Die hier vereinten Texte der führenden Köpfe des französischen Poststrukturalismus machen das deutsche Lesepublikum mit einer bis heute ungewohnten Herangehensweise an das schwer zu fassende Œuvre eines Denkers bekannt, der sich hierzulande nach wie vor den unterschiedlichsten Instrumentalisierungen ausgesetzt sieht. Die Autoren dieser Sammlung stellen insgesamt die Legitimität in Frage, Nietzsches Werk nach der Logik des Gegensatzes von Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Aufklärung und Gegenaufklärung, Philosophie und Literatur zu bestimmen.
Der Herausgeber
Werner Hamacher, geboren 1948, Literaturkritiker und Theoretiker der Dekonstruktion und Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 1984 bis 1998 lehrte er an der Johns Hopkins University in Baltimore/Maryland. Seine Arbeiten liegen im Grenzgebiet zwischen den Literaturwissenschaften und der Sprach- und Geschichtsphilosophie, im Bereich Ästhetik und Hermeneutik.
Eine Auswahl seiner Veröffentlichungen: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (1998) – (Mithrsg.) Paul Celan (1988) – pleroma. Zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel (1978).
Essays von
Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat
Herausgegeben
von
Werner Hamacher
E-Book (EPUB)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Print-Ausgabe: EVA/Europäische Verlagsanstalt 2007
EPUB:
ISBN 978-3-86393-608-2
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de
Werner Hamacher
Echolos
Georges Bataille
Nietzsche im Lichte des Marxismus
Pierre Klossowski
Nietzsche, Polytheismus und Parodie
Michel Foucault
Nietzsche, Freud, Marx
Maurice Blanchot
Nietzsche und die fragmentarische Schrift
Michel Foucault
Nietzsche, die Genealogie, die Historie
Philippe Lacoue-Labarthe
Der Umweg
Bernard Pautrat
Nietzsche, medusiert
Jacques Derrida
Sporen
Die Stile Nietzsches
Jean-Luc Nancy
»Unsre Redlichkeit!«
(Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)
Nachbemerkung
Nachweise
Unter dem Datum des 10. Dezember 1898 hat André Gide in seinen fiktiven Briefen an Angèle, die zuerst in der Zeitschrift L’Ermitage, später zusammen mit anderen Essays, Vorträgen und Reflexionen unter dem zweideutigen Titel Prétextes veröffentlicht wurden, sein ironisches Lob auf die Verspätung der französischen Übersetzung von Nietzsches Werken damit begründet, daß – ich übersetze – dank dieser grausamen Langsamkeit der Einfluß Nietzsches dem Erscheinen seiner Werke vorausgegangen sei. Fast, so fährt Gide fort, war die französische Publikation der Werke verzichtbar; »denn man kann geradezu die Behauptung aufstellen, daß Nietzsches Einfluß wichtiger ist als sein Werk, oder gar, daß sein Werk nur eines des Einflusses ist.«
Die Verspätung der Texte, so will es Gides Bemerkung, bringt fast die Wahrheit über die Texte an den Tag: daß die Wirkung das Werk übertrifft, daß das Werk wesentlich in seiner Wirkung beruht und unabhängig von ihr keinen Bestand, keine Substanz hat, und daß das Werk, von seiner Wirkung determiniert, das Werk eben dieser Wirkung ist. Man muß nicht so weit gehen, bei dem Begriff ›Einfluß‹ an einen influxus physicus und die astrologischen Konnotationen des Wortes zu denken, um zu bemerken, daß Gide in seiner Charakterisierung von Nietzsches Wirkung in Frankreich an die Stelle der Substantialität des Werks die Substantialität seiner Wirkung setzt. Es bedarf nur eines Blicks auf einige von Nietzsches »eigenen« Überlegungen, um in Gides Theorie ihrer Wirkung – und also in der Wirkung, die sie auf Gide getan haben – ein getreues Echo zumindest einer der Behauptungen Nietzsches, und also in seiner Wirkung das Werk zu erkennen. Im dreizehnten Aphorismus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral nämlich polemisiert Nietzsche gegen die Überzeugung, es gebe hinter dem Starken ein indifferentes Substrat […], dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber – so hält Nietzsche diesem moralischen und erkenntnistheoretischen Glauben entgegen – es gibt kein solches Substrat; es gibt kein Sein hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Daß es hinter dem Tun noch einen Täter, hinter dem Wirken noch ein Sein gibt, ist für Nietzsche nichts als eine Illusion der Grammatik, in der die gesamte Geschichte der Philosophie seit der Lehre des Demokrit von einer unteilbaren Grundfigur, dem Atom, bis hin zur kantischen Doktrin von einem Ding an sich und zur Lehre des spekulativen Idealismus von einem substantiellen Subjekt, heiße es nun Wissen oder Werk, Geist oder Darstellung, befangen ist. Wie immer das Substrat benannt sein mag, es verdankt sich der trügerischen Disjunktion zwischen grammatischem Subjekt und Prädikat im Aussagesatz und deshalb dem, was Nietzsche die Verführung der Sprache nennt. Nicht bestimmten Gegenständen werden bestimmte Eigenschaften prädiziert – so argumentiert Nietzsche –, sondern nie endgültig bestimmbare Kraftimpulse sprechen sich Eigenschaften zu und sind nichts anderes als eben dieses Zusprechen: Prädikationen, die sich in präkonventionellen, Konventionen erst setzenden Akten vollziehen. Die Grammatik des Aussagesatzes ist bloß die illusorische Figur, in der sprachliche Akte festgeschrieben und zum Gegenstand irreführender Zerlegungen in verschiedene Funktionen gemacht werden. Das Subjekt – ob nun des Autors oder des Lesers – ist bloß die Figur, zu der ein Akt; das Werk die Figur, zu der sein Wirken entstellt ist.
