NERVENKLINIK BERLIN-NIEDERSCHÖNHAUSEN
2. DEZEMBER 1907
»Nicht, Fräuleinchen. Nicht doch!«
Der Pfleger will beruhigend klingen, aber die junge Frau hat Bärenkräfte. Obwohl sie angeschnallt ist und er sie im Schwitzkasten hat, befürchtet er jedes Mal aufs Neue, ihr den Kiefer zu brechen.
»Mund auf! Das hilft doch alles nichts!«
Die Krankenschwester steht daneben, das Glas mit der milchig-trüben Flüssigkeit in der Hand, und kann sich nicht entscheiden, wie sie ihr Mitgefühl verteilen soll. Da ist die Patientin, die genau weiß, was sie erwartet, und sich deshalb so wehrt. Und dort der Pfleger, ein bulliger, muskulöser Mann mit der Statur eines Kohlenträgers, der seine Arbeit tut und dem man ansieht, dass ihm nicht wohl dabei ist.
»Jetzt!«, brüllt der Pfleger.
Er reißt die Kiefer auseinander, und die Schwester schüttet den Inhalt des Glases in den Schlund. Die Patientin würgt und spuckt die Hälfte wieder aus. Sie bäumt sich auf und spürt den Schmerz ihrer Muskeln, verkrampft von den erfolglosen Versuchen, sich gegen die eng geschnallten Lederbänder an Armen und Beinen aufzulehnen, so vergeblich, so hoffnungslos, dass nicht der Schmerz, sondern die Akzeptanz seiner steten Wiederkehr ihr die Tränen in die Augen treibt.
»Ach Fräuleinchen. Fräuleinchen!«
Langsam lässt der Pfleger sie los. Er wechselt einen kurzen Blick mit der Krankenschwester und lässt die Patientin vorsichtig aus seiner Umklammerung gleiten.
»Und das geht jeden Abend so?«
Aus dem Schatten auf der anderen Seite des Zimmers löst sich eine schlanke, hochgewachsene Gestalt. Der Arzt ist neu, seit ein paar Tagen arbeitet er auf der Station und hat an diesem Fall offenbar ein ganz besonderes Interesse. Aufmerksam blättert er in der Krankenakte und tritt ein paar Schritte näher.
Die Schwester nickt und stellt das leere Glas auf dem Nachttisch ab. »Jeden Abend. Immer, wenn sie das Veronal bekommt.«
Ihr Blick fällt auf die Patientin, die zurückgesackt ist und mit leerem Blick an die Zimmerdecke starrt. Der Mund steht halb offen, die dunklen Haare kleben schweißfeucht an der Stirn. Arme und Beine zucken, Nachwirkungen der übermenschlichen Anstrengung, alldem hier zu entkommen.
Der Arzt studiert immer noch die Akte. »Und wenn Sie das Veronal absetzen?«
»Dann schläft sie nicht«, antwortet der Pfleger. »Sie geistert so lange herum, bis sie zusammenbricht, und macht alle anderen völlig verrückt.«
Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen.
Der Arzt sieht kurz hoch. Er trägt eine runde Brille, deren Gläser das trübe Licht der Gaslampe reflektieren, man kann nicht erkennen, welchen der beiden Angestellten er gerade anblickt.
»Herr Dr. Bispinger hat fortschreitende paranoide Demenz diagnostiziert.« Die Schwester weist mit einem kurzen Nicken auf die Akte, die der Arzt gerade zuklappt und auf dem Nachttisch ablegt. »Das Traitement moral zeigt bisher keine Wirkung. Laxantien, Kokain sowie die üblichen Schmerz- und Fiebermittel haben sich als nicht geeignet erwiesen. Codein und Veronal sind die einzige Möglichkeit, sie zur Ruhe zu bringen. Aber diese Ruhe …«
Sie wirft einen Blick auf die Patientin.
Langsam entspannen sich deren Muskeln. Über das verhärmte Gesicht mit den Zügen einer Todkranken huscht so etwas wie ein Lächeln. In diesem Augenblick erreicht die Droge das Gehirn, und für wenige Minuten wird das sich aberwitzig drehende Rad im Kopf der jungen Frau zum Stehen kommen. Für einen kurzen Moment hält ihre Seele im sanften Übergang zwischen Wahn und Wirklichkeit inne, kann sich erholen von den grauenhaften Zerrbildern ihrer absonderlichen Visionen, bevor sie ankommt in der Realität.
Der Arzt tritt an die Kranke heran und fühlt ihren Puls. Dann beugt er sich über ihr Gesicht und sieht ihr in die Augen. Große, dunkle, umschattete Augen, die ihn nicht erkennen und wohl kaum etwas wahrnehmen von dem, was sich um sie herum abspielt.
»Sie ist erst siebzehn«, sagt er leise. »Und jeden Abend erlebt sie das gleiche Grauen. Ist es da nicht unsere höchste Pflicht, Mitgefühl zu zeigen?«
Er legt seine Hand auf den Unterarm der Kranken, der übersät ist mit schlecht verheilten Schrunden von den Ledergurten, mit denen sie sich jeden Abend diesen aussichtslosen Kampf liefert.
Pfleger und Schwester wechseln hinter seinem Rücken einen Blick. Arbeiten Sie erst mal ein paar Jahre in dieser Klinik, will er sagen. Dann ist der Ledergurt auch Ihr einzig zuverlässiger Kollege. Es gibt Seelen, die muss man vor sich selber schützen. All die neuen Therapien und bahnbrechenden Erfolge, von denen man hört, sie sind bei diesen Menschen vergebens.
