Am 17. Dezember 1999 erschien im Berliner Tagesspiegel ein Artikel mit der Überschrift »Ein Zeichen setzen gegen den schäbigen Kleinmut«.
Empört über das Verhalten mancher Großunternehmen mit braun befleckter Firmengeschichte zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, riefen Leser der Zeitung zu privater Hilfe für Zwangsarbeiter auf und schilderten ihre Erlebnisse mit polnischen und ukrainischen Kindermädchen in Familienhaushalten.
Bis dahin hatte ich geglaubt, Zwangsarbeiter hätten ausschließlich in Fabriken, öffentlichen Institutionen oder der Landwirtschaft gearbeitet. Hier aber las ich von zumeist sehr jungen Frauen, die aus den überfallenen Gebieten nach Nazi-Deutschland verschleppt worden waren und deutsche Kinder liebevoll ge- und behütet hatten. Eine Leserin, eines dieser Kinder, schrieb, dass ihr polnisches Kindermädchen sich ihrer »auch dann liebevoll angenommen hatte, als sich die eigene Mutter vor einer Krankheit des Kindes ekelte«. Andere berichteten von diesen »Sklavinnen in deutschen Haushalten«, dass sie diejenigen gewesen waren, die »uns in den Schlaf gesungen, und gefüttert, gestreichelt, geliebt haben«.
Ich wollte diese Frauen finden.
Dass ich im Januar 2003 in Kiew mit fünf von ihnen reden konnte, verdanke ich Marina Schubert und dem Berliner Verein Kontakte e.V. Es ist die einzige mir bekannte Institution, die sich um das Schicksal dieser Frauen kümmert, von denen viele aufgrund der oft verworrenen Rechtsverhältnisse bis heute auf eine Entschädigung warten.
Marina Schubert ist eine Frau, die ich für ihren grenzenlosen Idealismus und ihre Stärke bewundere, mit der sie jeden einzelnen Fall zu ihrem ganz persönlichen Anliegen macht und immer wieder aufs Neue den Kampf gegen die Windmühlenflügel der Bürokratie aufnimmt.
Mit tiefer Zuneigung und großem Respekt danke ich: Anastasia Sidorenko, 80,
Valentina Sergejewna, 77,
Maria Jimilianowa, 78,
Hana Bondar, 76,
Pelageia Iwanowna, 76.
Ohne ihre Offenheit und den Mut, mit dem sie sich in langen Gesprächen an ihre Zeit in Deutschland und ihre höchst unterschiedlichen Erfahrungen erinnerten, wäre dieses Buch nicht entstanden.
Erstaunlich oft wurde mir auf die Frage, was diesen Frauen über die Zeit in Nazi-Deutschland hinweghalf, der 90. Psalm genannt, den ich an einigen Stellen zitiert habe.
Dank an Nadieshda von der Ukrainischen Nationalstiftung und unsere Fahrerin Nelli, die selbst die unwahrscheinlichsten Adressen an den seltsamsten Orten Kiews aufspürte.
Es wäre wünschenswert, nicht zuletzt dank des hohen Lebensalters dieser Frauen, wenn sich Historiker dieses fast völlig vergessenen Kapitels deutscher Geschichte endlich annähmen.
Ich danke Anke Veil, die – wie auch bei meinem ersten Buch – oft ziemlich lange auf die Fortsetzung der Geschichte warten musste und mich mit ihrem Interesse, ihrer Neugier, ihrem Lob und ihrer Kritik angespornt hat weiterzuschreiben.
Für ihr liebevolles und aufmerksames Gegenlesen, für die Unterstützung und den juristischen Rat bei den in diesem Buch aufgeführten Rechtsfällen danke ich ganz besonders den Anwälten Nicole Poppe-Rosin und Udo Rosin.
Martin Weinhold hat mich vor dreizehn Jahren nach Rauchfangswerder, Sassnitz und zum Plänterwald geführt. Dem Knirschen der Scherben unter unseren Füßen habe ich das Grünauer BVG-Kapitel gewidmet. Dank auch an Barbara Weinhold. Ohne sie sähe dieses Buch anders aus.
Ohne Renate und Gerd Balke wäre ich wohl bis heute noch nicht fertig. Nur mit ihrer Hilfe habe ich dieses Buch in »nur« zwei Jahren geschafft.
Erwin Zernikow hat mir großzügigerweise seinen Namen für diesen Roman überlassen. Ich möchte an dieser Stelle allen anderen Zernikows und dem Rest der Welt versichern: Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Nicht erfunden sind die historischen Fakten. Mein Dank für sein Interesse und seine hilfreichen Anregungen geht auch an Professor Jörg Friedrich.
Andreas Jöhrens hat mich mit unendlich vielen Ideen, Hinweisen und Hintergrundinformationen über das Dickicht der Berliner Landespolitik inspiriert.
Meinen Eltern Loni und Friedrich Herrmann verdanke ich viele Gespräche, Erinnerungen und Antworten. Sie sind ein Born unerschöpflicher Lebenserfahrung, aus dem ich immer wieder gerne schöpfe. Oder, um es mit meiner Hauptfigur zu sagen: Ihr habt einen verdammt guten Job gemacht!
Zum Schluss, weil sie mir das Wichtigste im Leben ist, danke ich meiner Tochter Shirin. Dafür, dass es sie gibt.
Berlin, den 15. Mai 2005
Elisabeth Herrmann, geboren 1959 in Marburg/Lahn, arbeitet als Journalistin und lebt mit ihrer Tochter in Berlin. Zum Schreiben kam sie erst über Umwege – und hatte dann sofort durchschlagenden Erfolg mit ihrem Thriller »Das Kindermädchen«, der von der Jury der KimiWelt-Bestenliste als bester deutschsprachiger Krimi 2005 ausgezeichnet und vom ZDF mit Jan Josef Liefers und Natalia Wörner in den Hauptrollen verfilmt wurde.
Ich kam immer zu spät zu Beerdigungen.
Die Trauergäste verließen gerade die Kapelle des Dahlemer Waldfriedhofes. Sigrun erschien als eine der Letzten und warf einen suchenden Blick Richtung Ausgang. Ich trat ein paar Schritte vor, sie entdeckte mich und winkte mich unauffällig heran.
»Das war nicht nett von dir.« Ärgerlich zog sie mich in die Kapelle. Vorne am Sarg stand die Familie des Verstorbenen. Schwerer Lilienduft mischte sich mit dem Geruch brennender Kerzen.
»Ich kannte ihn doch kaum«, flüsterte ich.
»Ich auch nicht«, gab sie zurück. »Aber er war der letzte Freund meiner Großmutter.«
Sie schob mich zur Seite, denn einer der Sargträger hatte sich aus dem Halbschatten gelöst und nahm ein großes Kissen hoch. Gemessenen Schrittes trug er es an uns vorbei. Auf dem Samt glitzerte es in allen Farben.