Die Rede vom Werk und die Rede von einem Autor – von jenem »Herrn Nietzsche«, den die Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft zu ignorieren empfiehlt – beruht also nicht nur auf einem harmlosen grammatikalischen Irrtum, sondern auf einer gefährlichen Verirrung, die das sprachliche Handeln und damit die Sprache überhaupt zu lähmen droht. Wenn Gide den Einfluß Nietzsches höher einschätzt als sein Werk und dies Werk auf seinen Einfluß reduziert, dann scheint es ganz so, als würde er sich zum Agenten des Sprach-Aktivismus machen, dem die zitierte Passage aus der Genealogie der Moral das Wort redet. Gides Bemerkung, die nur prononcierter formuliert, was deutschsprachige Autoren wie Musil und Benn, Hofmannsthal, Thomas und Heinrich Mann mit den selben abstrakten Begriffen beschreiben: Nietzsche habe sie beeinflußt und entscheidend auf sie eingewirkt –; diese Bemerkung scheint zu bezeugen, daß Nietzsches Parteinahme für die Wirkung der Sprache und daß seine Virtuosität in ihrem wirkungsvollen Gebrauch sich durch eine Unzahl von Wirkungen – der verschiedensten und der widersprüchlichsten Art – ausgezahlt hat und daß derart sein Werk in der Tat zum Werk seiner Wirkungen wurde. »Das Werk« ist zum Wirken bloß hinzugedichtet – so ließe sich Nietzsches Diktum (und genauer: »Nietzsches« Diktum) variieren –, die Wirkung ist alles …
Doch wäre die Wirkung alles, so wäre sie nicht die von Nietzsches Werk, nicht »seine« Wirkung, sie wäre die Wirkung einer Sprache, die nicht als Subjekt ihrer Wirksamkeit operiert, sondern als bloße Überredung perlokutiv immer schon ihren Adressaten und ihr Ziel erreicht hätte, reine rhetorische Gewalt. Wie aber nichts, was im Gebiet dieser rhetorischen Gewalt geschieht, unabhängig von ihr zuwege gebracht werden kann, so ist auch die Projektion eines Subjekts hinter die Tat und eines Werks hinter die Wirkung ein sprachlicher Akt: »der Täter« – so lautet Nietzsches Formulierung – ist bloß hinzugedichtet, er ist hinzugedichtet unter der Verführung der Sprache. Wenn die Verführung durch die Sprache alles ist, dann hat aber auch die Hinzudichtung eines Subjekts ihr Recht – nämlich das Recht der rhetorischen Gewalt – und dann ist nicht nur das Subjekt sprachlicher Äußerungen, sondern auch ihre Wirksamkeit selbst eine Erdichtung. Die Aktivität der Sprache ist Täuschung, ihre performative Substanz Effekt einer Verführung –: denn daß Sprache nicht nur gelegentlich und unter bestimmten Bedingungen, sondern daß sie regelmäßig und immer Verführung sei, ist selbst schon ein Glaube, der der Suggestion der Sprache folgt. Sprache, als Verführung verstanden, ist ein fundamentales und alle Fundamente zerbrechendes Paradox. Substanz ohne Substanz, führt die Verführung, die die Sprache ist, nie vom Weg der Wahrheit ab, weil es eine andere Wahrheit als die erdichtete nicht gibt.
Hinzudichtung also wäre alles – aber nichts hat diese Hinzudichtung nötiger als die Hinzudichtung »selbst«. Denn Nietzsches emphatische Parteinahme für das subjektlos-reine Tun der Sprache – und das heißt für ihre unwiderstehliche Setzungsmacht – wäre nicht nötig, wenn ihre performative Gewalt sich tatsächlich allenthalben durchzusetzen vermöchte. Und hätte die Verführung zur grammatischen Disjunktion nicht eine Grenze, so hätte auch Nietzsche dem Aberglauben an ein indifferentes Substrat der Sprache erliegen müssen. Aber die Verführung, die die Sprache ist, ist kein perlokutives, sondern allenfalls ein illokutives Ereignis, das nicht notwendig an sein Ziel: zu sich selbst kommt und dessen Wirkung seine möglichen Adressaten und in ihnen seine eigene Substanz nicht immer schon überredet hat. Sprache als Überredung wirkt in Differenz zu sich selbst. Noch vor jeder grammatischen Disjunktion in Subjekt und Prädikat findet die entscheidende – die performative – Disjunktion im Wirken der Sprache statt, in ihrem Tun und ihrem Werden. Wesentlich Wirkung, ist sie doch immer actio in distans zu sich selbst. Denn ihr Wesen – daß sie immer nur wird und nie ist, daß sie immer nur wirkt und nie Werk ist – vermag, da es Verführung ist, nie zu Etwas, sondern immer nur zur Verführung zu verführen. Das heißt aber, daß sie nie verführt haben darf, wenn anders sie Verführung bleiben soll; daß es kein Tun der Sprache geben kann, wenn anders Sprache als Tun möglich sein soll. Ihr Wesen – ihr Werden und Wirken – ist immer schon behindert, blockiert oder unterbrochen. Wenn Sprache Wirkung tut, dann aus jenem Fond der Unwirksamkeit, der sich als Distanz zu ihrem Wirken, als Distanz zu ihr selbst als Wirkung öffnet.
Diese Handlungsdistanz: die Spanne, die sich zwischen dem Wirken eines Textes und der grammatikalischen Fixierung zum Sein dieses Wirkens auftut, läßt sich weder kontrollieren, noch läßt sie sich reduzieren, denn erst dieser Distanz entspringt das Wirken und mit ihm der Text, der sich von jeder Bewegung, die er auslöst, zurückzieht. In jedem Sprechakt ist diese distantia actionis am Werk und verhält ihn konstitutiv, destitutiv zur Unwirksamkeit. Er ist möglicher Akt – aber das Potential jedes Aktes ist ein Potential aus Inaktivität: es läßt Wirkungen von unabsehbarer Vielfalt zu, aber weder bewirkt es sie, noch wird es von solchen Wirkungen erschöpft.
Die Theorien der Wirkungsgeschichte deuten Geschichte nach dem Modell des Aussagesatzes: Ein Werk provoziert – und sei’s à voix blanche – eine Wirkung. Die nietzscheanisierende Radikalisierung dieses Konzepts, zu der Gides ironische Charakteristik von Nietzsches Wirkung in Frankreich den Keim enthält, kehrt seine Aussage um: Die Wirkung macht das Werk – und bleibt dabei auf das gleiche Satzmodell fixiert. Erst mit dem Hinweis auf die »grausame Langsamkeit« der Übersetzung Nietzsches, dem sich die Prärogative der Wirkung vor dem Werk verdanken soll, berührt Gide jenen Grundsatz, den Nietzsche in der Genealogie der Moral für die Geschichtsschreibung aufgestellt hat: daß nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und […] dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen […] (12. Aphorismus der Zweiten Abhandlung). Wenn Ursprung und Verwendung, Werk und Wirkung auseinander liegen, dann muß jede Verwendung den ursprünglichen Sinn einer Äußerung nicht nur verfehlen, sondern ihrerseits zum Ursprung eines anderen Sinns werden können: eines Sinns, der nicht im Ziel der ursprünglichen Intention liegt, sondern aus dem Kontinuum ihrer Herkunftslinie herausspringt. Jede Erkenntnis kommt für die Handlung, jede Verwendung kommt für das Werk, auf das sie sich bezieht, zu spät; und da Erkenntnis und Verwendung selber Handlungen sind, kommt jede zu früh, als daß sie bei sich selbst sein könnte. Insofern ist das Auseinander von Ursprung und Zweck und Werk und Wirkung strukturell irreduzibel. Die Kontingenz ihrer Relation läßt sich durch keine teleologische oder genealogische Konstruktion in Notwendigkeit verwandeln, denn diese Kontingenz – Foucault hat das Motiv in seinen Arbeiten aufgegriffen – ist im Ursprung selbst schon am Werk und sie erst läßt es zur retrospektiven Vorstellung von einem Ursprung kommen. Freilich nur mit jener »Langsamkeit«, die die Herrschaft des Ursprungs labil und eine kritische »Archäologie« noch der Archäologie möglich macht.