Ein tiefer, röchelnder Atemzug steigt aus der mageren Brust der Kranken empor. Die Schwester geht zum Waschtisch, nimmt ein Handtuch und taucht es in eine Schüssel mit Wasser.
Die junge Frau beginnt, heftiger zu atmen. Leben kehrt in ihre Augen zurück, sie sieht den Arzt, erkennt das Zimmer, verkrallt die Finger in dem Bettlaken und öffnet den Mund. Aus ihrer Kehle dringt ein tiefer, unmenschlicher Schrei, der wie ein Dämon herausfährt und an den Wänden widerhallt. Er will nicht aufhören.
Entsetzt tritt der Arzt einen Schritt zurück und sieht sich Hilfe suchend nach der Schwester um. Sie eilt an das Bett und legt das feuchte Tuch auf die Stirn der Patientin.
»Jetzt geht es los«, sagt sie. »Sie werden gleich sehen …«
»Nein!«
Das Wort, fast unkenntlich zerdehnt, gellt in ihren Ohren und wird zu einem neuen Schrei. Abgrundtiefes Entsetzen und Flehen um Erlösung zugleich. In einem Röcheln geht er unter, die Patientin hustet und ringt um Luft. Dann presst sie die Kiefer zusammen und ballt die Fäuste. Die Augenlider flattern, und in ihrem Gesicht spiegelt sich mit einem Mal die Erkenntnis, dass etwas Grauenhaftes geschieht und sie ein neuer Albtraum angesprungen hat, einer, der keine Vision ist, sondern der schlimmste Schmerz, den ein Mensch erleben kann.
Die Schwester tupft vorsichtig die schweißnasse Stirn ab.
Die Frage. Immer dieselbe, jeden Abend, und sie zerreißt ihr stets aufs Neue das Herz.
»Wo … ist … mein Kind?«
Die Schwester lässt die Hand mit dem Tuch sinken. Der Pfleger sieht zu Boden.
»Was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«
Die junge Frau muss einmal ein sehr hübsches Mädchen gewesen sein. Lange bevor Alkohol und Wahnsinn ihr zerstörerisches Werk begonnen haben. Ein schwacher Abglanz ist zu erahnen, jetzt, wo ihre Augen sich mit Tränen füllen und die flehentliche Frage übergeht in hemmungsloses Schluchzen.
»Mein Kind, mein Kleines. Wo ist es? Was ist geschehen?«
Der Pfleger tritt von einem Fuß auf den anderen. Der Arzt räuspert sich, nimmt die Brille ab, haucht sie an und poliert sie mit dem Ärmel seines Kittels.
»Was antworten Sie ihr? Also … was sagen Sie in diesem Moment?«
Die Schwester richtet sich auf und nimmt den Arzt zwei Schritte zur Seite.
»Wir haben verschiedene Möglichkeiten ausprobiert. Mal sagen wir, es ist in guter Obhut, mal sagen wir …«
Sie dreht sich um und schaut hinüber zu der Patientin, die von Weinkrämpfen geschüttelt den Kopf hin und her wirft.
»… es ist tot.«
Der Arzt nickt. »Sagen Sie ihr auch die Wahrheit?«
»Die Wahrheit?«
Die Schwester wirft erneut einen Blick auf das verzweifelte, gefesselte Bündel Mensch. Dann senkt sie die Stimme. »Viel mehr Wahrheit haben wir nicht.«
Der Arzt setzt die Brille auf und geht zurück zum Bett. Die Patientin starrt ihn an und zieht an ihren Fesseln.
»Wo ist mein Kind? Ich will zu meinem Kind!«
Er setzt sich neben sie. »Ihr Kind lebt nicht mehr.«
Die Frau reißt die Augen noch weiter auf. Eine kreidige Blässe liegt auf ihrer Haut, die nassen Haare und die abgezehrten Züge geben ihr mit einem Mal das Aussehen eines kranken Vogels. Ihre Stimme ist nur noch ein heiseres Flüstern.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Sie haben es umgebracht.«
Die Schwester hält den Atem an. Das ist nicht gut, was er da macht. Wenn das die neuen Methoden aus Wien sind – ihre Sache ist das nicht. Sie geht leise zum Waschtisch und feuchtet noch einmal das Tuch an.
Der Arzt mustert die Kranke und wartet auf eine Reaktion.
Sie presst die schorfigen, wund gebissenen Lippen zusammen und starrt ihn trotzig an. »Das stimmt nicht. Ich habe mein Kind nicht umgebracht.«
Der Arzt nimmt die Krankenakte, schlägt sie auf und deutet mit dem Zeigefinger auf eine Stelle in dem Einweisungsattest.
»Hier steht es aber. Schwarz auf weiß. Und ich muss doch glauben, was hier steht, oder?«
»Ich war es nicht«, wiederholt sie.
»Wer dann?«
Sie sinkt zurück in das Kissen und sieht ihn lange an. Dann lächelt sie. Es ist ein wissendes Lächeln von einer solchen Intensität, dass ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterrieselt.
»Die Schwarze Königin.«
Dann starrt sie die Schwester an, die unter diesem Blick das Tuch sinken lässt und auf einmal spürt, wie eine böse, kalte Furcht von ihr Besitz ergreift. Die Kranke richtet sich auf, soweit es ihre Fesseln zulassen. Sie sieht den Pfleger an, der noch einen Schritt zurückweicht vor diesem Blick. Es ist totenstill im Raum.
»Und sie wird euch alle holen.«