»Seine Orden«, wisperte Sigrun. »Sie haben sogar die Ehrennadel fürs Blutspenden draufgesteckt.«
Sie, das waren die Lehnsfelds, die heute den Patriarchen der Familie zu Grabe trugen: Abel von Lehnsfeld, verschieden im einundneunzigsten Jahr seines Erdendaseins, hochdekorierter Wehrmachtsoffizier, herausragender Gründervater der Bundesrepublik Deutschland, Freund der Künste und honoriger Wohltäter. Draußen, uns den Rücken zugekehrt, murmelten sein direkter Nachfahre Abraham und dessen Sohn Aaron mit dem Pfarrer. Abrahams Weib Verena stand wie immer stumm daneben.
Sigrun schnupperte hinüber zu einer abseitsstehenden Gruppe. Zigarettenrauch wehte herüber. »Eine«, flüsterte sie. »Nur eine einzige.«
Sie hatte sich das Rauchen abgewöhnt, weil es nicht zu einer erneut kandidierenden Stellvertretenden Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Familie und Soziales passte. Es fiel ihr schwer. Ich reichte ihr ein Pfefferminzbonbon. Sie wickelte es aus und steckte es in den Mund. Dabei grinste sie mich fröhlicher an, als es auf einer Beerdigung schicklich gewesen wäre.
»Du bist zu spät.«
Utz, mein Fast-Schwiegervater, war unbemerkt zu uns getreten. Er hakte sich in Sigruns anderen Arm ein und zog sie in den Trauerzug. Wohl oder übel ließ ich sie los.
»Ich arbeite zu viel.«
Ich war immer noch in der Probezeit. Nicht nur in seiner Kanzlei, auch in seiner Familie. Utz tätschelte seiner Tochter die Hand. Es war eine liebevolle Geste, die verbarg, dass sie ihn vorsichtig und unbemerkt stützte. Er war über siebzig, und seine aufrechte Haltung und das immer noch volle, von grauen Strähnen durchzogene Haar machten ihn zu einer bemerkenswerten Erscheinung. Er hätte ein Patriarch sein können, wenn ihn nicht etwas daran gehindert hätte, sich zur vollen Größe zu entfalten.
Und dieses Etwas rollte nun auf uns zu: seine Mutter, Sigruns Großmutter.
Irene von Zernikow, geborene Freifrau von Hollwitz, brachte ihren Rollstuhl in Position. Und das bedeutete für sie: in die erste Reihe. Über ihr hochgetürmtes schlohweißes Haar hatte sie einen schwarzen Schleier geworfen. Sie saß kerzengerade, ihre magere Gestalt eingehüllt in ein schwarzes Wollkleid, dazu trug sie schwarze Handschuhe. Sie musste ungefähr im gleichen Alter wie der Verstorbene sein. Mit ihren über neunzig Jahren hätte sie zerbrechlich wirken können, wäre da nicht das eiskalte Desinteresse an den Menschen und dem Geschehen um sie herum, das ihr eine Aura der Unantastbarkeit verlieh, die manche mit Stärke verwechselten. Sie grüßte niemanden, auch nicht Utz, ihren eigenen Sohn. Nur Sigrun bekam die Winzigkeit eines Nickens ab. Mir fuhr sie fast mit dem Rollstuhl über die Schuhspitzen.
»Es ist erstaunlich, wie sie das trägt«, flüsterte Sigrun. »Abel war der Letzte von der alten Garde. Jetzt ist niemand mehr da, der die Erinnerung teilt.«
Hinter dem Rollstuhl der Freifrau stand, bemerkenswert unsichtbar, Walter. Walter war Mädchen für alles in diesem merkwürdigen Haus, in das ich durch Sigrun hineingeraten war. Sein Vater war bei der Reichsbahn gewesen, und deshalb pflegte er zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen seine Meinung gefragt war, immer das Gleiche zu sagen: Der Zug fährt auf Gleisen, und die verlässt er nicht.
Im Übrigen wurde er nicht sehr häufig gefragt.
Die Freifrau hob den linken Zeigefinger. Das Zeichen genügte, und Walter schob den Rollstuhl sanft an. Der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Utz und Sigrun hielten den Kopf gesenkt. Ich tat das Gleiche, bis ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte.
Am Wegrand stand eine alte Frau. Sie musterte den Zug sorgfältig, als ob sie nach jemandem suchen würde. Sie wirkte arm und deplatziert, während die Generation der glücklichen Erben schweigend an ihr vorbeidefilierte. Ein Zaungast. Es war ein prominenter Friedhof, eine der ersten Adressen sozusagen, falls man auf so etwas Wert legte. Das lockte bei größeren Beerdigungen auch Neugierige an. Die Frau zog sich zurück, als wolle sie die Trauernden durch ihre Anwesenheit nicht stören.
Der Trauerzug hielt langsam auf ein bereits ausgehobenes Grab am Ende einer langen Reihe zu. Dutzende Kränze mit malerisch drapierten Schleifen waren schon hierhergebracht worden. Es sah ganz nach dem Gegenteil einer schnellen, unauffälligen Beerdigung aus. Auch der Pfarrer blätterte jetzt sehr konzentriert in seiner Bibel, obwohl doch alles Wichtige bereits in der Kirche gesagt worden war. Dachte ich. Dann sah ich die Blaskapelle und ließ alle Hoffnung fahren.
Die Freifrau bemerkte die Musikanten und entfernte als einzige Reaktion ihr Hörgerät. Sie reichte es Walter, der es ohne mit der Wimper zu zucken einsteckte. Während die Sargträger Abel langsam in das ausgehobene Grab hinunterließen, legte sie den Kopf zurück und schlief ein.
Utz senkte den Blick und faltete die Hände. Der Pfarrer trat an das Grab und räusperte sich. Der letzte Akt am Ende eines langen Lebens hatte begonnen.
»Und, wie war’s?«
Jeder, der in die Kanzlei wollte, musste an Connie vorbei. Sie hatte das Büro im ersten Stock gleich links neben der Tür. Heute trug sie eine pinkfarbene Escada-Jacke, die sie für acht Euro bei ebay ersteigert hatte.
»Wie Beerdigungen so sind«, antwortete ich. Ich mochte Connie.
Sie wusste das und vertiefte instinktiv ihr Lächeln. Es war ihr ganz persönlicher Reflex. Junggeselle, heiratsfähig, obere Gehaltsklasse.