Wenn diese konstitutive – und dekonstitutive – Verzögerung in der Sprache irreduzibel ist, so gibt es – nicht ohne ihr Zutun – doch auch eine zusätzliche, die »grausame«, eine in Grenzen reduzible Verzögerung. Es ist diejenige, die die literarischen oder philosophischen Werke auf ihrem Weg von einer Sprache in eine andere, von einer kulturellen Tradition in eine zweite erfahren. Am Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts war ein großer Teil von Nietzsches Texten ins Französische übersetzt und seither dauert in Frankreich, begleitet von weiteren und von Neuübersetzungen, von biographischen und geistesgeschichtlichen Monographien, eine selten unterbrochene intensive Beschäftigung mit Nietzsche an, die sein Werk nicht mehr bloß als das seiner Wirkung behandelt. Über diese mehr als hundertjährige Auseinandersetzung und über die Effekte, die sie in der französischen Diskussion philosophischer, anthropologischer, ethischer oder ästhetischer Probleme, in theoretischen wie in literarischen Werken hinterlassen hat, ist hier nicht zu berichten; über sie geben – mit jeweils anderem Akzent – die Studien von Geneviève Bianquis und W. D. Williams, von Pierre Boudot, Eric H. Deudon und anderen Auskunft. Die Sammlung der Essays, Vorträge und Reflexionen in diesem Band wird nicht in der Absicht vorgelegt, eine bestimmte Epoche oder eine Schule der Nietzsche-Lektüre in Frankreich zu dokumentieren und sie auf diese Weise den Archiven einer antiquarisch, und selbst noch an ihrer eigenen Gegenwart nur antiquarisch interessierten Öffentlichkeit einzuverleiben. Auf diesem Weg würden nicht nur die hier versammelten Texte ihrer Brisanz beraubt, Nietzsches Texte selbst würden das, was sie auf dem Weg nach Frankreich gewonnen haben, wieder verlieren.
Die historische Ironie in Gides Wort von einer Wirkung ohne Werk liegt darin, daß es mittlerweile eine triftigere Formel für Nietzsches Los in Deutschland geworden ist als sie es je für sein französisches war. Kaum etwas könnte bezeichnender für den »Stand der Nietzsche-Forschung in Deutschland« sein als der Umstand, daß sie die erste vollständige historisch-kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken der zähen und gescheiten Arbeit der beiden Italiener Colli und Montinari zu verdanken hat. Nietzsche in Deutschland – das war die längste Zeit die Geschichte seiner Erhebung zum geistigen Aristokraten, seiner Stilisierung zum intellektuellen Snob und seiner Verharmlosung zum Artisten-Metaphysiker; das war die Geschichte seiner Ernennung zum Erzieher und Züchter einer höheren Rasse oder einer nach dem »Ideal« des Übermenschen gebildeten Bildungsbürgerklasse; es war die Geschichte seiner Beschlagnahme durch einen verheerenden Biologismus und seiner Verstümmelung zum Propheten der neuen Zeit; in ihrem Gefolge: seiner Diffamierung als Protofaschist und Wegbereiter eines Systems der kalkulierten Menschenverachtung; Nietzsches Geschichte in Deutschland war zu gleichen Teilen die Geschichte seiner Idealisierung und Ächtung. Er war für die meisten der Philosoph ihrer Pubertät – eine Figur der unsicheren Identifikation und des unbestimmten Grausens, des ziellosen Furors und des hellen Größenwahns. Er wurde als »freier Geist« verstanden – aber der »freie Geist« war nur eine seiner ironischen Gestalten –, denn diejenigen, die ihn brauchten, waren nicht frei genug, ihn zu lesen. Nietzsche in Deutschland, das war in vieler Hinsicht die Geschichte einer Fama: sie bestimmte das Los seiner Texte und betäubte das Gehör für ihre Stimmen. Am Ende dieser Geschichte der pathetischen Parteinahmen, die eine Geschichte ebenso vieler gescheiterter Identifizierungen ist, steht, trocken, der Versuch, ihn mit den Mitteln einer positivistisch verarmten Philologie zu domestizieren: zu verdeutschen – eine weitere Variante der Identifizierungsmanöver, die diesmal nicht durch Mythisierung seine Wirkung zu schüren, sondern durch Askese jede Wirkung und noch jeden Gedanken zu ersticken versucht.
In Sachen ›Nietzsche in Deutschland‹ war das zwanzigste Jahrhundert zum größeren Teil nur eine einfallslose Variante des neunzehnten, das Nietzsche noch selber kannte und unter dessen »Völkern und Vaterländern« er eine Wahl getroffen hatte, die seinem Scharfblick noch hundert Jahre nach seinem Ende Ehre macht. In Ecce homo schreibt er: In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New-York – überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in Europas Flachland Deutschland … […] Man nennt nicht umsonst die Polen die Franzosen unter den Slaven – und es ist gerade seine polnische Herkunft, die er auf den vorangehenden Seiten gefeiert hat: nicht zwischen Polen und Frankreich, nicht in Deutschland, sah er den geographischen Ort seiner Philosophie, sondern jenseits der deutschen Grenzen nach Osten und Westen. In seiner philosophischen Topologie war es aber insbesondere Frankreich, das er als Ort der audaces et finesses und eines esprit zu erreichen versuchte, der sich noch immer der Verführung zu metaphysischen Zwangsvorstellungen zu erwehren wußte. Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann alles, aber das geht über meine Kräfte … Mein alter Lehrer Ritschl behauptete sogar, ich konzipierte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier – absurd spannend. Nietzsche ist in einer durch den Faschismus verkommenen und seither von einem imaginären Internationalismus diskreditierten Tradition derjenige gewesen, der die Frage nach dem sprachlichen, kulturellen und historischen Idiom der Philosophie am radikalsten gestellt, und einer der wenigen, die auf sie eine entschieden xenophile Antwort gegeben haben.
