handgelenk, in der er die Waffe hielt und schlug mit meiner anderen Hand zwischen seinen Unter- und Oberarm. Er sah in den Lauf seiner eigenen Waffe und drückte, ohne zu wissen, wie ihm geschah, ab. Mit der Hirnmasse, die ihm aus dem Kopf flog, verabschiedete sich auch die schicke Offiziersmütze. Stumm ging ich langsam in die Knie und sah mit weit aufgerissenen Augen auf die leblosen Körper meiner Freunde. Mit zitternden Händen berührte ich sie in der Hoffnung, dass doch noch irgendwo Leben in ihnen steckte. Mein Verstand weigerte sich, das Grauen zu akzeptieren, das sich vor wenigen Sekunden abgespielt hatte, während sich meine Augen langsam mit Tränen füllten. Eines war mir mit Gewissheit klar. Ich war wieder allein auf der Welt. Wie durch Watte gefiltert vernahm ich das Gerede der Männer, die mich umringt hatten. Als ich aufsah, hatten mich etliche G.I.s mit M16 Gewehren im Anschlag umstellt. Unser Ausflug in eine gerechtere Welt sollte mich ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Die Verhandlung war eine einzige Farce. Angeblich hatte ich mir Tombstones Waffe gegriffen, zuerst ihn und dann meine Freunde erschossen. Kriegstrauma lautete die fachärztliche Diagnose. Zusätzlich wurde ich als Deserteur abgestempelt und für unzurechnungsfähig erklärt. Es ging unverzüglich ins Gefängnis. Verwahrung auf höchste Anordnung, da ich jetzt ein unzurechnungsfähiger Feind der demokratischen Werte war. Einige Männer bezeichneten mich sogar als Terroristen, den es zu eliminieren galt. Über meine toten Kameraden, meine Brüder, die mir mehr als einmal das Leben gerettet hatten, konnte man hinwegsehen. Es waren nur drei weitere Zinksärge, die zu den Angehörigen geschickt wurden. Schön verpackt, mit einer Flagge und einem Haufen dreckiger Lügen. Doch für Tombstone, den Urheber dieses Massakers, bekam ich fünfundzwanzig Jahre. Es fiel kein Wort über Tombstones Kriegstreiben und die zahllosen Opfer, die auf sein Konto gingen. Es gab keine Aufzeichnungen oder Aussagen anderer Soldaten, die mich hätten entlasten können. Lediglich meine vorbildliche Laufbahn und die Tötung zahlreicher Feinde bewahrten mich vor der Exekution. Kein wirklicher Trost. Doch deswegen saß ich nicht in Kolonie 56 ein.
Nach meinem unehrenhaften Ausscheiden aus dem Militärdienst hockte ich einige Monate in irgendeinem Wüstengefängnis in Afghanistan und wartete darauf, dass irgendetwas passierte. Der Sand und die Sonne machten mir schwer zu schaffen. Die immer länger werdenden Haare und der Bart trieben mich an den Rand des Wahnsinns. In einer meiner schlaflosen Nächte trat der Wärter Jim ans Gitter, öffnete die Zellentür und verschwand wieder. Ein adrett gekleideter Mann betrat mein, ich nenne es mal, Domizil. Mit einer dunklen Sonnenbrille bestückt, die in seine schwarzen, relativ kurz gehaltenen, Haare geschoben war, kam er näher. Dunkelbraune Augen taxierten mich. Das Jackett unter dem einen, eine dicke Akte unter dem anderen Arm, stand er nun in einigem Abstand vor mir. Unter seinen Achseln hatten sich Schweißpfützen gebildet, die das himmelblaue Hemd dort dunkler färbten. Er hatte was von einem schmierigen Vertreter, den man schnell wieder loswerden will. Doch seine Kleidung und das Auftreten sahen mehr nach einem Bundesagenten aus. Mit einem leichten Grinsen im Gesicht stand er einfach nur da, sagte kein Wort und starrte mich an.
«Kein wirklich vorteilhaftes Outfit, für diese Gegend, oder?», entfuhr es mir spöttisch.
«Nicht wirklich.», antwortete der recht kräftige Mann, während er auf der zweiten Pritsche, die meiner gegenüber lag, Platz nahm. Er öffnete die Akte, auf der gut leserlich mein Name, Dienstgrad, Waffengattung und eine lange Nummer stand. Dann begann er laut vorzulesen.
«Hartmuth Edward Mora, geboren am 6. August 1998, in Detroit, Michigan. 2013 mit seiner Mutter, Josefine Mora, nach Berlin, Deutschland, zurückgekehrt. Hank Edward Mora ist seit 2011 spurlos verschwunden. Josefine Mora verstarb am 21. Oktober 2014. Schwierige Jugend. Hitziges Temperament. Neigt zu Gewaltausbrüchen. Trat am 01. Januar 2016 in den Dienst der Bundeswehr. 2020 Spezialausbildung in Israel. War bis 2029 im Nahen und Mittleren Osten unterwegs. Diverse Einsätze hinter den feindlichen Linien. Keine Auszeichnungen …»
«Danke für die Auffrischung meiner Vita.», fiel ich ihm ins Wort. «Wollen Sie meinen Lebenslauf verfilmen? Dann nehmen Sie bitte den jungen Jeremy Renner für die Rolle. Ich soll ihm ja verdammt ähnlich sehen, wie man mir versicherte.»
Kurz blickte der Fremde über die Akte hinweg, konzentrierte sich jedoch schnell wieder auf den Inhalt in seinen Händen.
«Hank Edward Mora war ihr Vater?», fragte er nach.
«Ja.», bestätigte ich leicht genervt. Lange hielt ich inne, konnte seinen Blick und die Art wie er mich nach meinem Vater fragte nicht einordnen. Stand etwas Bedeutendes über meinen Vater in dieser Akte, von dem ich nichts wusste, oder versuchte er mich nur zu ködern. Ich entschied mich, abzuwarten und meinem Gegenüber die Chance zu geben sich zu erklären. Nachdem er die Akte schweigend durchgeblättert hatte, klappte er sie abrupt wieder zu und musterte mich von oben bis unten.
«Eine missliche Lage, in die sie sich da gebracht haben, Hardy.»
Ich setzte mich auf und blickte ihm in die Augen.
«Nein, eine beschissene Lage, in die mich ein durchgeknallter Colonel namens Shaw, brachte.», stieß ich hervor.
Er schmunzelte kurz, erhob sich und lief einige Zeit quer durch meine Zelle.