»Ich war noch nie auf einer«, sagte sie. »Ich meine, es ist noch nie jemand gestorben, den ich kannte.«
»Doch. Abel von Lehnsfeld.«
»Den kannte ich nicht. Nicht richtig, meine ich. Außerdem war er alt.«
Selektives Wahrnehmungsvermögen. Ich beugte mich über ihren Schreibtisch und tippte auf ihren Terminkalender. »Denk an die Testamentseröffnung. Morgen, fünfzehn Uhr.«
»Kommt Aaron auch?«
Junggeselle, heiratsfähig, oberste Gehaltsklasse, vor allem nach dem Ableben des Großvaters. »Ich habe extra seine Lieblingskekse besorgt. Schokocremewaffeln. Magst du probieren?«
Sie zog die Schublade auf, in der sie ein halbes Dutzend Packungen gehortet hatte. Vermutlich alle in der Hoffnung, Aaron eines Tages damit zu füttern.
»Nein danke«, sagte ich. »Post? Anrufe?«
Sie stand auf und drückte sich mit wiegenden Hüften etwas zu nahe an mir vorbei. »Post, ja, Anrufe, nur einer. Von deiner Mutter. Sie will wissen, was mit Reinickendorf ist.«
Ich hatte keine Zeit, um mich jetzt mit meiner Mutter und ihrem Problem, nach Reinickendorf zu kommen, auseinanderzusetzen. Früher, als meine Kanzlei noch in einer Kreuzberger Einzimmerwohnung war und ich sehr, sehr wenig zu tun hatte, war das kein Problem gewesen. Jetzt hatte ich sehr, sehr viel Arbeit. Ich arbeitete dermaßen viel, dass ein Nachmittag beim Bridge unter Jahresurlaub lief und mehr als eine Beerdigung pro Quartal nicht drin war. Aber das verstand meine Mutter nicht.
Auf dem Weg zu meinem Büro nickte ich Hogersand, Versicherungen und Offshore-Trusts, und Meinerz, Verbindungsmann zu Londoner Steuerberatungskanzleien, zu. Sie waren zwanzig Jahre älter als ich, strebsam, klug, in ihren Äußerungen zurückhaltend und genau die Mischung aus Vaterfigur und Gentleman-Verbrecher, die ich mir für ein Vermögen ab zehn Millionen aufwärts wünschen würde.
Harry Baumgarten kam mir entgegen. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und sah erst auf, als er kurz davor war, mit mir zusammenzustoßen.
»Wie war’s?«, fragte er hastig. Bei Harry musste alles schnell gehen. Die Gespräche, die Prozesse, die Karriere.
»Wie Beerdigungen so sind«, erwiderte ich.
Harry nickte schnell. »Die Testamentseröffnung. Du bist morgen dabei.« Er kniff die Lippen zusammen. Ich war ein Pflock, den das Schicksal vor seinen Füßen in die Erde gerammt hatte. Ohne mich säße er morgen dabei. Ohne mich wäre er vielleicht in ein paar Jahren Partner von Utz, statt in eine freudlose Zukunft als unentbehrliche rechte Hand zu starren. Ich vermutete, dass Harry nicht mehr lange bei uns bleiben würde.
»Tja, dann komm mal mit in mein Büro. Warum soll ich die ganze Arbeit alleine erledigen?«
Er lief voraus und riss die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf. Ich folgte ihm. Es war ähnlich geschnitten wie die anderen Räume im ersten Stock: quadratisch, holzgetäfelt, mit einem wunderschönen Ölbild an der Wand hinter dem Schreibtisch, die hervorragende Kopie eines impressionistischen Seerosenteiches.
Harry legte einige Handakten auf einen Stapel und reichte sie mir. »Lass Georg Kopien machen, und schließ sie ein. Sind ein paar heikle Sachen dabei.«
»Heikel?«, fragte ich.
Er legte mir ungerührt eine weitere Akte dazu. »Lehnsfeld ist immer heikel.«
Das Telefon klingelte. Harry hob ab und reichte mir mit einem säuerlichen Lächeln den Hörer. Es war Connie.
»Kannst du mal kommen?«, fragte sie. »Es steht schon wieder jemand im Garten.«
Immer wieder verirrten sich Touristen und Neugierige in den Garten. Die Zernikow’sche Villa war eine der wenigen, die die Modernisierungswut der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts unbeschadet überlebt hatten.
1896 als eines der ersten großen Anwesen in der neu geschaffenen Kolonie Grunewald errichtet, ruhte es in einem zweitausend Quadratmeter großen Park, der wohl eher aus Desinteresse denn Fürsorge nie verändert worden war und deshalb langsam ein Fall für die Denkmalpflege wurde. Spaziergänger und Führungen durch die ehemalige Villenkolonie machten hier mit Vorliebe Halt. So hatte ich eines stillen Nachmittags am offenen Fenster durch die penetrante Stimme eines vor Sozialneid fast vergehenden Stadtbilderklärers erfahren, dass dieses Haus, ebenso wie das ganze Viertel, durch eine der größten Grundstücksspekulationen der wilhelminischen Epoche entstanden war.
Jetzt war die Villa alt, fraß Unsummen und keuchte das Geld durch die Ritzen und Schornsteine, die berstenden Rohre und das immer wieder undichte Dach geradezu asthmatisch aus. Nie im Leben wäre ich freiwillig hierhergezogen. Man saß, in familiärem wie auch in städtebaulichem Sinn, immer auf dem Präsentierteller. Schließlich wurde hier nicht nur gearbeitet. Wir wohnten auch hier.
Es kam nicht oft vor, dass wir ungebetene Gäste hatten. Aber sie wurden immer frecher. Weder durch verschlossene Tore, hohe Hecken noch schmiedeeiserne Jugendstilzäune ließen sie sich zurückhalten.
Doch die Frau, die sich durch den Garten schlich, wollte nicht in unseren Garten. Sie kümmerte sich nicht um den Park, sondern stand unter einem der Bürofenster und versuchte vergeblich, einen Blick hineinzuwerfen. Ich ging auf sie zu und rief sie an. Erschrocken drehte sie sich um. Sie war klein, steinalt und wirkte sehr, sehr arm.
»Pascholsta«, sagte sie und drückte eine dunkle Plastikhandtasche an die Brust. »Ich suche Utz.«
Ich blieb erstaunt stehen. »Herrn von Zernikow?«
Sie nickte. »Ist er da?«
Deutsch kam ihr schwer über die Zunge. Eine Russin, vermutete ich.
»Was wollen Sie von ihm?«
Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Zettel hervor, den sie mir überreichte. Es war ein mehrfach gefaltetes Papier, ein Durchschlag, wie er bei uns im Computerzeitalter schon lange nicht mehr erstellt wurde. Die Buchstaben waren kyrillisch.