Im 254. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse bezeichnet er als einen der Beweggründe für seinen frankophilen Widerstand gegen die geistige Germanisierung den Umstand, daß nur in Frankreich die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften ausgebildet worden sei, zu Hingebungen an die ›Form‹, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist – eine Fähigkeit, aus der eine Art Kammermusik der Literatur hervorgegangen sei. Auch wenn Nietzsche in seiner Einschätzung ungerecht war und mit seiner Zuweisung des kammermusikalischen Privilegs an Frankreich nicht ohne weiteres recht hatte –: die Texte, die seinen Schriften zwischen den fünfziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von französischen Autoren gewidmet worden sind und von denen dieser Band eine kleine Auswahl versammelt, zeichnen sich in der Tat vor denen aus anderen »Völkern und Vaterländern« dadurch aus, daß in ihren besten die Form einer Art Kammermusik der Analyse zur Meisterschaft ausgebildet ist. Das Gespür für Rhythmik und Synkopierung sowohl der literarischen wie der argumentativen Bewegungen in Nietzsches Texten, der Sinn für dissonante Verschränkungen in der Komposition und Entwicklung seiner Themen, für die Nuancen der Intonation und die Fermaten, die das Idiom dieser Texte bestimmen –, die Hellhörigkeit für das einzelne Wort und die marginale, fast vergessene Eintragung, die diese französischen Autoren charakterisiert, ist keine ›ästhetische‹ Tugend, es ist die philosophische Tugend der gelassenen Aufmerksamkeit auf das Erstaunliche am scheinbar Selbstverständlichen und am unscheinbar Beiläufigen. Dieser Aufmerksamkeit verdankt sich die Intimität – die alles andere als unkritische Intimität – ihrer Kenntnis der Texte, ihr verdankt sich die Disziplin, mit der sie ihre bestimmenden Themen analysieren, und ihr die Distanz zu diesen Texten und Themen – einer Distanz, die an jeder Stelle die Neigung zu Idealisierung, Identifikation oder Verwerfung ernüchtert.
Diese Aufmerksamkeit richtet sich nicht allein auf die Verarbeitung der Formelemente, die Nietzsches Schriften idiomatisiert, sondern gleichzeitig auf diejenigen, die zum sujet seiner Schriften geworden sind und deren Zugehörigkeit zu den »großen Themen« seines Denkens er selber mit Nachdruck betont hat. Klossowski und Blanchot – der erste einer der differenziertesten Nietzsche-Übersetzer, beide Essayisten von hohem Rang und Autoren der großen philosophischen Erzählliteratur der Moderne – diskutieren nicht nur die Form der Parodie, sondern diejenigen Veränderungen, die die Lehre vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen unter der Optik der Parodie, der lächerlichen Entstellung und des gewollten Irrtums in Nietzsches Behandlung dieser Lehre erfährt: sie wird zum Vexierbild einer Lehre, zur Parodie ihrer selbst, zur Parodie einer Parodie, die kein Original mehr zum Vorbild ihrer Entstellungen hat: die literarische Form (der Verformung) ist in den innersten Kern des philosophischen Gedankens gedrungen und hat ihn gespalten; sie diskutieren nicht nur die Form des Fragments, sondern die Notwendigkeit, mit der jede Aspiration aufs System, wenn sie nur redlich ihre eigene Struktur reflektiert, in eine fragmentarische Schrift umschlagen muß, die das System – und den systematischen Anspruch noch jeder einzelnen Aussage – auf eine heterogene Pluralität und auf eine Kontingenz der Rede hin öffnet, die sich der Dialektisierung entzieht. Wie wenig eine Philosophie, die sich als Agentin von Begriffsbewegungen versteht, fähig ist, das gesamte Feld ihrer sprachlichen Formen zu kontrollieren, zeigt Lacoue-Labarthes Analyse von Nietzsches Arbeiten zur Rhetorik nicht weniger deutlich als die psychoanalytischen Anmerkungen es tun, die Pautrat zum Verständnis einer unterdrückten Metapher für den Gedanken der ewigen Wiederkehr beisteuert: eine rhetorische Figur ist nie bloß das Instrument des Willens zur Macht des Begriffs, wenn dieser Wille ihrer bedarf, um allererst Wille zu werden. Der Wille ist machtlos gegen die Drohung, selber zu einer solchen rhetorischen Figur zu werden. Nietzsches Frage nach dem Willen – der als Wille zur Macht immer Wille zur Macht des Willens und also Wille zum Willen sein muß – läßt ihn nie als unbedingtes Subjekt seiner selbst und seiner Wirkungen gelten, sondern stellt die Frage nach seiner Konstitution: nach einer Konstitution, zu deren Bedingungen immer auch das Nicht-Wollen und die Unfähigkeit, das Wollen zu wollen, gehören können. Das heißt aber, daß sich der Wille nie im Stand der Autohomoiosis, nie im Stand einer Wahrheit findet, die in der Korrespondenz mit sich selbst als eigentlicher und ernstgemeinter Rede liegt, sondern daß er nur der Forderung nach einer solchen Wahrheit ausgesetzt sein kann und sich in der Forderung nach Redlichkeit erschöpft. Von ihr zeigt Nancy, daß sie die imperative Wahrheit einer Ethik artikuliert, der keine wertende und also auch keine umwertende Moral entsprechen kann.
Wenn deutsche Leser von Rang, wie Heidegger und Adorno, Nietzsche auf den Höhenkamm der abendländischen Metaphysik oder in den Schatten der untergehenden Aufklärung stellen, so bezweifeln die hier zugänglich gemachten französischen Autoren, daß der philosophiegeschichtliche Ort von Nietzsches Denken überhaupt noch nach der Logik des Gegensatzes zwischen Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Aufklärung und Gegenaufklärung bestimmt werden kann. Der Grund für jede derartige Kontrastierung ist nämlich erschüttert, wenn plausibel gemacht werden kann, daß der Wille als Wille zur Macht in seiner Selbstbeziehung nie einfach als Subjekt und Objekt, als Aktivum und Passivum, Gebender und Nehmender auftreten kann, ohne sich einer Bewegung auszusetzen, die sich seiner Kontrolle entzieht. Ein Denken, das die Oppositionslogik der klassischen Metaphysik unterläuft, kann angemessen nicht mehr in Begriffen dieser Logik erfaßt werden. So wenig wie das Denken in Thesen und Antithesen verfängt bei Nietzsche die Frage nach dem Sinn und noch nach dem Sinn von Sein: denn jede Sinnfrage, auch die radikalisierte der fundamental-ontologischen Hermeneutik, bleibt einer vorkritischen Theorie des Sinns verhaftet, solange sie dessen Möglichkeit als gegeben annimmt. Die Logik von Gabe und Annahme des Sinns wird aber von Nietzsche – Derrida zeigt es an seinem ›Bild‹ der Frau – durch eine supplementäre Logik des Anscheins, der Schauspielerei und der Mehrsinnigkeit unterhöhlt, die die Gegebenheit des Sinns problematisch und seine Annahme zu einer hermeneutischen Subreption macht.