»Was ist das?«
»Bescheinigung«, sagte die Frau. »Soll er unterschreiben.«
»Das wird er vermutlich nicht tun. Um was geht es denn?«
Ich faltete den Zettel zusammen und reichte ihn ihr. Doch sie weigerte sich, ihn anzunehmen.
»Um Natalja«, flüsterte sie. Sie war nervös. »Natalja Tscherednitschenkowa. Es ist wichtig.«
»Warum?«
Sie lächelte und zeigte dabei vier einsame Vorderzähne. »Eine Sache zwischen Utz und Natalja.«
Ich kannte wenige Leute, die Utz beim Vornamen nannten. Eine alte Russin wäre die Letzte, von der ich diese Anrede erwartet hätte.
»Geben Sie ihm«, bat sie mich. »Es ist wichtig.«
»Brauchen Sie Hilfe, Herr Vernau?« Walter stand an der Ecke. Er trug noch den schwarzen Hut von der Beerdigung, also musste auch die Freifrau gerade eingetroffen sein.
»Nein«, rief ich zurück. »Die Dame wollte gerade gehen.«
Ich bot ihr meinen Arm an und geleitete sie zur Gartenpforte. Dort blieb sie stehen. »Darf ich … das Haus sehen?«
Ich sah zur Eingangstür. Walter stand dort wie ein Zerberus, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete missbilligend den ungebetenen Besuch.
»Nur einen Blick«, sagte sie. »Ich will es Natalja erzählen.«
Ich ließ die rätselhafte Fremde los und nickte Walter zu. Unwillig trat er einen Schritt zur Seite. Sie ging in die Eingangshalle und sah sich konzentriert um. Als ob sie jede Einzelheit fotografisch in ihrem Gedächtnis speichern wollte. Die schweren Kristalllampen, die breite Treppe, die alten Teppiche. Die großformatigen Landschaftsbilder an der Seidentapete, die jugendstilverglasten Fenster. Dann fiel ihr Blick auf Walters Kabuff neben dem Eingang und den Überwachungsmonitor. Sie tastete sich rückwärts zur Tür.
»Danke«, sagte sie. »Es ist tatsächlich so schön, wie Natalja immer erzählt hat.«
»Natalja?«
Aaron von Lehnsfeld stand hinter uns. Ich war verblüfft, wie leise er sich uns genähert hatte.
Die Frau drehte sich rasch zu ihm um. Ihre Schultern strafften sich, ihr Blick wurde streng. »Natalja Tscherednitschenkowa. Kennt man den Namen nicht mehr? In diesem Haus?«
Es kam zum ersten und meines Erachtens auch einzigen Moment der minimalen Verbrüderung zwischen Walter, Aaron und mir. Wir sahen uns ratlos an.
»Sollten wir den Namen denn kennen?«, fragte ich.
Walter trat auf sie zu. »Ich denke, Sie sollten gehen. Die Besichtigung ist beendet. Falls Sie nichts dagegen haben, Herr Vernau.«
Er funkelte mich böse an, griff nach dem Arm der Frau und führte sie hinaus. Aaron war bereits die Treppen hochgesprungen und lief in den zweiten Stock. Also hatte er einen Termin bei der Freifrau und würde ihr vermutlich brühwarm von diesem merkwürdigen Besuch erzählen.
»Was wollte die denn?« Walter zog den Staubmantel aus.
Ich musterte unentschlossen den Zettel in meiner Hand, dann steckte ich ihn ein. »Keine Ahnung.«
Von oben war ein Quietschen zu hören. Ein Schatten glitt hinter eine Tür, die sich leise schloss.
»Ich sehe gleich nach ihr«, sagte Walter und verschwand in seinem Reich.
Ich tastete nach dem Zettel. Die Russin war die Frau, die ich auf dem Friedhof gesehen hatte.
Am Abend erzählte ich Sigrun von ihr. Wir standen nebeneinander vor dem Spiegel im Badezimmer und mussten uns beeilen, denn wir hatten Karten für die Oper und wollten Utz gegen sieben Uhr abholen.
»Vielleicht spioniert sie für die Russenmafia, ob sich ein Einbruch lohnt. Und du hast sie hereingelassen?«
»Nur ins Entree.«
Sie drehte sich zu mir um. »Das reicht ja schon. Jeder, der den Kasten von vorne betritt, denkt doch gleich, wir sind die Rockefellers.«
Ich grinste. »Stimmt das etwa nicht?«
Sigrun bekam ihre winzig kleine Falte zwischen den Augenbrauen. »Das weißt du genau. Es ist mir ein Rätsel, warum wir noch nicht pleite sind. Aber offensichtlich hat Omi immer noch einen Trumpf in ihrer Aussteuertruhe. Ich sage dem Personenschutz Bescheid. Sie sollen die Augen offen halten.«
Als Senatorin und Stellvertretende Bürgermeisterin stand Sigrun ein vom Land Berlin bezahlter Wagen mit Fahrer sowie eine Rundumbewachung zu.
Sie putzte sich mit Leidenschaft die Zähne und sagte dabei: »Morgen kommen die Leute von der Berliner Tageszeitung. Bist du dabei?«
»Wann?«
»Zwischen drei und vier.«
»Geht nicht.« Ich suchte meine Manschettenknöpfe. »Die Testamentseröffnung für die Lehnsfelds.«
Sigrun spuckte ins Waschbecken. »Es wäre mir aber wichtig.«
»Und deinem Vater ist es wichtig, dass ich dabei bin. Es ist ein umfangreicher Nachlass, und es gibt schon jetzt Probleme damit.«
»Und das ist ein verdammt wichtiger Wahlkampf, und ich will das Innere.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und begutachtete ihr strahlend weißes Gebiss.
»Inneres«, stöhnte ich und hielt ihr die manschettenknopflosen Ärmelenden entgegen. »Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, das Ressort bekommt keine Frau. Familie, Kultur, Justiz – kein Problem. Aber an das Innere lassen sie dich nicht ran.«
Sigrun fädelte mir die Manschettenknöpfe ein. »Schon möglich. Wenn ich noch nicht mal von meinem eigenen Lebensgefährten unterstützt werde …«
»Was soll ich denn auf diesen Fotos?«
»Sie würden zeigen, dass ich in der Lage bin, eine politische Karriere und ein glückliches Privatleben unter einen Hut zu bekommen.«
»Reicht es nicht, wenn wir das wissen?«, fragte ich sie leise.
»In diesem Fall nein.«
Ich versuchte es mit der Krawatte. »Fünf Minuten. Zwischendurch. Und nur, wenn es sich einrichten lässt.«
Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Mehr will ich doch gar nicht.«
Ich hätte sie gerne geküsst, aber wir hatten nicht die Zeit. »Porsche, Jaguar, Mercedes?«
Sie lächelte. »Mercedes. Heute Abend sind wir brav.«
Immer noch tiefschwarz wie eine Pinguinfamilie und mit einem sehr ernsten Ausdruck im Gesicht traten erst Abraham, dann seine Frau Verena und zum Schluss Aaron in den Konferenzraum. Connie hatte Kaffee gekocht und die Schokoladenwaffeln angerichtet. Harry ordnete die Akten. Vielleicht hoffte er, doch noch bei dieser Sitzung dabei sein zu können. Selbst Meinerz streckte seinen hageren Kopf herein, um dem hohen Besuch seine Aufwartung zu machen. Es nutzte ihnen nichts. Wenig später erschien Utz und schickte beide mit einer Kopfbewegung hinaus.
»Bitte, nehmt Platz«, sagte er.
Die Lehnsfelds setzten sich. Ich wartete, bis Utz sich am Kopfende des Tisches platziert hatte, und nahm mir dann den Stuhl zu seiner Linken.
»Sind alle so weit?«
Die Pinguine nickten. Dann verlas Utz eine hochkomplizierte Nachlassregelung, nach der Abraham mit der Villa in Dahlem und sämtlichem Mobiliar bedacht wurde, zudem mit den Früchten einer konservativen Anlagestrategie und dem Ferienhaus in den Schweizer Bergen.
Verena ging leer aus. Abraham legte ihr die Hand auf den Arm, sie senkte den Blick und blieb eine Weile so sitzen. Schließlich unterschrieb Abraham und sah Utz zufrieden an. »Ich danke dir.«
Er stand auf, Verena stand auf, Aaron blieb sitzen.
»Habe ich etwas vergessen?«, fragte Abraham sichtlich irritiert.
Utz räusperte sich. »Dein Sohn. Er hat auch etwas geerbt.«
Abraham und Verena setzten sich wieder.
Utz’ Blick heftete sich auf Aaron. »Dein Großvater hat dir ein Haus in Grünau vermacht. Ein schönes, aber baufälliges Anwesen.«
Aaron nickte. Er wusste also schon davon. Vermutlich hatte Utz doch ein wenig geplaudert am Rande der Trauerfeier. Der Junge machte jedenfalls ein wichtigtuerisches Gesicht und freute sich sichtlich, mehr zu wissen als sein Vater.
»Noch ein Haus?«, fragte Abraham. Er warf einen missbilligenden Blick zu Verena, als ob sie für diese Überraschung verantwortlich wäre. Verena hob die Schultern und enthielt sich, wie immer, jeden Kommentars.
Utz holte einige Unterlagen aus seiner Ledermappe, die er umständlich vor sich sortierte. »Es ist ein kriegsbedingt verlorenes Anwesen, das erst jetzt wieder – eventuell – restituiert werden könnte. Sagen wir es so, Aaron: Dein Großvater hat dir kein Haus, sondern lediglich den Anspruch darauf vermacht.«
Abraham griff nach dem Bauplan. »Ein vager Anspruch auf ein baufälliges Haus. Wie baufällig?«
»Ziemlich.« Utz breitete die Unterlagen vor Aaron aus. Grundbuchauszüge, diverse amtliche Schreiben. »Aber das scheint mir noch das geringste Problem zu sein. Der Erblasser hat mich zu Lebzeiten mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt. Es ist ein komplizierter Fall, aber das Haus lag ihm sehr am Herzen.«
Aaron warf nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen. »Wie viel ist es wert?«
Utz hob die Hände. »Schwer zu sagen. Wenn wir Pech haben – gar nichts.«
»Nichts?«
»Anders gesagt – es ist nicht klar, ob es euch, ob es dir überhaupt gehört.«
Abraham sah stirnrunzelnd von den Grundbuchauszügen auf. »Hier ist mein Vater als rechtmäßiger Besitzer eingetragen.«
Utz nickte. »Das ist richtig. Aber sieh dir bitte das Datum an.«
»1933«, murmelte Abraham. Dann raffte er die Unterlagen zusammen und schob sie zurück zu Utz. »Damit wollen wir nichts zu tun haben. Ich will diesen Ärger nicht.«
Aarons Hand krachte auf die Papiere. »Moment! Das ist mein Haus. Ich will es haben.«
»Du schlägst es aus.«
»Ich nehme es«, sagte Aaron leise.
Spannungsgeladenes Schweigen breitete sich aus. Verena räusperte sich kurz, dann lehnte sich Abraham zurück. »Du weißt wie immer nicht, was du sagst. Eine baufällige Villa und ein Anspruch der Jewish Claims Conference. Dafür hast du nicht das Geld und nicht die Ausdauer. Du überblickst das doch gar nicht.«
»Aber du, ja? Du hast das Haus ja noch gar nicht gesehen.«
»Du etwa?«
Aaron warf Utz einen schnellen Blick zu. Utz tat so, als ob er nichts gehört hätte.
»Ja«, sagte Aaron. »Opa hat mir einen persönlichen Brief hinterlassen. Er will, dass ich mich um das Haus kümmere.«
Abraham beugte sich vor. »Er wollte, dass du … Du sollst dich um etwas kümmern?«
Ich konnte Abrahams Verblüffung verstehen. Aaron sah mit seinen fast dreißig Jahren blendend aus. Aber er hatte ein lächerliches Abitur an einem Internat abgelegt, das auf Fälle wie ihn spezialisiert war. Im Moment versuchte er sich in seinem dritten Grundstudium, das wohl auch nur den einen Sinn hatte, ihn von der Straße fernzuhalten, wie es meine Mutter ausgedrückt hätte. Niemand mit Verstand würde dem Jungen zutrauen, dass er sich um mehr als den Ölstand seines Lexus kümmerte. Ein Haus war geradezu absurd.