Die hier vorgelegten Essays führen das Denken von Sprache und Sein an eine Grenze, die von ihm selbst nicht mehr definiert werden kann und die deshalb offen bleibt auf ein Anderes, das nicht einfach das Andere dieses Denkens, nicht das von ihm definierte und per definitionem angeeignete Andere ist. Die Gemeinsamkeit ihres Projekts liegt in dem Versuch, sowohl die klassische Ontologie wie ihre kritischen Umformungen – Fundamentalontologie, Ideologiekritik und Sprachanalyse – auf einen Bereich hin zu öffnen, der von ihnen nicht besetzt werden kann. Klammern sich diese, wenn auch mit letzter Not, an den Glauben, es sei über die Gegebenheit des Sinns und über die angemessene Weise seiner Darstellung eine Entscheidung möglich, so versuchen die hier versammelten Texte – ein jeder mit anderen Mitteln – eine Logik der Unentscheidbarkeit zu entwickeln. Sie dienen keiner Grenzziehung, keiner Definition, keiner Bestimmung; und, wie vor allem Bataille betont, sie dienen nicht. Im Geist der Undienstbarkeit sind sie nicht auf Effekt und Proselytenmacherei angelegt, sondern wie Nietzsches eigene Arbeiten auf die Analyse dessen, was unter den Möglichkeitsbedingungen des Wirkens jede Wirkung suspendiert – und das heißt nicht nur jeden Einfluß, sondern auch jede Deutung und jede Erkenntnis außer Kraft setzt, die einer Wahrheit bloß dient oder eine Wahrheit in Dienst stellt. Wenn das Wirken – und mit ihm das Werk – in einer indefiniten Beziehung zu seiner Herkunft und zu seiner Zukunft: zu seinem Sinn stehen muß, solange Zufälle, Täuschungen und Paradoxien an ihnen beteiligt sein können, dann gibt es keine Wirkung, in der nicht ihre Entwirkung – ihr desœuvrement, wie Blanchot schreibt – am Werk wäre; keine Herkunft und keine Zukunft eines Werks, in der nicht etwas von ihm – und vielleicht das Entscheidende – offen bliebe.
Zwischen Nietzsche und dem Kommunismus fällt von vornherein ein Mißverhältnis auf. Nietzsches Werk übt auf die meisten seiner Leser eine unvermeidliche Verführung aus, doch selten hat eine Anziehung weniger Konsequenzen gehabt. Es steht mit diesen blendenden Büchern wie mit dem Alkohol, der zwar erregt und erleuchtet, eine elementare Denkart aber unberührt läßt.
Auf eine gewisse Zahl meiner Freunde hatte der Kommunismus einen ausschlaggebenden Einfluß. Sie liebten Nietzsche nicht auf gleiche Weise, gaben mir jedoch zuweilen das Gefühl eines wirklichen Einverständnisses. Meistenteils wollte das nichts besagen. Ich konnte mich – sogar lebhaft – für ihre Ideen interessieren, an ihre politische Aktivität glauben. Doch behielt ich einen Vorbehalt, und natürlich glaubte ich, daß sie diesen Vorbehalt teilten, wenn nicht voll und ganz, so doch in gewissem Grade. Zumindest erwartete ich von ihrer Seite Verständnis für meine Haltung: waren sie nicht meinesgleichen? hatten sie nicht die gleiche Blendung erfahren? Ich mußte jedoch wahrnehmen, daß sie sich niemals über ein Spiel erhoben, das mir armselig erschien. Sie sahen nicht einmal mehr, daß sie mich schockierten und bewirkten, daß ich mir fremd vorkam in einer Welt, die ihre Plattheit beschränkte. Ich weiß jetzt, daß ich unrecht hatte (zumindest darin, mich zu wundern). Gemessen an der einer einsamen Tragödie, haben die Probleme des Kommunismus eine unvergleichliche Bedeutung – selbst wenn diese Tragödie das ins Spiel brächte, was mehr zählt als das Leben (von dem Augenblick an, wo dieses materiell gesichert ist)! Selbst und gerade dann, wenn sie die generelle Tragödie wäre, die des Menschen, der, nachdem endlich alle Verbote aufgehoben sind, den weitesten Horizont vor sich sieht, einen so ausgedehnten, daß er sich in der Horizontlosigkeit verliert!
Allein der Kommunismus hat das Grundproblem gestellt. Er reklamiert im Namen jedes Individuums ein Lebensrecht, um das das geltende juridische System es teilweise bringt. Seinerseits bestreitet er das Lebensrecht eines jeden, der als Nutznießer des Systems dazu beiträgt, seinesgleichen um dieses Recht zu bringen. So ist das Problem des Kommunismus sehr wohl das General-problem, das für jedes Einzelwesen die Frage von Leben oder Tod stellt. Die Kommunisten verfügen zu diesem Zweck über ein Korpus von Doktrinen und bilden eine disziplinierte Organisation. Im Vertrauen auf die Bedeutung ihrer Aktivität verlangen sie voneinander einen Geist vorbehaltloser Konsequenz, eine blinde doktrinäre Gefolgschaft und das Opfer ihrer Freiheit und ihres Lebens. Ist die Sache einmal gegeben, kann darüber hinaus nichts weiteres mehr zählen, und dies gilt nicht nur für das Parteimitglied. In der Tat kann sich die Verpflichtung des Kommunisten nicht bloß aus dem förmlichen Engagement ergeben, das er eingegangen ist: persönlich, wie es ist, bedeutet das Engagement nichtsdestoweniger, daß der Aktivist das Bewußtsein einer Verpflichtung hat, die allen Menschen auferlegt ist; er kann diese Verpflichtung nicht schaffen. Von da an spielt die Gleichgültigkeit oder die Feindseligkeit keine Rolle mehr: effektiv zählt nichts sonst in der Welt – einerlei, ob für den Neutralen oder den Feind – als das kommunistische Unternehmen. Jedenfalls hat es nach der Überzeugung seiner Parteigänger einen exklusiven Wert: es hat das Schicksal der Menschheit total aufs Spiel setzen können, ohne daß eine Berufung möglich wäre.