Das wusste auch sein Vater. Also wandte er sich an Utz. »Wie sind die Chancen bei diesen Ansprüchen?«
Utz räusperte sich und griff nach seinem Füllfederhalter. »Nicht schlecht, soweit ich das bis jetzt beurteilen kann. Nur …« Sein Blick fiel auf Aaron. »Das Gebäude soll wohl wieder einer öffentlichen Nutzung zugeführt werden. Es muss renoviert und dann an eine gemeinnützige Einrichtung verpachtet werden.«
»Gemeinnützig?«, piepste Verena. Sie sah sich offenbar mit einer völlig neuen Variante gesellschaftlichen Daseins konfrontiert. »Gemeinnützig?«
»Das ist doch alles Unsinn.« Abraham stand auf und marschierte ärgerlich zum Kopfende des Raumes. »Aaron, du übernimmst dich. Lass es sein. Es ist wie immer ein Kuckucksei, das er uns ins Nest gelegt hat. Eine 1933 gekaufte Villa. Von wem eigentlich gekauft?«
Utz studierte die Unterlagen. »Von einem Felix Glicksberg, Zuckerfabrikant.«
»Glicksberg«, wiederholte Abraham. »Mein Gott, Aaron, verstehst du nicht?«
»Doch«, erwiderte der Sohn. »Ich verstehe. Du willst die Ausschreibung für die Jüdische Bibliothek in Madrid gewinnen. Es würde deine Chancen um einiges mindern, wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass der Vater eines international renommierten Stararchitekten sich im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten bereichert hat.«
»Ja«, sagte Abraham. »Das wäre sehr unglücklich. Aber das ist es nicht allein. Ob du es glaubst oder nicht, ich will tatsächlich nichts damit zu tun haben.«
»Hast du auch nicht. Das ist mein Erbe. Und ich will es behalten.«
Ich wunderte mich, dass Aaron den Rat seines Vaters so vehement ausschlug. Ein kurzer Blick auf die Unterlagen zeigte, dass außer der Arbeit auch die Kosten enorm sein würden. Aaron wusste wirklich nicht, was auf ihn zukam. Vermutlich war er noch dümmer, als bisher zu befürchten war. Ich stand auf und öffnete das Erkerfenster, damit etwas frische Luft in den Raum hereinströmte. Sigruns Wagen stand in der Einfahrt. Das war ungewöhnlich. Doch dann fiel mir ein, dass sie heute den Termin mit der Zeitung hatte. Hinter mir breitete sich Stille aus.
Aaron saß ungerührt am Tisch. Ganz lässig, ganz Herr der Lage, die ihm mit Sicherheit in kürzester Zeit über den Kopf wachsen würde.
Verena sah verstohlen auf ihre Armbanduhr. Solche Sitzungen waren nicht ihre Sache. Sie gehörte auf Polo- und Golfplätze und ertrug diese eigenartige Testamentseröffnung nur, weil sie ihren Mann so selten zu Gesicht bekam.
Utz war beinahe unsichtbar. Er sagte nichts, er rührte sich nicht, er wartete darauf, dass eine Entscheidung gefällt wurde. Erst dann würde er wieder in Erscheinung treten. Das einzige Geräusch kam von einer dicken Fliege, die traumselig an mir vorbeiflog und Kreise unter dem Kronleuchter drehte.
Abraham räusperte sich. »Also. Wie viel könnte der Kasten wert sein?«
»Schwer zu sagen«, meinte Utz. »In diesem Zustand zählt wahrscheinlich mehr der Grundstückswert. Der könnte enorm sein, wenn er nicht an diese Auflagen gebunden wäre. Ich würde sagen, im Moment ist das Grundstück nicht verkäuflich.«
Abraham griff nach Verenas Hand. »Ich zahle dir aus meinem Erbe eine Million, wenn du das Haus ausschlägst.«
Ich blickte zu Aaron, gespannt auf seine Reaktion.
»Nein.«
»Eins Komma fünf Millionen.«
Verena hielt den Atem an. Abraham hielt sie immer noch fest.
»Nein«, antwortete Aaron.
Abraham ließ Verena los. »Ich gebe es auf. Was willst du?«
»Das Haus. Es ist, wie soll ich sagen, meine familiäre Verpflichtung, es anzunehmen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln.
In diesem Moment war ich froh über meinen Entschluss, niemals Kinder in diese Welt zu setzen. Aaron spielte mit seinem Vater, aber niemand im Raum außer ihm wusste etwas von den Spielregeln. Wollte er sich für etwas rächen? Wollte er seinen Vater erpressen? Es war offensichtlich, dass sich nicht einmal Abraham und Verena das Verhalten ihres Sohnes erklären konnten. Und sie hatten ihn schließlich gemacht.
Abraham stand auf. »So sei es. Es geschieht gegen meinen ausdrücklichen Wunsch.«
Er ging langsam um den langen Tisch herum und blieb einen Moment dicht hinter seinem Sohn stehen. Dann beugte er sich zu ihm. »Es wird dir kein Glück bringen.«
Verena nickte uns mit einem unsicheren Lächeln zu und erhob sich ebenfalls. Beide gingen hinaus. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, schob Utz Aaron die Unterlagen zu. »Bitte sehr.«
Aber Aaron reichte sie ihm zurück. »Ziehen Sie diesen Fall für mich durch. Ich will das Haus. Koste es, was es wolle.«
Utz deutete auf mich. »Herr Vernau wird das übernehmen. Es wird ein langer, schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang. Das können Jüngere besser.«
Aaron grinste mich an. »Gut. Wann kann ich eigentlich anfangen zu renovieren?«
»Ich muss mich erst einarbeiten. Geben Sie mir ein paar Tage. Vorläufig würde ich jedoch nichts unternehmen, was den Liegenschaftsfonds überraschen würde.«
»In Ordnung.«
Utz schraubte den Federhalter auf. »Sie nehmen das Erbe also an?«
»Ja.«
»Dann bitte ich Sie, hier zu unterschreiben.«
Ich hob die Hand. »Einen Moment noch. Sie wissen, was gemeinnützig bedeutet?«
»Klären Sie mich auf.«
»Behindertenverbände, Sportvereine, Tierheime, Frauenhäuser zum Beispiel.«
»Frauenhäuser«, grinste Aaron. »In meinen Kreisen nennt man das anders.«
Er unterschrieb, dann griff er zu seiner Jacke, die er über einem Stuhl abgelegt hatte. »Sie machen das schon. Ich melde mich.«
Damit ging auch er.
Utz ordnete die Unterlagen und steckte sie in seine Ledermappe. Dann stand er langsam auf.
»Was war das?«, fragte ich. »Aaron von Lehnsfeld, Bewahrer des Erbes und Schützer der Witwen und Waisen?«
»Das war der Weggang eines Kindes von den Eltern«, sagte er leise. Wie ein Zuschauer in einem leeren Theater, der noch einmal auf die Bühne blickt, musterte er den Tisch und die verschobenen Stühle.
»Es sind immer die Kinder, die gehen«, sagte er.
Sigrun saß mit dem Reporter am Tisch im Garten, der Fotograf langweilte sich und trank schwitzend ein Glas Weißweinschorle. Ich schaute auf die Uhr, kurz nach drei. Gerade noch rechtzeitig.
»Wie schön, dass du kommen konntest!« Scarlett O’Hara stand auf und umrundete den Tisch mit ausgebreiteten Armen. Sie flog Rhett Butler an die Brust, schmiegte ihr Köpfchen an seine Schulter und flüsterte: »Noch eine Minute länger und ich jage dem Dicken den Korkenzieher in die Brust.«
Der Dicke griff nach seiner Kamera und schoss nicht gerade motiviert ein paar Bilder von uns. Dann wischte er sich stöhnend den Schweiß von der Stirn.