Es bleibt mir unbenommen, zu glauben und zu sagen, daß das Denken Nietzsches in Wahrheit nicht weniger wichtig als der Kommunismus ist. Dann werde ich aber als das mindeste klar eingestehen müssen, daß dieses Denken null und nichtig bleibt, weil es nicht verstanden worden ist. Ich habe von der Inkonsequenz gesprochen, der es oftmals ausgesetzt ist. Der Mangel an Rigorosität bei meinen Freunden ist nämlich die allergewöhnlichste Haltung. Er findet sich sogar generell bei denen, die ihm lange Abhandlungen widmeten. Die von Nietzsche sprechen, betrachten sein Leben als eine Art Märchen, das natürlich tragisch ausgeht. Es scheint zuweilen, daß die sehr naive Sehnsucht nach einer Mythologie der modernen Zeit ihre Richtschnur gewesen ist; doch diese Mythologie steht der gegenwärtigen Welt nicht weniger fern, als die antiken Mythen ihr fremd geworden sind. Ich spreche nicht von denen, deren Ambitionen ein Denken, dessen Wesen darin besteht, niemals subordiniert zu sein, niemals zu dienen, in ein Instrument verwandeln wollten. Sie hätten die vorgängige Verweigerung Nietzsches in Betracht ziehen können. Aber es war ihnen ein leichtes, sich darüber hinwegzusetzen, aus dem guten Grunde, daß Nietzsche ohne Nachkommenschaft starb. Sein authentisches Denken verschwand ganz und gar mit ihm. Niemand nach ihm unterhielt das Feuer, das er entzündet hatte. Er fand Ausleger, doch die Auslegung behandelte ihn als einen Toten auf dem Seziertisch. Niemand forderte den Leichnam, und niemand konnte, niemand wollte ein Werk lebendig halten, das nicht auf abstrakte Art Philosophie sein kann, sondern allein Präsenz in der Welt.
Manchmal ergreift mich der Schrecken angesichts einer so vollständigen Bewußtlosigkeit. Wie soll man diese inkonsequenten Bewunderungen ertragen, die schlimmer als Beleidigungen sind, törichter als die Gleichgültigkeit?
Ich wende mich an die Menge derer, die Nietzsche lesen und bewundern. Hätten sie Rechte auf sein Denken? Woher nehmen sie die schwächliche Kühnheit, in ihnen selbst das zu verpfuschen, was das Mögliche – von ihrer Erniedrigung – befreien wollte? Es gibt im Menschen eine Seinsmüdigkeit, eine Seinsangst, die das Leben auf eine Verstellung reduziert: vor sich selber hat der Mensch Angst; das Mögliche, das er in sich trägt, macht ihn erzittern; das Mögliche, das, was er wäre, wenn er dazu die Kraft – oder das Herz – hätte, macht aus ihm diesen flüchtigen, müden, furchtsamen Schatten. Je näher er diesem Möglichen kommt, desto mehr höhlt ihn die Versuchung, ihm zu entgehen, aus. Demgegenüber will ich hier die anhaltende Strenge herausstellen, die unbefangene, furchtlose Redlichkeit – eine, die unermüdlich das eigene Falschspiel eingesteht –, die die Konzessionen auf das Notwendige beschränkt und niemals gestattet, nicht »souverän zu sein«. Das ist weder der feindselige Eigensinn der Askese noch die nüchterne Arbeit, aus der der Zusammenhang der Gedanken hervorgeht. Es ist nicht die äußerste Konsequenz und äußerste Energie des Verhaltens (das ist der Heiligkeit zu eigen). Es ist nicht die Beschränktheit der wissenschaftlichen Untersuchungen, die zum Verzicht führt. Ich werde vermeiden, von der Poesie zu sprechen, die dem Falschspiel um so näher kommt, als sie im umgekehrten Sinne unmittelbar zum Gipfel führt, wie es scheint… Noch nicht! … die authentische Verwirrung der Ohnmacht und die Anziehungskraft der Unvernunft trennen sie von ihm… Es handelt sich schließlich um Klarsicht und Vergessen, um Stille und stürmische Freude, um übermäßige Freiheit, um die Anmut der Gleichgültigkeit.
NIEMAND KANN NIETZSCHE AUTHENTISCH LESEN, OHNE NIETZSCHE ZU »SEIN«.
Ich verstehe darunter: ohne sich völlig und unwiderruflich in genau der Situation zu befinden, in der er sich befand. Anderenfalls geht es um sehr schlechte Gründe (vielfältige Kenntnisse oder Eklektizismus zur Schau stellen – auf die Fassade hin leben – eine aufgeblasene Persönlichkeit kultivieren – sich unfähig zur Freiheit wissen, aber melancholisch ihre Luft schnuppern…).
Das einzige Motiv, das die Nietzsche-Lektüre rechtfertigt und ihren Sinn begründet, ist, vor der Entscheidung zu stehen wie er, ohne eine Wahl zu haben. … Was Nietzsche an der Wende im geschichtlichen Lauf der Dinge, an der er sich befand, versagt war, war die Möglichkeit zu dienen; nichts erschien ihm wertvoll genug, um geliebt zu werden. Er litt darunter, machte auch löbliche Anstrengungen (im Hinblick auf Richard Wagner zum Beispiel). Sein Vaterland? man hat nicht gezögert, zu sagen, daß er es trotz des Hasses, den er bekundete, liebte; immerhin aber schien es ihm weit davon entfernt, wert zu sein, daß man ihm diene. Das politische Handeln, die Reform der Gesellschaft, die unvermeidliche Revolution? Allenfalls ist darüber zu sagen, daß sie ihn mit tiefer Sorge erfüllte, nicht ohne Feindseligkeit gegenüber ihrer Ethik, zumindest kämpfend, um seine Gleichgültigkeit zu rechtfertigen. Gott war der Gegenstand einer fundamentalen Enttäuschung…
Wenn nichts, weder das Vaterland noch das tätige Menschsein noch Gott, ihm seines Dienstes wert erschien, wenn er nicht geneigt war, einem erbärmlichen Ehrgeiz zu dienen (dem Reichtum oder persönlichen Erfolgen ohne Glorie), mußte er einer unruhigen Luizidität gegenüber souverän sein. Die Krankheit verschärfte die Situation (doch hätte sie sie nicht schaffen können). Es kam der Augenblick, da er nichts mehr auf später verschieben konnte, zum Beispiel auf die Suche nach diesem, das eines Tages zu jenem dienen würde. Es gab kein Jenes mehr, das gültig wäre, er hatte auf der Stelle zu leben, auf eine Weise, die ihm notfalls trotz seiner Niedergeschlagenheit wert erschiene, gelebt zu werden. Gewiß, man kann nicht von außen über ihn sprechen, wenn man sich nicht selbst in einer Situation befunden hat, die man nur kennen kann, wenn man sie selber erfahren hat. Im allgemeinen wird der Geist von dringenden Problemen belästigt, die nur insoweit Bedeutung haben, als nichts dringlich ist. Wir sind immer (fast immer) bestrebt, nützlich zu handeln; das dispensiert uns davon, zu existieren.