Wir gingen gemeinsam zum Gartentisch, und ich begrüßte den Reporter. Er stand auf und reichte mir höflich die Hand. »Brettschneider, von der Berliner Tageszeitung. Und das ist mein Fotograf Alexander Dressler.«
Der Fotograf schaute missmutig in sein leeres Weinglas.
»Möchtest du auch einen?«, fragte Sigrun.
»Lieber Wasser, danke.«
»Wo kann man denn hier mal ...?«, fragte Dressler.
Ich sprang auf und zeigte ihm den Weg. Dann wartete ich im Haus, bis er fertig war. In der Küche schenkte ich mir ein Glas Wasser ein. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie Sigrun und Brettschneider sich verabschiedeten. Sie begleitete ihn nach vorne und verschwand aus meinem Blickfeld.
»Schöne Wohnung.« Dressler lehnte im Türrahmen. Den rechten Arm hatte er zum Abstützen erhoben, unter seiner Achsel blühte ein ausgedehnter Schweißfleck. Ich nickte ihm zu und stellte das Glas in die Spülmaschine.
»Zahlt man da eigentlich Miete?« Er stellte sich neben mich ans Fenster. Dann begutachtete er die Espressomaschine, die maßgefertigte Edelstahlküche und den riesigen Kühlschrank. »Oder gibt’s das alles umsonst?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte ich und ging zur Tür.
Aber Dressler machte keine Anstalten, mir zu folgen. Stattdessen holte er eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche und zündete sich eine an. Dabei beobachtete er mich aus zusammengekniffenen Augen. »So ein Glück hätte ich auch gerne mal. Die einzige Tochter aus steinreichem Haus, die alteingesessene Kanzlei des Herrn Papa, eines der letzten Anwesen im Grunewald im Originalzustand. Es passt alles wie aus dem Bilderbuch.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Möchten Sie mir sagen, was Sie bedrückt, bevor ich Ihnen den Weg nach draußen zeige?«
Dressler zog an seiner Zigarette. Die Asche fiel auf den gefliesten Boden. »Das würde ich gerne, aber ich weiß es nicht. Es ist alles ein bisschen zu schön. Zu sauber. Eine wunderbare Show, aber ich glaube sie nicht. Ich rieche es, ob es jemand ehrlich meint. Bei ihr rieche ich nur ein teures Parfüm.«
»Kann es sein, dass Sie neidisch sind?«
Dressler warf die Kippe in den Ausguss und ließ Wasser darüberlaufen. Die Glut erlosch mit einem leisen Zischen. »Neid? Neid kenne ich nicht. Aber ich kann ziemlich sauer werden. Wenn man mich verarschen will. Guten Tag.«
Er drückte sich an mir vorbei und hinterließ neben dem Zigarettengestank einen üblen Schweißgeruch.
Ich folgte ihm nach draußen und sah, wie er sich knapp von Sigrun verabschiedete. Brettschneider beobachtete ihn dabei argwöhnisch. Sigrun winkte ihnen zu, als sie davonfuhren.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte ich.
»Gut.«
Sie wollte an mir vorbei ins Haus, ihre Tasche holen. Ihr Wagen wartete schon. Ich hielt sie zurück.
»Was ist mit dem Fotografen?«
Sie blieb stehen. »Was soll mit ihm sein?«
»Hast du irgendetwas gesagt oder getan, das ihn verärgert haben könnte?«
»Dressler? Der ist immer so. Warum?«
»Nichts«, antwortete ich. »Erkläre mir bitte, warum es unbedingt die Berliner Tageszeitung sein musste.«
Sigrun richtete zärtlich meinen Krawattenknoten und fuhr mir sanft über die Haare. »Weil ich jetzt vom Büro aus mit zwei Redakteuren der dir genehmen intellektuelleren Blätter ein Hintergrundgespräch führe. Unter drei.«
Unter drei bedeutete nach den Statuten der Berliner Pressekonferenz absolute Verschwiegenheit, definitiv nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
»Und was wirst du ihnen beichten?«
»Meine ganz geheimen Sehnsüchte.«
»Das Innere.«
»Genau. Das macht dann die Runde. Und Brettschneider wird verrückt, wenn er davon erfährt, weil er es nicht von mir hat. Natürlich wird er seine Geschichte nicht bringen, ohne gewisse Spekulationen über meine Zukunft zu verbreiten. Also wird er das, was ihm die anderen hinter vorgehaltener Hand flüstern, in seinem Artikel bringen. Und zwar unter der Rubrik: Wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautete …«
Ich nahm sie in den Arm und zog sie an mich. »Wie nennt man das?«
Sie küsste mich flüchtig auf die Wange. »Lancieren. Aber Vorsicht. Das kann nicht jeder. Nur bedingt zur Nachahmung empfohlen. Du musst dich ganz auf dein Netzwerk verlassen können.«
Sie befreite sich aus meiner Umarmung. »Ich muss los.«
Ich ging in den Garten, um den Tisch abzuräumen. Das Mädchen kam nur vormittags. Drei leere Flaschen. Côte Chalonnaise. Und das als Schorle.
Sigrun war Frühaufsteherin. Aus einem mir nicht geläufigen Grund erwartete sie Ähnliches von mir. So standen wir um kurz nach sechs nebeneinander im Badezimmer und putzten uns die Zähne. Wir putzten uns länger gemeinsam die Zähne, als wir miteinander schliefen.
»Der Artikel erscheint schon Sonnabend«, gurgelte sie.
Sie band ihre schulterlangen Haare nach oben und ließ dann den Bademantel fallen. Was ich sah, machte mir bewusst, dass wir uns die letzten zwei Wochen kaum gesehen hatten.
»Bist du heute Abend zu Hause?«
Sigrun schlüpfte in die Dusche. »Fraktionssitzung.«
Fraktionssitzungen endeten normalerweise um zehn, wenn man nicht den Rest des Abends seine Hausmacht stärken, die Netzwerke knüpfen und gegnerische Lager knacken musste. Sigrun stand im Moment auf dem Prüfstand. Sie war die Quotenfrau, die plötzlich ernst genommen werden wollte. Sie war kein Darling mehr, sie musste kämpfen. Jede Fraktionssitzung ein Shakespeare’sches Drama, jeder Ortsverband ein römischer Senat. Das Lächeln guter Freunde ein geschliffener Dolch im Gewand. Es hatte sie verändert. Es hatte uns verändert.
Das Wasser prasselte an das Glas.