Die Entscheidung, von der ich spreche, hat kaum eine Chance, uns persönlich zu betreffen. Es ist stets möglich, Gott oder dem Staat zu dienen. Wer keins von beiden liebt, dem bleibt noch die Revolution. Überhaupt genügt eine beliebige Tätigkeit, vor allem eine von schmutzigem Interesse, oft aber auch eine gemeinnützige, um die meisten zufriedenzustellen. Das soll nicht heißen, daß die Menschen gewöhnlich niemals souveräne Augenblicke haben, sondern daß das auf hinterhältige Weise geschieht. Sie sind scheinbar unterwürfig und erkennen Wert nur dem Ernst der Sache selbst zu, für die sie leben (die der private Gewinn wie das öffentliche Interesse sein kann). Ihre souveränen Verhaltensweisen, die immer unvernünftig und oftmals uneingestehbar sind – so sehr, daß umgekehrt, aber komplementär dazu das Uneingestehbare in den Augen des luziden Menschen das Zeichen der Souveränität ist –, halten sie für geringfügig und unbedeutend. Der gesunde Menschenverstand erachtet einen unnützen oder ruinösen Akt für einen Scherz, wenn nicht für einen Fehltritt, den man besser nicht wiederholen wird. Oder es ist eine Entspannung, und am nächsten Morgen bekommt der Ernst wieder seinen Wert. Die Bewußtlosigkeit ist übrigens gar nicht selten. Und auch nicht die Komödie! Der Erstbeste trägt die Ungeniertheit zur Schau, hat jedoch nur die Kraft, sie zu heucheln; der angeblich Tolle ist scharfsinnig, wenn er allein ist; er fängt sich dann wieder, oder wenn er fortfährt, schwitzt er Ängste; die souveräne Haltung ist gezwungen, und sie bekennt am Ende das Falschspiel oder die Verzagtheit ein.
In diesem Zusammenhang will ich noch dem Zweifel entgegenkommen. Wenn man nämlich sagt, daß Nietzsche nicht der einzige ist und daß auch andere sich in der Situation befanden, von der ich gesprochen habe, so bringt man Wahrscheinliches vor. Es muß jedoch gesagt werden, daß allein ein Rückgriff auf die Formulierungen der Sprache erlaubt, das Problem zu stellen, sonst ist es die unbestimmte Ergebung in einen Stand der Dinge, der möglicherweise nicht erkannt ist, jedoch auch nicht Ziel einer Bemühung ist, ihn zu ändern. (Von den Schweigsamen ganz abgesehen: die Dichter selber haben nichts formuliert; und wenn man auch zugeben muß, daß André Breton sich manchmal klar ausgesprochen hat, so hat er darum doch nicht weniger dienen wollen; für ihn stellte sich das Problem also nicht in absoluter Form.) Hegel hat die Bemühung um die Autonomie des Philosophen am weitesten vorangetrieben, doch hat er sie selber als Autonomie eines Projekts behauptet, also einer Dienstbarkeit gegenüber einem künftigen Moment.1
Das ist nicht der einzige Einwand, der möglich ist. Karl Jaspers, unbestreitbar der tiefste unter den Nietzsche-Auslegern, hat sich auf eine Weise geäußert, die der meinen diametral entgegengesetzt ist. Nach Jaspers kann man Nietzsche auf keinen Fall definieren, man kann ihn nicht situieren. Er sagt nicht nur, »daß ihm niemand auf seinem Wege folgen kann«, sondern er fügt hinzu: »Es ist der Beginn aller Unwahrheit, endgültig aussagbare Entscheidung dort fällen und hören zu wollen, wo es sich um das Sein selbst handelt. Nur in der Welt – im Erkennen bestimmter Gegenstände, im Arbeiten für bestimmte Zwecke, im Handeln auf bestimmte Ziele hin – ist aussagbare Entscheidung möglich und zugleich die notwendige Bedingung sinnvollen Tuns. Solches Tun selbst aber muß umgriffen sein vom Seinsbewußtsein der Existenz, die erst allen aussagbaren Sinn trägt.«2 Wenn aber Nietzsche dieses Bewußtsein gewesen wäre, das die Bestimmungen der Arbeit umgreift, indem es sich von ihnen abhebt, wenn er sich selbst als solches Bewußtsein definiert hätte, wäre er dann nicht gerade durch die Tatsache bestimmt, daß er nicht zu bestimmen ist? Ich will darauf hinweisen, daß die meisten Menschen sich in die Bestimmungen der Arbeit flüchten, oder eines Dienstes, der die Form der Arbeit hat. Für Jaspers ist Nietzsche in der Tat die Ausnahme… Könnte er aber nicht Ausnahme in einem Sinn sein, den der Ausleger nicht vorgesehen hat? Jaspers hat sich von Nietzsche abgekehrt, denn er selbst ist kein Ausnahme. Er bekundet so, daß er der unmöglichen Situation Nietzsches fremd gegenübersteht: er hatte den Menschen nicht aus sich selbst zu rechtfertigen, unabhängig von einer Sache größerer Dimension. Daher konnte er Nietzsche weder folgen noch ihn definieren. Wobei selbstverständlich ist, daß niemand ihn definieren kann, ohne ihm zu folgen (ohne situiert zu sein, wie er es war).
Nach dem Gesagten – nachdem die Stellung Nietzsches definiert ist – ist meine Intention klar ersichtlich. Ich glaube, daß in der heutigen Welt keine Einstellung außer der des Kommunismus und der Nietzsches annehmbar ist. Andere Einstellungen bleiben möglich…: die geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie einen Sinn hatten, sind nicht mehr voll gegeben. Die Kommunisten haben recht, wenn sie von gewissen Denkweisen sagen, daß sie eine gleitende soziale Organisation widerspiegeln, die zum Verschwinden bestimmt ist. Diese Organisation ist dazu verurteilt, entweder langsam der Wirkung ihrer Eigenbewegung nachzugehen (ihrer Entwicklung hin zu einer Gleichstellung der Menschen), oder den Gewalttätigkeiten von außen zu erliegen. Demnach würde eine Wahrheit – die nicht unbedingt einen militärischen Triumph nötig hat, die sich ebensogut in der Niederlage behaupten könnte, ja sogar in den Grenzen eines hinterhältigen Friedens (wie dem Frieden der Konfessionen nach den Religionskriegen) –, würde die Wahrheit des Kommunismus allein übrigbleiben, über einem Friedhof von toten Glaubensinhalten. Doch diese Wahrheit ist unvollständig: und zwar insoweit, als sie gewisse, angeblich nachrevolutionäre Probleme für inaktuell und unzeitig erklärt. Es handelt sich vor allem um das Problem der Zwecke. Denn wenn man den Menschen auf seine rudimentären Bedürfnisse beschränkt, verliert man seinen Unterschied vom Tier aus dem Blick: der Mensch ist das Lebewesen, das mit der biologischen Existenz nicht zufrieden ist, das sich selber Zwecke setzt, die die biologische Befriedigung zur Tragweite eines Mittels herabsetzen. Wir verdanken der Vergangenheit Zwecke, die nicht nur dem animalischen Sein des Menschen fremd sind, sondern dem Menschen selber – soweit er Gemeinbewußtsein ist: der Kommunismus denunziert sie, indem er verlangt, daß der Mensch ausschließlich dem Menschen diene (er hält die außermenschlichen Zwecke für Mittel, ihn auszubeuten). Während er kämpft, um den Menschen zu befreien, reduziert er jedoch den Menschen, auf ein Mittel, sich zu befreien: niemals spricht er – es scheint ihm verfrüht (oder unverständlich), davon zu sprechen – vom souveränen Menschen, der im Augenblick seiner Souveränität keinerlei Nutzwert über diesen Augenblick selbst hinaus hat (der ist, um zu sein, und nicht, um nützlich zu sein, zu dienen, der mit einem Wort kein Werkzeug ist, kein Ding, sondern ein souveränes Wesen).
Der Kommunismus hat die Vernachlässigung des souveränen Teils des Menschen sogar bis zu einem solchen Punkt getrieben, daß seine fahrlässige Haltung eine klare Definition des Problems ermöglicht hat. Indem er es radikal verwirft, einer jeden nutzlosen Existenz zu dienen, einer menschlichen oder nicht-menschlichen, mit einem Wort, einer jeden souveränen oder heiligen Existenz, tendiert er provisorisch dazu, den Menschen zwar nicht auf den Zustand eines Tieres, aber auf den eines Mittels des Mittels zu reduzieren. So kommt es, daß der Mensch nach dem gegenwärtigen Kommunismus das Problem des Zwecks, der seinem Wesen nach nutzlos, souverän, heilig ist, in der nüchternen Form stellt, die die traditionellen Ausflüchte verbannt. Letztlich würde das provisorische Wesen, das Mittel eines Mittels, selber nutzlos werden, doch ohne sich dieser letztlichen Nutzlosigkeit bewußt zu werden, da es nicht einmal mehr weiß, was die Wörter nutzlos, souverän, heilig bedeuten; auf lebendige Weise ist dieses Wesen ohne Bewußtsein selber die Frage, auf die Nietzsche bewußt antworten mußte.
Anstelle des Mißverhältnisses tritt am Ende die Verbindung zwischen Nietzsche und dem Kommunismus hervor. Die Aktion des Kommunismus tendiert dahin, das Problem Nietzsches weniger rar, weniger verschlossen zu machen (zumindest wenn man nicht auf Nietzsches Erbrochenes zurückkommt). Auf der anderen Seite sehen wir, daß Nietzsche im voraus auf eine Frage antworten mußte, die der Kommunismus entwickelt, indem er sich einer Antwort verweigert (denn er kann nicht antworten, ohne die Triebfedern der Aktion zu zerbrechen). In summa, es scheint vergebens, die Bedeutung Nietzsches außerhalb der Perspektiven des Kommunismus zu suchen, vergebens, die Bewegung zu verfolgen, aus der diese Perspektiven hervorgehen, ohne an ihrem Ausgang Nietzsches Erschrecken auszumachen.
1 Hegel entgeht dieser Dienstbarkeit, indem er sich mit der objektiven Totalität identifiziert, ist jedoch trotz der Kreisförmigkeit seiner Denkbewegung, die den Sinn einer Verschiebung auf später gewissermaßen aufhebt, in der Formulierung dieser Tonalität gefangen geblieben. Ich komme andernorts auf diese schwierige Frage zurück.
2 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1935, Kap. »Wie Nietzsche von uns verstanden wird«, S.448, 449.
Die Parodie und der Polytheismus bei Nietzsche? Man wird die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen auf Anhieb schwerlich erkennen und kaum sehen, welcher Vorliebe die Tatsache, daß man davon redet, wohl entsprechen mag, und das Interesse verwunderlich finden, das eine derartige Frage aufwirft. Wenn für die allermeisten der Name Nietzsche untrennbar ist von dem Spruch: Gott ist tot, so wird es, wo die Rede von Nietzsche ist, erstaunlich scheinen, wenn man von der Religion mehrerer Götter zu sprechen beginnt, während heute die Köpfe ohne Zahl sind, für die der Name Nietzsche nicht bloß nichts anderes mehr bedeutet als eben jenen Spruch, sondern für die Nietzsche nicht einmal nötig war, um zu wissen, daß alle Götter tot sind. Und vielleicht werde ich den Eindruck erwecken, mich Nietzsches zu bedienen, um das Gegenteil, die Existenz mehrerer Götter, zu beweisen, und bei der Gelegenheit, schlecht genug, den Polytheismus zu legitimieren; und, da ich mit Wörtern spiele, dürfte ich kaum dem Vorwurf entgehen, unter dem Vorwand, den Sinn der Parodie bei Nietzsche darzustellen, selbst eine Parodie auf Nietzsche zu schreiben.
Wenn ich Anlaß zu derartiger Konfusion bieten muß, so habe ich immerhin dies bemerklich gemacht: daß nämlich, sofern man sich anschickt, das Denken eines Autors, den man zu verstehen und verständlich zu machen sucht, vor den Augen des Publikums zu interpretieren, keiner in dem Maße wie Nietzsche seinen Interpreten verleitet, ihn zu parodieren. Und nicht allein die in sein Denken verliebten Interpreten, sondern auch diejenigen, die angestrengt bemüht sind, ihn als einen gefährlichen Geist zu widerlegen; Nietzsche selber ermahnte einen seiner ersten Kommentatoren – niemand hatte bislang von ihm gesprochen –, von allem Pathos abzulassen, keinesfalls Partei für ihn zu ergreifen und bei seiner Charakterisierung eine Art von ironischem Widerstand aufzubieten.
Es läßt sich hier also weder vermeiden, zum Opfer einer Art List zu werden, noch, in die ins Denken und in die Erfahrung Nietzsches eingelassene Falle zu gehen; und sobald man versucht, Geburt der TragödieWanderer und sein SchattenFröhlichen WissenschaftZarathustraGötzen-DämmerungEcce homo