Sigrun stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Sie war wunderschön. Ihre schlanke, kräftige Gestalt ließ sie größer wirken, als sie eigentlich war. Sie hatte zarte Schultern und einen atemberaubenden Schwanenhals. Ich hatte Sehnsucht nach ihr und nach dieser Halsgrube, in die ich mich schmiegen wollte, um ihren Maiglöckchenduft einzuatmen. Sigrun lächelte. »Nicht jetzt. Es ist kurz vor halb.«
Sie hob ihren Bademantel hoch und wollte an mir vorbei. Ich griff nach ihr, zog sie an mich und küsste sie.
Sie war in Eile und erwiderte meinen Kuss nur flüchtig.
»Ich hab keine Zeit«, flüsterte sie.
Ich ließ sie los.
Sie ging ins Schlafzimmer und zog sich an. Ich stieg unter die Dusche. Eiskaltes Wasser betäubte das Verlangen und den leisen Schmerz. Er war schnell vorbei. Aber er kam immer öfter.
In der Kanzlei versammelten wir uns im Konferenzraum. Die anderen waren schon da bis auf Meinerz, der einen Termin in London hatte. Mit großer Aufmerksamkeit ließ Utz sich die Tagespläne vortragen, machte hier und da Anmerkungen. Wer einen Gerichtstermin hatte, wurde noch einmal genauestens von ihm instruiert. Gegen acht wurden wir entlassen.
»Joachim, noch eine Minute.«
Die anderen gingen hinaus, Harry warf mir noch einen aufmunternden Blick zu, den ich definitiv nicht nötig hatte.
Als sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte, bat mich Utz, noch einmal Platz zu nehmen.
»Es hat in der Kanzlei gestern einen Vorfall gegeben. So wurde mir berichtet.«
»Einen Vorfall?« Ich wusste nicht, was er meinte.
»Walter hat mir erzählt, eine Russin hätte sich auf unser Grundstück geschlichen.«
»Ja.« Die alte Frau hatte ich bereits völlig vergessen. »Ich habe sie auf der Rückseite des Hauses gefunden. Sie wollte dich sprechen.«
»Aus welchem Grund?«
Ich versuchte, mich so genau wie möglich zu erinnern. Dann fiel mir der Zettel ein, der jetzt in meinem Hemd in der Wäschetonne lag.
»Sie hatte ein Papier bei sich, das sie dir geben wollte. Ich hole es. Eine Minute.«
Ich rannte die Treppen hinunter, aus dem Haus, den Kiesweg entlang, sprang über die Bodendecker und Rabatten, verfluchte die Stufen vor dem Wirtschaftseingang und lief in unsere Wohnung. Das Mädchen war noch nicht da gewesen. Ich fand das Hemd im Schlafzimmer, nahm den Zettel und rannte zurück.
In der Kanzlei stieß ich mit Georg zusammen, der am Kopierer stand. Das Papier riss ein.
»Oh, das tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Kann ich das kleben?«
»Nein danke.«
»Dann sollte ich es vielleicht kopieren?«
Das Papier wirkte unendlich dünn. Ein zarter Hauch, wie man ihn nur gelegentlich in den Fingern hielt, wenn man eine neue Uhr auswickelte. Ich reichte es ihm. Wenn Utz die Russin so wichtig war, dann sollte man auf dieses Papier besser aufpassen.
Georg gab mir das Original und die noch warme Kopie zurück. Dann warf ich einen Blick in den Konferenzraum und sah, dass Utz bereits gegangen war.
Ich fand ihn in seinem Büro, einem dunkel getäfelten Raum mit einer verglasten, deckenhohen Bibliothek. Direkt hinter dem Schreibtisch hing ein Bild der Berliner Sezession. Ich interessierte mich nicht für Kunst, eine Einstellung, die bei ihm einen kurzen, aber heftigen Anflug von Bedauern hinterlassen hatte.
»Hier.« Ich reichte ihm das Original. Die Kopie legte ich vor mich auf den Schreibtisch.
Utz griff vorsichtig nach dem Schreiben, um es nicht endgültig zu zerreißen, und begutachtete es gründlich. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen es übersetzen lassen. Vielleicht eine Forderung.«
»Eine Forderung?«
»Die Russin wollte, dass du es unterschreibst.«
Utz vertiefte sich wieder in die fremden Buchstaben. Aber er wurde offenbar genauso wenig schlau aus ihnen wie ich. Dann tat er etwas Seltsames. Er hielt das Schreiben gegen das Fenster.
Anschließend ließ er sich von mir das schwere, in einem Marmorklotz versenkte Feuerzeug von dem Rauchertisch geben und hielt die Flamme so nahe an das Papier, dass es zwar erhitzt wurde, aber nicht verbrannte. Er hob es wieder gegen das Licht. Mit einem resignierenden Kopfschütteln ließ er es sinken.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Kinderkram«, brummte er. »Ganz alter Kinderkram.« Er faltete das Papier sorgfältig zusammen. »Erinnere dich bitte genau daran, was sie gesagt hat. Sie wollte zu mir. Wie war ihr Name?«
»Den hat sie nicht genannt.«
»Sie muss doch irgendetwas gesagt haben. Sie kann doch nicht erwarten, dass ich ein Dokument in einer fremden Sprache einfach so unterschreibe.«
Ich setzte mich auf. »Sie sagte, es sei eine Sache zwischen dir und … einer Frau.«
Ich beobachtete ihn scharf. Soweit ich wusste, hatte es in seinem Leben an Versuchungen nicht gemangelt. Er hatte keiner nachgegeben. Er war jemand, hatte mir Sigrun erzählt, der wohl nur einmal lieben konnte. Deshalb hatte er nicht wieder geheiratet, deshalb hatte er auch nur ein Kind.
»Natalja«, sagte ich. »Natalja, so war der Name.«
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in seinen Augen auf. Dann senkte er den Blick auf das Papier und schüttelte den Kopf. »Es wird ein Bettelbrief sein. Vergessen wir das alles.«
Er zerriss das zarte Papier und warf die Fetzen achtlos in den Papierkorb. Dann entließ er mich mit einem knappen Nicken und vertiefte sich in eine Handakte.
Ich stand auf und griff nach der Kopie. Ich hielt sie ihm entgegen, doch er schaute nicht mehr hoch.
In meinem Büro erledigte ich einige dringende Telefonate mit Mandanten und einer neuen Staatsanwältin, dann nahm ich mir Aarons Haus vor und stellte fest, dass ein Plan fehlte. Ich musste das Grundbuchamt kontaktieren. Das Telefon klingelte.
Mutter – Reinickendorf.
Ich vermerkte den Termin im Kalender, zerknüllte den gelben Zettel, kickte ihn in den Papierkorb und fühlte mich besser. Fast wie ein Sohn.
Die Kopie fiel aus dem Faxgerät und segelte mit einigen eleganten Kapriolen auf den Teppich. Ich hob sie auf und legte sie in meine Schublade.